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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2011

Copyright © 2000 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Umschlaggestaltung: C. Günther/W. Hellmann

Umschlagabbildung masterfile

Karten: D. Ahmadi/P. Palm, Berlin

Historische Elbkarten: Altonaer Museum, Hamburg

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ISBN Printausgabe 978-3-499-22668-7 (11. Auflage 2011)

ISBN E-Book 978-3-644-44581-9

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-44581-9

Friedrich Schiller

Das süßeste Glück, das es gibt, ist das des häuslichen Lebens, das uns enger zusammenhält als ein andres.

J.-J. Rousseau

Im September
1760

Eine Nacht Ende September

Sie schloss die Knöpfe der samtenen Kniehose, sie passte genau, und schlüpfte in die Jacke aus dickem wollenem Tuch. Die allerdings war viel zu groß, auch nicht mehr ganz heil, aber warm, und, was noch wichtiger war, der Gärtner würde sie nicht vermissen. Nicht bevor es kalt wurde. Sie hatte nie zuvor gestohlen und hoffte, Gott werde ihr vergeben. Natürlich auch der Gärtner und der kindliche Diener, dem die Kniehose gehörte. Sie selbst besaß nur Kleider aus Seide, Batist oder feinem Kattun, nicht die richtige Garderobe für das, was heute Nacht beginnen sollte.

Vom Glockenturm des Schlosses auf dem Hügel eine halbe Meile nördlich des Parks klangen zwei dünne Schläge herüber, und sie wusste, dass es nun Zeit war.

Als sie am Abend zu Bett gegangen war, hatte sie gefürchtet, doch einzuschlafen. Aber sie war wach geblieben, all die Stunden, hatte auf die Geräusche der Nacht gehört und von ihnen Abschied genommen. Zuerst von

Still genug, das Flüstern des Windes in den Blättern der Bäume und Büsche vor ihrem Fenster zu hören. Sie wartete auf den Schrei der Schleiereule, die in dem alten, schon längst nicht mehr benutzten Backhaus wohnte, doch heute Nacht blieb er aus. Dafür glaubte sie das leise Plätschern des Baches und das sanfte Knarren des großen Wasserrades der Mühle in der Teichsenke zu hören. Das konnte nur ein Spiel der Phantasie sein. In der Nacht stand das Rad still, erst bei Sonnenaufgang würde der Müller wieder mit seiner Arbeit beginnen. Auch das schläfrige Scharren und Schnauben der Pferde im Stall hinter dem Gartenhaus waren nur in ihrem Kopf, Teil der vertrauten Abendmelodie ihrer Kindheit, die heute endgültig zu Ende ging.

Sie hatte gedacht, dass sie in dieser Nacht, besonders in diesen letzten Stunden, zornig sein würde, vielleicht auch angstvoll, gar schwankend in ihrem Entschluss. Sie hatte jedoch nicht erwartet, so traurig zu sein.

Die Schuhe, wie Jacke und Hose gestohlen, ein wenig zu groß und mit Wolllappen ausgestopft, verschwanden in den Taschen ihrer Jacke.

Die Hunde würden ruhig bleiben. Sie kannten sie ihr Leben lang, und sie hatte sie niemals geschlagen oder getreten, wie es der Torwächter manchmal tat. Sie lauschte ein letztes Mal in die Stille des Hauses, sah sich noch einmal in ihrem Zimmer um, atmete noch einmal den vertrauten Geruch von Lavendel, Puder und Melisse, stieg endlich auf das Fensterbrett und glitt sachte an der äußeren Mauer wieder hinunter. Trotz der Myriaden von Sternen war die Nacht dunkel, denn der Mond zeigte nur eine schmale Sichel. Vielleicht wäre es besser gewesen, in einer Neumondnacht zu gehen. Doch sie hatte in der Küche gehört, dass Neumond die Nächte der Straßenräuber waren, auch war ihr die Vorstellung der absoluten Dunkelheit zu schrecklich gewesen.

Der Duft des Gartens, trotz der Kühle des Abends immer noch süß von der Wärme des Tages, umschloss sie tröstlich, als wolle auch er sich verabschieden. Sie zog die Schuhe aus den Jackentaschen, schlüpfte hinein und huschte über den Hof. Zum Glück war nur die Auffahrt zur vorderen Treppe mit knirschenden Kieseln bestreut,

Die Hunde erwarteten sie am Rande der dahinterliegenden, mit Obstbäumen bestandenen Wiese. Sie hörte ihr Knurren schon, bevor sie die schwarzen Körper in der Dunkelheit sah. Sie hockten da, einer neben dem anderen, mit aufgestellten Ohren und schiefgelegten Köpfen. Aber sie bellten nicht. Sie kamen heran, rieben ihre struppigen Köpfe an ihren Knien, stupsten ihre Nasen gegen ihre Hände, und der jüngste, schwarz wie die anderen, doch mit einer weißen Blesse auf der Brust, begleitete sie bis zu der Stelle an der Gartenmauer, an der ein kleines, hinter dickem Efeu fast verborgenes Tor ihr den Weg in die Freiheit öffnete. Sie schlüpfte hindurch, und als sie sich ein letztes Mal umsah, glaubte sie die Blesse noch in der Dunkelheit schimmern zu sehen. Sie lauschte auf das winselnde Jaulen des Tieres, wandte sich eilig um und verschwand in der Nacht.

Im Martius
1769

Kapitel 1

Mittwoch, Den 8. Martius,
Morgens

Doch dann fiel ihm ein, dass die Feuer unter den Kesseln in Butts Schuppen in den letzten Wochen kalt geblieben waren. Weil Butt bankrott sei, hieß es. Weil er nur noch Leim aus Waltran-Grieben kochen wolle, behauptete hingegen Butt, denn der sei der beste. Was gewiss nicht stimmte, aber tatsächlich konnte der Leimsieder den ausgekochten Walspeck nur bekommen, nachdem die Grönlandfahrer mit ihrer fetten Ware wieder eingelaufen

Allerdings nicht mehr lange. Auch wenn es in den letzten Nächten wieder gefroren hatte, wenn auf der Elbe noch Eisschollen trieben, dünn und scharf wie Messer, würden bald Walfänger mit ihren großen Seeschiffen auslaufen. Deren Schiffsbäuche, am Bug innen durch Streben, außen mit Eisenplatten verstärkt, waren für die Meere am Rande der nördlichen Eiswüsten gewappnet, die letzten Schollen im Elbwasser konnten ihnen nichts anhaben. Auf den Schiffen der Walfänger, zumeist Fluiten und Barken, in den Häfen von Hamburg und Altona herrschte schon lange Geschäftigkeit, die Mannschaften waren längst geheuert, und es war nur noch eine Frage weniger Tage, bis die Walfangflotten in Hamburg und Altona Segel setzten.

Falls endlich Wind aufkam, den Nebel vertrieb und die Segel füllte. Seit Tagen schon lag die graue Decke über dem Land, als hielten sie die zahlreichen Arme, in die der breite Fluss sich südlich von Hamburg teilte, gefangen. Nur gegen Mittag wurde der Nebel dünner, und gestern hatte sogar die Sonne als matter weißer Fleck durch den Dunst geschimmert.

Zacharias Hörne kroch tiefer in seine dicke Jacke, bohrte die Fäuste in die Taschen und machte längere Schritte. Zwei Fischerknechte kamen ihm mit einer Schubkarre voller neuer Hanfseile entgegen und grüßten mehr als höflich, wie alle den Ältermann der Övelgönner-Neumühlener Lotsen stets grüßten. Er beachtete sie nicht, und die Knechte erzählten später dem Kalkbrenner, Zacharias Hörne sei heute mal wieder in ganz besonderer

Zacharias Hörne war selten bester Laune, und in den vergangenen Monaten erst recht nicht. Sein hitziges Temperament gab ihm in leichten Zeiten die für sein Amt nötige Entschlossenheit und Autorität, in schweren brachte es den zornigen Mann zum Vorschein, der er tatsächlich war. Dieses Frühjahr, genau genommen der ganze letzte Winter schon, war für ihn eine schwere Zeit. Nicht nur wegen der nicht endenden Querelen unter den Lotsen.

Zacharias Hörne hatte noch einen anderen Grund für seinen Grimm: die Familie. Der erzürnte ihn mehr als jeder andere, weil er überflüssig war. Eine Familie hatte ein Oberhaupt, und dem war zu gehorchen. Da gab es nichts zu debattieren. Es war ihm nicht leichtgefallen, Anna, seine einzige Tochter, aus dem Haus zu geben. Aber das war Familienpflicht gewesen, und er hatte keine Sekunde gezögert, als Thea ihn darum bat. Und ebenso keine Sekunde daran gedacht, dass Anna das Leben im Haus seiner Schwester dazu benutzen könnte, ihn so bitter zu hintergehen.

Irgendwo im Dunst vor ihm bellte ein Hund. Das musste der schieläugige schwarze Köter sein, der die Segelmacherei bewachte. Jedenfalls tat er so. Er sah wohl aus wie ein Höllenhund, als Wächter war er trotzdem nicht besser als ein alter Hahn.

Er passierte die Wassermühle, die einst dem kleinen Ort am Elbufer westlich von Altona den Namen gegeben hatte, und schritt an den langgestreckten niederen Backsteinhäusern vorbei, die Fischer und Lotsen hier für ihre Familien gebaut hatten. Bald darauf erreichte er ein alleinstehendes,

Er blieb stehen, zog die Schultern hoch, sah noch einmal zurück und klopfte. Er trat nicht einfach ein, wie es Sitte und bei Verwandten überall selbstverständlich war, sondern wartete, dass ihm die Tür geöffnet werde.

Ungeduldig rieb er die Fäuste aneinander, wandte sich um und sah hinunter zum Fluss. Der Nebel war immer noch so dick, dass Zacharias die breite Wasserfläche, keine zweihundert Fuß entfernt, nur erahnen konnte. Die Elbinseln, im Sommer eine grüne Idylle von saftigem Gras und Gebüsch und voller Vieh, jetzt noch bis auf die bewohnten größeren öde, grau und verlassen, verbargen sich vollends im Nebel.

Er atmete tief, doch der Zorn, der beim Blick auf diese trügerische Nebelwelt, Schrecken eines jeden Seemanns auf See, noch stärker in ihm aufstieg, ließ sich nicht so einfach verschlucken. Er glaubte das Eintauchen von Rudern zu hören und trat einige Schritte vor. Wer konnte verrückt genug sein, an so einem Morgen aufs Wasser zu gehen? Zwar hatte man beschlossen, mit dem Ausloten der Elbe fortzufahren; die Winterstürme, besonders die des Februars, hatten die Sände im Fluss verschoben, und die Lotsen brauchten genaue Auskünfte über die Veränderung des Fahrwassers. Bei diesem Wetter war das aber mehr als dumm. Auch der erfahrenste Pilot verlor bei dichtem Nebel schnell die Orientierung, und es war immer noch kalt genug, um im Labyrinth der Flussarme, Sandbänke und Inseln zu erfrieren. Auf der ganzen Elbe galt: Bei dichtem Nebel Anker werfen und beständig das Horn blasen. Was nicht ging, ging eben nicht. Das Wetter

Ein geduckter dunkler Schemen glitt langsam am Ufer vorbei. Das konnte nicht die Schaluppe der Lotsgaleote sein, wahrscheinlich gehörte sie zu einem der Walfänger, die in Altona auf Reede lagen. Die hielten sich von jeher für unverwundbar. Er mochte die Walfänger nicht. Viele ihrer Schiffer und des Seevolks vom Schiffsjungen bis zum Steuermann kamen von Föhr, Amrum und dem holsteinischen Festland. Allesamt, so fand er, habgierige Kerle, die glaubten, dass ihre eigene und ihrer Steuerleute gute nautische Ausbildung schon reichte für eine gute Fahrt. Von den vierzig oder gar fünfzig Männern an Bord war aber der größere Teil in der Seefahrt unerfahren: jüngere Kätner- und Bauernsöhne, billige Herumtreiber aus den Schenken am Hafen oder andere Taugenichtse, die sonst niemand haben wollte. Kein Wunder, dass so viele von ihnen nicht vom Rand des Eises zurückkamen.

Er klopfte noch einmal, dieses Mal mit der ganzen Faust, und als er gerade zum dritten Mal gegen die Tür hämmern wollte, wurde sie geöffnet.

«Du magst schwerhörig sein, Zacharias Hörne. Ich bin es nicht.»

Eine Frau in schwarzer Witwentracht stand, auf einen Stock gestützt, in der Tür und sah ihren Besucher mit zusammengezogenen Brauen an. Thea Benning, fast sechzig und zwei Jahre älter als ihr Bruder Zacharias, war kleiner als er, so rundlich wie er hager und ihre Nase so klein und spitz wie seine kräftig. Sie hatte immer noch die rosige Haut einer weit jüngeren Frau. Während sein Gesicht von Wind, Wetter und zu viel schlechter Galle

Theas Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. Viele fürchteten Zacharias Hörne, denn er war tatsächlich nicht besonders freundlich und forderte stets den größten Respekt. Für sie aber war er einfach nur ihr Bruder. Ein Mann, den sie mochte, meistens sogar liebte, seit sie denken konnte. Ein Mann, von dem sie wusste, dass er bei all seiner Knorrigkeit schwarze Kirschen über alles liebte, als Junge unter schrecklicher Seekrankheit gelitten hatte und bei einem besonders schönen Sonnenaufgang über der sommerlichen Flusslandschaft ergriffen schwieg.

«Davon, dass du mich so grimmig anstarrst, Zacharias, wird mir nicht wärmer. Sollen wir in der Kälte anfrieren? Pass auf, beinahe hätte ich dich bei einem Lächeln erwischt.»

«Behalt’s für dich», brummte er, nun tatsächlich schmal lächelnd, einem alten Geschwisterspiel folgend. Er trat ein und schloss die Tür. Behagliche Wärme und der würzige Geruch von Torf- und Buchenholzfeuer umfingen ihn, und ausnahmsweise knurrte er heute nicht, dass sie mal wieder verschwenderisch mit dem Feuerholz umgehe. Er zog seine Jacke aus schwerem schwarzbraunem Tuch aus, und während er sie an den Haken neben der Haustür hängte und seiner Schwester in die Wohnstube folgte, horchte er auf die Geräusche des Hauses. Da war das Knistern des Feuers, das Ticken der Wanduhr und das Maunzen des dicken rot-weißen Katers, der – respektlos

Als er in die Stube trat, saß Thea schon in ihrem Lehnstuhl am Fenster. An klaren Tagen ging der Blick von hier über den Uferweg und ihren dahinterliegenden, zum Strand abfallenden Garten, weiter über den Fluss zur Mündung des Köhlbrand genannten Nebenarmes der Süderelbe zwischen den Inseln bis hinüber ans andere Elbufer.

«Wenn du Kaffee magst, die Kanne steht auf dem Ofen, die Tassen – aber das weißt du ja.»

«Kaffee!?», sagte er, und sie nickte vergnügt: «Ja, Kaffee. Am Vormittag, zudem an einem ganz gewöhnlichen Dienstag. Nun setz dich endlich und mach auch ein Gesicht wie an einem ganz gewöhnlichen Dienstag. Oder», plötzlich saß sie sehr aufrecht, «oder ist etwas mit den Jungen?»

«Aber nein.» Zacharias schüttelte ungeduldig den Kopf. Immer sorgte sie sich gleich, dass etwas mit den Jungen sei. «Solange wir nichts von ihnen hören, gibt es keinen Grund zur Sorge. Jacob ist jetzt wohl auf seinem Holländer unterwegs nach der afrikanischen Goldküste, und Hanns – weiß der Teufel, wo sein Schiff sich rumtreibt. Kann gut sein, dass es schon vor Cuxhaven liegt und hier einläuft, sobald der Nebel und das letzte Eis weg sind. Die Hamburger Lotsen sind schon seit zwei Wochen draußen. Nein, es ist nichts mit den Jungen. Mit denen ist nie was.»

Er nahm eine Tasse aus dem verglasten Wandschrank, trat an den Kachelofen und bediente sich aus der messingnen Kanne. Er liebte Kaffee, auch wenn er es niemals zugegeben hätte und nicht fand, dass dieses teure

«Das gute Kind.» Thea strich sanft über ihre schwarzen Röcke und zupfte zierlich ihr graues Schultertuch zurecht. «Deine Tochter hat sich trotz dieses schrecklichen Wetters nach Altona aufgemacht. Uns sind Butter und Honig ausgegangen, stell dir vor, und bei Rogge soll es noch chinesischen Tee geben. Es ist wirklich Zeit, dass die Elbe wieder frei wird. Das Eis und nun noch dieser Nebel. Glaubst du, dass es bald aufklart und endlich Wind aufkommt? Aber in diesem Jahr weiß man ja nicht, womöglich bringt der nur eine neue Nebelbank von der See mit. Wenn nicht bald …»

«Thea!!» Zacharias fand, seine Schwester plappere, und weil er nie begriffen hatte, dass sie so redete, wenn sie etwas nicht sagen wollte, war er gleich wieder da, dieser Zorn. Er war verflogen, als er sie so klein und auf ihren Stock gestützt in der Tür stehen sah. Obwohl die Entfernung zwischen ihren Häusern kaum eine halbe Meile betrug, sahen sie einander nicht oft. Selbst seit er nicht mehr ständig als Lotse arbeitete und häufiger an Land war. Doch stets, wenn er sie sah, spürte er das warme Gefühl einer besonderen Vertrautheit, das er nur für sie empfand. «Thea», wiederholte er, «du plapperst.»

«Tue ich das? Wahrscheinlich. So sind wir Frauen eben. Wir plappern. Nun gut. Ich werde schweigen, wenn du

«Kann ich nicht einfach meine Tochter besuchen?»

«Natürlich kannst du das. In den vier Monaten, die sie in meinem Haus lebt, hast du das allerdings nur einmal getan, und wenn du plötzlich mit diesem Gesicht vor der Tür stehst – das sieht wahrlich nicht nach väterlicher Sehnsucht aus. Ich kenne dich, Zacharias, also mach mir nichts vor und sag, was du willst. Glaub mir, es ist besser.»

Es hieß, dass Anna bei ihr lebe, weil sie, die kränkliche Tante, Hilfe brauche. Sie beide, Zacharias und Thea, wussten, dass er dem nur zugestimmt hatte, weil er in seinem Haus Frieden wollte.

«Du hast nun Frieden in deinem Haus. Und Anna hat ihn hier auch. Sie ist eine gehorsame Tochter, Zacharias. Was willst du mehr?»

«Warum betonst du das so: eine gehorsame Tochter. Ich habe anderes gehört.»

«Hast du das. Oder hat Berte etwas anderes gehört?»

«Auch wenn du Berte nicht magst, erbitte ich mir Respekt gegen meine Frau. Es reicht, wenn Anna ihrer Stiefmutter das Leben schwergemacht hat. Außerdem hat es nichts mit Berte zu tun. Kocke hat sie mit diesem Menschen gesehen, am hellen Tag vor Melzers Kaffeehaus. Als hätte ich ihr nicht ein für alle Mal verboten, ihn zu treffen. Sie hat meine Verbote zu respektieren. Jung und dumm, weiß nicht, was gut für sie ist. Und sie will nicht wissen, was der für einer ist. Verdammt, Thea, ich erlaube nicht, dass jemand aus meiner Familie mit einem Paulung, mit einem Paulung …»

«Eine Liebschaft hat», brüllte Zacharias Hörne plötzlich und sprang auf.

«Liebschaft! So ein Unsinn. Dein blinder Zorn wird dir irgendwann den Kopf platzen lassen.» Thea Bennings rundliches Gesicht wurde schlagartig zu einer starren Maske, und nun glich sie ihrem Bruder auf erstaunliche Weise. «Jetzt will ich dir etwas sagen. Deine Tochter ist mit ihren fast zwanzig Jahren nicht mehr so jung, wie du glaubst, und ganz gewiss ist sie nicht dumm. Ein wachsweiches Lamm wie deine Berte ist sie allerdings nicht, sie hat ihren eigenen Kopf. Doch so oder so, es ist unerhört und absolut respektlos gegenüber deiner Tochter, ihr eine Liebschaft anzudichten, nur weil ein rotnasiger Bierbrauer Gespenster sieht. Ich müsste es wissen, und ich weiß davon nichts. Selbst wenn sie Matthias Paulung in Altona über den Weg gelaufen ist, warum sollte sie nicht mit ihm sprechen? Nur weil du dich mit dem alten Paulung, der in der Tat ein unangenehmer Patron ist, über euren Lotsengeschäften zerstritten hast, ist Matthias ganz gewiss kein Verräter und Tagedieb, wie du behauptest. Sie kennt ihn, seit sie laufen kann, und dass sie einen Sommer lang in ihn verliebt war – damals war sie fünfzehn!, diese kindliche Schwärmerei ist längst vergessen. Doch ganz abgesehen von der Sache mit Matthias, nein, du hörst mir jetzt zu, ganz abgesehen davon möchte ich dir empfehlen, anstatt immer nur auf den dir zustehenden Respekt zu pochen, an die Liebe zu denken, die deine Tochter dir zeigen würde, wenn du sie nur ließest. Du vergisst, dass Anna keiner von deinen Lotsknechten ist. An deinem dummen Respekt wirst du eines Tages erfrieren.»

«Zacharias», Theas Stimme klang nun wieder ruhig, auch wenn sie noch ein wenig atemlos schien, «Anna tut nichts, was dir schadet.»

«Mir schadet? Es reicht, wenn sie sich selbst schadet. Dass sie an den Ruf meiner Familie denkt, erwarte ich schon gar nicht mehr. Glaube mir, Thea, wenn sie wieder etwas mit dem jungen Paulung angefangen hat, dann, verdammt, dann weiß ich nicht, was ich tue. Das kannst du ihr sagen. Und ihm auch, du scheinst sehr vertraut mit ihm zu sein.»

Bevor Thea auch nur nach ihrem Stock greifen und aufstehen konnte, stürzte er hinaus, riss seine Jacke vom Haken und ließ die Tür hinter sich zufallen. Sosehr sie sich auch beeilte, als sie vor ihr Haus trat, war er nur noch ein dunkler Schatten auf dem Weg nach Altona, den gerade der Nebel verschluckte. Sie stützte sich müde auf ihren Stock, es hatte keinen Sinn, ihm nachzurufen, er würde nicht umkehren. Es war dumm gewesen zu glauben, sie könne ihm so einfach den Kopf zurechtrücken und danach sei alles gut. Sie wünschte sich sehnlich, dass alles gut werde, doch vielleicht war ihr Weg der falsche. Hatte sie ihm die Wahrheit gesagt? Was wusste sie, und

Gegen Mittag

Der Mann schob seine Mütze in den Nacken, kratzte sich über dem linken Ohr und betrachtete mit vorgeschobener Unterlippe das kleine Stück Papier in seiner Hand. Ein Schnaps, ein paar Krümel Tabak oder eine Kupfermünze, der übliche Obolus für einen Fuhrknecht, wäre ihm lieber gewesen. Vielleicht hätte er die Truhe doch nicht ganz so achtlos von seiner Karre auf die Straße rutschen lassen sollen.

Helena Becker seufzte. «Na gut», sagte sie und griff ein zweites Mal in ihre Rocktasche. Leider holte sie auch diesmal kein Kupferstück heraus, sondern ein zweites dieser dummen Papierschnipsel. «Zwei Billetts sind aber wirklich mehr als genug. Jedes ist fünf Schillinge wert, und die Plätze auf der Galerie sind bei diesem Wetter die besten, da oben ist es immer hübsch warm.»

«Soso», brummte der Kärrner und noch etwas, das nach «Tanzmamsellen» und «fremdländischen Sitten» klang. Er stopfte die Eintrittskarten für die Becker’sche Komödie achtlos in seine Joppe, wuchtete die Karre hoch und verschwand im Gedränge auf der Elbstraße.

Noch immer hing über der Stadt ein Dunst, der alle Farben grau machte, doch der Nebel hatte sich etwas gelichtet, und nun, gegen Mittag, war es endlich taghell.

«Helena!» Eine schlanke Gestalt, wie Madame Becker in ein dunkelgraues Wolltuch gewickelt, drängte sich an einem mit Fässern beladenen Fuhrwerk vorbei, sprang über eine mit schwarzem Wasser und Unrat gefüllte Pfütze

«So ein grässliches Wetter. Wäre es nicht so kalt, fühlte man sich wie in einem Waschhaus.»

Sie zog mit einer raschen Bewegung das Tuch von Kopf und Schultern und schüttelte es kräftig. Rosina war Mitte zwanzig, etwa ein Jahrzehnt jünger als Helena, und wie sie Komödiantin in der Becker’schen Gesellschaft. Während die Ältere mit ihrer fülligen Gestalt, ihrer bei Bedarf und in zornigen Momenten äußerst würdigen Haltung auf der Bühne für die stolze Heroine, huldvolle Königin oder die entsagungsvoll Liebende prädestiniert war, gehörten zu den ersten Rollen der Jüngeren die heitere Schäferin, die Primaballerina oder die muntere, stets Schabernack treibende jugendliche Mamsell. Ihre Spezialität waren Hosenrollen, beim Publikum im Parkett wie auf der Galerie außerordentlich beliebt. Ganz und gar unverzichtbar für ihren Prinzipal machte sie jedoch ihr für ein Mitglied einer so kleinen Theatergesellschaft ungewöhnlich lieblicher Sopran. Und wie der größte Spaßmacher auf der Bühne im wahren Leben oft ein Griesgram und Misanthrop ist, waren auch die Temperamente der beiden Frauen, sobald sie das Theater verließen, oft vertauscht.

«Es nützt nichts», sagte Rosina und betrachtete grimmig den von der Feuchtigkeit schwer herabhängenden Umhang. «Weiß der Himmel, wann das Ding jemals wieder trocken sein wird. Ist das eine der neuen Truhen?»

Sie strich leicht mit der von der Kälte geröteten Hand über das Holz und nickte anerkennend. Zwar zeugten schon einige Risse und die an manchen Stellen brüchige Farbe von ihrem ehrwürdigen Alter, dennoch schien sie

«Was hast du dem Mann gegeben? Etwa ein Billett?»

«Zwei, Rosina. Eines reichte ihm nicht, jedenfalls machte er so ein Gesicht. Es kann nicht schaden, wenn wir jede Gelegenheit nutzen, das Theater zu füllen. Es schien ihn aber nicht sonderlich zu freuen.»

Rosina lachte. «Wahrscheinlich wusste er nicht, was es war. Oder glaubst du, dass er lesen kann?» Sie strich mit den Fingerspitzen über die dilettantisch, gleichwohl liebevoll gemalten Gesichter. «Ein hübsches Stück. Wo sollen wir sie hinstellen?»

«Eine sehr lästige Frage, Rosina. Darüber denke ich nach, sobald wir sie oben haben. Irgendwo wird sich schon ein Platz finden.»

An dem Problem mit der Truhe hatte sich am Abend zwar heftiger Streit entzündet. Die Becker’sche Komödiantengesellschaft, zu der die beiden Frauen gehörten, gastierte nicht zum ersten Mal in Altona. Die Wohnung über Melzers Kaffeehaus, in dieser Stadt stets ihr Quartier, war ihnen immer komfortabel und geräumig erschienen. In diesem Winter allerdings hatte der Prinzipal seine Truppe um zwei Köpfe vergrößert, Melzer wiederum zwei Dachkammern an einen Schiffszimmerer und dessen Frau vermietet, kurz und gut, die Becker’schen, nun zwölf an der Zahl, mussten sich mit mehr Köpfen und weniger Raum begnügen. Was nicht nur zu mehr Lärm und Streiterei, sondern vor allem zu mehr Unordnung führte. Und damit zu neuem Streit.

Das Stück, noch nicht mehr als das Fragment einer Komödie, stammte aus der Feder Gregor Beauforts, eines völlig unbekannten, dafür aber wohlhabenden jungen Mannes, der beschlossen hatte, sich als Dichter zu versuchen. Erst kürzlich hatte er Jean in einer Schenke angesprochen und ihm sein Werk angedient. Jean war begeistert. Mit einem neuen Stück, insbesondere einer Komödie, aus der Feder eines reichen Bürgers warb es sich auch leichter um die Gunst der Bürger.

Nun hatte er, wie es seine Art war, nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit Händen und Füßen deklamiert und schließlich in melodramatischer Emphase weit ausholend ein Tintenfässchen umgestoßen. Dessen Inhalt ergoss sich über den Tisch, färbte nicht nur die alte zerkratzte Holzplatte, was niemanden außer Melzer wirklich grämen würde, sondern eine bis dahin schneeweiße Alongeperücke, eine schon ziemlich zerlesene Ausgabe des ersten Teils von Gellerts wahrhaft ergreifendem Roman Leben der Schwedischen Gräfin von G., zwei Paar rosenfarbene Spitzenhandschuhe, ein gerade erst angeschnittenes Weißbrot und Gesines fein bestickten Nähbeutel. All das sog die Tinte begierig auf und färbte sich dunkelblau, nur die Handschuhe entschieden sich für ein frivoles Violett.

Was wiederum Gesine, auf der Bühne zumeist die grämliche Alte oder stumme Dienerin, als vortreffliche Kostümmeisterin aber eines der wichtigsten Mitglieder

Es würde zu weit führen, auch noch zu erwähnen, was daraufhin Jean und Titus zum Besten gaben. Nur Filippo war klug genug, während des ganzen Disputs zu schweigen, und Rudolf, Gesines Ehemann, Kulissenmaler und Maschinenmeister, hörte schon auf der Treppe das Geschrei und eilte, ohne den Raum auch nur zu betreten, umgehend zurück zu seinen Pinseln, Flugwerken und Donnermaschinen. Schließlich ging allen die Luft aus, und als selbst Jean nichts mehr einfiel, verkündete Helena in die plötzliche, nur noch von Gesines leisem Schluckauf unterbrochene Stille, da es dem Herrn Prinzipal nicht gelinge, eine geräumigere Wohnung für seine Leute zu finden, werde sie zumindest für neue Korbtruhen sorgen, um die kostbaren Kostüme und Bücher vor seinem Ungeschick in Sicherheit bringen zu können. Da könne Jean noch so viel jammern, dass deren Anschaffung zu teuer und im Budget nicht vorgesehen sei.

«Wirklich», wiederholte Rosina, «ein hübscher kleiner Kasten, gerade recht für die Perücken. Besonders mit diesem Luftloch hier.» Sie schob einen Zeigefinger durch ein längliches Loch am Rande des Truhendeckels. «Aber wieso steht sie auf der Straße? Warum hat der Fuhrmann sie nicht hinaufgebracht?»

«Das wollte er nur zu gerne. Ich habe ihn aber nicht gelassen. Soll er etwa in der Stadt herumerzählen, die Komödianten hausen über Melzers Kaffeehaus wie die Wilden? Dieses kleine Ding schaffen wir auch allein die Treppe hinauf.» Sie zog ihr Tuch von den Schultern, griff auch nach Rosinas und warf beide in die Truhe, verknotete flink ihre Röcke vor den Knien und schob beide Hände unter den eisernen Griff. «Worauf wartest du, Rosina? Fass an.»

«Lass den Fuhrmann erzählen, was er will», sagte sie und knotete gleich Helena ihre Röcke, «das tut er sowieso, und davon, dass du ihm bezahlte Arbeit ersparst, wird er uns noch lange nicht für ehrbare Leute halten. Du lieber Himmel!» Mit einem ärgerlichen Ächzer ließ sie die Truhe, die sie am eisernen Griff der anderen Seite gefasst und angehoben hatte, wieder fallen. «Machen die ihre Kästen hier aus Blei?»

«Aus Eiche», sagte Helena. «Das ist zwar unpraktisch und nur wenig leichter, aber haltbar, äußerst haltbar. Stell dich nicht an, ein bisschen Anstrengung kann uns nicht schaden. Wenn wir warten, bis einer der Männer …»

«Kann ich helfen? Wohin soll die Truhe?»

Zwar keiner der gerade geschmähten Komödianten, aber ein Mann von vielleicht dreißig Jahren in einer Jacke

«Danke», Helena beugte sich entschlossen wieder über den Griff, «aber das ist nicht …»

«Das ist sehr freundlich», fiel Rosina ihr ins Wort. «Wirklich sehr freundlich. Unsere Wohnung ist im ersten Stock und die Truhe schwerer, als wir dachten. Wenn Ihr aber an einem und wir beide am anderen Ende anfassen, wird sie leicht zu tragen sein.»

Der Mann nickte, zog seine Joppe aus und reichte sie einem Mädchen, das gerade aus Melzers Kaffeehaus getreten war und die beiden fremden Frauen mit unverhohlener Neugier musterte.

«Warte hier», sagte der Mann, «es dauert nur einen Augenblick.»

Als habe sie ihn nicht gehört, kam sie einen halben Schritt näher. «Seid Ihr von den Komödianten?», fragte sie. Ihre kleine Zunge flitzte wie die einer Eidechse über ihre Oberlippe, und sie sah fragend von Rosina zu Helena und wieder zurück.

«So lass doch, Anna. Komödiantinnen oder nicht, die Truhe muss schnell die Treppe rauf, das ist alles.»

Wieder hörte sie ihm nicht zu. «Verzeiht meine Frage, aber Madame Melzer hat gesagt, Ihr gehörtet zu denen, obwohl Ihr nicht so ausseht. Wie Fahrende, meine ich, ich kenne natürlich keine, aber die Leute sagen …»

«Anna. Es ist doch egal, was die Leute sagen. Die sagen immer irgendwas.»

Helena ließ sich mit einem Seufzer auf die Truhe plumpsen, schob ihre kalten Hände unter die Achseln, und Rosina lachte schon wieder.

«Da hat er recht», sagte sie. «Es ist egal, was geredet

Das Mädchen nickte ernsthaft, als habe es gerade etwas Bedeutungsvolles gelernt. «Manierlich. Madame Melzer sagt, auch wenn die Kirche den Pastoren verbietet, das Theater zu besuchen, so sei es doch nicht so unchristlich, wie manche glaubten. Madame Melzer sagt, sie selbst habe schon viele Eurer Aufführungen gesehen, es sei sehr vergnüglich. Die Musik und die Kostüme …» Sie verstummte seufzend unter dem strengen Blick ihres Begleiters.

«Warum probiert Ihr es nicht einfach selbst aus?» Helena erhob sich von der Truhe. Sie fror und sehnte sich nach einer Tasse heißen Tees. «Heute Nachmittag», fuhr sie fort und zog zwei Billetts aus den Tiefen ihrer Rocktasche, «um fünf. Wir geben ein Lustspiel mit Gesang. Natürlich auch ein Ballett. Ich versichere Euch, obwohl in den Gasthäusern das Gegenteil behauptet wird, tanzen wir niemals unbekleidet. Sollte das Spiel Euch trotzdem nicht behagen, könnt Ihr ruhig früher gehen.»

«Unbekleidet? O nein.» Anna errötete bei dieser Vorstellung. «Das hätte ich niemals geglaubt. Aber es geht nicht, leider.» Hilfesuchend sah sie sich nach ihrem Begleiter um. «Es geht doch nicht, Matthias?»

«Nein, es geht nicht. Vielleicht später einmal, Anna, wenn ich …» Er sprach nicht weiter, sah auf seine breiten schwieligen Hände und zog die Schultern hoch.

«O doch», rief Rosina, die begriff, was die beiden an dem Besuch der Komödie hinderte, und wandte sich an den Mann, den das Mädchen Matthias genannt hatte. «Es geht ganz einfach. Ihr helft, die Truhe die Treppe hinaufzutragen, und wir bedanken uns mit zwei Billetts.»

Kapitel 2

Donnerstag, Den 9. Martius,
Morgens

Selbst Augusta Kjellerup, die Tante des Hausherrn, hatte sich heute schon früh ins Johanniskloster zu Domina Mette van Dorting kutschieren lassen. Die beiden Damen planten ein neues Unternehmen, aus dem sie zwar ein großes Geheimnis machten, von dem dennoch die halbe Stadt wusste: Nachdem sie sich lange und genussvoll über die Qualität der Holberg’schen Komödien gestritten hatten, waren sie zumindest darin einig gewesen, dass die deutschen Übersetzungen miserabel seien. Eine wie die andere altmodisch und ohne den Biss, der den großen dänischen Dichter doch gerade auszeichnete. Eben durch und durch brav. Da sie mit dieser Meinung in der Stadt ziemlich alleine waren und trotz aller Missionsversuche auch blieben, fand sich niemand, der eine bessere zu machen bereit war. So beschlossen sie, selbst zur Tat zu schreiten. Seitdem hockten sie an drei Vormittagen der Woche im Salon der ersten Dame von St. Johannis, tranken unanständig viel Kaffee, weil das ihren Geist beflügelte, und strapazierten die Nerven eines jungen Hilfsgeistlichen, der bestellt war, ihre zwar guten, doch ebenfalls recht altbackenen Dänischkenntnisse aufzupolieren.

Alle im Hause Herrmanns waren beschäftigt, auch Claes würde bald wieder seinen Geschäften nachgehen,

Immerhin würde Anne sich, sobald dieser endlose Winter vorbei war, wieder ihrem Garten vor der Stadt widmen können. Soweit die Gärtner es zuließen.

Sie mochte den Winter nicht, der in diesem Land noch weniger ein Ende nehmen wollte als anderswo. Die kleine englische Insel nahe der französischen Küste, von der sie stammte, lag nur um wenige Breitengrade südlicher als ihre neue Heimat, aber je länger sie fort war, umso lieblicher und wärmer wurde sie in ihrer Erinnerung. Wohl gab es auch dort in manchen Jahren eisige Winterwochen, aber im März blühten schon Veilchen und Apfelbäume, leuchteten in den Gärten der großen Häuser Tulpen und Narzissen – nun gut, nicht in jedem Jahr, aber doch in den meisten. Selbst der Nebel, der hin und wieder auch die weite Bucht von St. Aubin heimsuchte, gab dort stets nach wenigen Stunden auf.

«Hör mal, Anne, das ist interessant.» Claes Herrmanns

«‹Von Neu-York wird gemeldet, dass zwei Söhne zweier vornehmer Indianer die englische Sprache erlernt hätten und dass sie nun mit allem Fleiß die Arzneikunst und Chirurgie studieren, sonderlich die Wissenschaft der Inoculation, da die Blatternkrankheit jährlich unter den Indianern grassiert und sehr viele hinwegrafft. Die Indianer werden immer geneigter, sich zum Christentum zu bekennen und gesittete Leute zu werden.›

Erstaunlich», schloss er, «höchst erstaunlich. Findest du nicht?»

«Unbedingt, Claes. Wirklich erstaunlich.» Sie hatte schon vor geraumer Zeit aufgegeben, ihm zu erklären, dass sie es nicht liebte, ausgewählte Häppchen aus einer Zeitung vorgelesen zu bekommen, die sie später selbst lesen wollte. «Möchtest du noch Tee?»

«Unglaublich», murmelte er und nickte, wobei er nicht den Tee meinte, sondern die Nachricht, dass aus wilden Indianern Chirurgen werden konnten. «Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass ein Chirurg nicht viel mehr als ein Bader und noch lange kein Arzt ist, ist das für Kerle, die für ihre Sprache nicht einmal Buchstaben kennen und ihren Feinden bei günstiger Gelegenheit das Fell über die Ohren ziehen, eine beachtliche Leistung.»

Rasche Schritte sprangen die Treppe von der Diele zum kleinen Salon im ersten Stock herauf, die Tür flog auf, und Christian Herrmanns, der älteste Sohn des Hauses, trat ein. Das walnussbraune Haar war vom schnellen Gang durch die feuchte Luft stärker als sonst gelockt, eine dicke Strähne fiel ihm über die Stirn, mit einer raschen

«Guten Morgen, Madame, Monsieur.» Er nickte fröhlich seinem Vater zu, der sich für den Moment eines begrüßenden, wohlwollenden Blicks von seiner Zeitung losriss, beugte sich schwungvoll über die Hand seiner Stiefmutter und ließ sich auf einen Stuhl fallen. «Morgen, spätestens übermorgen ist die Elbe frei», verkündete er. «Das Eis ist fast weg, und der Lotsinspektor hat die Peilungen für das Fahrwasser bis Cuxhaven schon bekommen. Vor Altona wird zwar noch gelotet, aber auch das ist heute Nachmittag erledigt.» Er griff nach dem Brot, brach ein Stück ab, schwankte kurz zwischen Aalpastete und Hirschschinken, entschied sich für Letzteren und fuhr fort: «Aber darüber redet heute Morgen am Hafen kein Mensch. Alle reden nur über die Rose of Rye. Ein ganz passables Schiff, das kann niemand bestreiten, und ein frecher Kapitän. Paulung hat verdammtes Glück gehabt, dass er nicht auf einem der Sände gelandet ist.»

Die Rose of Rye, eine englische Bark, war gestern mit der Dämmerung in den Hafen eingelaufen, das erste Schiff in diesem Frühjahr, und auch wenn mancher anerkennend durch die Zähne gepfiffen hatte, war die Empörung über den Kapitän groß. Dem hatte trotz des schwachen Windes das auflaufende Wasser gereicht, von seinem Ankerplatz vor Glückstadt den Hamburger Hafen zu erreichen. Er hatte noch mehr Glück gehabt, dass das

Rose of Rye