image

Eduard Spörk

Franzosenkind

Meine Suche nach dem
unbekannten Vater

Aufgezeichnet von Britta Lauber

Mit einem Vorwort von Barbara Stelzl-Marx

image

image

Die Drucklegung dieses Werkes wurde unterstützt durch den
Zukunftsfonds der Republik Österreich.

2015

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Der Zettel

Übersbach 1940

Der Krieg in Europa

Stammlager XVIII A Wolfsberg

Das Grauen des Krieges

Die letzten Tage

Die Zeit danach

Ein Bub zwischen zwei Müttern

Offene Geheimnisse

Dorfleben

Einsam am Weinberg

Freiheiten in Fürstenfeld

Erste Berührungen mit Wien

In den Bergen

Zwischen Arbeit und Schule

Edith

Die Liebe

Nicht nur Musik liegt in der Luft

Unter Lustern zwischen Glas und Porzellan

Die Verarbeitung von Daten

Soziales Engagement

Der Papst bei der Caritas Socialis

Die Suche

Der Beweis

Das Glück

Antoine est revenu

Nachwort

Anhang

Quellen

Vorwort

von Barbara Stelzl-Marx

Eduard Spörk kam als „Kriegskind“ auf die Welt: Seine Mutter war Österreicherin, sein Vater ein französischer Kriegsgefangener. Er ist nicht allein mit seinem Schicksal. In der gesamten „Ostmark“, im gesamten „Dritten Reich“, wurden Kinder aus Beziehungen zwischen Einheimischen und ausländischen Kriegsgefangenen bzw. Zwangsarbeitern geboren, teilweise auch als Folge von Vergewaltigungen.

Allein in der „Ostmark“ waren Anfang 1944 mehr als 200.000 Kriegsgefangene untergebracht, darunter rund 81.000 Franzosen.1 Ihr Leben und Überleben war von einer rassisch-ideologisch aufgebauten Hierarchie geprägt, die sämtliche Bereiche der Gefangenschaft – von der Gefangennahme über die Unterbringung in den Lagern, die Versorgung bis hin zu Krankheit und Tod – betraf. An unterster Stelle standen sowjetische Gefangene, von denen rund 60 Prozent ihr Leben in deutschem Gewahrsam verloren; an oberster Briten und Amerikaner, gefolgt von den französischen Kriegsgefangenen. Die Mannschaftsränge kamen in allen Bereichen der Kriegswirtschaft zum Einsatz, in der Industrie, im Gewerbe, Bergbau und natürlich in der Land- und Forstwirtschaft. Gerade hier ergaben sich trotz genauer Reglementierungen persönliche Kontakte mit der österreichischen Bevölkerung, die mitunter in – streng verbotenen – Liebesbeziehungen resultierten.

Sogenannte „lose“ Frauen, die im „Dritten Reich“ Verhältnisse mit ausländischen Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern eingingen, zogen während der NS-Zeit starke Ressentiments und Strafmaßnahmen auf sich. Aus „volkstums- und rassenpolitischer“ Sicht sollte die „Reinheit des deutschen Blutes“ nicht befleckt werden. Die Frau verkörperte als „Inbegriff der deutschen Seele“ ein „Bollwerk gegenüber den anderen, den Fremden, dem Feind“.2 Insbesondere Beziehungen zu sowjetischen Kriegsgefangenen wurden hart geahndet, dominierten doch in diesem Zusammenhang Vorstellungen einer rassischen Überlegenheit germanischer „Herrenmenschen“ gegenüber den slawischen „Untermenschen“. Die Personalkarten sowjetischer Kriegsgefangener enthielten daher vielfach den Vermerk „Belehrt über das Verbot betr. Verkehr mit deutschen Frauen“.

Doch auch bei Beziehungen mit Gefangenen anderer Nationalität drohte im Falle von „Verstößen gegen das gesunde Volksempfinden“ nach Paragraf vier der „Wehrkraftschutzverordnung“ eine mehrmonatige Gefängnishaft. Manchen Frauen wurden zudem als Zeichen öffentlicher Stigmatisierung ihre Haare abgeschnitten. Bei den betroffenen Kriegsgefangenen konnte Geschlechtsverkehr mit „deutschen Frauen“ bis zur Einweisung in ein Konzentrationslager oder zur Todesstrafe führen, wobei das Ausmaß der Strafe von der jeweiligen Nationalität des Gefangenen abhing.

Die Diskriminierung einheimischer Frauen, die sich mit dem „Feind einließen“, war kein singuläres Phänomen des „Dritten Reiches“. In den Niederlanden etwa warf man nach Ende der deutschen Besatzung Frauen und Mädchen, die Beziehungen mit deutschen Soldaten eingegangen waren, „Vaterlandsverrat“ vor. Als Strafe wurden diesen „moffenmeiden“ öffentlich die Köpfe geschoren. Manchen malte man ein Hakenkreuz auf die noch blutende Kopfhaut. Anschließend wurden die derart Gebrandmarkten zu Fuß oder auf einem offenen Wagen durch das Dorf bzw. die Stadt geführt.3

Analog dazu wurden nach der Befreiung auch in Frankreich rund 20.000 Frauen kahl geschoren – die eine Hälfte wegen Kollaboration mit den Deutschen oder Denunziation, die andere wegen sexueller Beziehungen zum „Feind“. Man klagte Letztere der „collaboration horizontale“ – der „horizontalen Kollaboration“ – an, wofür sie öffentlich gedemütigt wurden. Die Inszenierung dieses Phänomens lässt sich mit mittelalterlichen Schauprozessen vergleichen. Das Bild der „femmes tondues“ – der „geschorenen Frauen“ – blieb im kollektiven Gedächtnis Frankreichs verankert: In den 1980er-Jahren gaben immerhin acht Prozent der Befragten an, primär die „kahl rasierten Kollaborateurinnen“ mit der Befreiung Frankreichs zu assoziieren. Hier standen weniger „rassische“ Überschreitungen als vielmehr das nationale „Fremdgehen“ im Vordergrund.4

Vor diesem Hintergrund galten die Nachkommen von Kriegsgefangenen in Österreich – auch über das Kriegsende hinaus – als „Kinder des Feindes“. Häufig waren sie unterschiedlichen Formen von Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt. Ihre „Schande“ bestand nicht nur darin, meist unehelich geboren worden zu sein, sondern auch darin, den „falschen“ Vater zu haben. Sie waren häufig – jahrzehntelang – von einer Mauer des Schweigens und versteckten Anspielungen umgeben.5 Ihr Schicksal unterscheidet sich darin kaum von jenem der ab Ende 1945 geborenen Besatzungskinder.6

Auch innerhalb der Familie von Eduard Spörk war somit seine Herkunft lange ein Tabu. Er blieb das einzige Kind im Dorf ohne Vater und fühlte sich nicht zugehörig, auch das ein Charakteristikum vieler „Kriegskinder“.

Die Suche nach dem Vater ist für viele „Kriegskinder“ – und auch deren Kinder – zeit ihres Lebens ein Thema. Im Vordergrund steht die Ergründung der eigenen Identität, die Frage nach den „persönlichen Wurzeln“. Auch das Bedürfnis, diese Lücke in der eigenen Vita zu schließen, unabhängig davon, ob die Betroffenen eine „glückliche“ Kindheit verbrachten, ob sie in einer liebevollen Familie oder in einem Heim aufwuchsen, Diskriminierung ausgesetzt waren, früh oder spät, direkt oder indirekt, zufällig oder durch die Erziehenden gelenkt von ihren Vätern erfuhren. Selbst Kinder, die als Folge einer Vergewaltigung auf die Welt kamen, widmen sich dieser Lebensfrage.

Die Biografie von Eduard Spörk trägt dazu bei, das jahrzehntelang tabuisierte Thema der Nachkommen von ausländischen Kriegsgefangenen und österreichischen Frauen sichtbar zu machen. Sie verdeutlicht, wie schmerzlich die Lücke in der eigenen Biografie durch den absenten, lange auch verschwiegenen Vater sein kann. Seine Geschichte macht gleichzeitig Mut, sich auf die Spurensuche nach den eigenen Wurzeln zu begeben und trotz zahlreicher Rückschläge nicht aufzugeben.

Eduard Spörk und Britta Lauber sei für dieses Buch gedankt. Es stellt einen wichtigen Beitrag dar, die vielfach bis heute vorhandene Mauer des Schweigens, die zahlreiche „Kriegskinder“ in ihrer unmittelbaren Familie und Nachbarschaft umgibt, einzureißen.

Graz, im April 2015

Doz. Dr. Barbara Stelzl-Marx
stellvertretende Leiterin des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung

1Hubert Speckner, In der Gewalt des Feindes. Kriegsgefangenenlager in der „Ostmark“ 1939 bis 1945. Wien – München 2003, S. 32 f.

2Ingrid Bauer, „Besatzungsbräute“. Diskurse und Praxen einer Ausgrenzung in der österreichischen Nachkriegsgeschichte 1945–1955, in: Irene Bandhauer-Schöffmann – Claire Duchen (Hg.), Nach dem Krieg. Frauenleben und Geschlechterkonstruktionen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Herbholzheim 2000, S. 261–276, hier: S. 269.

3Monika Diederichs, Stigma and Silence: Dutch Women, German Soldiers and their Children, in: Kjersti Ericsson – Eva Simonsen (Hg.), Children of World War II. The Hidden Enemy Legacy. Oxford – New York 2005, S. 151–164, hier: S. 157f.

4Fabrice Virgili, Enfants de Boches: The War Children of France. Translated by Paula Schwartz, in: Kjersti Ericsson – Eva Simonsen (Hg.), Children of World War II. The Hidden Enemy Legacy. Oxford – New York 2005, S. 138–150, hier: S. 145.

5Barbara Stelzl-Marx – Silke Satjukow (Hg.), Besatzungskinder. Die Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich und Deutschland. Wien – Köln – Weimar 2015.

6Barbara Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung. Wien–München 2012, S. 509 f.

Der Zettel

Matt lehnte sich die Wärme des Sommers an einen wolkenlosen Himmel. Die trockene Luft knisterte.

„Immer noch besser als in der Ziegelfabrik“, dachte Eduard müde. Seit einer Woche arbeitete er in der Hitze des Brennofens, die seine Haut glühen ließ und ihm den Atem nahm. Doch er brauchte das Geld, sparte für ein Moped und nutzte die Ferientage. Seine Mutter nickte ihm zu und reichte ihm wortlos ein Glas Wasser. Mit seinen vierzehn Jahren begegneten sie sich von der Größe auf Augenhöhe, der schmale, blonde Junge und die brünette Frau, deren Figur die Geburten von drei Söhnen gerundet hatten.

Der Tag neigte sich dem Abend entgegen. Hans, Eduards achtjähriger Bruder, spielte mit Freunden irgendwo draußen am Bach, und der Mann der Mutter schien unterwegs zu sein.

„Wie war es heute?“, fragte Eduard, obwohl er die Antwort bereits kannte.

„Wie immer“, die Mutter überraschte ihn nicht. Sie sprach nie viel, auch nicht über ihre Arbeit in der Tabakfabrik, wo sie seit einigen Jahren Zigarren aus feinen Tabakblättern rollte. Anfänglich nur mit den Händen, die von Maschinen abgelöst wurden, schneller und präziser. Nur die teuersten und edelsten Zigarren durften nun noch zwischen Mutters langen, schmalen Fingern schonend geformt werden.

„Wasch dir die Hände, es gibt gleich Essen“, wies sie ihn an. Als Eduard zurück in die Küche kam, standen nur zwei Teller auf dem Tisch. Er fragte nicht nach dem Grund. Die Stühle wurden gerückt, sie setzten sich. Beim Anblick der dampfenden Kartoffeln spürte Eduard keinen Hunger, sondern seine Nervosität. Zu selten hatte er die Mutter für sich allein.

image

Eduards französische Großeltern Antoine und Anne Ménan mit ihrer Familie 1936 – sein Vater steht in der hinteren Reihe ganz rechts.

„Ich bin wieder nach meinem Vater gefragt worden“, platzte es aus ihm heraus. „Bitte, Mutter, erzähle mir von ihm! Irgendetwas! Seinen Namen. Wie er war. Ich muss es wissen!“ Unter der Flut der Worte erstarrte sie. Die Gabel klirrte gegen den Tellerrand.

„Lass es, Edi!“, flüsterte sie kraftlos.

„Immer sagst du, lass mich in Ruh! Nein, Mutter, ich muss es wissen! Ich muss!“

Es schien der Zeitpunkt gekommen zu sein, an dem sie ihn nicht mehr mit einem Blick zum Schweigen bringen konnte. Seine jugendliche Energie sprengte gegen die verkrustete Hülle, die ihre wunde Seele umschloss.

Sie stand auf und suchte für einen Moment den Halt in ihren Handflächen auf der Tischplatte. Eduard wagte nicht, ihr in das blasse Gesicht zu sehen. Er spürte ihren Schmerz wie seinen eigenen. Erst als sich die Mutter wegdrehte, hob er enttäuscht den Kopf. Seine Fragen sollten wieder ohne Antwort bleiben.

Eduard hörte den schweren Atem der Mutter und Schritte, die die Last ihrer inneren Qual trugen. Eine Schublade im hölzernen Küchenschrank wurde geöffnet und dumpf zugeschoben. Für einen Moment bewegte sich niemand von beiden, und Eduard fragte sich, was sie gesucht hatte. Dann bemerkte er, dass sich die Mutter schwerfällig wieder auf den Stuhl neben ihn setzte, einen Bleistift und ein Stück Papier in der rechten Hand haltend. Eduards Herz schlug so heftig, dass er es in seinem ganzen Körper spüren konnte.

Während sie mit gebeugtem Kopf und zusammengepressten Lippen schrieb, verharrte Eduard regungslos und wagte kaum zu atmen. Nichts sollte die Mutter unterbrechen.

Stumm schob sie ihm den Zettel zu. Zwei Wörter. Ein Datum.

Ansonsten Leere, die sich für Eduard langsam mit Vergangenheit zu füllen begann. Und Zeichen, die eine Zukunft versprachen:

Antoine Ménan

26. 11. 1917

Übersbach 1940

Aufrecht saß Karl Sommer auf dem Pferdewagen. Die grauen Augen im hageren Gesicht glitten über die goldenen Getreidemandeln, die zum Trocknen auf den Feldern standen. Stundenlang hatten er und Juliana, seine Frau, in diesem Jahr die von den Pferden gezogene Mähmaschine allein führen und ihre Kinder die geschnittenen Halme zu Garben binden müssen. Dem Bauern fehlten die Tagelöhner, die sich in der Erntezeit Geld auf seinem Hof verdienten. In diesem Jahr wurden sie auf anderen Feldern gebraucht, auf Schlachtfeldern.

Schmerzhaft pulsierte sein rechtes Bein, eine lästige Erinnerung aus dem letzten großen Krieg, der so verlustreich verloren gegangen war. Eine Granate hatte nicht nur den Knochen zersplittert, sondern auch seine Seele. Doch davon wusste niemand. In den Falten seiner Haut waren mehr als nur die siebenundvierzig Jahre vergraben.

Sonne, Wind und Wolken zeigten Karl Sommer, dass in den nächsten Tagen die Ernte eingefahren werden musste. Im Dorf konnte er nur wenige um Hilfe bitten. Auf den meisten Höfen gab es nur noch Frauen, Kinder und Männer, die zu alt oder zu schwächlich für Hitlers Pläne waren. Sorgenvoll verzog er die Mundwinkel. Harte, einsame Arbeit wartete noch auf ihn, bevor der Winter eine weiße Decke über das Land breiten würde.

Karl griff die Zügel: „Berta!“

Das Pferd wendete und trabte an. Es folgte dem Weg am Feldrand entlang auf den kleinen steirischen Ort Übersbach zu. Friedlich lag er vor Karl Sommer. Trügerisch friedlich, seit dem Einmarsch von Soldaten der deutschen Wehrmacht am 12. März 1938 in Österreich. Einen Tag danach war das „Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ beschlossen worden. Scheinheilig hatte Hitler für den 10. April 1938 die österreichische Bevölkerung zu einer Volksabstimmung aufgerufen. Auch in Übersbach war ein Zimmer im Wirtshaus der Felgitschs leer geräumt worden. Bei dem Gedanken an diesen Tag spürte Karl Sommer wieder das Unbehagen, als er damals über den Dorfplatz gegangen war. Er hatte gewusst, dass er sich dieser Abstimmung nicht entziehen konnte.

Schon am Eingang beobachteten braune Uniformierte mit starren Gesichtern die ankommenden Bauern. Ihr Führer gierte nach absoluter Zustimmung. Sie wollten dafür sorgen.

In dem Raum, den Karl Sommer an diesem Apriltag betreten hatte, standen drei Tische und drei Stühle. Kein Tuch, keine Wand dazwischen. An den Wänden lehnten die, die nicht gefragt werden mussten.

Karl Sommer kannte alle, wie es in einem Ort mit vierhundert Einwohnern unvermeidlich war. Die Kindheit, die Schulzeit verbrachten sie gemeinsam, übernahmen die Höfe ihrer Vorfahren, halfen sich bei der Ernte und sahen die Kinder aufwachsen. In der Gaststube beobachtete jeder jeden.

Auf dem Stimmzettel, der Karl Sommer, den anderen Bauern und ihren Frauen vorgelegt wurde, stand: „Bist Du mit der am 13. März 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und stimmst Du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler?“

Das trügerische Ergebnis von 99 Prozent, in dem sich zum einen die allgemeine, von der nationalsozialistischen Propaganda angetriebene Begeisterung für den „Anschluss“ widerspiegelte, das aber auch durch gezielte Einschüchterung zustande gekommen war, hatte Hitler sicher ein selbstgefälliges Grinsen entlockt. Doch Übersbach durchzog nach der Wahl eine unsichtbare Linie.

Leute wie Karl Sommer hatten ohne innere Überzeugung mit „Ja“ gestimmt. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), die Partei des Führers, gewann in ihm kein neues Mitglied, denn als Steirer und alter Kriegsveteran krümmte er nicht seine aufrechte Haltung. Im oberen Ortsteil, in dem sich sein Bauerngehöft befand, war er nicht allein mit dieser Einstellung. Im unteren musste er dafür umso leiser reden. Dort wohnten viele überzeugte Nazi-Anhänger. Unter ihnen der Ortsbauernführer Karl S., der Bürgermeister Eduard F. und der Ortsgruppenleiter und Kreisbauernführer Karl H. Letzterer stand rangmäßig noch über dem Bürgermeister und war unter anderem für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln verantwortlich. Das Verhältnis zwischen ihm und dem Bauern Karl Sommer konnte in den vorangegangenen zwei Jahren nicht als freundschaftlich bezeichnet werden.

Als Karl Sommer durch das rückseitige große Tor seines vier Seiten umfassenden stattlichen Hofes fuhr, schob er seine Sorgen für einen Moment beiseite. Stolz betrachtete er seinen Besitz. Die Düngerstätte in der Mitte hatte er vor vier Jahren auf einem betonierten Untergrund mit einer Umrandung bauen lassen. Seitlich abgegrenzt befand sich hinter einer schmalen Holztür der Abort. In der Nähe des Einganges zur Küche sprudelte ein für die Region typischer artesischer Brunnen. Er war durch einen Schacht bis unterhalb des Grundwasserspiegels in einer Senke angelegt worden. Der Überdruck bewirkte, dass das Wasser durch unterschiedliche Gesteinsschichten von selbst und dauerhaft an die Erdoberfläche gelangte.

Rechts führte ein mit Beton ausgegossener, schmaler Fußweg unter dem vorspringenden Hausdach am Pferdestall und der Wohnung der Sommers entlang. Im Herbst hingen hier die Maiskolben zum Trocknen. Gegenüber hörte Karl Sommer das Grunzen der Schweine und das Schnauben der Kühe.

Nachdem er das Pferd in den Stall geführt hatte, trat er durch eine niedrige Tür in die Küche ein.

Am großen gekachelten Herd kochte seine Frau in Streifen geschnittenes, weißes Kraut. Unter dem eisernen Topf loderte ein Feuer, durch Holzscheite gefüttert. Für einen Augenblick ruhte sein Blick auf Julianas blau-weiß geblümtem Kopftuch, unter dem sie ihr hochgestecktes, braunes Haar verbarg. Sie hatte ihm neun Kinder geboren, von denen eines gestorben war. Hans war mit seinen vier Jahren der Jüngste und saß zu ihren Füßen. Er spielte mit einem Holzlöffel.

image

Eduards Großeltern Sommer bei ihrer Goldenen Hochzeit 1970, dahinter Eduards Mutter

Ihr erstes Kind hatten sie Maria genannt, mittlerweile eine junge Frau von einundzwanzig Jahren. Frühzeitig hatte sie auf dem Hof und auf den Feldern helfen müssen. Karl Sommer schätzte an ihr, dass sie tat, was ihr aufgetragen wurde, ordentlich sogar. Nur einmal hatte sie sich seiner Autorität widersetzt: als sie den jungen Leopold Passath aus Leoben, der als besitzloser Knecht auf einem Nachbarhof arbeitete, kennengelernt und sich in ihn verliebt hatte. Alle Versuche Karls, die Beziehung zu unterbinden, scheiterten. Maria wurde schwanger und Juliana drängte ihn, der Verbindung seinen Segen zu geben. Erst im April 1940 hatte die Hochzeit stattgefunden, mit Franz, dem dreijährigen Sohn des Paares.

Der Krieg in Europa

Nach der Einverleibung der „Ostmark“, wie das ehemalige Staatsgebiet Österreichs nun von Hitler-Deutschland bezeichnet wurde, setzte sich noch unauffällig und ungehindert der Eroberungsfeldzug der Deutschen fort. Abgesichert durch die Zustimmung Großbritanniens, Frankreichs und Italiens im Rahmen des Münchner Abkommens vom 30. September 1938 griff die NS-Diktatur nach dem Sudetenland. Polnische und ungarische Truppen schwächten die Tschechoslowakei durch grenznahe Gebietsansprüche.

Ein Jahr nach dem „Anschluss“ besetzte die deutsche Wehrmacht im März 1939 das restliche Staatsgebiet der Tschechei und betrieb die Abspaltung der ersten Slowakischen Republik. Das „Protektorat Böhmen und Mähren“ entstand. Die Akzeptanz aller Forderungen und Maßnahmen Hitlers durch Länder wie Großbritannien, Frankreich, Italien und die Sowjetunion heizte des Führers Besessenheit an, mit einem Krieg die Herrschaft über Europa, wenn nicht sogar die Welt, zu erlangen.

Polen war das nächste Ziel seiner Expansionspolitik. Die Diplomatie hörte die deutschen Säbel rasseln und schrieb auf Papier: Garantieerklärungen zur nationalen Integrität Polens, Beistandspakte, Nichtangriffspakte, Freundschaftsverträge und Bündnisverträge. Hitler bekam die Zeit, die Armee aufzurüsten, seine Soldaten in Stellung zu bringen, unerfüllbare Forderungen gegenüber Polen zu diktieren, deutsch-polnische Auseinandersetzungen zu manipulieren, um einen Krieg zu provozieren. Stalin hatte als Einziger nichts dagegen einzuwenden, wenn nur die Sowjetunion auch etwas vom Gebiet Polens abbekam. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom August 1939 mit seinem geheimen Zusatzprotokoll war Zeugnis dieser politischen Strategie des sowjetischen Führers. Nur wenige Tage später entfesselte Deutschland mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg.

Hatten die neuen Machthaber in Österreich bereits brutal Andersdenkende und Juden ausgeschaltet, so führte die deutsche Wehrmacht in Polen einen Krieg neuer Dimension. Nicht nur die deutschen Truppen, sondern auch spezielle Einsatzkommandos der Polizei und Heinrich Himmlers Schutzstaffel (SS) waren von oberster Stelle dazu aufgerufen, polnische Zivilisten und Kriegsgefangene brutal zu töten. Von Osten drangen zwei Heeresgruppen der Roten Armee in Polen ein, um alte Gebietsansprüche geltend zu machen. Am 28. September 1939 sorgten schwere Artillerie- und Luftangriffe für die Kapitulation Warschaus. Mit dem 6. Oktober 1939 war der Untergang Polens besiegelt, das nun als Reichsgaue „Danzig-Westpreußen“ und „Wartheland“ vom Deutschen Reich vereinnahmt wurde. Für das dem Generalgouvernement unterstehende „Restpolen“, angeführt von Hans Frank und dem Höheren SS- und Polizeiführer Friedrich-Wilhelm Krüger, begann eine Zeit des Terrors, der Willkür und der Angst.

Anstatt Polen, wie garantiert, zu Hilfe zu kommen, setzten Frankreich und Großbritannien auf eine Wirtschaftsblockade gegen Deutschland. Hitler zeigte sich wenig beeindruckt und wandte sich vom Osten in den Norden. Am 9. April 1940 kam er einer britischen Besetzung Norwegens nur um wenige Stunden zuvor. Seine Vision vom Blitzkrieg schien sich ein weiteres Mal zu erfüllen. Dänemark wehrte sich kaum, so dass Hitler seine Kräfte für die am 10. Mai 1940 beginnende Westoffensive gegen die Niederlande, Belgien und Luxemburg bündeln konnte. Die Nachricht über die Verhandlungsbereitschaft der Niederlande erreichte die Deutschen nicht rechtzeitig. Da war die Bombardierung Rotterdams am 14. Mai 1940 bereits angeordnet worden.

Einen Tag danach gaben die Niederländer auf, ebenso Belgien am 28. Mai 1940 und Norwegen am 10. Juni 1940. Wieder einmal zu spät erkannten die Alliierten die Taktik der deutschen Truppen. Ihr Angriff über Luxemburg und die Ardennen durchbrach den schwierigsten Teil der alliierten Front und öffnete den Zugang bis zur französischen Kanalküste. In einer spektakulären Rettungsaktion zwischen dem 26. Mai und dem 4. Juni 1940 wurden knapp 370.000 eingekreiste alliierte Soldaten, darunter etwa 139.000 Franzosen, mit Booten jeder Art und Größe auf dem Seeweg nach England evakuiert. Sie hinterließen ihr Kriegsgerät, bündelten aber ihre Kräfte im Britischen Expeditionskorps sowie in einer französischen Exilarmee. In vier Jahren sollten sie mit der Invasion in der Normandie wieder in das Kriegsgeschehen eingreifen.

Nach dem 5. Juni 1940 umstellte die deutsche Wehrmacht große Teile der französischen Truppen und erzwang ein Waffenstillstandsangebot. Zuvor hatte die französische Regierung vergeblich die USA um Hilfe gebeten. Durch die Flucht tausender Einwohner aus Paris und den Rückzug der französischen Regierung nach Bordeaux wirkte Paris beim Einmarsch der Wehrmachtsverbände am 14. Juni 1940 fast menschenleer und wurde den deutschen Eroberern kampflos überlassen. Als zusätzliche Demütigung wurden die Besiegten gezwungen, den Waffenstillstand am 22. Juni 1940 im historischen hölzernen Salonwagen im Wald von Compiègne zu unterzeichnen; in eben jenem Wagen, in dem die französische Regierung den Deutschen am 11. November 1918 die Bedingungen diktiert hatte.

Hitler beanspruchte die Nordhälfte Frankreichs mit den wichtigsten Industriestädten sowie die französische Kanal- und Atlantikküste bis zur spanischen Grenze. Die Südhälfte des Landes unterstand der konservativ-autoritären Regierung von Henri Philippe Pétain mit Sitz in Vichy, die eine scharfe Pressezensur ausübte, die Opposition unterdrückte sowie Ausländer und Juden verfolgte.

Während Hitler seinen Erfolg feierte, zeigte sich der britische Premierminister Winston Churchill in seiner ablehnenden Haltung unbeeindruckt. Bereits einen Monat nach der Niederschlagung der Franzosen plante Hitler die Invasion in England. Eile war geboten, denn die deutsche Wehrmacht sollte sich auf den nächsten Überfall im Osten konzentrieren können. Doch die deutschen Befehlshaber hatten nicht mit der technisch überlegenen Ausstattung der britischen Abwehr gerechnet, an der die deutsche Luftwaffe und Marine in den August- und Septemberwochen 1940 scheiterten. Bevor Hitler seine Invasionspläne aufgab, versetzte seine Luftwaffe besonders London in Angst und Schrecken und zerstörte Coventry nahezu vollständig. Großbritannien hatte sich erfolgreich seinen Plänen entgegengestellt, aber seine Mission sah Hitler ohnehin in der Eroberung von „Lebensraum im Osten“ und „der Vernichtung des jüdischen Bolschewismus“. Mit geballter Kraft sollte die Wehrmacht die Sowjetunion besiegen.

image

22. Juni 1940: Wilhelm Keitel, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, überreicht die Waffenstillstandsbedingungen an General Charles Huntziger.

Stammlager XVIII A Wolfsberg

In der Küche, neben dem großen Esstisch, stand das Radio, ein kleiner hölzerner Kasten, von Karl Sommer zu Ausbruch des Krieges in Fürstenfeld preiswert gekauft. Er war kein Liebhaber der Schlager und Wunschkonzerte, die der „Volksempfänger“, im Deutschen Reich als „Goebbels-Schnauze“ bezeichnet, in die Stube der Sommers schmetterte. Mit wachsender Beklemmung hörte er eher aufmerksam die manipulierten Nachrichten und die bellenden Reden Hitlers und Goebbels, die die Erfolge der deutschen Truppen glorifizierten und das Volk auf den Endsieg einschworen. Dass jeder Sieg tragische Verlierer zurückließ, begriffen die Leute in Übersbach, als die ersten Söhne und Väter nicht auf ihre Höfe zurückkehrten.

image

Ein Volksempfänger vom Typ VE301W aus dem Jahr 1933

Nachdem der schreckliche Krieg von 1914 bis 1918 sein rechtes Bein gekürzt hatte, drängte es Karl Sommer, die Perspektive des Feindes zu kennen. Gottfried Felber, sein Nachbar und Freund, war wie er bereit, das Risiko einer möglichen Todesstrafe einzugehen, die, gemäß der „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“, für das Hören von „Feindsendern“ verhängt werden konnte. Um aber ihre Familien nicht zu gefährden, machten sich die beiden Männer mit Einbruch der Dunkelheit auf den Weg in die „Berge“, um auf einer Anhöhe bei Rittschein, außerhalb von Übersbach, einen befreundeten Bauern zu besuchen. Niemand konnte ihn überraschend besuchen, weil er jederzeit die Wege zu seinem Haus überblicken konnte. Über das Radio gebeugt, lauschten die drei den Nachrichten von der anderen Seite des Krieges, vom kaltblütigen Feldzug der Deutschen, der auch vor Frankreich nicht haltgemacht hatte. Sie hörten von der Gefangennahme noch ungezählter französischer Soldaten und fragten sich, welchem Schicksal sie entgegengehen würden.

Schon vor 1939 hatte die Wehrmacht eine eigene Dienststelle geschaffen, die sich mit einer nutzbringenden Verwendung der Kriegsgefangenen befasste. Unter der direkten Aufsicht des Oberkommandos der Wehrmacht wurde schließlich der hohen Zahl an Kriegsgefangenen Rechnung getragen. Es musste über ihre Aufteilung in Mannschaftslager, Offizierslager (mancherorts zusätzlich getrennt in Luft- und Marine-Lager), Durchgangslager, Straflager, Heimkehrerlager und über ihren Einsatz in der Industrie, insbesondere in der Rüstungsindustrie, in der Landwirtschaft und im Bergbau entschieden werden. Die Kriegsgefangenen-Bau- und -Arbeitsbataillone bekamen eine eigene Organisationsstruktur.

Ausgehend von der Haager Landkriegsordnung von 1899 wurden, nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, 1929 in der Zweiten Genfer Konvention die Grundsätze zur einheitlichen Behandlung von Kriegsgefangenen festgelegt. Die unterzeichnenden Länder wie Frankreich, USA, Großbritannien, China, Indien und das Deutsche Reich regelten darin Mindestanforderungen an die Ausstattung von Kriegsgefangenenlagern, an die Versorgung der Gefangenen mit Nahrung, Medizin, Kleidung und den Standard der sanitären Anlagen. Sie legten unter anderem fest, dass Kriegsgefangene nicht in der Rüstungsindustrie und beim Rüstungstransport eingesetzt werden durften und bei bestimmten Arbeiten am Ende der Gefangenschaft entlohnt werden sollten.

Das war die Theorie, die mit der Praxis nicht viel zu tun hatte. Prinzipiell gab es im Deutschen Reich keine Gleichbehandlung der Kriegsgefangenen, sondern sie wurden nach ihrer Nationalität und den Maßstäben der Rassenideologie des Nazi-Regimes eingestuft. Die Einstellung der Lagerkommandantur und der Wachmannschaften spielte eine wichtige Rolle: so wurde in einzelnen Lagern der „Ostmark“ tendenziell zurückhaltender als im „Altreich“ agiert. Der Transport der Kriegsgefangenen in offenen Viehwaggons, in denen sie Krankheiten und im Winter Erfrierungen ausgesetzt waren, ihre Unterbringung in Baracken oder im Freien, teilweise ohne Bekleidung und Schuhe, gipfelte in der äußerst ungleichen Versorgung mit Essen. Den sowjetischen Gefangenen, in der nationalsozialistischen Propaganda als „Untermenschen“ bezeichnet, stand nur Unmenschliches zu. Ihnen galt kein minimaler Schutz durch die Genfer Konvention, da die Sowjetunion dem Abkommen nicht beigetreten war. Der Tod dieser Menschen wurde in Kauf genommen oder beschleunigt. Polnischen und später auch italienischen Soldaten wurde gänzlich der Status von Kriegsgefangenen verwehrt. Vergleichsweise weniger Tote in den deutschen Lagern mussten die alliierten Armeen verzeichnen, wobei auch hier regional Unterschiede gemacht wurden.

Die Entscheidung, Gefangene in der Industrie und in der Landwirtschaft einzusetzen, resultierte aus dem Mangel an Arbeitskräften im Deutschen Reich. Keiner der auf den Schlachtfeldern Kämpfenden konnte gleichzeitig Munition produzieren oder das Getreide säen.

Anders als bei vielen der norwegischen, belgischen, niederländischen und griechischen Soldaten, die nach dem Ende der Kämpfe bald freigelassen wurden, entschied die Wehrmacht, die französischen Kriegsgefangenen zum Arbeiten in das Deutsche Reich zu bringen. Vor der Verteilung dieser fast 1,6 Millionen Kriegsgefangenen auf die Lager in den dreizehn Wehrkreisen im „Altreich“, auf die zwei auf polnischem Gebiet befindlichen Wehrkreise sowie auf die zwei Wehrkreise in der „Ostmark“, dem Wehrkreis XVII Wien und XVIII Salzburg, wurden die meisten von ihnen in den Frontlagern festgehalten und alphabetisch registriert. Unter ihnen die Männer des 20. Artillerie-Corps Nord Africa, die sich vor dem Angriff der Deutschen nach Vaudemont zurückgezogen hatten.

Der winzige mittelalterliche Ort in Lothringen, malerisch auf einer Bergkuppe dreißig Kilometer südlich von Nancy gelegen, hatte für die deutsche Wehrmacht keine strategische Bedeutung. Ihre siegreichen Soldaten durchstreiften trotzdem die Gassen und entdeckten die französische Truppe.