Gill Lewis

Im Zeichen des weißen Delfins

Aus dem Englischen von Siggi Seuß

Deutscher Taschenbuch Verlag

Für Mum und Dad
Und für Nerys-Jane

Prolog

Jede Nacht das Gleiche. Ich stehe am Strand

und grabe meine Zehen in den kühlen, nassen Sand.

Über mir leuchtet der Mond, hell und klar.

Der Delfin ist wieder hier. Der perlmuttweiße

Leib zieht seine Bahnen durchs mitternächtliche Meer.

Jenseits der Brandungswellen wälzt und windet er sich,

ermuntert mich, mit ihm zu kommen.

Aber der Ozean ist unermesslich und dunkel

und ich weiß nicht, was dort draußen auf mich wartet.

Also stehe ich einfach nur da und beobachte,

wie er davonschwimmt.

Jede Nacht habe ich diesen Traum. Jede Nacht

wartet der weiße Delfin auf mich. Aber ich fürchte

mich zu sehr davor, ihm zu folgen.

Kapitel 1

Ich reiße noch eine Seite aus dem Buch.

Das Papier ist dünn wie Seide und hat eine goldene Kante. Es flattert in meiner Hand wie ein winziges Vögelchen, das zu verzweifelt ist, um zu fliehen. Ich lasse das Blatt los und sehe, wie es in den klaren, blauen Himmel davonfliegt.

Ich reiße noch eine Seite heraus und noch eine. Die Blätter schwingen sich in die Höhe, taumeln über die Weiden, auf denen ein paar Kühe grasen, und verschwinden im Dunst, der überm silberblauen Meer schwebt.

»He, Kara!«

Ich blicke von der Mauer hinunter auf Jake. Sein rosarotes Gesicht blinzelt mich gegen das Sonnenlicht an. Ethan steht direkt neben ihm und versucht, sich mit seinen Fingern in den Granitsteinen festzukrallen. Er springt hoch, um mich herunterzuzerren, aber ich ziehe meine Beine zurück.

Hier oben bin ich sicher.

»Kara-dumm-wie’n-Holzkopf !«, johlt Jake. »Die Lehrerin sucht dich.«

Ich fahre mit dem Finger am rauen Ledereinband des Buches entlang. Es liegt schwer auf meinem Schoß. Dann reiße ich noch eine Seite heraus und lasse sie frei. Sie schwingt sich in die Höhe und flattert himmelwärts.

»Du steckst ganz schön in der Patsche, Kara-Holzkopf«, schreit Jake. »Diese Bibel gehört der Schule. Dafür schicken sie dich in die Hölle!«

»Da wird sie doch nie ankommen«, ruft Ethan. »Sie kann ja die Wegweiser nicht lesen.«

Jake lacht. »Kannst du schon deinen Namen buchstabieren, Kara? K-a-r-a W-o-o-d. Kara-so-dumm-wie-zwei-Holzköpfe.«

Ich habe das alles schon tausend Mal gehört, drehe ihnen den Rücken zu und schaue hinunter auf den Weg auf der anderen Seite der Mauer. In die eine Richtung kommt man zum Küstenpfad, der an den Klippen entlangführt. In die andere Richtung geht es über eine von Brennnesseln und Knöterich umwucherte Treppe runter zur Stadt, zum Hafen.

»Ich würd gern wissen«, sagt Ethan, »ob Kara Wood so dick ist wie ihr Dad.«

»Meine Mum meint« – Jake gibt sich vertraulich – »meine Mum meint, dass Karas Dad seinen letzten Job verloren hat, weil er seinen Namen nicht schreiben konnte.«

Ethan kichert.

Ich fahre herum und starre sie zornig an. »Halt dein Maul. Lass meinen Vater in Ruhe!«

Aber Jake ist noch nicht fertig. »Ich hab gehört, deine Mum musste seinen Namen für ihn schreiben. Stimmt das etwa nicht, Kara?«

Tränen brennen mir in den Augen.

»Wer schreibt denn jetzt seinen Namen für ihn?«

Ich blinzle heftig und wende mich wieder dem Meer zu. Die Wellen da draußen tragen weiße Schaumkronen. Ich spüre die warme Sonne im Gesicht. Ich muss nicht weinen. Sie werden mich nicht weinen sehen. Wenn ich sie nicht beachte, gehen sie wieder weg. So machen sie es immer. Der Wind, der vom Meer her weht, ist feucht und salzig. Er fängt sich im Baumwollstoff meines weißen Shirts und bauscht es auf wie ein Spinnakersegel. Ich schließe meine Augen und stelle mir vor, wie ich über einen unendlichen Ozean segle, über ein weites, blaues Meer, mit nichts um mich herum als Sonne, Wind und Himmel.

»He, Kara!«

Jake ist immer noch da.

»Es ist eine Schande mit der Merry Mermaid!«, ruft er.

Wenn Jake etwas über die Merry Mermaid weiß, dann wissen es alle.

Ich drehe mich um und sehe ihn an.

Aus einiger Entfernung beobachten uns ein paar andere Kinder aus der Klasse. Chloe und Ella stehen im tiefen Schatten des Kastanienbaums und schauen in unsere Richtung. Adam hat sein Spiel unterbrochen und drückt seinen Fußball an die Brust.

»Na ja«, sagt Jake, »viel von einem Pub hatte sie eh nicht. Wird ein tolles Ferienhaus werden, wahrscheinlich für einen reichen Londoner. Ich hab gehört, das Essen war miserabel.«

Jake weiß, dass mein Dad in der Küche der Merry Mermaid arbeitet. Er weiß, dass er keinen Job und kein Geld zum Leben haben wird, wenn die Kneipe Ende des Sommers schließt. Jake würde es gefallen, wenn wir aus Cornwall wegziehen müssten.

»Vielleicht kann dein Dad zurückkommen und für mich auf einem unserer Trawler arbeiten«, sagt Jake. »Sag ihm, dass wir Austern und Krebse fischen, wenn das Fangverbot aufgehoben wird, in zehn Tagen also. Mein Dad hat schon eine neue Ausrüstung gekauft und dann wird er jedes Eckchen Meeresboden dort draußen umpflügen. Er kann’s kaum erwarten.«

Ich starre ihn einfach nur an.

Jake lacht. »Ich werd ihn fragen, ob du auch helfen kannst.«

Ich umklammere den harten Ledereinband der Bibel noch fester. Von drüben kommt Mrs Carter auf uns zu. Ich könnte versuchen, das Buch zu verstecken, aber Jake und Ethan würden sowieso petzen.

»Hast du die Anzeige an der Werft gelesen, Kara?«, fragt Jake. Jetzt schaut er mich an und grinst. Ethan grinst auch. Sie wissen etwas, was ich nicht weiß. Man hört es in Jakes Stimme. Er brennt darauf, es mir zu erzählen.

Mrs Carter hat den Schulhof zur Hälfte überquert. Sie sieht entschieden aus und grimmig.

»Die Moana steht zum Verkauf«, bricht es aus Jake heraus. Jetzt triumphiert er.

Ich rapple mich hoch. »Lügner!«

Das kann nicht wahr sein. Ich bin mir sicher, dass das nicht wahr ist.

Aber Jake ist ein eingebildeter Fatzke. Er zieht seine Trumpfkarte. »Mein Dad wird sie kaufen und sie zu Brennholz zerhacken, weil sie zu sonst nichts taugt, sagt er.«

Ich schleudere ihm das Buch entgegen. Die harten Kanten der Bibel knallen auf seine Nase, seine Hände umklammern das Gesicht und er fällt wie ein Stein zu Boden.

Mrs Carter fängt an zu rennen. »Kara!«

Ich blicke auf Jake hinab, der ächzend und stöhnend am Boden liegt.

»Kara, komm sofort da runter!«, brüllt Mrs Carter.

Ich aber drehe ihnen allen den Rücken zu, springe von der Mauer und lasse Jake Evans blutend zurück. Das Blut rinnt durch seine fetten Finger und färbt die staubtrockene Erde rot.

Kapitel 2

Ich renne und renne den Brennnesselpfad entlang, dann auf gepflasterten Gassen und schäbigen Straßen hinunter zur Strandpromenade. Ich muss Dad finden.

Ich muss.

In der Stadt ist viel los. Überall lärmen Bohrmaschinen und Bagger. Sie bauen die neue Straße, die zum Hafen führt. Auf der anderen Seite der orangefarbenen Absperrkegel und Bauzäune liegt die Merry Mermaid, mit ihrem verwitterten, grünbemoosten Dach. Die Luft riecht nach Bier und Pommes frites. An den Tischen, die über den Gehsteig verstreut stehen, sitzen viele Leute, die in der Sommersonne ihr Mittagessen verspeisen. Die fröhliche Meerjungfrau blickt von ihrem verblassten Aushängeschild über der Tür finster auf sie herunter. Ich schlüpfe unter dem Schild hinein in die Düsternis und passe mein Augenlicht langsam der Dunkelheit an.

»Alles okay mit dir, Kara?« Ted poliert ein Glas und wischt mit einem Tuch immer wieder rund um den Rand.

»Ja, alles klar«, sage ich. »Wo ist Dad?«

»Er hat den Tag freigenommen«, sagt er, hält das Glas gegen das Licht und überprüft es auf Schmierflecken. »Ist alles in Ordnung, Kara? Deinem Dad schien es heute nicht gut zu gehen.«

Ich schaue mich um, als würde ich erwarten, Dad doch noch hier zu entdecken.

Ted stellt das Glas hin, lehnt sich mit dem Rücken an den Tresen und sieht mich an. »Geht’s dir wirklich gut?«

»Ja«, sage ich, »mir geht’s gut.«

Ich verziehe mich wieder nach draußen. Die weiß getünchten Häuser strahlen im blendend hellen Sonnenlicht. Ich renne vom Hafen weg, den Hügel hinauf, zur neuen Siedlung auf der anderen Seite der Stadt. Ich kriege Seitenstechen, aber ich laufe weiter, an Vorgärten vorbei und Auffahrten, an Rasenstückchen mit Planschbecken und Dreirädern, bis zum letzten Haus, wo ein aufgebockter Wohnwagen im Gras steht.

Ich werde langsamer und stoße das Gartentor auf. Tante Bev hängt Overalls und eine Ölzeugjacke an eine Wäscheleine, die zwischen der Garage und dem Wohnwagen gespannt ist. Onkel Tom muss wohl vom Meer zurückgekehrt sein.

Tante Bev zieht die Hosenbeine der Overalls zur Seite, schaut mich an und legt die Hand auf ihren prallen Bauch. Mit den Zähnen hält sie zwei hölzerne Wäscheklammern fest. Sie ragen hervor wie die Hauer eines Warzenschweins.

Ich versuche, die Wohnwagentür zu öffnen. Rote Roststückchen bröckeln vom Rahmen, die Tür jedoch ist verschlossen.

»Wo ist Dad?«, frage ich.

Tante Bev nimmt die Klammern aus dem Mund. »Du solltest doch in der Schule sein«, sagt sie.

Ich hämmere an die Wohnwagentür.

»Dein Dad ist weggegangen«, sagt sie.

Noch einmal versuche ich, die Tür zu öffnen.

»Ich hab gesagt, er ist weggegangen.« Tante Bev klammert ein Paar Hosen an die Leine. Sie hat mich immer noch im Blick.

Ich tauche unter der Wäscheleine weg und will an Tante Bev vorbei in die Küche flitzen, aber sie hält die Hand vor die Tür.

»Gibt’s irgendwelche Probleme, Kara?«, fragt sie.

»Hab was vergessen, Tantchen«, sage ich, »mehr nicht.«

»Okay, mach schnell, Onkel Tom schläft. Weck ihn nicht auf.« Sie nimmt die Hand von der Türöffnung und lässt mich vorbei.

Ich spüre, wie sie mich beobachtet, als ich die Treppe hochsteige und in das Zimmer schlüpfe, das ich mit Daisy teile. Daisy sitzt, umgeben von ihren Puppen, auf ihrem Bett und liest Teddykatze eins ihrer Märchenbücher vor. Als ich eintrete, stopft sie etwas hinter ihren Rücken. Ich höre es in ihrer Hand rascheln. Auf ihrer prinzessinnenrosa Bettdecke liegt ein verräterischer Marshmallow.

»Du bist nicht in der Schule«, sage ich. »Eigentlich müsstest du krank sein.«

Daisys Mund ist mit irgendetwas vollgestopft. Erst schaut sie auf die offene Tür, dann auf mich.

Ich lächle. »Keine Angst, ich erzähl nichts.«

Klebriger Sabber läuft ihr am Kinn herunter. »Jetzt fühl ich mich krank«, sagt sie.

»Das überrascht mich nicht«, sage ich, wische den Puderzucker von der Bettdecke und setze mich neben sie. »Daisy, hast du meinen Dad gesehen?«

Daisy nickt. »Onkel Jim ist fischen gegangen«, sagt sie. »Er hat die langen Angeln genommen, weißt schon, die fürs Meer.«

»Wann war das?«

»Nicht lang her«, sagt sie. »Grad als Mum ihren Kaffee ausgetrunken hat.«

»Danke, Daisy.« Ich hole Badetasche, Tauchmaske und Schwimmflossen unter meinem Campingbett hervor. Daisys Spielsachen liegen auf dem Bett verstreut. Ein rosa Marshmallow klebt an meinem Kissen. Aber ich kann mich wirklich nicht beklagen. Schließlich ist es ihr Zimmer. Und sie brauchen meinen Platz, wenn das Baby kommt.

»Gehst du mit ihm?«, fragt Daisy.

Ich nicke. »Bitte verrat’s niemandem.«

Daisy legt die Finger aufs Herz und presst sie dann gegen die Lippen.

Ich ziehe ein T-Shirt und kurze Hosen an. Draußen schlägt eine Autotür zu und ich höre Stimmen. Der große schwarze Lieferwagen von Jakes Dad parkt vor der Auffahrt. Ich ziehe mich vom Fenster zurück. Ich will nicht, dass er mich hier sieht.

Ich höre, wie er mit Tante Bev in der Küche spricht.

»Jim ist nicht da, Dougie.« Tante Bevs Stimme klingt hoch und angespannt. »Ich werd ihm ausrichten, dass er dich anrufen soll, wenn er zurück ist.«

»Ich such sein Mädchen.«

»Kara?«, sagt Tante Bev. Sie zögert und stolpert über ihre eigenen Worte. »Sie – sie ist in der Schule.«

Durch den Türspalt sehe ich Tante Bev unten im Flur stehen. Sie versperrt ihm den Zugang zur Küche.

Dougie Evans stützt sich mit der Hand an den Türrahmen. »Ich weiß, dass sie oben ist, Bev.«

Tante Bev weicht einen Schritt zurück. Ihre Stimme ist leise, sie flüstert fast. »Was willst du von ihr?«

»Nur ein Wörtchen mit ihr reden, sonst nichts.«

»Was hat sie getan?«

Jetzt steht Dougie Evans mit seinen Fischerstiefeln auf Tante Bevs sauberem Teppich in der Diele, am Fuß der Treppe. »Sie hat Jake die Nase gebrochen.«

Ich schließe die Tür und presse mich von innen dagegen.

Auf den Stufen hört man Schritte, laut und schwer.

Daisy starrt mich mit großen Augen an. Sie hat die Bettdecke bis zum Kinn gezogen. »Er kommt hoch«, flüstert sie.

Ich schiebe mein Bett vor die Tür und gehe zum Fenster. Das Garagendach unter mir ist flach, aber es liegt ein ganzes Stück tiefer.

»Kara!« Jetzt ruft Tante Bev. Ihre Stimme hat einen Singsangton, sie klingt fast locker, aber ich kann hören, wie sie bebt. »Dougie Evans möchte mit dir sprechen.«

Ich werfe meine Tasche in den Garten und schwinge mich aus dem Fenster.

Es wird heftig gegen die Tür geschlagen. Sie fliegt auf und rumst ans Campingbett.

»Hau ab!« Daisy formt die Worte lautlos mit den Lippen.

Ich lasse mich aufs Dach fallen und knicke mit dem Fuß um. Dann springe ich ins weiche Gras. Ich drehe mich um und sehe Dougie Evans, wie er sich mit rotem Gesicht aus dem Fenster lehnt. Aber jetzt kann er mich nicht mehr aufhalten.

Niemand kann mich aufhalten.

Ich packe meine Tasche und renne los.

Kapitel 3

»Warte!«, brülle ich. »Warte!«

Ich sehe die Moana, bevor ich Dad sehe. Verglichen mit anderen Booten, die im Hafen liegen, sieht sie klein aus. Mit ihren terrakottafarbenen Segeln und dem offenen, hölzernen Deck hebt sie sich vom gleichförmigen Weiß der modernen Jachten ab. Ich klettere ein paar Stufen hinunter und renne den Ponton entlang. Meine Schritte dröhnen auf den Planken. Die Moana treibt langsam auf die schmale Ausfahrt zwischen den hohen Hafenmauern zu. Dad sitzt am Ruder.

»Dad«, schreie ich, »warte auf mich!«

Dad reißt das Ruder herum und die Segel der Moana flattern locker, während sie sich wieder zum Wind dreht. Sie treibt auf mich zu und der Schiffsrumpf wirft gewellte, blassblaue Farbmuster aufs Wasser. Das Schiff hätte auch von einem der hundert Jahre alten Hafenfotos aus lossegeln können.

Als die Moana gegen den Ponton stößt, bringe ich mich in Stellung, packe das Schiffstau und ziehe das Boot heran. »Nimm mich mit«, sage ich.

Dad beschattet seine Augen, um mich im Gegenlicht sehen zu können. »Warum bist du nicht in der Schule?«

»Ich kann nicht in der Schule bleiben«, sage ich. »Nicht heute, heute wirklich nicht, Dad.«

Dad sitzt einfach da, die Hand am Ruder, und schaut mich an. Ich möchte gern wissen, ob der heutige Tag auch für ihn etwas bedeutet, ob auch er sich an etwas erinnert. Über unseren Köpfen plustern sich die Segel auf. Die Moana kann es kaum erwarten davonzusegeln.

»Lass mich mitkommen, Dad«, sage ich. Ich möchte ihn gern fragen, ob das wahr ist, was man sich über die Moana erzählt. Aber irgendetwas hält mich davon ab, weil ich ein letztes Mal mit ihr lossegeln möchte, ohne zu wissen, ob es stimmt, dass er sie verkaufen will. Etwas nicht zu wissen, macht ein wenig fröhlicher. Es lässt einem einen Funken Hoffnung.

Dad reibt sein stoppeliges Kinn. »In Ordnung«, seufzt er, »komm rüber.«

Ich klettere an Bord, ziehe mir die Rettungsweste über und stoße die Moana vom Ponton ab. Hier, hinter den langen Armen der Hafenmauern, ist das Wasser tief und grün und still. Auf seiner Oberfläche kräuseln sich regenbogenfarbene Ölflecken. Dad setzt das Hauptsegel und ich ziehe den Klüver ein. Ich beobachte, wie das dreieckige Segel über mir den Wind einfängt und sich strafft. Und dann gleiten wir im Schatten des Hafens hinaus in die offene See.

Das Wasser draußen in der Bucht ist sehr unruhig. Ständig weht eine Brise vom Land her und wirbelt kleine Wellen hoch, auf denen weiße Schaumkronen tanzen. Als sich die Moana dem Kap nähert, schäumt Salzwasser über den Bug. Ich sitze da und beobachte, wie das Hafenviertel und der helle Streifen aus goldgelbem Sand langsam in der Ferne verschwinden. Die Schule und das Haus von Tante Bev verlieren sich bald im Gewirr aus Straßen und Häusern, die sich über den Hafen erheben. Auch die Jachten und Fischkutter und das lange weiße Dach des Fischmarktes scheinen jetzt, weit entfernt, fast in einer anderen Welt zu liegen.

Und wieder gibt es nur noch uns allein.

Die Moana, Dad und mich.

Ich sitze neben Dad, aber er schaut mich nicht an. Seine Augen sind auf den fernen Horizont gerichtet, als würden sie einen Ort fixieren, den ich nicht sehen kann. Das ist fast so, als segle er mit einem anderen Boot auf einem anderen Meer. Ich schließe meine Augen und versuche mich zu erinnern, wie es früher war.

Draußen vor dem Kap weht ein starker und kalter Wind und ich wünsche mir, dass ich eine Jeans angezogen oder wenigstens an einen Pullover gedacht hätte. Ich schlinge die Arme um die Knie und beobachte, wie sich die Gänsehaut auf meinem Körper ausbreitet.

»Bist du okay, Kara?«

Dad schaut mich an. Ich nicke, aber meine Zähne klappern trotzdem.

»Nimm deine Decke, wenn dir kalt ist«, sagt er.

Ich rutsche nach vorn zur Sitzbank am Vorderdeck und öffne die kleine Backskiste. Dort, wo man sie immer findet – im niedrigen Ablagefach über dem Werkzeugkasten und der Leuchtrakete –, sind drei ordentlich gefaltete Wolldecken verstaut. Ich ziehe meine hervor und wickle sie um mich. In ihrem satten Türkisblau, in das silberne Streifen eingewoben sind, sieht sie aus wie das sommerliche Meer. Ich kauere mich in eine Nische, vergrabe den Kopf in den dicken Falten der Decke und atme den salzigen Modergeruch ein. Unter uns braust der Ozean, Wellen klatschen wie Herzschläge gegen den Rumpf der Moana. Ich berühre das angestrichene Holz, um zu spüren, wie es gegen meine Hand pulst. Irgendwo unter den dicken Lackschichten befinden sich die Bleistiftskizzen von springenden Delfinen, die Mum für mich gezeichnet hat. Ich versuche, mit meinen Fingern ihren Konturen nachzuspüren. Fast kann ich das Sägemehl und das behandelte Holz im Bootshaus riechen, in dem Mum und Dad die Moana wieder zusammengebaut haben. Wenn ich meine Augen schließe, kann ich immer noch Dad sehen, wie er gedämpfte Holzplanken biegt, um den Rumpf zu formen, wie Mum weißen Kitt zwischen die Bretter drückt, um das Boot wasserdicht zu machen, und wie ich im Dreck sitze und Papierschiffchen übers weite Pfützenmeer gleiten lasse.

Mum, Dad und ich.

Diese Bleistiftdelfine befinden sich immer noch unter dem Lack und ich versuche, sie mir wieder in Erinnerung zu rufen. Ich hätte nie gedacht, dass ich sie vergessen würde, aber irgendwie scheint es so, dass ich sie jetzt nicht mehr sehe, so sehr ich mein Gedächtnis auch anstrenge.

Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn als ich aufwache, hat der Wind nachgelassen und auf der Moana ist es ganz still. Die Segel sind gerefft, das Boot schaukelt sanft und ankert im Schutz der Bucht, in der unsere Hummerkörbe liegen. Der Duft von heißem, süßem Kaffee weht mir aus Dads rotem Blechnapf entgegen. Die Sonne wärmt mir den Rücken und das Meer ist türkisblau, durchzogen von silbernen Lichtstreifen. Irgendwo über uns schreit eine Möwe, sonst aber herrscht Stille.

Dad lehnt an der Bordwand und zieht an einem Tau, das sich tropfnass und voller Seetang an Deck windet. Er hebt einen Hummerkorb an Bord und stellt ihn auf den Boden. Im Korb sehe ich ein Gewirr von Hummerbeinen und Fühlern. Das ist ein großes Exemplar und bringt auf dem Markt bestimmt einen guten Preis. Ich weiß, dass wir das Geld brauchen.

Dad öffnet die Klappe und fährt mit der Hand über die gepanzerte Rückenschale des Hummers. Er zieht ihn heraus. Die Scheren des Tieres schlagen um sich. Die roten Fühler schnellen vor und zurück.

Dad dreht ihn um. In der weichen, geschützten Wölbung seines Körpers kleben, zusammengebündelt, Hunderte winziger Eier, die im Licht der Sonne schwarz glitzern.

»Sie ist trächtig«, sage ich. »Wir können sie nicht verkaufen. Schau dir all diese Eier an.«

Dad blickt hoch. Eben hat er gemerkt, dass ich wach bin. »Wir nehmen sie mit und lassen sie im Reservat frei«, sagt er.

»Was nützt das?«, frage ich. Ich schaue ihn missmutig an. »Jake sagt, dass sein Vater mit den Schleppnetzen jedes Fleckchen Reservat durchpflügt, wenn das Fangverbot aufgehoben ist.«

Dad setzt den Hummer in einen großen schwarzen Eimer, den er mit einem Handtuch abdeckt. Dads Blick ist finster und angespannt und über sein Gesicht ziehen sich tiefe Furchen. Er weiß, dass wir nichts tun können, um Dougie Evans davon abzuhalten, das Riff zu zerstören.

»Halt dich von Jake fern«, sagt er. »Er sucht immer Zoff, wie sein Vater.«

Ich unterdrücke ein Lachen und stelle mir Jake vor, wie er mit blutendem Gesicht im Dreck liegt. »Das ist jetzt erst mal vorbei.«

Dad blickt hoch. Ich versuche, mein Grinsen zu verbergen, aber ich weiß, dass er es längst bemerkt hat.

»Steckst du in Schwierigkeiten, Kara?«, fragt Dad.

Ich hebe das Handtuch hoch und betrachte das Hummerweibchen. Sie glotzt mich mit ihren kleinen schwarzen Augen an. »Sie braucht Meerwasser«, sage ich.

»Was hat Jake noch gesagt?«, fragt Dad.

Ich decke den Eimer wieder mit dem Handtuch ab, lehne mich zurück, damit ich Dad in die Augen sehen kann, und stelle ihm die Frage, die mich schon die ganze Zeit bewegt. »Willst du die Moana verkaufen?«

Dad jedoch wendet sich ab. Er bindet ein Stück Makrele als Köder in den Hummerkorb und wirft ihn zurück ins Wasser. Die Taurolle wickelt sich ab und verschwindet in den flackernden Lichtstrahlen, die auf der Meeresoberfläche tanzen.

»Es stimmt, oder?«, sage ich. »Du verkaufst sie. Du verkaufst die Moana

Ich möchte von ihm hören, dass es nicht wahr ist, weil mich Dad nie anlügt.

Aber das sagt er nicht.

Er dreht sich um und schaut mich an. »Ja«, sagt er, »es stimmt.«

Mehr sagt er nicht. Doch es fühlt sich an, als ob mir jemand die Luft zum Atmen geraubt hätte.

»Aber das kannst du nicht machen!« Ich kann die Worte kaum flüstern.

»Wir haben keine Wahl, Kara«, sagt er. »Ich hab mehr Schulden, als ich jemals verdienen kann. Wir können uns nicht mal die Liegegebühren leisten.«

Ich winde und winde die Enden der Decke in meinen Händen. »Was ist mit Mum?«, murmle ich.

Dad schüttet die letzten Tropfen seines Kaffees ins Meer und schraubt den Deckel der Thermoskanne fest. »Es gibt keine andere Lösung.«

»Was ist mit Mum?« Dieses Mal sage ich es lauter, damit er mich auch tatsächlich hört.

»Mum hat uns verlassen«, sagt er und schaut mir direkt in die Augen. »Heute vor einem Jahr ist sie weggegangen. Glaubst du, ich weiß das nicht? Sie hat uns verlassen. Jetzt gibt es nur noch dich und mich.«

Ich starre ihn an. Dad hat monatelang nicht von Mum gesprochen. »Mum würde die Moana nie verkaufen«, sage ich. »Sie gehört uns allen gemeinsam. Wir haben sie zusammen gebaut. Wie willst du Mum erklären, dass du unser Boot verkauft hast, wenn sie zurückkommt? Sie wird wiederkommen, ich weiß, dass sie wiederkommen wird.«

Dad sieht mich an, als versuche er gerade, die richtigen Worte zu finden.

»Sie wird uns ein Zeichen senden«, sage ich. Meine Augen sind voller Tränen. Ich blinzle sie weg und muss an die Möwenfeder denken, die ich an dem Tag gefunden habe, an dem Mum verschwunden ist. Ich muss an die schneeweiße Kaurimuschel denken, die ich in der Nacht entdeckt habe, als wir für Mum Kerzen aufs Meer schwimmen ließen. »Sie wird uns ein Zeichen senden, so, wie sie es immer gemacht hat.«

Dad hält mich an der Schulter fest, aber seine Hände zittern. »Lass es gut sein, Kara«, sagt er. »Es gibt keine Zeichen. Es hat nie Zeichen gegeben.«

Ich stoße seine Hände weg.

Zwischen uns breitet sich ein tiefes Schweigen aus.

Kein Lüftchen regt sich. Die Oberfläche des Meeres ist spiegelglatt.

»Kara«, sagt Dad. Er kniet sich vor mir hin. »Schau mich an.«

Ich schließe meine Augen ganz fest.

»Kara …«

Ich halte mir die Ohren zu, weil ich nichts hören will.

Ich verberge den Kopf in meinem Schoß, um nichts an mich heranzulassen.

Ich will nicht hören, was er gleich sagen wird.

Ich will es nicht hören.

Aber es nützt nichts.

Ich höre es ihn sagen, trotzdem.

»Mum kommt niemals zurück.«

Kapitel 4

Dad hat diese Worte noch nie zuvor gesagt. Ich stehe auf und rücke von ihm weg.

»Du hast aufgegeben«, sage ich, »du hast aufgegeben!«

»Kara …«

Ich ziehe die Rettungsweste aus und hole aus meiner Tasche Tauchmaske und Flossen.

»Kara, setz dich«, sagt Dad.

Ich schlüpfe in die Flossen, stülpe die Tauchmaske über, stelle mich auf die Bordwand und halte mich an den Wanten fest, die den Mastbaum sichern. Das Wasser unter mir ist so klar wie Kristall.

»Kara, komm runter …« Dad streckt seine Hand aus.

Aber ich ergreife sie nicht.

Ich lasse mich fallen und tauche hinab ins Wasser, hinein in das strahlende, von Sonnenlicht durchströmte Meeresblau. Ich drehe mich um und verfolge den Schweif silberner Luftbläschen, der sich in einer Spirale nach oben bewegt. Durch die wellige Oberfläche erkenne ich Dad, wie er sich über die Bordwand lehnt und heruntersieht. Ich schlage kräftig mit den Flossen, schlängle mich durchs Wasser und schwimme weg von ihm, Richtung Strand.

Im Kopf zähle ich die Sekunden, die mir bleiben, bis ich auftauchen muss. Ich zähle die Sekunden bis zum ersten Atemzug. Mein Herz hämmert schnell, zu schnell. Ich kann mich nicht entspannen. Meine Lungen brennen. Die Rippen tun weh. Ich kann keine Ruhe finden, die mein Herz erleichtern und meinen Kopf klar machen würde. Dafür bin ich zu wütend. Ich muss jetzt atmen, schieße nach oben und schnappe nach Luft.

Ich befinde mich auf halbem Weg zwischen Dad und dem Strand. Ich kann Dad meinen Namen rufen hören, aber ich schwimme weiter, bis meine Hände den weichen Sand der Bucht berühren. Ich lege Flossen und Tauchmaske ab und gehe barfuß über die Felsen zum Pfad am Klippenrand. Mein T-Shirt flattert nass und kalt an mir herum und meine Shorts kleben an den Beinen, aber ich laufe weiter und drehe mich nicht um.

Erst als ich den Zaunübertritt erreiche, über den man klettern muss, um dem Pfad landeinwärts zu folgen, mache ich kehrt und robbe durch das hohe Gras. Die Segel der Moana sind gesetzt. Dad verlässt die kleine Bucht. Er segelt in Richtung Reservat, in das Gebiet, das zwischen dem Strand und Gull Rock, der kleinen Insel draußen vor dem Kap, liegt. In der frühen Abendsonne werfen die Segel lange Schatten.

Ich setze mich auf, streife Sand und Meersalz von der Kleidung und sehe mich um. Eine frische Brise weht durch das Gras. Hier oben bin ich ganz allein. Ich will nicht zurück zu Tante Bev. Ich kann ihr und Onkel Tom nicht gegenübertreten. Und Dad will ich jetzt auch nicht ins Gesicht schauen.

Hinter dieser Bucht liegt eine kleinere Bucht, die für die meisten Boote zu schmal ist. Das Wasser dort ist tief und kristallklar. Die Bucht läuft in einem Streifen Sandstrand aus. Ich gehe in ihre Richtung, entferne mich vom Küstenpfad und steuere auf die Wand aus grünen Stechginsterbüschen zu, die die Klippen umsäumen. Als ich mich durchs Gebüsch zum Klippenrand dränge, verhaken sich die Dornen in meinem T-Shirt. Unterhalb des bröseligen Bodens und der verschlungenen Ginsterwurzeln durchbricht ein harter, schwarzer Fels die weicheren, graugrünen Schieferschichten und erstreckt sich bis hinunter zur Bucht. Ich klettere nach unten, spüre im Stein all die vertrauten Löcher und Wölbungen, an denen man Halt findet, und zähle die stufigen Felskanten. Millionen um Millionen von Erdenjahren haben sich hier zusammengequetscht. Mum sagte immer, wir seien wie Forscher, die zurück in die Vergangenheit reisen.

Die Flut hat den kleinen Strand überspült. Ich bewege mich langsam auf die flachen Felsen zu, die über die Bucht hinaus ins Meer ragen. Manchmal kommen hier Robben aus dem Wasser und aalen sich in der Sonne. Ich drücke meinen Rücken gegen einen Felsbogen, der von Wind und Wellen ebenmäßig ausgehöhlt wurde.

Mum und ich saßen gerne hier und hielten nach Delfinen Ausschau. Ich stellte mir vor, dass Mum ganz besondere Kräfte hätte, als könne sie die Tiere irgendwie fühlen oder sie durchs Wasser rufen hören. Manchmal warteten wir stundenlang, aber Mum wusste immer, dass sie kommen würden. Wie magische Geschöpfe tauchten sie dann aus einer anderen Welt auf, das Sonnenlicht schimmerte auf ihren Rücken, und wenn sie aus dem Wasser emporschnellten und ausatmeten, explodierte förmlich die Luft. Sie sprangen und schlugen Purzelbäume, nur für uns, so schien es. Irgendwie hatte ich das Gefühl, wir seien Auserwählte, als wollten sie uns einen flüchtigen Blick in ihre Welt gewähren.

Seit Mum uns verlassen hat, war ich nicht mehr hier gewesen. Ich schlinge die Arme um meine Knie und blicke hinaus auf das goldene, spiegelglatte Meer. Der Kranz der Sonne berührt den Horizont und lässt das Licht ins Wasser fließen. Den ganzen Tag habe ich auf ein Zeichen von Mum gewartet, aber jetzt ist es zu spät. Die Sonne ist fast verschwunden.

Vielleicht hat Dad recht und es gibt keine Zeichen, nach denen wir suchen sollten.

Vielleicht muss ich akzeptieren, dass Mum niemals zurückkehrt.

Ich beobachte die letzten Strahlen der Sonne, die wie Leuchtfeuer über den Himmel flackern.

Und dann sehe ich es.

Über dem Wasser blitzt etwas weiß auf.

Das letzte Licht der Sonne funkelt auf dem sanft gewölbten Körper, bevor der Delfin wieder ins Meer eintaucht.

Das ist das Zeichen, auf das ich gewartet habe.

Ich weiß es einfach.

So muss es sein.

Der Delfin schießt noch einmal aus dem Wasser.

Er ist weiß, ganz weiß.

Andere Delfine sehe ich auch, sehe, wie die grauen, stromlinienförmigen Körper durchs Wasser gleiten. Es müssen wenigstens fünfzig sein, eine große Schule. Ich habe noch nie so viele auf einmal gesehen. Ihre Blaslaute durchbrechen die Stille.

Aber ich suche den weißen Delfin. Schließlich sehe ich ihn wieder. Er ist viel kleiner als die anderen. Im verglühenden Sonnenlicht scheint sein heller Körper rosarot und golden getönt. Dicht an seiner Seite schwimmt ein viel größerer Delfin. Vollkommen synchron durchbrechen Muttertier und Kalb zusammen die Wasseroberfläche. Sie schwimmen Seite an Seite hinaus ins offene Meer. Ich schlinge die Arme um mich und mir wird trotz der kühlen Abendluft warm. Irgendwie fühle ich mich Mum so nahe, als stünde sie direkt neben mir, als hätte sie mir die Delfine geschickt. Fast kann ich Mums Gesicht sehen, ihr großes breites Lächeln. Wo immer sie in diesem Augenblick sein mag, ich kann nicht anders, als mich zu fragen, ob auch sie gerade an mich denkt.

Ich schaue den Delfinen nach, bis ich die Umrisse der dunklen Flossen über dem Wasser nicht mehr sehen kann. Unter einem mit Sternen übersäten Dämmerhimmel hat sich das Meer verfinstert. Die Silhouetten zweier Austernfischer gleiten mit festem, schnellem Flügelschlag übers Wasser. Mehr ist nicht zu sehen.

Ich weiß, dass Dad mich inzwischen zu Hause erwartet. Ich klettere über die Klippen hoch zum Küstenpfad, der vom Abhang bis zu den Feldern führt. Die Luft ist frisch und vom Tau ganz feucht. Er hat sich als bleicher Nebel über den Weizenfeldern festgesetzt, die landeinwärts liegen. Das Zwischenlicht der Abenddämmerung bewahrt alles in einer eigentümlichen Stille, als ob die Zeit den Atem angehalten hätte.

Und für mich fühlt sich das so an, als würde sich gerade jetzt alles verändern.

Kapitel 5

Der Asphalt auf der Küstenstraße ist vom sonnigen Tag noch ganz warm. Von hier aus sind es mehr als zwei Meilen bis nach Hause. Hoffentlich wartet Dad nicht auf mich. Er hat heute Spätschicht im Pub, also kann ich vielleicht ins Haus schlüpfen, ohne von ihm bemerkt zu werden.

Ich bin noch gar nicht weit die Straße entlanggelaufen, da hält schon ein Wagen. Seine Scheinwerfer blenden mich. Das Beifahrerfenster gleitet nach unten. »KARA! Bist du das?«

Es ist Tante Bev. Sie lehnt sich von der Fahrerseite herüber. Und sie ist wütend. Wäre ich doch lieber über die Felder nach Hause gelaufen!

»Was ist das Problem?«, sage ich.

»Komm jetzt in den Wagen«, schnauzt sie mich an, »sofort.«

Ich steige hinten ein und setze mich neben Daisy. Sie sitzt da, in Bademantel und Hausschuhen, und mampft eine Familienpackung Chips. Normalerweise ist sie um diese Zeit im Bett.

Tante Bev fährt herum und starrt mich wütend an. »Was ist das Problem?« Sie spuckt die Worte förmlich aus.

Ich werfe einen Blick auf Daisy. Sie zeigt auf mich und zieht ihre Hand quer über die Kehle. Ich bin so gut wie tot.