Umschlag

Bent Ohle, 1973 in Wolfenbüttel geboren, wuchs in Braunschweig auf und studierte zunächst in Osnabrück, bis er an die Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg wechselte, wo er als Film- und Fernsehdramaturg seinen Abschluss machte. Heute lebt er mit seiner Familie wieder in Braunschweig.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2015 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: iStockphoto.com/FuatKose
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Marit Obsen
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-857-1
Originalausgabe

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Für Tayfun

Ein Vater muss lernen,

das Handeln seiner Söhne zu akzeptieren,

und zwar nicht gemessen an seinen Wünschen,

sondern an deren Möglichkeiten.

Niccolò Machiavelli

Man verdirbt einen Jüngling am sichersten,

wenn man ihn anleitet,

den Gleichdenkenden höher zu achten

als den Andersdenkenden.

Friedrich Nietzsche

Teil I

Im Namen des Vaters

1

Feiner Steinsand rieselte in einem schmalen Vorhang von der rissigen Decke herab, als draußen ein schwerer Laster über die Brücke an der Via Marconi in Richtung Drususallee fuhr. Fernando lenkte seinen Blick nach oben. Unter dem blassgelb gestrichenen Putz konnte er bereits den nackten Stein erkennen. Mit der Hand wischte er den Staub vom Tisch und hinterließ dabei einen trockenen weißen Film auf der dunklen Tischplatte. Er hatte das Gefühl, dass man ihn heute länger warten ließ als sonst. Seit einer Viertelstunde saß er nun schon hier in dem fast quadratischen Raum im zweiten Stock. Mit den Kniekehlen schob er im Aufstehen den Stuhl zurück und ging hinüber zum vergitterten Fenster. Die Bäume auf der Via Dante beschatteten die Straße, sodass sich das Sonnenlicht nur in unregelmäßigen Flecken auf den gegenüberliegenden Häusern zeigte. Ein leichter Schimmelgeruch stieg Fernando in die Nase, was vermutlich von den dunklen Sprenkeln in den Ecken der Zimmerdecke herrührte. Obwohl es Juni und sommerlich warm war, fröstelte er.

Endlich vernahm er Schritte. Die Tür wurde aufgesperrt, und der Carabiniere, der ihn eingelassen hatte, trat ein. »Signor Lovecchio, der Insasse Branzo kann aufgrund einer Fußverletzung nicht kommen. Aber der Capitano erlaubt es Ihnen, ihn in seiner Zelle zu besuchen.«

Der junge Mann, Fernando hatte ihn schon ein paarmal bei seinen bisherigen Besuchen gesehen, blickte ihm leidenschaftslos aus dunklen Augen unter kräftigen schwarzen Brauen entgegen.

»Gern«, sagte Fernando und bewegte sich auf den Polizisten zu, der ihn aus der Polizeistation hinaus und in ein zweites Gebäude führte: das Gefängnis von Bozen. Man kannte Fernando hier bereits seit einigen Jahren. Er hatte mehrere Mörder und Gewaltverbrecher zu Recherchezwecken interviewt und war also schon ein wenig an dieses Gebäude gewöhnt, in dem eine gespenstische Stimmung herrschte. In den langen Gängen hallten das Gemurmel und die Geräusche sowie die Stimmen von Hunderten Insassen wider. Verrückte, traurige, beängstigende, verwirrende Geräusche. Einen niederschmetternderen Ort hatte Fernando niemals gesehen, er stand in einem unglaublichen Gegensatz zu seinem Leben da draußen, außerhalb der maroden Mauern. Trotzdem kam er immer wieder hierher. Trotzdem traf er sich mit diesen Menschen, die dazu verurteilt waren, den Rest ihres Lebens hier zu verbringen. Er hatte sich nie ernsthaft gefragt, warum das so war, warum er sich ausgerechnet mit ihnen beschäftigte.

Was war es, das ihn antrieb? Er hatte keine Antwort, außer der, dass es sein Wunsch war, sein Interesse, sich mit diesen Männern auseinanderzusetzen, mit ihnen zu sprechen, in der Hoffnung, sie dadurch besser verstehen zu können.

Der Carabiniere blieb stehen, zog einen rasselnden Schlüsselbund hervor und öffnete mit einem großbärtigen Schlüssel den Riegel einer Metalltür. Mit der Hand an der Dienstwaffe schob er die Tür auf und ging voran. »Signor Branzo, Ihr Besuch ist da.«

Er verpasste dem auf dem Bett liegenden Mann ein Paar Handschellen, während Fernando in der Tür stehen blieb und wartete. Ein routinemäßiger Vorgang für beide Männer. Es dauerte kaum drei Sekunden, dann ließ der junge Mann Fernando mit Branzo allein. »Wie lange brauchen Sie?«, fragte er beim Rausgehen.

»Ich schätze ein, zwei Stunden.«

Der Carabiniere schaute unzufrieden auf seine Armbanduhr. »Um zwölf hole ich Sie wieder ab. Eine Wache ist immer auf dem Gang. In Notfällen klopfen Sie bitte.«

»Ich weiß, danke.«

Der Carabiniere zog die Tür zu, und Fernando drehte sich zu Branzo um. Der Gefangene war Mitte sechzig, stoppelbärtig und trug einen Kranz aus kurz rasierten grauen Haaren um seinen flachen Schädel. Die kleinen, runden Augen in seinem breiten Gesicht blickten listig, und die Fältchen in seinen Augenwinkeln hätte man bei anderen Menschen für Lachfalten halten können. Bei ihm rührten sie jedoch nicht vom Lachen, sondern von einem mimischen Automatismus her, der einem Lächeln nur optisch gleichkam.

»Buongiorno!«, grüßte Branzo und hielt Fernando seine angekettete rechte Hand hin.

Fernando schüttelte sie und nahm dabei gleichzeitig den beißenden Körpergeruch des Mannes und einen stechenden Uringestank wahr, der von der Kloschüssel in der Ecke der Zelle herrührte. »Buongiorno. Was ist mit Ihrem Fuß?«, fragte er und wies auf Branzos geschwollenen linken Knöchel.

»Keine Ahnung, manchmal wird er einfach dick, und ich kann kaum noch auftreten vor Schmerzen. Hab eine Salbe vom Arzt bekommen. Mal sehen, ob’s was bringt.«

Fernando sah sich in dem engen Raum um. Ein schmaler Schrank mit aufgeplatztem Furnier direkt neben der Tür. Ein Tisch ohne Stuhl an der Fensterwand, die Pritsche, und das war es auch schon.

»Sie können sich draufsetzen«, meinte Branzo und deutete auf die Tischplatte. Das Fenster über Branzos Kopf stand offen. Die Stahlgitter warfen Schattenstreifen an die gegenüberliegende Wand mit dem schmutzigen Spiegel über einem gelblichen Waschbecken.

Auch hier in der Zelle war der Putz rissig und porös. Es roch nach feuchtem Stein, und die Hitze stand wie ein Block im Raum. In einem fast schon gehässig zu nennenden Gegensatz dazu blickte man durch das Fenster hinaus auf die grünen, sonnenbeschienenen Berge, die Bozen umsäumten, und ihre in der Ferne leuchtenden Weinfelder. Der Talferbach plätscherte vorbei, und auf dem diesseitigen Ufer verlief ein Grünstreifen, der gern von Spaziergängern genutzt wurde. Die Freiheit und Schönheit des Ortes lagen direkt vor diesem Fenster. Branzo hatte mit Klebeband zwei Rasierspiegel an den Gitterstäben befestigt, sodass er hinausschauen konnte, wenn er im Bett lag oder am Tisch saß.

»Gibt es keinen Stuhl?«, fragte Fernando und ließ sich auf der Tischplatte nieder.

»Kaputt. Vielleicht kriege ich irgendwann einen neuen.« Branzo kratzte sich an der Schläfe.

»Na gut, wir haben mal wieder wenig Zeit«, begann Fernando.

»Was woll’n Sie denn diesmal wissen?«

Fernando lauschte einen Moment der flachen Atmung des Mannes und sah zu, wie sich dessen Brustkorb hob und senkte. Auf Branzos weißem T-Shirt lag ein Kruzifix, das an einer Kette um seinen Hals befestigt war.

Marco Antonio Branzo war ein Serienmörder. Er hatte fünfzehn Frauen innerhalb von zwanzig Jahren brutal ermordet und Dutzende weitere Überfälle begangen, bei denen die Frauen zum Teil schwer verletzt worden waren. Die Presse hatte ihn »Die Bestie von Bozen« getauft, weil er alle seine Taten in und im Umkreis von hundert Kilometern um Bozen herum begangen hatte. Seine Vorgehensweise war so simpel, dass es ein Wunder war, dass er nicht schon viel früher gefasst wurde. Er suchte sich immer einen bestimmten Ort oder einen Stadtteil aus, in dem er sich dann den ganzen Tag aufhielt und zu Fuß durch die Straßen lief. Von Mal zu Mal tarnte er sich lediglich mit verschiedenen Hüten oder ließ sich einen Bart stehen. Oft hatte er einen Hund dabei, um den Eindruck zu vermitteln, einfach nur mit diesem spazieren zu gehen. Während seiner Fußmärsche hielt er nach Frauen Ausschau, die allein lebten oder deren Männer an dem jeweiligen Tag nicht zu Hause waren. Er wählte sein Opfer aus, beobachtete es und stieg in der Nacht durch ein Fenster oder eine Terrassentür ein. Dann überfiel er die Frauen im Schlaf.

»Ich würde heute gern über Ihre Eltern sprechen. Wie waren sie so? Was haben sie gemacht? Welche Erinnerungen haben Sie an sie?«

Fernando zog ein kleines, an den Ecken zerknittertes Notizbuch aus der Gesäßtasche seiner Jeans und schlug es auf. Trotz der Hitze trug er lange Hosen und lederne Bergstiefel. Einen bis auf fünf Zentimeter heruntergeschriebenen Bleistift fand er in seiner anderen Tasche.

Branzo drehte sich halb auf die Seite und sah ihn an. Schweißperlen standen auf seinem Schädel. »Meine Eltern? Wieso meine Eltern?«, fragte er verständnislos und legte sich wieder gerade hin. Jetzt erst bemerkte Fernando, dass Branzo aus seiner Position direkt in den Spiegel über dem Waschbecken schauen konnte, in dem wiederum der am Fenster angebrachte Spiegel zu sehen war, sodass er von dort aus tatsächlich auf die Uferpromenade blicken konnte.

»Glauben Sie, dass man böse auf die Welt kommt?«, fragte Fernando.

»Gott hat uns alle geschaffen. Das Böse gehört ebenso zu dieser Welt wie das Gute. Ich bin einfach auf der falschen Seite gelandet, schätze ich.«

»Glauben Sie an Gott?«

»Sicher, ich bin Katholik.«

»Dann haben Ihre Eltern Sie katholisch erzogen. Niemand ist von Geburt an gläubig.«

Wieder drehte Branzo sich zu Fernando um, und diesmal lief diesem ein kalter Schauer über den Rücken. Schnell lenkte er seinen Blick ins Buch und notierte sich etwas.

»Meine Eltern waren gute, großzügige Menschen. Einfach und … heilig.«

»Heilige?«, hakte Fernando aufmerksam nach, bemüht, seinen Unglauben nicht zu zeigen.

»Sie wissen, was ich meine. Sie waren immer freundlich, umsorgten mich und kümmerten sich.«

Fernando kritzelte die Worte »umsorgten mich« in sein Heft und unterstrich sie. »Haben Sie Geschwister?«

»Das wissen Sie nicht? Sie haben doch sicher alles über mich gelesen.« Branzo wackelte ungehalten mit seinem verletzten Fuß.

»Sie hatten einen Bruder«, gab Fernando zu. »Was passierte mit ihm?«

Branzo faltete seine Hände über dem Bauch und löste sie gleich wieder, um sie an die Seiten seines Körpers zu legen. Seine Finger spielten mit dem schmutzigen Stoff seines Hemdes. »Er starb, als er zehn war.«

»Ein Unfall, richtig?«

»Er stürzte. In den Bergen. Ich hab ihn gefunden.«

»Das war sicher schlimm für Sie. Wie alt waren Sie da?«

»Ich war sieben.«

»Und liebten Sie Ihren Bruder?«

Ohne eine Vorankündigung schlug Branzo plötzlich mit beiden Fäusten gegen die Wand, dass es einen dumpfen Knall gab.

»Herrgott, fragen Sie schon, ob ich es war«, zischte er, und Speichel flog ihm aus dem Mund. Unterdrückte Wut zeichnete sich in seinem geröteten Gesicht ab. Fernando bekam eine ungefähre Ahnung davon, wie er aussehen musste, wenn er andere zu Opfern machte.

»Schon gut. Mein Fehler«, sagte Fernando. »Ich habe in unserem letzten Gespräch wohl nicht ausreichend deutlich gemacht, worum es mir geht. Ich bin kein Polizist, das wissen Sie, ich schreibe völlig unabhängig. Was ich will, sind echte, ehrliche Informationen. Ich hatte Sie gefragt, ob Sie mit mir sprechen wollen, und Sie hatten eingewilligt. Das ist aber keine Märchenstunde hier, ich will, dass Sie mir die Wahrheit sagen und nicht irgendeinen Quatsch erzählen, von wegen ›meine heiligen Eltern umsorgten mich‹. Entweder wir reden Klartext oder gar nicht. Und ja, ich glaube wie viele andere auch, dass Sie Ihren Bruder getötet haben, das stimmt. Es spricht einiges dafür. Aber ich will kein Schuldeingeständnis von Ihnen, sondern die Wahrheit. Sie sitzen sowieso den Rest Ihres Lebens in dieser Zelle, also können Sie auch ehrlich sein.«

Fernando war voll auf Konfrontationskurs gegangen. So, wie er Branzo einschätzte, nützte es nichts, ihm Honig um den Mund zu schmieren. Und er mochte es, direkt zu sein.

Branzo entspannte sich und atmete aus. »So einer sind Sie also«, sagte er so leise, dass man es für ein Selbstgespräch halten könnte.

Danach dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis Branzo wieder den Mund aufmachte. Er musste sehr gut über seinen nächsten Schritt nachgedacht haben. Ein Stöhnen drang aus seiner Kehle, als er seine Hände aufs Gesicht legte. Dann stieß er einen langen, hohlen, verzweifelten Schrei aus. Sein ganzer Körper war angespannt, und seine Halsschlagader trat hervor.

Fernando meinte, dass nun sofort eine Wache kommen müsste, doch draußen auf dem Flur war nichts zu hören. Die Wache, die zu seiner Hilfe hätte kommen sollen, wenn Branzo ihn angegriffen hätte, war entweder gar nicht da, oder es war ihr egal.

Branzo krallte die Finger in sein Gesicht und ließ sie langsam nach unten gleiten, was seine Züge in eine Fratze verwandelte. Er atmete tief durch und schüttelte den Kopf. »Nein. Keine Heiligen«, sagte er. Sein trüber Blick war starr an die Decke geheftet.

Fernando bemerkte eine Gänsehaut auf Branzos Armen, er schien leicht zu zittern.

»Sie waren Feldarbeiter. Mein Vater ein Schwächling, meine Mutter eine Hexe. Sie war die Königin. Eine schmutzige, verdorbene, eiskalte Königin, die mich hasste. Ich hab nie gewusst, warum. Ich denke heute, dass sie mich so gehasst hat, weil ich ein uneheliches Kind bin. Ich sah keinem ähnlich. Nicht meinem Vater, nicht meiner Mutter oder meinem Bruder. Sie hat mich dafür bestraft. Selbst hat sie sich nie die Hände schmutzig gemacht. Das erledigten andere für sie. Mein Vater musste es tun. Im Stall. Sie stand nur da und schaute zu. Aber es machte ihr Spaß. Sie hatte Freude daran, zuzusehen.« Er schloss die Augen. Ein kurzes Schaudern ging durch seinen Körper. »Ich musste mich ausziehen. Dann bekam ich das Ochsenjoch umgehängt. Und mein Vater musste mich mit den Holzscheiten schlagen. ›Auf die Knöchel‹, hat sie immer gesagt, ›auf die Knöchel.‹ Mein Bruder durfte zusehen. Er sollte dann auf der Flöte spielen, auf dieser verdammten Scheiß-Flöte. Damit man mich nicht hörte, wenn ich schrie. Einmal warfen sie mich zu den Kühen, und sie befahl ihm, die Tiere mit einer Forke zu stechen. Sie trampelten auf mir herum, bis ich ohnmächtig wurde. Danach sagte sie den Leuten im Dorf, ich sei krank. Keiner solle zu uns raufkommen, um sich nicht anzustecken.«

Branzos Stimme war immer schwächer geworden, und jetzt pausierte er. Fernando traute sich nicht, etwas zu sagen, er ließ ihm die Zeit, die er brauchte.

»Es war an einem Sonntag, nach der Kirche. Es war kalt und neblig. Cesare und ich waren in den Bergen unterwegs. Er setzte sich auf einen Felsen, während ich nach Holz zum Schnitzen suchte, und er fing an, auf seiner Flöte zu spielen. Da hab ich einen Stein genommen, bin zu ihm hin und hab so fest zugeschlagen, wie ich nur konnte. Dafür komme ich in die Hölle, das weiß ich. Aber schlimmer als hier kann es da auch nicht sein.«

Branzo atmete so lange aus, dass Fernando schon glaubte, er täte seinen letzten Atemzug. Er hatte ihm gestanden, seinen Bruder ermordet zu haben. Wieder verdeckte er sein Gesicht mit den geketteten Händen. Da hörten sie, wie das Schloss entriegelt wurde. Fernando blickte auf seine Uhr. Es war drei Minuten vor zwölf.

»Die Zeit ist um«, verkündete der Carabiniere und kam herein, um die Handschellen zu öffnen.

»Lovecchio, tun Sie mir einen Gefallen?«, fragte Branzo gehetzt, als Fernando aufstand und sein Notizbuch einsteckte.

»Natürlich.«

»Hängen Sie bitte den einen Spiegel um? Heute ist Herz-Jesu-Nacht. Ich will die Berge sehen.«

Fernando blickte aus dem Fenster. Tatsächlich, auf einem der Gipfel hatte man ein Kreuz errichtet, das heute Nacht brennen würde. Er nahm den Spiegel aus seiner mit Klebeband gebastelten Vorrichtung heraus und hängte ihn auf die andere Seite.

»Danke«, sagte Branzo und reichte ihm die Hand. Fernando schüttelte sie.

»Kommen Sie bitte«, sagte der Polizist und machte eine auffordernde Geste in Richtung Tür.

»Ich danke Ihnen«, sagte Fernando zu Branzo und folgte dem Carabiniere nach draußen.

***

Fernando trat aus der Polizeistation heraus und genoss für einen Augenblick die frische Luft. Schräg gegenüber, vor dem Auditorium, stand eine gut gekleidete, attraktive Frau mit einer Laptoptasche unter dem Arm. Sie lächelte ihn fast mitleidig an, und Fernando fragte sich, ob sie ihn für einen Häftling hielt, der gerade entlassen worden war. Mit seinem dichten braunen Vollbart und den schulterlangen Haaren, mit seinem karierten, offen stehenden Hemd über dem weißen T-Shirt glich er mehr einem Holzfäller als einem Autor.

Er hatte seinen Land Rover Defender an der Via Marconi geparkt, weil er seine Gitarre beim Musikhaus Walter in Reparatur gegeben hatte und jetzt abholen wollte, bevor es nach Hause ging. Die alte Höfner brauchte einen neuen Steg.

»Ah, da kommt ja Kenny Loggins!«, rief der Besitzer, als Fernando eintrat. Tatsächlich hatte er ein wenig Ähnlichkeit mit dem amerikanischen Sänger, und der Besitzer machte sich einen Spaß daraus, seine Kunden mit den Namen berühmter Musiker anzusprechen.

Sie hatten einen Knochensteg eingebaut und neue Saiten aufgezogen. Gute Arbeit. Fernando bezahlte, packte seine Gitarre in den Koffer und stieg in seinen Defender. Er fuhr in Richtung Norden auf die Autobahn 22 und folgte ihr bis zur Abfahrt Waidbruck, die über den Eisack verlief. Die Straße ins Grödnertal, ins Val Gardena, führte ihn durch einen Tunnel und anschließend in eine enge Schlucht, die immer weiter hinaufführte, bis sich das Tal hinter dem kleinen Ort Sankt Peter öffnete.

In Sankt Ulrich kaufte Fernando in dem kleinen Spar-Laden in der Via Rezia etwas Hartwurst und Weißbrot für sich und eine Wurst für Dante, damit sie es sich heute Abend auf dem Berg gut gehen lassen konnten. Dante, ein Irischer Terrier mit leuchtend rotem Fell und einer herzförmigen Blässe auf der Brust, war Fernandos einziger Freund und Gesprächspartner in der Einsamkeit seiner Berghütte. Er hatte dieses Leben abseits der Menschen und ohne jeglichen Kontakt zu ihnen selbst gewählt. Nach seinem Studium in Mailand war er in sein Heimattal zurückgekehrt, um zu schreiben, und hatte sich dort nach dem Erfolg seines ersten Buches eine kleine, fernab der Zivilisation gelegene Hütte gekauft, im Annatal, mitten in den bewaldeten Hängen zwischen dem Raschötz und dem Seceda. Die einzige Verbindung zur Außenwelt waren sein Laptop und ein Handy, das er nur zu Notfallzwecken besaß. Im Ort war er bekannt als »der Mann aus den Bergen«, der einsame Schriftsteller mit seinem Hund. Man kannte ihn, weil er hier einkaufte, aber so gut wie niemand hatte seine Bücher gelesen. Und wenn doch, hatte der- oder diejenige mit Unverständnis darauf reagiert.

Nur die wenigsten konnten seiner Arbeit etwas Positives abringen. Er war bei seinen Lesern als »Mörderfreund« verschrien. So hatte ihn einmal ein Kunde bei Amazon in seiner Bewertung tituliert, und Fernando hatte zwar erwirken können, dass man diesen Beitrag aus den Bewertungen strich. Aber ein Großteil der übrigen Kritiken hatte einen ganz ähnlichen Tenor.

»Schreibst du gerade ein neues Buch?«, fragte Maria, die Bedienung an der Fleischtheke. Sie war eine sehr freundliche und hübsche junge Frau, die immer lächelte und stets gute Laune zu haben schien. Sie war einer der Gründe, warum Fernando gerade hier einkaufen ging.

»Ja, ich bin sozusagen mittendrin, muss aber noch ein paar Interviews führen«, antwortete er, und eine ältere Dame hinter ihm in der Schlange beäugte ihn misstrauisch von der Seite. »Ich komme eben aus Bozen«, fügte Fernando erklärend hinzu. Maria wusste, was er dort tat, also nickte sie nur und zwinkerte ihm zu.

»Was machst du heute Abend?«, fragte sie. »Es ist Herz-Jesu-Nacht.«

Es klang fast wie eine Einladung, aber er wusste, dass es nicht so gemeint war.

»Ich geh auf den Raschötz.«

»Ich auch, vielleicht sehen wir uns ja.«

»Das wär schön.«

»Dann bis heute Abend.«

»Ciao«, sagte Fernando, nahm sein Paket entgegen und ging zur Kasse.

Der Ort war in geschäftiger Aufregung. Die Straßen voll von Menschen, viele Frauen in Trachten, die Männer vom Südtiroler Schützenbund in ihren typischen Lederhosen, Trachtenjacken, Kniestrümpfen und federbeschmückten Hüten. An den Hängen der Berge konnte man bei genauerem Hinsehen Männer erkennen, die die herzförmigen Feuerstellen an den Hängen installierten. Bald würden die Schützenmärsche durch den Ort beginnen.

Fernando wollte diesem Trubel so schnell es ging entfliehen. Er mochte große Menschenansammlungen nicht. Auch heute Abend auf dem Gipfel des Raschötz würde er sich abseits halten.

Die schmale Straße, die zu seinem Haus führte, schlängelte sich zwischen Häuserzeilen durch, in denen vielerorts gebaut und renoviert wurde. Nachdem er den kurzen Tunnel oberhalb des Ortes durchfahren hatte, standen nur noch vereinzelt Anwesen an den Hängen. Der Defender erklomm die steiler werdende Straße bis zu deren Ende, woraufhin Fernando in einen matschigen Seitenweg einbog, auf dem man nur zu Fuß oder mit geländegängigen Fahrzeugen unterwegs sein konnte. Es ging durch einen dichten Fichtenwald, bis er eine nahezu kreisrunde Lichtung erreichte, ein Plateau, das direkt auf das Seceda-Massiv blickte. Die Hütte aus dunklem, wettergezeichnetem Holz stand am hinteren Rand, mit der Veranda und einer Sitzbank und Tisch links des Eingangs in der Sonne. Dante bellte aufgeregt und sprang um das Auto herum. Er hatte das Motorengeräusch längst erkannt und konnte es kaum noch abwarten, bis sein Herrchen ausstieg.

»Hey, Dany«, begrüßte Fernando ihn und wuschelte dem Hund durch das rote Fell. »Hast du gut aufgepasst? Keine bösen Buben hier gewesen? Oder hattest du einen zum Frühstück?«

Der Hund leckte ihm die Hände und roch daran das Fleisch, das Fernando eingekauft hatte. Er war ein recht großes Exemplar für einen Irischen Terrier, sah mit seinen treuen braunen Augen jedoch wie ein harmloses, verspieltes Hündchen aus. Dieser Eindruck konnte sich allerdings als ganz falsch erweisen, wenn es darum ging, Fernando zu verteidigen. Irische Terrier waren für ihre unbedingte Zuneigung zu ihren Herren bekannt und zudem hartgesottene Kämpfernaturen, denen Schmerzen nicht viel ausmachten.

»Na komm, ich mach uns Kaffee«, sagte Fernando, holte seine Einkäufe und die Gitarre von der Rückbank und ging ins Haus.

Sein amerikanischer Briefkasten, der unten an der asphaltierten Straße stand, hatte vier Briefe für ihn gehabt. Mit seiner dampfenden Tasse Kaffee und den Umschlägen setzte er sich raus auf die Veranda. Dante nahm neben ihm Platz und genoss die warmen Sonnenstrahlen.

»Oh, vom Verlag«, sagte Fernando, als er die Absenderadresse des zweiten Briefes las. Mit dem Finger schlitzte er den Umschlag auf und entnahm ihm das Schreiben. »Sehr geehrter Herr Lovecchio, mit Interesse haben wir Ihr Manuskriptangebot gelesen, sehen jedoch keine Möglichkeit, das Buch in unserem Verlag zu veröffentlichen. Das ist kein Urteil über die Qualität Ihres Manuskripts, es ist lediglich … bla, bla, bla.« Er atmete frustriert aus und hielt Dante den Brief hin. »Hier, willst du ihn fressen?«

Der Terrier schnüffelte müde und blickte sein Herrchen verständnislos an.

»Das ist die … zwölfte Absage, glaube ich«, meinte Fernando und nahm einen Schluck Kaffee. »Irgendwann werden wir doch noch mit ’ner Hundenummer auftreten müssen, um Geld zu verdienen.«

Dante spitzte die Ohren, als ahnte er, dass er ein Teil dieser Überlegung war.

Fernando sah ihn an. »Branzo hat mir heute gestanden, dass er seinen Bruder umgebracht hat, kannst du dir das vorstellen? Er war sieben Jahre alt.« Nachdenklich blickte er rüber zum Seceda, dessen Spitzen bereits in ein goldenes Licht getaucht waren.

Hatte es überhaupt noch Sinn, weiterzumachen? Sein Buch war halb fertig, und die Interviews mit Branzo entwickelten sich vielversprechend. Aber kein Verlag wollte es haben. Wenn Branzo auch über die Taten Auskunft gab, wegen denen er verurteilt worden war, könnte er vielleicht etwas erreichen. Die sensationsgierigen Medien würden sich darauf stürzen, wenn Südtirols gefährlichster Serienmörder, die Bestie von Bozen, sein Schweigen brach. Aber das wiederum wäre Fernando nicht recht. Er wollte diese Sensationsgier nicht für seine Zwecke nutzen müssen. Wenn er allerdings seine Finanzen betrachtete, blieb ihm womöglich keine große Wahl. Es musste langsam ein finanzieller Fluss zustande kommen. Er lebte ausschließlich von seinen Reserven, die nicht gerade astronomisch waren. Seine letzten beiden Bücher hatten ihm mehr Arbeit als Geld eingebracht – und Missgunst. Das war vielleicht ein Teil des Problems, ein möglicher Grund, warum Verlage nicht mit ihm zusammenarbeiten wollten: Er war unpopulär. Und dieser Fakt verkaufte eben keine Bücher.

»Scheiß drauf«, murmelte er, ging hinein und holte seinen Laptop nach draußen. Es gab noch drei weitere Verlage, die er kontaktieren wollte, und für die schrieb er nun einen neuen Bewerbungstext, der ganz auf Marco Antonio Branzo und seine schrecklichen Geheimnisse gemünzt war.

2

Gegen siebzehn Uhr hatte Fernando seinen Rucksack gepackt: das Essen, etwas Wein und Wasser, ein Fernglas, eine Taschenlampe und eine wärmere Jacke für den Abstieg am späten Abend. Er nutzte den Aufstieg, um eine schöne Tour mit Dante zu unternehmen, der die Hänge des Raschötz als sein Revier betrachtete. Aufgeregt lief er durch den Wald und suchte alle Verstecke, Höhlen und Rastplätze der hier lebenden Tiere auf. Stets reichte ein Pfiff von Fernando, um ihn wieder zurück an dessen Seite zu holen.

Sie marschierten zwei Stunden abseits der Wege und kamen gegen neunzehn Uhr an der Flitzer Scharte heraus, wo sie den Weg in Richtung Raschötz einschlugen. Hier begegneten sie bereits vielen Touristen und einheimischen Herz-Jesu-Anhängern. Von der Alm aus hatte man einen wunderbaren Blick auf die Berge und die Almen rund um das Grödnertal. Es war die blaue Stunde. Der Himmel leuchtete kobaltfarben, und die Bergmassive zeichneten sich schwarz wie Scherenschnitte dagegen ab. Die Spitzen der Berge waren gesäumt von golden funkelnden Feuern, Kreuze und Herzen leuchteten an den Hängen, und der in den Abendhimmel aufsteigende Rauch schwebte als blaugrauer Dunst über der Alm.

Unter dem großen Gipfelkreuz des Raschötz brannte ein hoch aufgetürmter Holzhaufen, der das Bild des gekreuzigten Jesus flackernd und weithin sichtbar beleuchtete. Ein Kreis aus Menschen umgab das Feuer, Stimmen, Lachen und Musik drangen durch die Dunkelheit. Auch unten in der Raschötz-Hütte herrschte reges Treiben, und die Almwiesen waren bevölkert von Menschen.

Fernando ging bis zu der Bank mit dem geschnitzten Adler, sah kurz den Feierlichkeiten zu und setzte sich dann ab, um für sich zu sein und den Blick auf die Feuer zu genießen. Irgendwo zwischen den vielen Leuten war Maria, doch er hatte kein Interesse, sie suchen zu gehen. Mit Dante, der die Aufregung in der Herz-Jesu-Nacht bereits kannte, ließ er sich auf einem Felsen nieder und holte Brot, Wein und Wurst aus dem Rucksack. Hin und wieder knallten Schüsse der Kanonen des Schützenbundes weit durch das Tal, und die Berge warfen ihr Echo zurück.

Zufrieden genossen die beiden ihr Mahl und schwiegen miteinander. Es war ein wunderbarer, milder Abend, und der Lichterreigen hatte etwas Erhebendes für Fernando, auch wenn es nicht sein Fest war. Aber er nahm gern Anteil daran, ganz für sich.

Die Flasche war geleert, und es ging auf zehn Uhr zu, da packte er seine Sachen zusammen, zog sich die Jacke über und machte sich auf den Heimweg. »Na komm, alter Junge. Heimwärts«, sagte er, und der Terrier lief voran.

Sie erreichten die Hütte um elf Uhr. Fernando ging sofort zu Bett und schlief unruhig und nicht sehr tief, weil die Geräusche ringsum so ungewohnt waren.

Der nächste Morgen begann mit Frühnebel, der aber bald der Sonne wich und einen klaren Tag freigab, der versprach, sehr warm zu werden. Gleich nach dem Frühstück machten Fernando und Dante ihren morgendlichen Spaziergang. Der Geruch von fast erkalteten Feuerstellen lag in der Luft, und als die beiden auf der Raschötz-Alm ankamen und einen Blick zurück auf das Gipfelkreuz warfen, unter dem sich gestern Abend alle um das große Feuer versammelt hatten, bemerkten sie etwas Ungewöhnliches. Blaues Licht schlug in regelmäßigen Abständen über die grünen Hänge. Anscheinend war ein Rettungswagen hier oben unterwegs. Manchmal gab es bei den Feierlichkeiten Verletzte. Zumeist waren das Brandverletzungen, aber die Vorstellung, dass jetzt noch ein solcher Notfall zu bergen war, stieß Fernando komisch auf.

Sie widmeten sich wieder ihrer Strecke und liefen bis zur Brogleshütte, wo sie vom Wirt mit einem herzlichen Winken begrüßt wurden. Später, als sie zu Hause ankamen, packte Fernando die Briefe für die Verlage ein und fuhr mit seinem Hund hinunter zur Post.

Kurz bevor er die Anschreiben in den Schlitz fallen ließ, hielt er inne. »Das ist unsere letzte Chance«, verkündete er, und Dante sah ihn so traurig an, dass er tröstend hinzufügte: »Aber es tun sich immer wieder neue Möglichkeiten auf, keine Angst, Dany.«

Die Briefe plumpsten in den Kasten, und Fernando glaubte sein weiteres noch unbekanntes Schicksal besiegelt.

Als sie danach zu Fuß durch den Ort gingen, um noch ein paar Besorgungen zu machen, fielen Fernando die ungewöhnlich vielen Carabinieri auf, die hier unterwegs waren und Passanten befragten. Fernando betrat das alteingesessene Schnitzereien-Geschäft an der Ecke und stellte sich an den Tresen. Es war niemand zu sehen, doch aus einer Tür, die ins Lager führte, vernahm er Geräusche. Also wartete er, umringt von Hunderten Figuren, die in allen möglichen Größen den Verkaufsraum füllten und ihn wie eine stumme, fast anklagende Menge, die Fernando nicht wohlgesinnt war, beobachteten. Es war lächerlich, aber er fühlte sich bedrängt und war froh, als der Besitzer endlich durch die Tür trat.

»Ah, Herr Lovecchio, guten Morgen. Ihre Bestellung ist gestern angekommen.« Schon verschwand er wieder ins Lager und kam mit einem länglichen Päckchen zurück. »Da ist es«, verkündete er, legte es auf den Tresen und öffnete den Deckel für Fernando zur Begutachtung.

Es war ein Schärfleder für Messer. Fernando schätzte diese alte Art des Schärfens und zog sie handelsüblichen Schleifsteinen oder deren billigen Äquivalenten aus den Supermärkten vor. Sie schadeten der Klinge mehr, als dass sie sie schärften.

»Wunderbar, vielen Dank.«

»Freut mich. Zahlen Sie bar oder mit Karte?«

»Bar.«

Der kleine Mann mit dem Rundrücken und den stets aufgekrempelten Hemdsärmeln tippte etwas in seine Kasse ein, und die Schublade sprang auf. Fernando bemerkte einen weiteren Polizeiwagen, der am Schaufenster vorbei die Straße hinauffuhr.

»Sagen Sie, was ist hier eigentlich heute los?«, fragte er und legte das Geld auf den Teller.

»Haben Sie’s noch nicht gehört?«

»Nein, was denn?«

»Na, gestern Nacht, beim Herz-Jesu-Fest oben auf dem Raschötz, ist jemand ermordet worden. Ein junger Mann. Erschossen«, raunte der Besitzer und sah ihn bedeutsam an.

»Ach, wirklich?« Fernando war wie vor den Kopf gestoßen. So etwas hatte er nicht erwartet. Ein Mord, das war ein so fremdes Wort hier im Tal, dass es ihm gänzlich unwirklich vorkam.

»Ja, doch«, fügte der alte Mann hinzu. »Die haben ihn dort oben gefunden, als sie heute Morgen aufräumen wollten. Er lag direkt unterm Gipfelkreuz. Die stehen alle unter Schock.«

»Und weiß man, wer es ist?«, fragte Fernando.

»Ich glaube nicht. Aber jetzt werden alle befragt, ob sie was gesehen haben. Deshalb das ganze Aufgebot.«

Er drückte Fernando das Wechselgeld in die Hand. »Waren Sie nicht auch oben?«, wollte er wissen und stützte beide Hände auf den Glastresen.

»Ja, schon.«

Daraufhin nickte der Besitzer nur mit düsterem Blick, und Fernando verabschiedete sich.

Es war später Nachmittag, Fernando brachte gerade die Aufzeichnungen von Branzos letzter Befragung in das Manuskript ein. Er saß mit dem Laptop auf der Veranda, und Dante, der zu seinen Füßen unter dem Tisch lag, begann zu knurren.

»Dany, was ist los?«

Der Hund stand auf und stierte witternd in die Zufahrt. Nach wenigen Minuten konnte auch Fernando ein sich näherndes Motorengeräusch hören. Kurz darauf tauchte ein Geländefahrzeug der Polizei auf, und Dante preschte los, als gelte es, den Angriff eines Bären abzuwehren.

Das Auto hielt direkt vor den Stufen zur Veranda, und der Hund bellte das Gefährt so laut an, dass zunächst keiner der Fahrzeuginsassen aussteigen wollte. Es saßen drei Männer darin, vorn zwei Carabinieri und hinten ein Mann in Zivil. Fernando pfiff und klopfte gegen sein Bein. Sofort setzte sich Dante an seine Seite, ließ allerdings weiterhin ein unzufriedenes Grummeln hören.

Jetzt öffneten sich die Türen, und der Mann in Zivil bedeutete den beiden anderen, dass er allein gehen wolle.

»Buongiorno!«, grüßte er von Weitem.

Fernando erkannte an seinem Akzent und an seinem Aussehen, dass er kein Italiener war.

»Guten Tag«, antwortete er.

»Aufmerksamer Hund«, meinte der Mann und sah Dante mit gehörigem Respekt an.

»Ja, er ist ein Heißsporn. Was kann ich für Sie tun?«

Der Mann trat auf ihn zu und streckte die Hand aus. Fernando schlug ein.

»Mein Name ist Stefan Sassner. Ich bin stellvertretender Hauptkommissar bei der Quästur Bozen, Abteilung Kriminalpolizei«, stellte er sich vor und zeigte seinen Ausweis.

Fernando schob unmerklich die Unterlippe vor. Ein Südtiroler in einer so hohen Position der Bozener Polizei, das war ungewöhnlich.

»Fernando Lovecchio«, zog er gleich und fügte an: »Aber das wissen Sie ja bestimmt schon.«

Der Kommissar lächelte. »Ja, in der Tat. Und wie heißt Ihr braves Hundchen?«

»Dante.«

Jetzt lachte er laut auf. »Oh, ein fabelhafter Name für einen Hund.« Sein Lächeln verschwand wieder. »Ich möchte mich kurz mit Ihnen unterhalten, ginge das?«

»Ja, bitte.« Fernando machte eine einladende Geste in Richtung Veranda und ging vor.

»Sie leben hier ganz allein?«, fragte der Kommissar und warf einen schnellen, aber konzentrierten Blick durch die offen stehende Tür in die Hütte.

»Ich und der Hund.«

Sassner wandte sich um, und sein Blick heftete sich sofort an den Bildschirm. Ungeniert überflog er das, was Fernando geschrieben hatte.

Fernando setzte sich und klappte den Laptop zu. Sassner nahm auf der Bank Platz, schlug die Beine übereinander und legte die Hände auf dem Knie ab.

»Darf ich fragen, was Sie beruflich hier oben tun?«, wollte er wissen.

»Ich bin Autor. Ich schreibe hier.«

»Oh, das wusste ich nicht«, sagte Sassner überrascht. »Was schreiben Sie denn so? Hab ich schon etwas von Ihnen gelesen?«

»Das würden Sie wissen. Ich bin Sachbuchautor und schreibe vorwiegend über Schwerverbrecher, die ich für meine Bücher interviewe.«

»Ach. Dann sind Sie ja quasi vom Fach«, entgegnete Sassner. »Lovecchio, Lovecchio …«, wiederholte er und blickte dabei nachdenklich in die Luft.

»›Die Saat des Bösen‹ war mein erstes Buch und auch das erfolgreichste«, erklärte Fernando.

»Stimmt, ich meine sogar, ich habe es gelesen. Ist schon ein paar Jahre her. Sie brechen darin eine Lanze für die Schwerverbrecher.«

»So würde ich das nicht ausdrücken«, widersprach Fernando. »Ich plädiere nur dafür, dass man diese Menschen nicht einfach als Teufel hinstellt, sondern genau analysiert, wie sie zu dem geworden sind, was sie sind.«

»So, so. Verstehe.« Sassner blickte auf den Computer. »Und Sie arbeiten gerade an einem neuen Buch?«

»Richtig. Es handelt von Serientätern. Tinto, Fischnaller und Branzo, um genau zu sein.«

»Und mit denen sprechen Sie tatsächlich?«

»Das ist Teil meiner Arbeit, ja.«

Sassner ließ sich das eine Weile durch den Kopf gehen, bevor er endlich zur Sache kam. »Gut, aber der Grund, warum ich eigentlich hier bin, ist der, dass gestern Nacht oben auf dem Gipfel des Raschötz ein Mord verübt wurde.« Er sah Fernando forschend an.

»Ich hab davon gehört.«

»Im Dorf sagte man uns, dass Sie hier oben leben und die Gegend sehr gut kennen. Deswegen wenden wir uns an Sie. Sie waren nicht zufällig auch bei den Feierlichkeiten am Raschötz?«

»Doch, wir waren dort, aber abseits von dem ganzen Trubel.«

»Tatsächlich? Das ist ja großartig, dann können Sie uns sicher helfen.«

Sassner holte einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus der Innentasche seines Jacketts. Fernando musste grinsen, weil der Beamte ähnlich verfuhr wie er selbst bei seinen Interviews.

»Können Sie mir sagen, um wie viel Uhr Sie dort waren?«

»Wir haben einen Spaziergang gemacht und kamen gegen neunzehn Uhr dreißig auf der Alm an. Wir gingen kurz zum Kreuz und zogen uns dann in ein etwas erhöhtes Gebiet über der Bank östlich vom Kreuz zurück.«

»Die Bank mit dem Adler, ja, die habe ich gesehen. Wie lange blieben Sie etwa?«

»Um zehn Uhr machten wir uns auf den Heimweg und waren eine Stunde später hier.«

»Sind Ihnen auf Ihrem Weg vielleicht verdächtige Personen aufgefallen?«, fragte Sassner.

Fernando hob abschätzend seine Augenbrauen. »Ich weiß nicht, was als verdächtig gilt. Es waren sehr viele Menschen unterwegs.«

»Verdächtig sind alle, die sich anders verhalten als die große Masse«, erläuterte Sassner und schrieb dabei weiter.

»Ich schätze, dann hab nur ich mich verdächtig verhalten.«

Der Kommissar sah auf und blickte ihn regungslos an. »Und Geräusche? Wie steht’s damit?«, fragte er dann. »Das Opfer wurde erschossen, und zwar gegen ein Uhr nachts.«

»Da schlief ich bereits«, antwortete Fernando, »aber ich habe in der Nacht ständig irgendwas gehört. Die vom Südtiroler Schützenbund haben ja immer wieder Salutschüsse abgegeben.«

»Das hat sich der Täter wohl zunutze gemacht.« Sassner lenkte den Blick in die Ferne, kniff leicht die Augen zusammen und sinnierte.

Er war ein kräftiger Mann mit muskulösen Schultern und einem kurzen Hals. Seine aschblonden Haare waren kurz geschnitten und lichteten sich am Hinterkopf. Die sehr eng stehenden Augen waren auffällig dunkel, seine schmalen Lippen verliefen wie ein waagerechter Strich zwischen zwei tiefen Wangenfalten. Er machte einen sehr energischen Eindruck, und irgendwie wusste Fernando nicht genau, woran er bei ihm war. Seine Augen waren schwer zu lesen, fand er.

»Sind Sie auf Ihrem Weg einzelnen, auffälligen Personen begegnet? Männern, vorzugsweise, die vielleicht nicht unbedingt ins Bild passten? Der Täter muss ja irgendwie auf den Berg gekommen sein, so viele Möglichkeiten gibt es nicht.«

»Nur auf dem Hinweg haben wir Leute gesehen. Die ersten trafen wir an der Flitzer Scharte. Aber das waren alles Gruppen.«

»Wo ist das? Ich bin leider noch nicht sehr ortskundig.« Sassner holte eine zusammengefaltete Karte aus seiner Tasche und breitete sie auf dem Tisch aus. Er hatte sich bereits einige Notizen darauf gemacht und Markierungen gesetzt.

»Wir sind hier hochgelaufen, und dort ist die Flitzer Scharte. Dann ging es diesen Weg entlang.« Fernando fuhr die Strecke mit seinem Finger nach. »Bis zum Gipfelkreuz. Aber niemand ist mir aufgefallen. Und Dante hat einen guten Riecher für zwielichtige Personen.«

Sassner blickte zu dem Hund, der aufmerksam vor der Bank saß und seinen Blick zu erwidern schien.

»Das glaube ich ohne Weiteres.« Er wandte sich wieder der Karte zu. »Also gibt es eigentlich nur zwei Wege. Den von Osten her, den Sie genommen haben, und den westlichen, der runter zur Bergbahn führt.«

»Richtig. Den kann man auch mit dem Wagen bis maximal zur Kapelle befahren. Eine dritte Möglichkeit wäre es, von der nördlichen Seite des Raschötz hochzukommen, doch der Weg ist sehr steil. Man käme dann auch an der Flitzer Scharte heraus«, sagte Fernando.

Sassner nickte stumm, griff noch einmal in seine Tasche und legte ein Foto auf die Karte. Es zeigte einen Mann um die vierzig mit schwarzem Haar und einem offenen Lächeln.

»Haben Sie diesen Mann gesehen?«

»Nein.«

»Das ist das Opfer. Ein Italiener.«

Fernando mochte es nicht, dass er das so betonte.

»Sein Name ist Enzo Giordano. Sagt Ihnen das was?«

»Ich kenne ihn nicht.«

»Er ist der Sohn eines hier ansässigen Winzers und Millionärs. Antonio Giordano.«

»Doch, den Namen habe ich schon mal gelesen«, sagte Fernando. »Ich meine, den Wein kann man sogar hier im Supermarkt kaufen. Guter Wein.«

»Ja, ja, das wissen wir bereits. Haben Sie jemals von Problemen erfahren, die diesen Enzo Giordano betreffen?«

»Ich?«, fragte Fernando erstaunt. »Wie sollte ich?«

»Gerüchte, Herr Lovecchio, in so kleinen Gemeinden wie Sankt Ulrich gehen Gerüchte doch schnell herum. Enzo Giordano wohnte in einem Haus am Ortseingang von Sankt Ulrich«, entgegnete Sassner.

»Ich lebe ziemlich zurückgezogen.«

»Verstehe. Dann will ich Sie auch nicht weiter von Ihrer Arbeit abhalten.« Sassner stand auf, und sie gaben sich die Hand zum Abschied. »Sie kennen also Branzo?«, hakte Sassner wie beiläufig nach, und Fernando schien es, als festigte er seinen Handgriff.

»Ja, ich befrage ihn.«

»Ich habe ihn gefasst.« Er sah Fernando eindringlich, vielleicht sogar angriffslustig an.

Fernando nickte nur, und der Kommissar gab seine Hand frei.

»Auf Wiedersehen, Herr Lovecchio. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte bei mir.« Er streckte ihm mit zwei Fingern eine Visitenkarte entgegen.

»Das mache ich«, antwortete Fernando und sah zu, wie die Beamten in ihren Wagen stiegen und von der Lichtung fuhren.

Der nächste Tag begann ähnlich diesig wie der zuvor, doch als Fernando im Wagen in Richtung Bozen fuhr, setzte Nieselregen ein. Dante lag im Fußraum der Fahrerkabine. Eigentlich saß er gern auf dem Sitz und schaute hinaus, doch die Carabinieri hatten sie schon mehrere Male angehalten und verwarnt. Oben im Tal konnten sie das problemlos machen, doch wenn es wie heute Richtung Bozen ging, musste der Hund sich fügen, obwohl er ein besserer Beifahrer war als mancher Mensch.

Sie fuhren in eine kleine Ortschaft südlich von Bozen, die sich mit ihren schmutzig weißen Häuschen an einen weinbewachsenen Hügel schmiegte. Die meisten der Fensterläden, deren braune Farbe bereits abblätterte, waren geschlossen, und keine Menschenseele war auf der Straße zu sehen. Sicher waren die meisten der Bauern auf dem Feld.

Fernando hielt am Marktplatz vor einem Café und ging mit Dante vorneweg in eine enge Gasse, die von Wäscheleinen überdacht war, an denen die Kleidung unachtsam im Regen hing. Man hörte Geräusche aus den Häusern dringen, Pfannengeklapper, Fernsehstimmen und schreiende Kinder. An der ersten Gabelung bogen sie links ab. Der Weg wurde immer steiler, und schließlich erreichten sie eine rot gestrichene Tür mit drei Klingelschildern. Die Namen waren mit Kugelschreiber auf kleinen Zetteln hinter dem beschlagenen Glas geschrieben worden und witterten dort womöglich schon seit Jahrzehnten vor sich hin. Fernando drückte den Knopf neben dem Namen Branzo und wartete sehr lange, bis jemand in den Flur geschlurft kam. Eine alte Dame, in eine schwarze Stola gehüllt, öffnete.

»Signora Branzo, Fernando Lovecchio. Wir waren verabredet.«

»Ja, ich weiß. Kommen Sie rein«, sagte die alte Dame und lotste ihn in ihre Wohnung. Als sie den Hund sah, gab sie ein erstauntes Glucksen von sich.

»Er kann auch hier im Flur warten, wenn Sie ihn nicht in der Wohnung haben möchten«, bot Fernando an, doch die Dame winkte ab.

»Nein, nein, schon gut. Wenn er nichts kaputtmacht.«

Sie betraten die dunkle, kalte Wohnung, die dicht mit alten Eichenmöbeln zugestellt und in mehreren Lagen mit ausgetretenen, angegrauten Teppichen ausgelegt war. Es roch nach Schimmel und Zigarettenrauch. Frau Branzo schlurfte ins Wohnzimmer, bot ihm einen Sessel an und ging dann in die Küche. Dante setzte sich dicht an Fernandos Bein und schnüffelte vorsichtig. Die Signora kam mit einer Kaffeekanne und zwei Tassen zurück, die sie erstaunlich sicher trug. Sie hatte sich für ihr heutiges Treffen wahrscheinlich extra die Haare frisieren lassen und etwas Schminke aufgelegt.

Sie lächelte ihn freundlich an, als sie beide einen Schluck Kaffee genommen hatten, ordnete ihre Stola und atmete aus wie jemand, der eine schwere Last mit sich herumtrug, sich aber seit Jahren damit abgefunden hatte.

Fernando lächelte zurück. »Vielen Dank, dass Sie Zeit für mich haben, Signora Branzo. Wie ich am Telefon bereits sagte, geht es um Ihren Sohn. Ich habe ihn schon mehrere Male im Gefängnis getroffen und mich mit ihm unterhalten. Ich dachte, dass Sie mir vielleicht auch ein bisschen was über ihn erzählen könnten, das sein …«, er stockte einen Moment, »Verhalten besser erklären könnte.«

Eine Falte, die Fernando nicht genau deuten konnte, grub sich in ihren linken Mundwinkel. Dante trat von einem Vorderbein aufs andere und entspannte sich einfach nicht, wie er es sonst tat. Eine ungemütliche Atmosphäre hing im Raum.

Fernando wusste nicht, wie er das Gespräch auf die schreckliche Vergangenheit der Familie lenken sollte, ohne die alte Dame von Anfang an so zu verletzen oder zu verärgern, dass sie von dem, was sie wusste, nichts mehr preisgeben würde. Nichts von dem, was er heute besprechen wollte, warf ein gutes Licht auf ihren Sohn, ihren Mann und ihre eigene Person.

»Ihr Sohn erwähnte ein gespaltenes Verhältnis zu seinem Bruder«, begann Fernando vorsichtig. Sogleich gefror ihre Miene, und ihre Augen blickten stumpf und hart in die Tasse in ihren Händen. Vielleicht hatte sie grauen Star oder eine andere Augenkrankheit. Es konnte aber auch sein, dass daraus die pure Gefühlskälte sprach. Fernando konnte sich vorstellen, wie sie ihren kleinen Sohn angeschaut haben mochte.

»Sie waren wie Feuer und Wasser«, sagte sie mit tiefer Stimme.

»Wer war der Ältere?«, fragte Fernando, obwohl er es bereits wusste.

»Cesare. Er war drei Jahre älter.«

»Waren sie immer schon so verschieden, oder war es Neid, was meinen Sie?« Fernando stellte leise seine Tasse zurück auf den Tisch.

»Neid?«, wiederholte sie müde. »Ich wüsste nicht, wer auf wen hätte neidisch sein sollen. Wir waren arm, hatten nicht viel.«

»Musste Cesare vielleicht mehr auf dem Feld helfen, weil er älter war, und hat seinen Bruder das spüren lassen?«

»Nein. Sie waren einfach …« Sie seufzte und beendete den Satz nicht.

»Ihr Sohn erwähnte mir gegenüber, dass er sich der Familie nicht so zugehörig fühlte«, sagte Fernando zögernd.

»Was meinen Sie damit?« Sie starrte ihn an, ohne zu blinzeln, ihr von Falten überzogenes Gesicht wirkte wie eine fahle Maske.

»Das waren seine Worte. Ich denke, er fühlte sich wie ein Außenstehender«, formulierte Fernando neu.

Sie wandte sich ab und blickte fast beleidigt zum Fenster, vor dem kaputte Rollläden schief in ihren Halterungen hingen. »Es lag an ihm. Es war immer er. Wenn es Ärger gab, konnte man sicher sein, dass er dahintersteckte. Er hat mir viele Sorgen bereitet«, sagte sie abwesend, während ihre Gedanken wohl in die Vergangenheit schweiften.

Fernando wollte soeben eine weitere Frage an sie richten, da hob sie erneut die Stimme.

»Er hat uns zu Geächteten gemacht. Was er getan hat, kann nur Gott ihm verzeihen, ich kann es nicht. Es ist unmenschlich. Mein Sohn ist ein Tier, anders kann ich es mir nicht erklären.« Sie schlang die Arme um ihren Körper, als fröre sie. »Was er für Leid über uns und all die anderen Familien gebracht hat, kann man nicht wiedergutmachen. Ich bin froh, dass er ist, wo er ist. Er hat seine gerechte Strafe bekommen.«

Fernando entdeckte in einer dunklen Ecke einen mit einem Tuch notdürftig zugedeckten Vogelkäfig. Doch hinter den schwarzen Gitterstäben war kein Tier zu erkennen.

»Und Ihr Mann? Was hatte er für ein Verhältnis zu Marco?«, fragte Fernando. Die alte Dame blinzelte, als habe sie die Frage nicht verstanden.

»Er war sein Vater, was meinen Sie?«

»Nun, ob er ihn mochte oder ob er oft Streit mit ihm hatte. Gab es ein Vertrauensverhältnis zwischen den beiden?«

»Mein Mann behandelte seine Söhne so, wie sie es verdient hatten.« Sie strich ihren Rock glatt und zupfte mit einer Hand ihre Stola fester zusammen. »Möchten Sie noch Kaffee?«, fragte sie, doch es klang eher so, als wolle sie ihm raten, besser keine zweite Tasse zu nehmen.

»Nein, vielen Dank«, antwortete Fernando freundlich und fand, dass es nun an der Zeit war, etwas deutlicher nachzuhaken. »Ihr Sohn erwähnte mir gegenüber etwas von Strafen, die er bekam. Können Sie mir darüber etwas sagen? Gab es Strafen in Ihrem Haus?«

»Natürlich gab es die, wie in jedem anderen Haus auch. Kinder müssen erzogen werden«, sagte sie mit einem fast belehrenden Unterton.

»Das ist sicher richtig. Und es war ja auch eine andere Zeit damals«, gestand Fernando ein. »Marco sagte allerdings, dass er willkürlich und sehr brutal bestraft wurde. Sie hätten da eine sehr fragwürdige Rolle eingenommen. Er glaubte, Sie hassten ihn aus einem bestimmten Grund.«

Jetzt blickte sie ihm direkt ins Gesicht, und es war kaum zu beschreiben, wie böse diese eiskalten Augen funkeln konnten. »Was hat er Ihnen erzählt?«, fragte sie so langsam, als würde sie jedes einzelne Wort genießen.

»Er sprach von