image

Carla Amina Baghajati

Muslimin
sein

25 Fragen –
25 Orientierungen

image

Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

„Für jeden von euch haben wir ein Gesetz und einen Lebensweg aufgezeigt. Und wenn Allah gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Doch Er wollte euch prüfen in dem, was Er euch gegeben hat. Darum wetteifert miteinander in guten Werken. Zu Allah werdet ihr alle zurückkehren. Dann wird Er euch Kunde geben davon, worüber ihr zu streiten pflegtet.“
(Koran 5:48)

Diese Verse waren die direkte Inspiration für Gotthold Ephraim Lessing bei der Niederschrift der Ringparabel in „Nathan der Weise“:

„Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: ‚Wähle!‘ Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: ‚Gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!‘“
(Lessing, 1777)

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

Gottesdienst

1.Wie stehen Mann und Frau in ihrem Menschsein zueinander?

2.Gibt es Unterschiede in der religiösen Praxis zwischen Männern und Frauen?

3.Wie kann ich mich Gott weiter nahe fühlen, auch wenn ich während der Periode nicht bete und faste?

4.Gibt es eine Kopftuchpflicht – auch beim Schlafen?

Rollenbilder

5.Bin ich als gute Muslimin vor allem auf die Rolle als Hausfrau und Mutter festgelegt?

6.Müssen Musliminnen die Männer in ihrer Familie bedienen?

7.Gilt die Zeugenaussage einer Frau wirklich nur halb so viel wie die Aussage eines Mannes?

8.Kann eine Frau nach islamischer Vorstellung eine Führungsrolle einnehmen – auch im Staat?

Zusammenleben

9.Wie können Musliminnen islamische Argumente in Richtung Frauenmitsprache nutzen?

10. Dürfen muslimische Frauen arbeiten gehen?

11. Was soll ich machen, wenn ich Kopftuch tragen möchte, aber das wegen meiner Arbeit nicht geht?

12. Sind Sportunterricht oder Klassenfahrten für muslimische Mädchen ein Problem?

13. Wie soll ich reagieren, wenn mir ein fremder Mann die Hand schütteln möchte?

14. Kann ich als Frau an einer Beerdigung teilnehmen?

15. Was hat es mit dem Gesichtsschleier auf sich?

Ehe und Familie

16. Gilt ein Bub mehr als ein Mädchen?

17. Darf ein Muslim mit bis zu vier Frauen gleichzeitig verheiratet sein?

18. Worauf ist beim Abschluss des islamischen Ehevertrags zu achten?

19. Ist Sex nur zum Kinderkriegen da?

20. Sind Verhütungsmittel erlaubt?

21. Ist ein Schwangerschaftsabbruch haram, also islamisch verboten?

22. Haben muslimische Männer eine Art „Züchtigungsrecht“ über die Frau?

Im Namen der Ehre?

23. Mit welchen Argumenten lässt sich eine Zwangsehe beziehungsweise Kinderhochzeit verhindern?

24. Was tun gegen Verbrechen im Namen der Ehre?

25. Wie lässt sich FGM bekämpfen?

Ausblick

Zehn Punkte – zehn Wege für mehr Geschlechtergerechtigkeit

Anmerkungen

Glossar

EINLEITUNG

Meine Mutter würde ein Problem mit meinem Kopftuch haben. So viel war mir damals, als ich frisch den Islam angenommen hatte, schon klar. Der Wunsch, auch äußerlich zum Islam zu stehen, war aber groß. Ich grübelte also, wie ich vorgehen sollte. Weil ich wusste, dass Diskussionen nur schmerzhaft und fruchtlos sein würden, bildete ich mir ein, eine Hauruck-Methode sei der einzige und beste Weg. Es einfach tragen und fertig – eine schlechtere Strategie hätte ich nicht wählen können!

Nach einem langen Nachmittag bei der türkischen Familie in Mainz, bei der ich die praktischen Seiten der Religion kennenlernte, behielt ich das Kopftuch, das man mir geschenkt hatte, einfach auf. Wie würden die Leute auf der Straße reagieren? Auf dem Weg nach Hause beobachtete ich die Reaktionen genau. Damals, Ende der 1980er-Jahre, begann man mehr und mehr über die so genannte Ausländerproblematik zu reden. Ich bekam sofort zu spüren, dass ich mit dem Kopftuch auf einmal als Fremde behandelt wurde – misstrauische Blicke, mangelnder Respekt und vor allem wurde ich angeredet, als könnte ich kein Deutsch: „Du gehen bisschen zur Seite!“. Ich hätte gewarnt sein sollen. Doch im Hochgefühl des Bewusstseins, für mich den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, trug ich den Kopf nur noch höher.

Unser Küchenfenster geht auf die Straße hinaus und da sah ich schon meine Mutter stehen. Ihr Blick fiel auf mich und wenn je der Ausdruck „in die Luft gehen“ wirklich zu beobachten war, dann bei ihr. Ihr blieb der Mund offen stehen, sie rang nach Luft und schien mit jedem Schnappen ein Stück weiter an die Decke heranzukommen. Einmal begonnen, wollte ich meine Aktion trotzdem nicht abbrechen. Anstatt das Tuch einfach gleich auszuziehen, trat ich also zu ihr ins Zimmer und merkte da erst, was für einen furchtbaren Fehler ich gemacht hatte. Ich musste noch froh sein, dass sie keinen Herzinfarkt bekommen hatte, so aufgelöst war sie. Schon prasselten die Vorwürfe auf mich ein: „Habe ich dich nicht zu einer freien jungen Frau erzogen? Musst du dich so zurichten? Das mit dem Islam ist ja schlimm genug – musst du es auch noch so herzeigen? Und willst du wirklich so eine unterdrückte Frau werden, wie man immer von den Musliminnen hört?“

Damit lagen die Fragen auf dem Tisch, die mich die nächsten Jahre, vielleicht bis heute, beschäftigen sollten. Für mich persönlich bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass mein Religionswechsel keinen Wechsel meiner Einstellungen und prinzipiellen Werte bedeutete. Die Chancengleichheit von Mann und Frau, Menschenrechte und auch ein demokratisches Bewusstsein waren mir von Jugend an wichtig und würden es auch weiterhin sein. Im Islam hatte ich nichts gefunden, das mich damit in Widerspruch bringen würde. Über die Verletzung von Frauenrechten konnte ich mich genauso aufregen wie jemand, der das von außen sah. Damals wurde der Bestseller „Nicht ohne meine Tochter“ heiß diskutiert, in dem es um die gescheiterte Ehe einer Amerikanerin mit einem Perser geht, der sich als Macho und Tyrann entpuppte. Wer weiß, was sich meine Mutter alles von aufgebrachten Freundinnen an Warnungen anhören musste. Von Anfang an spürte ich aber auch, dass gerade aus der Religion heraus der Widerstand gegen Frauenfeindlichkeit aufgebaut werden sollte. Denn von einer den Islam praktizierenden Gläubigen würde es doch die Zivilcourage verlangen, hier nicht einfach zuzusehen, sondern dagegen zu sprechen. Und wenn sich jemand in Bezug auf Frauenfeindlichkeit auch noch auf die Religion berufen wollte, ihm oder ihr die Stirn zu bieten und zu beweisen, dass das ein Unrecht ist.

Das Auseinanderklaffen von der Außensicht auf den Islam und der Innenwahrnehmung, speziell beim Frauenthema, bekam ich also sofort hautnah mit. Heute kann ich die Aufregung meiner Mutter viel besser verstehen. Ich sah mich weiter als moderne und selbstbestimmte Frau, während sie dies bezweifelte. Wir hatten dabei nicht nur einen Konflikt, weil sie angesichts vieler Schreckensmeldungen über frauenbenachteiligende Strukturen in muslimischen Gesellschaften Angst um die Zukunft ihrer Tochter hatte. Es ging auch um das Thema Identität. Sie hatte mich schließlich erzogen und mir viel mitgegeben. Würde ich das nun alles verleugnen und ablehnen? Und ich war auch noch so provokant, völlig gedankenlos in dieser Wunde herumzustochern, als ich etwa bei einem Besuch zu Weihnachten großartig tönte: „Bei uns im Islam …“, um zu erklären, warum ich keine Weihnachtslieder mitsingen wollte.

Damals wollte ich die Religion tausendprozentig leben und neigte im Überschwang meines Glücks, Muslimin zu sein, wie viele neu Konvertierte dazu, die Skepsis oder auch die Warnungen aus dem eigenen Umfeld als „Prüfung“ zu sehen. Anfeindungen standzuhalten war wie ein Test der eigenen Willensstärke.

In einer „Jetzt-erst-recht!“-Mentalität den schweren Weg zu suchen, kann gefährlich werden, wenn damit ein Schwarz-Weiß-Denken einhergeht, mit dem die Welt in „Andersgläubige“ und „Muslime“ eingeteilt wird. Denn das macht anfällig dafür, die eigenen Wurzeln und damit die Fähigkeit zu Reflexion und Selbstkritik aus dem Blick zu verlieren und stur das einzige Heil in der neuen religiösen Lehre zu suchen. In dem Bemühen, das Leben neu einzurichten und die religiöse Praxis – Speisegebote, Fasten, Gebet, Kleidung – in den Alltag zu integrieren, tauchen Reibungsflächen mit der gewohnten Umgebung auf. Bleibe ich am Tisch sitzen, wenn die anderen Alkohol trinken? Anfangs ist die Fähigkeit, über die Religion zu reden, zu wenig ausgeprägt, um in einen Dialog zu treten. Dann bleibt es meist bei stur wirkenden Behauptungen: „Das ist im Islam halt so!“ und der Entscheidung, zur Sicherheit lieber den „strengeren“ Weg zu gehen. Noch heikler ist es, mögliche Konflikte, die mit mehr Wissen über die Geschmeidigkeit und das Anpassungsvermögen muslimischer Auslegung oft gar keine sein müssten, angemessen anzugehen. Um sich selbst in der neuen Rolle als Anhänger beziehungsweise Anhängerin des Islams zu beweisen, neigen viele frisch Konvertierte dazu, solche Konflikte zur Selbstprofilierung zu nutzen und auf Konfrontationskurs zu gehen. Ich muss meiner Mutter dankbar sein, dass sie hinter meinem auftrumpfenden Wesen meine eigene Unsicherheit erkannte – die ich damals nicht einmal mir selbst eingestanden hätte – und meistens gelassen blieb.

Gott sei Dank gab es auch Muslime, die mich immer wieder auf den Boden zurückholten. Ihnen war ich auch eher bereit zuzuhören. Das Kopftuchtragen redeten sie mir ganz schnell aus: „Lerne erst einmal den Islam tiefer kennen! Hör’ auf, deine armen Eltern zu überfordern! Und bilde dir nicht ein, das Kopftuch sei eine Art Verkleidung, um dich selbst als Muslimin zu bestätigen! Bring’ erst einmal die fünf täglichen Gebete auf die Reihe!“ Diese Kopfwäsche hatte ich nötig. Sie trieb mir zusammen mit dem eigenen Studium des Islams sehr schnell meine ersten Überspanntheiten aus. In vielen Gesprächen kristallisierte sich für mich heraus, dass es eben kein Zeichen von Stärke ist, sich ultraorthodox zu geben und damit streng dem Vorbild der besonders Traditionsbewussten nachzueifern. Im Gegenteil, es ist viel anspruchsvoller, den eigenen Verstand eingeschaltet zu lassen und verschiedene Standpunkte der Interpretation zu überprüfen.

Je mehr ich über den Islam wusste, desto mehr sah ich den vermeintlichen Grund für meine ursprüngliche Hingezogenheit bestätigt: Dass er eine Religion ist, die ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit und Mündigkeit fordert. „Wollt ihr nicht nachdenken?“, heißt es wiederholt im Koran und dieses Motto hat Muhammad Asad, mein Lieblingsautor, wenn es um die Übertragung aus dem Arabischen geht, an den Anfang seines Buches gestellt: „Für Leute, die nachdenken“.1 Sogar die Gründer der später als „Rechtsschulen“ etablierten vier sunnitischen Auslegungstraditionen betonten, dass niemand ihnen blind in einer Meinung folgen möge, sondern nachzuvollziehen sei, wie sie darauf gekommen seien. Sie luden dazu ein, ihre Auffassungen auch in Frage zu stellen. Das kuriert von Tendenzen zu Autoritätshörigkeit, die sich bei Gläubigen immer dann leichter einstellt, wenn sie nach festem Halt suchen und die eigene Entscheidung lieber an andere delegieren.

„Gott will es den Menschen leicht machen!“2, wurde zu einer weiteren Leitlinie. Eine Religion für den Menschen als einem vernunftbegabten und fühlenden Wesen – dies vermittelte sich für mich auch in dem Prinzip, dass Auslegungen sich je nach den Faktoren Zeit, Ort und handelnde Personen, also den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, ändern können. Darum lässt sich die Scharia auch nicht in einem einzigen Buch erwerben. Zu verschiedenen Zeiten haben Gelehrte immer wieder die beiden muslimischen Hauptquellen Koran und Sunna, also die vorbildliche Lebensweise des Propheten Muhammad, befragt, um authentische neue Antworten auf sich neu stellende Fragen zu erhalten.

Im Nachhinein bin ich froh um gewisse Beinahe-Verirrungen, die mir halfen meinen Weg zu finden. Die Erfahrungen daraus lassen sich an andere weitergeben. Frisch Konvertierte brauchen dringend Menschen um sich, die sie behutsam begleiten und davon abhalten, sich in irgendwelche Engstirnigkeiten zu verrennen. Dieses Thema ist angesichts aktueller Fragen der Radikalisierung von besonderer Brisanz.

Den Islam von seiner Auslegung her dynamisch und nicht statisch zu begreifen, ist das entscheidende Kriterium, um die Glaubenspraxis nicht in Widerspruch zur Moderne zu bringen. Ja, es gibt in der Lehre Prinzipien und in der Glaubenspraxis Bestandteile wie Gebet, Fasten oder die Sozialabgabe zakat, die unverrückbar sind und daher auch die Säulen der Religion bilden. Doch gerade diese Sicherheit ist auch eine Einladung zu Offenheit, auf dieser authentischen Basis die jeweilige Lebenswirklichkeit zu überdenken und Fragen zuzulassen. Wer sich lieber in eine angeblich absolut heile Welt der Frühzeit des Islams hineinträumt, ist hier oft skeptisch. Bedeutet zu viel Flexibilität nicht letztlich einen Verrat an der überlieferten Tradition? Ist es nicht sogar gefährlich, andere kulturelle Gepflogenheiten anzunehmen? Würde nicht jedes Nachahmen „anderer“ Traditionen Schritt für Schritt zum Verlust der eigenen religiösen Identität führen?

Für mich war die Erkenntnis, dass der Islam kein starres Korsett ist, sondern sogar verlangt, auf die jeweiligen Verhältnisse zu reagieren, auch ein Weg, die Frage nach dem Stellenwert der eigenen kulturellen Wurzeln zu lösen. Ich verstand, dass ich künftig nicht jede kulturelle Besonderheit des Orients aufgreifen müsse, um mich als Muslimin zu erfahren. Mein nichtmuslimisches Umfeld schien dagegen anderer Auffassung zu sein. Vor allem seit ich fünf Jahre nach der Konvertierung begann Kopftuch zu tragen, nahm man von mir wie selbstverständlich an, ich müsse automatisch eine Expertin für die Kultur des Orients sein. Vielleicht gefiel mir das anfangs sogar. Es schien ja meine selbstgewählte muslimische Identität zu bekräftigen. Die Trennlinien zwischen Kultur und Religion sind auch alles andere als leicht zu bestimmen. Vieles verschwimmt ineinander. Die Reinheitsgebote der Religion prägten zum Beispiel die Badekultur in muslimischen Ländern, die wiederum auf dem römischen Erbe aufbaute.

Meine ursprüngliche Verkrampftheit in Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest illustriert besonders gut, wie es von der hiesigen Kultur geprägten Frauen geht, wenn sie muslimisch werden. Anstatt von vornherein die eigene Kultur in die neue Identität als Muslimin mitzunehmen, wird erst überprüft, ob hier auch kein „Verrat“ am Islam vorliegt. Was zusätzlich in die Quere kommen kann, ist die schon angeklungene Angst vieler frommer Muslime, in bid‘a zu fallen. Dieser Begriff benennt das Verbot „unzulässiger Neuerungen“, die den religiösen Kern verwässern könnten. Bei Menschen mit Migrationshintergrund ist diese Sorge oft noch ausgeprägter. In der Fremde wollen sie ihr religiöskulturelles Erbe erst recht ängstlich bewahren. Hier kann ein innermuslimischer Diskurs gerade mit den Konvertierten helfen, die Einordnung zu erleichtern und Hemmschwellen vor kulturellen Eigenarten des neuen Lebensmittelpunktes zu nehmen.

In jeder Kultur gibt es viele Traditionen, die nicht unbedingt nur religiös begründet sind. Jahrelang trafen wir uns als Gruppe konvertierter Frauen am 24. Dezember zu der Zeit, wo in christlichen Familien die Bescherung stattfindet. Es war die Anregung einer Freundin, die offen das zugab, was auch andere beschäftigte: An einem so emotionalen Datum kamen die Erinnerungen hoch, wie schön das früher gefeiert worden war: Lebkuchen, Kerzenschein, der geschmückte Baum. Nicht, dass jemand am eigenen Glauben gezweifelt hätte. Vor sentimentalen Gefühlen waren wir trotzdem nicht gefeit. Jede brachte ein traditionelles Weihnachtsessen mit und wir genossen einen lustigen Abend.

Heute backe ich in der Weihnachtszeit all die Kekse, deren Rezepte bei uns in der Familie überliefert worden sind, und verschenke sie auch gerne. Vanillekipferln zu backen oder zu essen ist kein Bekenntnis zum Christentum. Diesen Gedanken gebe ich gerne auch an Muslime weiter. Manchmal denke ich dabei an meine Klassenkameradin Mariam, damals, Anfang der 1980er-Jahre, die einzige Muslimin unter uns, die wir irgendwie bemitleideten, weil es für sie keine Geschenke zu Weihnachten gab. Sie sagte: „Bei uns ist es eigentlich besonders weihnachtlich. Wir haben keinen Stress davor und genießen es als Familie zusammen zu sein, zünden Kerzen an, essen gut und spielen und reden miteinander.“ Warum also nicht die spezielle Stimmung des Festes genießen? Noch dazu, wo Weihnachten theologisch die Möglichkeit bietet, sich mitzufreuen über Jesus. Denn für die Muslime ist er ein Prophet und die Geschichte seiner Geburt lässt sich sogar im Koran nachlesen.3

Für meine Mutter war es eine große Erleichterung, nach und nach zu erleben, dass gerade im kulturellen Bereich die Traditionslinien, die sie mir mitgegeben hatte, von mir gepflegt und an die eigenen Kinder weitergegeben wurden. Auch die Ängste, dass ich einer Gehirnwäsche unterzogen worden sei, legten sich, sobald sie merkte, dass ich „die Alte“ geblieben war. Als ich dann ungefähr ein Jahr nach der Konvertierung einen Muslim heiratete, wurde mein Mann sehr herzlich als Schwiegersohn aufgenommen. Dass wir eine partnerschaftliche Ehe führen, überwand Vorurteile und Befürchtungen. Die Tochter würde bezüglich ihrer Frauenrechte nicht wieder hinter das zurückfallen, was die Mutter in ihrer Generation erreicht hatte! Im Dialog mit Feministinnen wurde mir immer wieder klar, wie frisch die Errungenschaften der zweiten Frauenbewegung der 1970er-Jahre noch sind. Das erklärt die Angst, dass die zunehmende Präsenz des als streng patriarchalisch wahrgenommenen Islams diese Frauenrechte gefährden könnte.

Aber ist der Islam wirklich patriarchal? Während ich nach und nach ein sehr entspanntes Verhältnis zu meiner eigenen kulturellen Tradition fand, war mir bereits früh aufgefallen, dass „Tradition“ in Zusammenhang mit dem Islam immer mehr zum Schlagwort wurde, um das Unbehagen angesichts frauenfeindlicher Zustände auszudrücken. Im Dialog mit Andersgläubigen wurde der Hinweis auf die „böse Tradition“ oft eine Art Joker, um im Gespräch die manchmal krassen Widersprüche zwischen islamischem Anspruch und der gelebten Realität zu begründen. Auch unter Muslimen erlebte ich den Rückzug auf die Position, Missstände der Tradition zuzuschreiben. Mich stimmte dies zunehmend unzufrieden. Denn es schien zu bequem, damit eine Art Sündenbock zu haben, um nicht weiter nachdenken zu müssen, ob die Religion – in Form frauenfeindlicher Auslegungstraditionen – nicht doch ihren Anteil an der Misere hat.

Die islamische Theologie kann sich nicht davor drücken, eine kritische Sichtung gewisser Auslegungen vorzunehmen, die Frauen in starre Rollenbilder zwängen oder gar Menschenrechtsverletzungen Vorschub leisten. So kann das Ziel verfolgt werden, Argumente freizulegen, die Frauenrechte stärken und für Geschlechtergerechtigkeit plädieren. Der Islam genießt einen hohen Stellenwert in muslimischen Gesellschaften. Selbst Menschen, die ihn weniger praktizieren, wissen, dass Argumente auf dem Boden des Islams dringend nötige Bewusstseinsänderungen bringen können. In der Migration kommt der zusätzliche Bedarf an Orientierung hinzu, wie eine authentisch muslimische Lebensweise gelingen kann, ohne sich von der Gesellschaft abzukapseln. In jüngster Zeit sind Integrationsdebatten unter Muslimen mehr in Richtung Partizipation gegangen. Der Wunsch, endlich als lebendiger Teil der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, macht Teilhabe notwendig. Der Dialog erhält so einen hohen Stellenwert.

Zum Buch

„Eine gute Frage ist die Hälfte der Wissenschaft“4: Dies begründet die vorliegende Form, die Kapitel mit Fragen zu überschreiben. In muslimischen Kreisen gehört manchmal Mut dazu, eine Frage zu formulieren, in der fundamentale Kritik an bestehenden scheinbaren Selbstverständlichkeiten steckt. Diese Fragen können somit einen Prozess in Gang setzen, der auch die Theologen in die Pflicht nimmt, stärker dem zutiefst islamischen Anspruch zu entsprechen und bei Berücksichtigung der Quellen Koran und Sunna die Lebenswirklichkeit der Gläubigen einzubeziehen. Die Angst, nur mehr zeitgeistig irgendwelchen Trends hinterherzulaufen und allerlei Meinungsmachern nach dem Mund zu reden, bremst hier leider oft. Offenheit für die Moderne ist aber eine theologische Notwendigkeit. Sonst ginge ein wesentlicher Anspruch des Islams verloren: „Erleichterung von der Bedrängnis“5. Darin steckt eine emanzipatorische Kraft, die gerade in der Frage der Durchsetzung von Geschlechtergerechtigkeit zu nutzen ist.

Auch Fragen aus der Außensicht sind wertvoll, weil sie dazu einladen, Unterschiede zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung zu entdecken. Wer sich ehrlich auf eine Beantwortung einlässt, muss eigene Standpunkte überprüfen.

Selbstverständlich kann es auf viele Fragen keine letztgültige Antwort geben. Die Beiträge verstehen sich als Teil eines spannenden Prozesses, in dem die Leserinnen und Leser selbst als Agierende angesprochen sind. Manchmal werden Fragen auch neue Fragen aufwerfen. Auf jeden Fall sollen die Texte aber Orientierung bieten, gewisse Erscheinungsformen gerade des Alltags und des Zusammenlebens besser einordnen zu können. Praktische Vorschläge, wie in auftretenden Situationen eine zielführende Handlungsweise aussehen könnte, dürfen dabei nicht fehlen. Oft geht es um ein gemeinsames Ausloten von Möglichkeiten.

So soll das Buch Dialogerfahrungen nicht nur würdigen, sondern auch ein Stück erlebbar machen. Fragen – und gerade die „dummen“ oder provokanten Fragen – regen zu kritischer Selbstreflexion an und liefern wertvolle Denkanstöße. Der Dialog unter Frauen – sei es auf interreligiöser Ebene bereits seit den 1990er-Jahren, sei es zwischen der Frauenrechtsbewegung und Musliminnen – hat in Österreich wesentlich dazu beitragen können, mehr gegenseitiges Verständnis aufzubauen. Viele der nachfolgend aufgenommenen Fragen stammen daraus. Frauen können nicht nur viel voneinander lernen, sondern werden entdecken, dass bei der Vielfalt der Zugänge letztlich gemeinsame Interessen vorhanden sind. Das „Wir Frauen“ kann so neue Bedeutung in einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft gewinnen.

Dass auch Männer Partner in diesem Prozess sein können, ist von immenser Bedeutung. Sie können als Multiplikatoren ein wichtiges Sprachrohr sein, wenn sie etwa die Kanzel der Moschee nutzen, um Bewusstsein für Geschlechtergerechtigkeit zu wecken. Mit dem Begriff der Geschlechtergerechtigkeit tun sich viele Muslime, sowohl Frauen wie Männer, leichter als mit „Emanzipation der Frau“, weil er vermittelt, dass der Weg, beiden Geschlechtern gerecht zu werden, auch ein gemeinsamer ist. Gerechtigkeit als universaler Anspruch impliziert ein gemeinsames Interesse. Auch Männer erkennen darüber hinaus zunehmend den Bedarf, ihnen zugeschriebene traditionelle Rollenbilder zu hinterfragen.

Manche der Antworten mögen sehr „theologisch“ erscheinen. Eine seriöse Verankerung in den islamischen Quellen ist aber unumgänglich, wenn erfolgreich gegen verkrustete Haltungen angegangen werden soll. Zu oft wurden Forderungen nach Einstellungsänderungen mit dem Hinweis: „Nicht islamisch argumentiert!“ vom Tisch gewischt. Das betrifft den innermuslimischen Diskurs. Gleichzeitig ist es angesichts aktueller Debatten um die Vereinbarkeit des Islams mit Europa auch wichtig, nicht nur theoretisch zu behaupten, dass Muslime ihre Religion als dynamisch verstehen, sondern dies unter Beweis zu stellen. Das geht nur, wenn auch methodisch Einblick gegeben wird, wie zeitgemäße Auslegungen zugleich den Anspruch der Authentizität erheben können und somit für gläubige Muslime Relevanz gewinnen. Es ist zu hoffen, dass auch Nichtmuslime sich von einer theologischen Argumentation nicht abschrecken lassen, sondern, im Gegenteil, mit Interesse verfolgen, wie das betrieben werden kann. Viele praktische Beispiele sollen dabei helfen, dicht an der Lebensrealität zu bleiben und nicht in reine Theorie abzuschweifen.

Damit es leichter fällt, der Argumentation zu folgen und vielleicht sogar ein Stück vorauszudenken, auf welchem Wege wohl am schlüssigsten eine Beweisführung aufzubauen sein wird, hier einige Hinweise:

Koran und Sunna (Vorbild des Propheten) als Hauptquellen der Auslegung

Erste Quelle ist immer der Koran, für die Muslime Wort Gottes und daher erste Referenz. Als zweite Quelle tritt die Sunna hinzu. Damit ist die vorbildliche Lebensweise des Propheten Muhammad gemeint. Schon zu Lebezeiten galt sein konkretes Handeln als Referenz. Jahrzehnte nach seinem Tod wurden einzelne beispielgebende Geschehnisse von verschiedenen Sammlern systematisch aufgezeichnet. Die Sunna ist darum so bedeutend, weil sie praktische Hinweise liefert, wie konkret in dieser oder jener Angelegenheit vorgegangen wurde. Diese Berichte über das, was der Prophet Muhammad gesagt, getan und gebilligt hat, übersetzen also gewissermaßen das, was der Koran allgemein vorzeichnet, in die Glaubenspraxis. Ohne Zweifel wäre ohne die Sunna das rituelle Gebet in seinem Ablauf nicht ausgeprägt, da im Koran eher die allgemeine Bedeutung und einige Rahmenbedingungen geschildert werden. Der Hadith, der Bericht zur Sunna des Propheten, unterstützt also das Verständnis des Korans, vor allem, wenn es um die religiöse Praxis geht.

Historischer Hintergrund

Für die Koranexegese gibt es mit der Praxis des asbab an-nuzul seit Jahrhunderten eine Methode, die Begleitumstände der jeweiligen Offenbarung oder deren Anlass genau zu analysieren und so Aufschlüsse für das Verständnis zu gewinnen. Die Sunna dagegen bildet ein noch wenig bearbeitetes Feld der Überprüfung von historischen Begleitumständen. Zwar gibt es mit dem asbab al wurud (Anlass des Hadith) eine dem asbab an-nuzul (Offenbarungsanlass) vergleichbare Methode zur Untersuchung, die sich aber schwächer entwickelt hat. Interessant ist zum Beispiel die Erforschung, wann und in welchem Zusammenhang sich Personen aus dem Umfeld des Propheten an eine vorbildhafte Begebenheit erinnert haben, und nicht nur der Kontext, in dem diese stattfand.

Methodisch hat sich sehr rasch eine für die damalige Zeit sehr ausgereifte Wissenschaft zur Überprüfung entwickelt, ob ein Bericht als authentisch in eine Hadithsammlung aufgenommen werden könne. In deren Zentrum steht vor allem die Kontrolle der Überlieferungskette (isnad). Hadithe, also die vielen einzelnen Überlieferungen der Sunna, wurden klassifiziert in verschiedene Kategorien (stark, schwach etc.), die anzeigen, wie relevant ein Hadith zu nehmen ist, je nachdem, wie viele Überlieferer unabhängig voneinander das Gleiche gesagt haben und wie verlässlich deren Charakter und Persönlichkeit eingestuft werden. Die Konzentration auf die Überliefererkette bei der Einordnung eines Hadith sollte ein möglichst neutrales Kriterium zur Bewertung der Hadithe an die Hand geben. Hier schien man Subjektivität eher ausschließen zu können als bei einer Untersuchung des Inhalts eines Hadith.

Denn es entwickelte sich eine Scheu, den Inhalt eines Hadith in Frage zu stellen. Wenn dieser sorgfältig von Überlieferer zu Überlieferer bis auf den Propheten zurückverfolgt werden kann – wie könnte man sich anmaßen, damit vielleicht an einer Aussage des Propheten zu zweifeln? Diese Skrupel bewogen viele Gelehrte im Fall, dass der Inhalt (matn) „eigenartig“ wirkt, dazu, diese Eigenartigkeit im eigenen mangelnden Verständnis zu suchen. Entsprechend wurde an Interpretationen getüftelt, die den Hadith doch im Rahmen des allgemeinen muslimischen Religionsverständnisses einbetten sollten. Schon früh gab es aber auch Stimmen, die ein Hadith, das sich inhaltlich im Widerspruch zum Koran befindet, dann als Beleg für die Beantwortung einer religiösen Frage ausschließen.

Jonathan Brown zeigt diese zwei Ansätze in der Geschichte islamischer Gelehrtentätigkeit auf und schält dabei besonders heraus, dass es sehr wohl auch eine am matn ansetzende Hadithkritik unter namhaften Gelehrten gab, die sich aber gegenüber der vorsichtigen, einzig am isnad orientierten Richtung nicht wirklich durchsetzen konnte.6 Der ägyptische Gelehrte Muhammad Al Ghazali (gest. 1996) belebte diesen Ansatz, den Inhalt (matn) zu analysieren, in seinem viel diskutierten Buch „al-Sunna al-nabawiya bayn ahl al-fiqh wa ahl al-hadith“ (Die Sunna des Propheten zwischen Leuten des Rechts und Leuten des Hadith). Der arabische Titel verrät besonders gut, dass es dem Autor auch um die Schaffung eines Gegengewichts zu der literalistischen Hadithauslegung der ultraorthodoxen Wahabiten beziehungsweise Salafiten (ahl al hadith) ging. Sie würden den Inhalt eines Hadith nicht in Frage stellen und zudem möglichst buchstabengetreu bei der Auslegung vorgehen. Muhammad Al Ghazali stellt die Frage: „Was ist der Wert eines gesicherten isnad bei einem schwachen Text?“7 Als starken Beleg für die Vorgangsweise, einen Hadith abzulehnen, wenn er sich im Widerspruch mit dem Koran befindet, nennt er die Gattin des Propheten Aisha. Sie regte sich auf, als ihr ein Hadith vorgetragen wurde, demzufolge eine verstorbene Person dafür bestraft würde, wenn die Hinterbliebenen um sie weinen. Sie zitierte den Koranvers: „Keine Seele trägt die Last einer anderen.“8 Der Widerspruch zum Koran ließ sie den Hadith zurückweisen. Al Ghazali merkt kritisch an, dass der Hadith trotzdem noch immer in manchen Sammlungen zu finden sei.

Die Kernaussage eines Hadith ist jedoch herauszuschälen und zu trennen von mitgelieferten Begleitumständen. Der Prophet bewegte sich schließlich in einem historischen Kontext, der von vielen vorislamischen Sitten und Gebräuchen bestimmt war. Die Sunna ist so auch eine ergiebige Quelle für die Erforschung des damaligen Zeithintergrunds. Neben der eigentlichen Aussage des Propheten oder seiner Handlung wird er mitüberliefert. Hier gilt es darauf zu achten, dass nicht Gepflogenheiten, die in einem Hadith vielleicht eher beiläufig als Rahmen der Erzählung überliefert wurden, zum noch heute gültigen Maßstab erhoben werden. Dies kann vor allem dann leicht geschehen, wenn eine schwärmerische Sehnsucht nach einer Wiederbelebung der Zeit besteht, in der der Prophet lebte.

Hadithe wurden gefälscht und es gibt eine schon früh einsetzende eigene Forschung, um diese zu entlarven, damit sie nicht für die theologische Auslegung verwendet werden. Auch hier bedient man sich einer historischen Überprüfung, wenn etwa in einer angeblichen Überlieferung Personen auftauchen, die zum behaupteten Zeitpunkt noch gar nicht geboren waren. Mit Fälschungen wurde immer wieder eine gewisse Absicht verfolgt, die theologische Auslegung im eigenen Interesse in diese oder jene Richtung zu lenken. Anders als beim Koran, der als Textkorpus unbestritten ist, hat sich rund um den Hadith eine umfangreiche Forschung entwickelt, um die Berichte Jahrzehnte nach dem Tod des Propheten zu sammeln und zu klassifizieren. Zu Lebzeiten hatte der Prophet immer Wert darauf gelegt, dass keine schriftlichen Aufzeichnungen über seine Aussagen gemacht werden, um eine Verwechslung zwischen Koran und Hadith auszuschließen. Viele Muslime sehen die heute berühmtesten Sammlungen, etwa von Bukhari oder Muslim, aber als fast ebenso gesichert an wie den Koran. Auch das macht es nicht einfach, kritisch mit einzelnen Hadithen umzugehen.

maqasid asch-scharia – Grundprinzipien der Religion

Um bei der Auslegung nicht literalistischen Tendenzen zu erliegen, die starr am Buchstaben festhalten, ist ein Vergleich mit den übergeordneten Zielen der Religion sinnvoll, den maqasid. Damit hat sich der bekannte Gelehrte Imam Abu Hamid Al Ghazali beschäftigt (gest. 1111) und fünf besonders schützenswerte Kategorien ausgemacht: Glaube, Leben, Verstand, Familie, Besitz. Daraus hat sich über die Jahrhunderte von Al Shatibi (gest. 1388) bis zu modernen Theologen ein vielschichtiger Diskurs entwickelt, der gerade heute wieder an Aktualität gewinnt. Gesellschaftliche und individuelle Werte wie Gerechtigkeit, Gleichwertigkeit aller Menschen, Gemeinwohl, Verantwortlichkeit, Prosperität und Wissensdrang haben so auch Eingang in die Anschauung über die maqasid gefunden. Auch das Prinzip der Geschlechtergerechtigkeit müsste ein Prinzip bilden, das stärker zu berücksichtigen ist.

Exegese – tafsir

Der Koran wurde schon früh interpretiert und daraus sind berühmte Exegeten hervorgegangen. Auch wenn der Koran in seinem Wortlaut von Gott stammt und nicht veränderbar ist, verändert sich doch unser menschliches Verständnis. In die Exegese fließen Methoden ein, wie „den Koran durch den Koran“ zu erklären. Ein Vers oder Textabschnitt wird so durch einen anderen, der vielleicht in einer ganz anderen Sure vorkommt, erläutert. Diese inneren Zusammenhänge werden von den Exegeten hergestellt. Das ist auch darum wichtig, weil dadurch verhindert wird, dass einzelne Verse isoliert betrachtet werden. Selektive Wahrnehmung bildet ein großes Problem immer dann, wenn Verse – oft sogar wissentlich in manipulierender Absicht – fern des Gesamtkontextes betrachtet werden und dann zu völlig falschen Schlüssen führen. Mitunter verwenden Exegeten auch Parallelstellen aus den Heiligen Schriften der beiden verwandten Buchreligionen, Judentum und Christentum. Dies darf aber nicht dazu führen, dass zentrale Aussagen des Korans verfälscht werden. Im vorliegenden Buch wird öfter auf den tafsir von Muhammad Asad verwiesen. Dieser hat den Vorteil, berühmte Exegeten erst zu rezipieren und dann eine eigene Abwägung zu leisten. Als Intellektueller des 20. Jahrhunderts trifft er einen Ton, der dem modernen Leser entgegenkommt.

Aktuelle Kontextualisierung

Eine moderne Auslegung steht vor der Herausforderung, die Lebensumstände heutiger Muslime zu berücksichtigen, freilich ohne in Beliebigkeit zu verfallen und willkürlich eine Anpassung voranzutreiben. Der Prophet selbst wies immer wieder darauf hin, dass es Lebensbereiche gibt, wo der Islam eine klare Linie und Ziele vorgebe und doch ein längerer Prozess von Nöten sei, um durch gesellschaftliche Veränderungen und Bildung schrittweise dieses Ziel zu erreichen. Dies trifft gerade auf die Frage des Verhältnisses der Geschlechter zu. So revolutionär damals viele Maßnahmen gewirkt haben müssen, muss man sich heute mehr deren Zielrichtung vergegenwärtigen, als nur stur nachahmen zu wollen, was damals geschah. Dann können auch im heutigen Kontext Wege gefunden werden, um traditionelle Rollenbilder von Mann und Frau in Richtung Geschlechtergerechtigkeit positiv zu verändern.

GOTTESDIENST

1. Wie stehen Mann und Frau in ihrem Menschsein zueinander?

Eva – Verführerin des Mannes. Eva – Verkörperung der Sünde. Die Frau an sich als Schuldige für die Vertreibung aus dem Paradies. Über Jahrhunderte wurde die abendländische Vorstellung geprägt von dieser Urerzählung, die Frauen potentiell verdächtig machte, den Mann vom geraden Wege abzubringen. Trotz anders lautender wissenschaftlicher christlicher Auslegungen zur biblischen Erzählung vom Sündenfall ist die Vorstellung von der Frau als personifizierte Versuchung tief verwurzelt. Im Mittelalter trug die bildende Kunst dazu bei, in der Neuzeit auch die Literatur, wie etwa John Miltons „Paradise Lost“. Heute beziehen sich Werbestrategen in ihrer Bildlichkeit auf Eva und die von ihr ausgehende Verlockung: Da ein Joghurt mit Botticelli-Eva, dort eine Frau im Evakostüm mit Apfel in der Hand, die sich auf der Kühlerhaube eines Autos räkelt.

Im Koran findet sich die Geschichte des Sündenfalls bereits zu Beginn.9 Ich las die Stelle gleich mehrmals, weil mir irgendetwas gegenüber der vertrauten Version besonders erschien. Eva wurde von Adam nicht beschuldigt, ihn verführt zu haben! Beide tragen zu gleichen Teilen die Schuld, sich über das Verbot hinweggesetzt und vom verbotenen Baum gegessen zu haben. Da packte mich die befreiende Erkenntnis, was das allgemein für Frauen bedeutet: „Ich bin nicht die sündige Eva!“ Dieser Gedanke übt bis heute die gleiche Faszination aus. Wie hatte ich mich im Geschichtsunterricht aufgeregt, dass in mittelalterlichen Wertungslisten eine Frau sogar nach einem Mörder geführt wurde – bloß, weil dieser ja immerhin ein Mann sei.

Von Adam und Eva ausgehend lässt sich das islamische Menschenbild untersuchen. Und wieder war ich in Bann gezogen, dass Mann und Frau in ihrem Menschsein die zentrale erste Erfahrung des Scheiterns und der Wahrnehmung eigener Grenzen teilen, eines Scheiterns, von dem Gott in seiner Allwissenheit vorher Kenntnis hatte. Lernen durch Fehler – das schien hier die Botschaft zu sein. Menschsein inkludiert die Erfahrung der eigenen Endlichkeit und der Anfälligkeit für Fehler – ohne die wiederum keine Entwicklung möglich wäre. Als wäre das Erlebnis der Übertretung notwendig gewesen, um Mann und Frau auf ihr Dasein als Menschen auf der Erde vorzubereiten.

Mann und Frau bereuen ihr Verhalten zutiefst und ihnen wird durch Gottes Barmherzigkeit verziehen. Hier gibt es einen wesentlichen Unterschied zur christlich-jüdischen Erzählung. An dieser Stelle entsteht ein anderes Narrativ. Gott gibt ihnen für ihre Aufgabe in der Welt, in die sie nun versetzt werden, eine zentrale Erfahrung mit: das Gefühl für Verantwortlichkeit. Konsequenzen des eigenen Handelns sind persönlich zu tragen.

In der tiefen Scham, als ihnen bewusst wird, gegen den göttlichen Willen verstoßen zu haben, fällt ein zentraler Satz: „Wahrlich, wir haben gegen uns selbst gesündigt.“10. Die gleiche Wendung ist immer dann im Koran zu finden, wenn es um die menschliche Erkenntnis eines Fehlverhaltens geht. Was hat es mit dem „Gegen-uns-selbst-gesündigt-Haben“ auf sich? Wäre nicht viel eher zu erwarten, dass es „gegen Gottes Gebot“ heißt? Dahinter steht, dass Gott in Seiner Größe von den Sünden der Menschen unberührt bleibt. Es wäre ja absurd anzunehmen, Er sei angewiesen auf das Wohlverhalten der Menschen. Dies lässt die Formulierung „gegen uns selbst“ plausibel und angemessen erscheinen.

Erst wenn auch das Prinzip der fitrah mitgedacht wird, erschließt sich freilich die ganze Tiefe der Bedeutung. Fitrah bedeutet, dass Gott bei der Erschaffung des Menschen diesem die prinzipielle Erkenntnisfähigkeit in den rechten Weg mitgegeben hat. Mann und Frau, dem Menschen schlechthin, ist nicht nur ein Gewissen mitgegeben, sondern die Möglichkeit, das Gute zu erkennen und danach zu handeln. Folgerichtig ist Adam und Eva bewusst, dass sie nicht nur gegen Gottes Gebot verstoßen haben, sondern eigentlich sich selbst untreu geworden sind. Denn der göttliche „Bauplan“ hat im Menschen eine Art Kompass angelegt, sich nach dem Guten auszurichten. So haben sie gegen sich selbst gesündigt.

Dieses grundsätzlich positive Menschenbild wird ergänzt durch Aussagen im Koran, die auf die Vermessenheit des Menschen, seine Maßlosigkeit und Selbstüberschätzung eingehen. Hier werden die dunklen Seiten des Menschen sehr deutlich angesprochen. Davon ist sogar schon unmittelbar vor der Erschaffung des Menschen die Rede, als die Engel – eigentlich bedingungslos in ihrem Gehorsam gegen Gott – das neue Wesen, das da entstehen soll, geradezu in Frage stellen: „‚Willst du auf ihr einen solchen einsetzen, der darauf Verderbnis verbreiten und Blut vergießen wird – während wir es sind, die Deinen grenzenlosen Ruhm lobpreisen und Dich preisen und Deinen Namen heiligen?‘ Gott antwortete: ‚Ich weiß, was ihr nicht wisst.‘“11 Die Stelle weist auch auf die besondere Rolle des Menschen hin, auf der Welt „eingesetzt“ zu sein. Mann und Frau sind beide als khalifatullah, also als „Statthalter Gottes“ entsandt und tragen damit besondere Verantwortung für die Schöpfung. Dieser Gesichtspunkt wird uns noch einmal beschäftigen, wenn wir auf die politische Repräsentation zu sprechen kommen.

Die absolute Gleichwertigkeit von Mann und Frau als Menschen zeigt sich überall, wo es um das Verhältnis zwischen ihnen geht. Bereits die Geschichte der Erschaffung des Menschen macht die gleiche Bedeutung von Mann und Frau klar. Dazu sei der Beginn der vierten Sure zitiert: „O Menschheit! Seid euch eures Erhalters bewusst, der euch aus einer einzigen lebenden Wesenheit erschaffen hat und aus ihr Partnerwesen erschuf und aus den beiden eine Vielzahl von Männern und Frauen verbreitete.“12 Mann und Frau sind also aus der gleichen Ursubstanz geschaffen und bedingen sich gegenseitig. Sie brauchen einander.

Wenn von der Erschaffung Adams die Rede ist, so als dem Menschen an sich – das Geschlecht ist dabei nebensächlich. Als Gott den Engeln sich vor dem neu geschaffenen Mensch zu verneigen befiehlt, dann nicht als dem Mann, sondern als dem Mensch, dem er soeben von Seinem Geist eingehaucht hat und den er die Namen der Dinge gelehrt hat.13 An verschiedenen Stellen taucht die Erzählung von der Schaffung des Menschen auf. Da ist von der Erschaffung „eines sterblichen Menschen“ aus „tönendem Lehm, aus dunklem, verwandeltem Schleim“14 die Rede – es geht um die Schaffung des Menschen an sich. Wenn an verschiedenen Stellen im Koran von den bani Adam, den Kindern Adams, die Rede ist, dann immer als Synonym für die Menschen.

Im Unterschied zur Bibel findet sich im Koran kein Hinweis darauf, dass Eva aus der Rippe Adams geschaffen worden sei. Auch daraus lässt sich also kein hierarchisches Verhältnis begründen. Allerdings ist das Rippenbild unter Muslimen trotzdem verbreitet. Ausgerechnet die Geschichte Evas, von der mich begeistert hatte, dass sie keine Projektionsfläche bietet, die Frau an sich abzuwerten oder in ein bestimmtes negatives Eck zu stellen, wird durch außerkoranische Quellen ergänzt und dadurch in ihrer klaren Aussage verwässert, ja völlig umgedeutet. Eva als „Prototyp“ des Weiblichen kann so doch wieder als „schlechte Kopie des Mannes“, als die Zweitgeschaffene und damit zweitrangige angesehen werden.

Denn in der Sunna kommt dieses Motiv zur Sprache. Da dem Propheten Vorbildcharakter zukommt, bilden diese Zeugnisse der Sunna die zweite Quelle der Theologie gleich nach dem Koran. Viele Fragen der religiösen Praxis wären ohne die Sammlung der Sunna gar nicht zu beantworten. Klassisches Beispiel ist hier das Gebet, dessen ritueller Ablauf vor allem durch das Vorbild des Propheten Muhammad erklärt wird. An der großen Bedeutung und der Unverzichtbarkeit für die Auslegung besteht also kein Zweifel, wenn es um die Sunna geht. Die Sunna wird durch viele Einzelberichte (Hadithe) überliefert.

matnisnad