Émile Durkheim zufolge besteht die wichtigste Regel soziologischen Denkens darin, soziale Phänomene »wie Dinge zu betrachten«, ihnen also den gleichen Wirklichkeitsgrad wie den Gegenständen, die wir anfassen können, zuzuschreiben. Was aber passiert, wenn wir diese Regel umkehren und die materiellen Dinge – zum Beispiel diejenigen, die die Architektur hervorbringt – als soziale Tatsachen verstehen? Ausgehend von einer brillanten theoriegeschichtlichen Aufarbeitung des soziologischen Nachdenkens über Architektur entwirft Silke Steets eine Soziologie der gebauten Welt. Anhand zahlreicher Beispiele zeigt sie, wie Dinge und Gebäude in soziales Handeln einbezogen werden und als sicht- und anfassbare gesellschaftliche Strukturen fungieren.

Silke Steets ist Vertretungsprofessorin für Soziologie mit Schwerpunkt Stadt- und Raumsoziologie an der TU Darmstadt.

Silke Steets

Der sinnhafte Aufbau
der gebauten Welt

Eine Architektursoziologie

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2139

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Umschlag: Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-74127-6

www.suhrkamp.de

Inhalt

Einleitung

1 Wie der Sinn in das Gebaute kommt: Soziologische Perspektiven auf die Dingwelt

1.1 Gebäude als materialisierte Strukturen des Sozialen

1.2 Vom sinnhaften Umgang mit Gebäuden

1.3 Die Materialität und Sozialität des gebauten Raums

1.4 Das Bauhausgebäude, soziologisch betrachtet:
eine Zusammenfassung

2 Phänomenologische Grundlagen einer wissenssoziologischen Architekturtheorie

2.1 Die Wirklichkeit der Alltagswelt

2.2 Das Beispiel: Frank Lloyd Wright besucht Walter und Ise Gropius in Lincoln, MA

2.3 Modi der Sinnsetzung in der »Sphäre des einsamen Ich«

2.3.1 Bewusstsein

2.3.2 Körper und Leib

2.4 Relevanzstrukturen

2.5 Grenzen und Ordnung der Wirklichkeit der Alltagswelt

3 Entwerfen und bauen als »Externalisierung«:
Zu den materiellen Aspekten der Welterrichtung

3.1 Was heißt »Externalisierung«?

3.2 Die Sinnprovinz des Entwerfens

3.2.1 Walter Gropius und die Siedlung Dessau-Törten

3.2.2 Gion A. Caminada und die Stiva da morts

3.2.3 raumlaborberlin und das »Küchenmonument«

3.2.4 Rem Koolhaas und das Maison à Bordeaux

3.2.5 Die Lösung des Kochproblems: ein Vergleich

3.3 Architektur als Subsinnwelt

3.4 Zusammenfassung

4 »Gebaute Objektivationen«: Wie Architektur wirklich wird

4.1 Was heißt »Objektivierung« und was sind »Objektivationen«?

4.2 Gebäude und ihre Materialität

4.3 Gebäude und ihre Zeichenhaftigkeit

4.4 Gebäude als Symbole

4.5 Zusammenfassung

5 »Internalisierung« oder: Das Bewohnen der Welt

5.1 Was heißt »Internalisierung«?

5.2 »Leben mit Walter« – Vom Wohnen in der Bauhaussiedlung Dessau-Törten

5.3 Sich gekonnt in der Welt bewegen

5.4 Ich und die gebaute Welt

5.5 Zusammenfassung

Schlussbetrachtung

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Namenregister

Sach- und Ortsregister

Meinen Eltern

Einleitung

Die Geschichte dieses Buches beginnt mit einem Messer in der Wand. Das Messer in der Wand dient Peter L. Berger und Thomas Luckmann in Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit[1] als anschauliches Beispiel für das, was sie unter »Objektivationen« verstehen. Objektivationen sind ein wichtiger theoretischer Baustein der »neuen Wissenssoziologie«. Berger und Luckmann bezeichnen damit Erzeugnisse menschlichen Handelns, die »sowohl dem Erzeuger als auch anderen Menschen als Elemente ihrer gemeinsamen Welt ›begreiflich‹ sind«[2] und auf menschliches Handeln zurückwirken. Objektivationen können vielfältige Formen annehmen: von der im Alltag entwickelten Routine, die im Sinne eines Handlungsmusters nicht nur dem Erzeuger, sondern auch anderen verfügbar ist, über einen gemeinschaftlich anerkannten sprachlichen Ausdruck, durch den sich subjektives Empfinden zeichenhaft kommunizieren lässt, bis zum wechselseitig typisierten Rollenhandeln, das für die Mitglieder einer Gesellschaft zur Institution wird. Immer, so betonen Berger und Luckmann, zeichnen sich Objektivationen dadurch aus, dass sie »begreiflich« sind – und zwar »begreiflich« in Anführungszeichen.[3] Das heißt, man kann Routinen, sprachliche Zeichen oder Institutionen zwar nicht anfassen, aber dennoch sind sie in gewissem Sinne dinghaft, denn sie überdauern als Routinen, Institutionen oder sprachliche Zeichen konkrete Handlungssituationen. Um diese »Begreiflichkeit« zu veranschaulichen, arbeiten Berger und Luckmann mit dem Beispiel des Messers in der Wand:

Nehmen wir an, ich hatte Streit mit einem Mann, der mir recht »ausdrücklich« Augenschein von seinem Zorn gab. In der folgenden Nacht erwache ich und entdecke ein Messer in der Wand über meinem Bett. Das Messer als Objekt drückt den Zorn meines Feindes aus. Es verschafft mir zu ihm als Subjekt Zugang, obwohl ich schlief, als er es warf, und obwohl ich ihn nicht sah, denn er floh nach diesem »Schein«-Treffer. Wenn ich das Objekt nun lasse, wo es ist, kann ich es am Morgen wieder anschauen, und wieder bringt es den Zorn des Mannes, der es geworfen hat, zum Ausdruck. Andere Leute können es besichtigen und denselben Eindruck bekommen. Mit anderen Worten: das Messer in meiner Wand ist ein objektiv »vorhandener« Bestandteil der Wirklichkeit geworden, die ich mit meinem Feind und anderen Leuten teile.[4]

Berger und Luckmann dient das Beispiel vom Messer in der Wand lediglich dazu, den Aspekt der »Begreiflichkeit« von Objektivationen zu verdeutlichen; für mich ist es Ausgangspunkt einer soziologischen Beschäftigung mit Dingen und Gebäuden. In theoretischer Hinsicht geht es auf den folgenden rund zweihundertfünfzig Seiten darum herauszufinden, was passiert, wenn man die Anführungszeichen um das Wort »Begreiflichkeit« streicht, wenn man Berger und Luckmann also wörtlich nimmt und explizit über materielle Objektivationen nachdenkt. Welche Rolle, so frage ich, spielen materielle Objektivationen – und im engeren Sinne Gebäude – bei der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit? Und wie entsteht daraus der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt?

Materielle Objektivationen sind ein fester Bestandteil unserer Alltagserfahrung. Wir sind umgeben von Gebäuden und technischen Infrastrukturen, wir gehen tagtäglich mit Werkzeugen, ästhetischen Objekten und Naturdingen um, lassen unsere Blicke durch Sichtachsen, bildliche und grafische Elemente leiten oder unsere Stimmung von der Atmosphäre in Stadien und Kirchen affizieren; wir besuchen Bauwerke, die »Shoppingmall« oder »Museum« heißen, und kämpfen für den Wiederaufbau oder den Abriss von Bahnhöfen, Schlössern und Altstädten. In den letzten Jahren setzte sich in der Soziologie die Auffassung durch, dass die Omnipräsenz physischer Dinge in Sozialtheorie wie Gesellschaftsanalyse bislang zu wenig Beachtung erfahren hat.[5] Das ist sicherlich richtig, insofern gerade Gebäude selten explizit zum Gegenstand soziologischer Betrachtung gemacht werden. Hinzu kommt, dass es an theoretischer Grundlagenforschung fehlt, die es erlauben würde, zwischen unterschiedlichen soziologischen Perspektiven auf Architektur zu wählen. Das Hauptanliegen des vorliegenden Buches ist es deshalb, existierende Positionen und Ansatzpunkte zu sortieren und einen eigenen Beitrag zur architektursoziologischen Theoriedebatte zu formulieren.

Dieser eigene Beitrag ist wissenssoziologisch. Er basiert im Wesentlichen auf den Arbeiten von Alfred Schütz, Peter L. Berger und Thomas Luckmann. Während Schütz in seinem phänomenologisch fundierten Grundlagenwerk Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt[6] darlegt, wie Menschen im Umgang mit ihrer Umwelt und mit menschlichen Interaktionspartnern die Sinnstrukturen der Alltagswirklichkeit hervorbringen, interessieren sich seine Schüler Berger und Luckmann für die Mechanismen, die zu einer gesellschaftlichen Konstruktion dieser Wirklichkeit führen. Der von Berger und Luckmann begründeten »neuen Wissenssoziologie« liegt die Überzeugung zugrunde, dass »die Dinge nicht sind, was sie scheinen«,[7] sondern wozu die Gesellschaft sie für ihre Mitglieder »gemacht« hat und weiter »macht«. Daher analysieren sie die grundlegenden Prozesse, die zu einer gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit führen: Sie beschreiben Habitualisierungen und Typisierungen, das Entstehen von Institutionen, die Entwicklung von Sprache, die Herausbildung von Rollen, die gesellschaftliche Aufteilung des Wissens in Subsinnwelten und die Erfindung übergreifender Sinnsysteme, welche die institutionelle Ordnung einer Gesellschaft legitimieren. Berger und Luckmann konzipieren diese wirklichkeitsstiftenden Prozesse entlang eines tripolaren Modells, bestehend aus »Externalisierung«, »Objektivation«[8] und »Internalisierung«. Die drei Pole stehen ihnen zufolge in einem dialektischen Zusammenhang, das heißt, sie beeinflussen sich gegenseitig. Doch was verbirgt sich hinter diesen recht kryptischen Begriffen? Berger bringt es wie folgt auf den Punkt:

Externalisierung ist das ständige Strömen menschlichen Wesens in die Welt des materiellen und immateriellen Handelns von Menschen. Objektivierung ist die Gewinnung einer Wirklichkeit (durch die Produkte wiederum sowohl materiellen wie immateriellen Handelns), einer Wirklichkeit, die ihren Hervorbringern dann als Faktizität, außen und anders als sie selbst, gegenübersteht. Internalisierung ist die Wiederaneignung ebendieser Wirklichkeit seitens der Menschen, die sie noch einmal aus Strukturen der objektiven Welt in solche des subjektiven Bewußtseins umwandeln.[9]

Resümierend hält er fest: »Aufgrund von Externalisierung ist die Gesellschaft Produkt des Menschen. Aufgrund von Objektivierung wird sie Wirklichkeit sui generis. Aufgrund von Internalisierung ist der Mensch Produkt der Gesellschaft.«[10]

Dieser Grundgedanke lässt sich nun auf die Betrachtung architektonischer Objektivationen eingrenzen: Externalisierung bedeutet dann nichts anderes als das Entwerfen und Bauen von Gebäuden; diese wiederum lassen sich als materielle Objektivationen begreifen, welche über verschiedene Modi der Aneignung internalisiert werden. Zu fragen ist nach den Gemeinsamkeiten und Besonderheiten von materiellem und immateriellem Handeln (vgl. Kapitel 3), architektonischen und anderen Objektivationen (vgl. Kapitel 4) und ihrer jeweiligen Form der Aneignung (vgl. Kapitel 5). Da wir es im Falle von Gebäuden mit anfassbaren Objektivationen zu tun haben, scheint mir die Frage nach der Rolle des Körpers für alle drei Bereiche von besonderem Interesse zu sein. Während ich mich in den drei Hauptkapiteln vorwiegend mit Gebäuden beschäftige, sind die Darstellung des Forschungsstandes (vgl. Kapitel 1) und die Überlegungen zu den phänomenologischen Grundlagen einer wissenssoziologischen Perspektive auf Architektur (vgl. Kapitel 2) breiter angelegt und im Nachdenken über das Verhältnis von Sozial- und Dingwelt entstanden.

Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich die folgenden begrifflichen Festlegungen vorwegschicken: Unter »Dingen« verstehe ich alle physisch-materiellen Elemente der Alltagswirklichkeit, wobei »Artefakte« künstlich, also menschlich erzeugte »Dinge« sind.[11] »Gebäude« wiederum sind spezielle, nämlich raumumschließende Artefakte. »Gebäude« können als Teil der »gebauten Umwelt« oder als »Architektur« betrachtet werden. Die »gebaute Umwelt« ist die durch Hervorbringung von Gebäuden und örtlich fixierten Artefakten (Brücken, Türmen etc.) geformte physische Umwelt, wobei es einerlei ist, ob ihre Elemente gewollt so hergestellt wurden oder ob sie ein beiläufiges Nebenprodukt des Handelns sind. Für Letzteres wäre etwa das Wegemuster auf einer Brachfläche ein Beispiel. Es formt sich, weil Menschen immer wieder über dieselben Flächen gehen, wodurch sich Pfade und schließlich ein Wegemuster bilden. Der Begriff »Architektur« meint in diesem Buch hingegen den Teil der gebauten Umwelt, dem ein Gestaltungswille zugrunde liegt, also eine Absicht, die gebaute Umwelt zu formen. Im Fall des Wegemusters bedürfte es also mindestens einer gestaltenden Befestigung der Pfade, um im hier gemeinten Sinne von »Architektur« (in diesem Fall von »Landschaftsarchitektur«) zu sprechen. In der Regel sind es Experten, wie Architektinnen oder Ingenieure, die im Auftrag von Laien Häuser gestalten; in meinem Verständnis können dies aber auch jedermann und jedefrau sein, die beginnen, Artefakte, wie beispielsweise Gebäude, ihren Vorstellungen entsprechend zu gestalten,[12] das heißt, ich schließe »vernakulare«[13] Formen des Bauens bewusst in meinen Architekturbegriff ein.

Das Buch ist folgendermaßen aufgebaut: In Kapitel 1 sortiere ich klassische soziologische Positionen, die sich für ein Nachdenken über Architektur fruchtbar machen lassen. Vorgestellt werden Arbeiten, die sich explizit oder implizit mit Dingen oder gebauten Räumen beschäftigen. Grundsätzlich lassen sich drei Ansätze unterscheiden: Strukturtheoretisch kann man Gebäude als materialisierte Strukturen des Sozialen begreifen und analysieren; vor dem Hintergrund eines handlungstheoretischen Verständnisses treten sinnhafte Modi des Umgangs mit ihnen ins Relief; poststrukturalistische Herangehensweisen schließlich basieren auf der Behauptung einer sozialen Effektivität der Dingwelt und versuchen diese zu ergründen.

Kapitel 2 expliziert die phänomenologischen Grundlagen, die für ein wissenssoziologisches Nachdenken über Architektur notwendig sind. Im Zentrum steht die Frage, wie das Wissen, welches unser Verhalten in der Alltagswelt reguliert, mit den materialisierten Formen dieser Alltagswelt zusammenhängt. Ausgangspunkt der Argumentation sind die Ausführungen von Alfred Schütz zu Sinnsetzungsprozessen in der »Sphäre des einsamen Ich«. Diese werden mit körpersoziologischen und leibphänomenologischen Arbeiten verknüpft. Aus dem Zusammenspiel von Körper/Leib und Bewusstsein entstehen schließlich – so meine These – subjektive und intersubjektive Strukturen der Weltorientierung sowie die Ordnung und die Grenzen der Alltagswelt.

Im dritten Kapitel geht es mit Blick auf Architektur um den Aspekt der Externalisierung beziehungsweise um die Frage, was Architektinnen und Architekten eigentlich tun, wenn sie entwerfen. Eine Antwort darauf formuliere ich vor dem Hintergrund der Dialektik von Kultur und Gesellschaft: Architektonisches Handeln ist einerseits kreativ und schöpferisch und bringt als Ergebnis architektonische Artefakte und damit einen Teil der materiellen Kultur des Menschen hervor; andererseits bewegt es sich in engen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Wenn Architekten entwerfen, lösen sie architektonische Probleme. Verschiedene Beispiele aus Geschichte und Gegenwart zeigen, dass nicht nur die Problemlösungsstrategien, sondern schon die Art der Problemdefinition sehr unterschiedlich sein können. Immer geht es dabei auch um die gesellschaftliche Legitimation architektonischen Handelns. Die Rahmenbedingungen des Entwerfens fasse ich mithilfe des Begriffs der »Subsinnwelt«. Berger und Luckmann zufolge sind Subsinnwelten durch Arbeitsteilung entstandene und von spezifischen Rollen, Institutionen und Expertenwissen geprägte Ausschnitte aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Im vierten Kapitel betrachte ich die Prozesse, die dazu führen, dass wir die einmal entstandenen Gebäude als Teile der objektiven Welt anerkennen. Was sich zunächst banal anhört – Gebäude kann man anfassen, allein das steigert im Gegensatz zum Beispiel zur Sprache ihren Wirklichkeitsakzent –, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als kompliziertes Unterfangen. Was macht Gebäude zu Zeichenträgern? Können Gebäude Bedeutung ähnlich eindeutig transportieren wie die menschliche Sprache es tut? Wie spielen Körper/Leib und Bewusstsein in der gesellschaftlichen Anerkennung von Gebäuden zusammen? Wann und wie wird Architektur zum Symbol? Sind Gebäude, weil sie materielle Objektivationen darstellen, langlebiger als beispielsweise Institutionen? Diesen Fragen gehe ich vor dem Hintergrund einer Dialektik von Wirklichkeit und Wissen und entlang der Schütz’schen Gliederung der Alltagswirklichkeit nach.

Kapitel 5 stellt schließlich Mechanismen der Internalisierung vor, durch die wir uns die gebaute Umwelt aneignen und »heimisch« in ihr werden. Die Übertragung der objektiven Welt in unser subjektives Bewusstsein und unseren Körper erfolgt durch Sozialisationsprozesse. Um in einer Welt zu Hause zu sein, entwickeln wir Körpertechniken und Bewegungsformen ebenso wie wir lernen, die Sprache der Architektur unserer Gesellschaft zu verstehen. Durch Internalisierung werden gebaute Räume »stimmig« für uns; gleichzeitig prägen sie durch ihre räumliche Gliederung und Gestaltung unser Verhältnis zur Welt und zu unseren Mitmenschen. Sie weisen uns einen Platz und eine Identität zu. Verständlich werden diese Prozesse vor dem Hintergrund einer Dialektik von Körper/Leib und Bewusstsein.

In der abschließenden Schlussbetrachtung fasse ich die grundlegenden Einsichten zusammen, die man durch eine wissenssoziologische Perspektive auf Architektur gewinnt, und mache ihren Mehrwert für Soziologie wie Architektur deutlich. Im Mittelpunkt steht hier das Zusammenspiel von Externalisierung, Objektivation und Internalisierung.

Zur Veranschaulichung wird in diesem Buch ein Beispiel immer wiederkehren. Vom ersten Kapitel bis zur Schlussbetrachtung werden die Leser und Leserinnen immer wieder der architektonischen Moderne – genauer: dem Bauhaus – begegnen. Jürgen Habermas zufolge ist die moderne Architektur »immerhin der erste und einzige verbindliche, auch den Alltag prägende Stil seit den Tagen des Klassizismus«.[14] Sie steht in der Traditionslinie des okzidentalen Rationalismus, hat wie keine zweite Architekturströmung der Geschichte die Gestaltbarkeit der Welt propagiert und prägt bis heute unsere Sehgewohnheiten und unser Raumgefühl. Im Bauhaus traf die moderne Architektur auf die abstrakte und konstruktivistische Kunst und die Anfänge des Industriedesigns.

Mir soll das Bauhaus und insbesondere die Idee der funktionalistischen Gestaltung von Dingen und Gebäuden im Folgenden als eine Art Testfall dienen, um die Fruchtbarkeit meiner wissenssoziologischen Perspektive auf Architektur zu überprüfen. Der »Funktionalismus ist von der Überzeugung getragen, daß die Formen die Funktionen der Benutzung ausdrücken sollen, für die ein Bau geschaffen wird«,[15] schreibt Habermas. Daraus lässt sich eine Reihe erhellender Gedankenspiele über Prozesse der Formfindung und des Formverstehens ableiten und wissenssoziologisch interpretieren. Aus forschungspragmatischen Gründen ist das Bauhaus ein dankbares Beispiel, weil sich an ihm zahlreiche philosophische, kulturwissenschaftliche, historische und architekturtheoretische Beiträge abgearbeitet haben. Ich möchte daher der Bauhausforschung nicht notwendigerweise eine weitere Fußnote hinzufügen, sondern die gut dokumentierte Geschichte und Rezeptionsgeschichte des Bauhauses zur Veranschaulichung meiner theoretischen Überlegungen nutzen. Sollte der Leser oder die Leserin am Ende auch etwas über das Bauhaus gelernt haben, wäre das ein schöner Nebeneffekt.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwende ich in diesem Buch nicht durchgängig männliche und weibliche Formen. Wo nicht explizit anders gekennzeichnet, sind stets beide Geschlechter gemeint, auch wenn nur eine Form verwendet wird.

Viele Menschen haben mich beim Schreiben dieses Buches unterstützt. Ihnen möchte ich danken. Mein besonderer Dank geht an Martina Löw für vielfältige Anregungen und die mir in diesem Projekt gewährten größtmöglichen Freiheiten. Wichtige Impulse verdanke ich darüber hinaus Helmuth Berking, durch dessen Theorievorlesung mir überhaupt die Idee für dieses Projekt kam und der Entwürfe einzelner Kapitel sowie das gesamte Manuskript kritisch kommentiert hat. Wie viel ich Peter L. Berger in Bezug auf das vorliegende Buch verdanke, wird auf den folgenden Seiten allerorts deutlich: Die Tatsache, dass er mich 2012 als Visiting Scholar an das Institute on Culture, Religion and World Affairs der Boston University eingeladen und sich mit anhaltendem Interesse auf Diskussionen über Tische, Stühle und das Bauhaus, über Alfred Schütz und die Geschichte der Wissenssoziologie eingelassen hat, war für mich nicht nur ein denkbar großes Vergnügen, sondern auch ein äußerst lehrreiches Unterfangen. Dafür danke ich ihm von Herzen. Bedanken möchte ich mich auch beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der meinen sechsmonatigen Aufenthalt in Boston mit einem Postdoc-Stipendium ermöglicht hat.

Darüber hinaus habe ich in den letzten Jahren an der TU Darmstadt von einem anregenden und unterstützenden Arbeitsumfeld profitiert. Für zum Teil bis heute andauernden Austausch möchte ich mich bei Sybille Frank, Monika Grubbauer, Lea Rothmann, Maren Sauermann, Fabian Schrage, Jochen Schwenk und Gunter Weidenhaus bedanken, für Ermutigung und grundlegende wissenschaftliche Orientierung bei Michael Hartmann. Für beides gleichermaßen danke ich auch Susanne Hauser von der UdK Berlin. Zu besonderem Dank bin ich überdies Peter Bernhard verpflichtet, der mich vor vielen Jahren im Bockenheimer »Labsaal« für das Bauhaus und das Neue Frankfurt begeisterte. Ohne unsere ausgedehnten Mittagessen jenseits des soziologischen Curriculums wäre mein Leben anders verlaufen. Für die gemeinsame Recherche und Fotodokumentation in der Siedlung Dessau-Törten gilt mein Dank Nils Emde, Katja Heinecke und Reinhard Krehl. Sehr profitiert habe ich auch von meinen hervorragenden Lektoren, von Daniela Böhmler, die die Abgabefassung der Habilitationsschrift durchgesehen hat, und von Philipp Hölzing, der das Buch im Suhrkamp Verlag betreut hat. Bei der Fertigstellung des Manuskripts waren Annika Grill und Matthias Schulz eine große Hilfe.

Dass im Eckigen und im Runden ebenso wie im Blauen, Gelben und Roten vielfältige poetische Momente verborgen sind, habe ich von Reinhard Krehl gelernt. Dafür, für seine Liebe und für seinen Humor danke ich ihm.

1
Wie der Sinn in das Gebaute kommt: Soziologische Perspektiven auf die Dingwelt

In einem Aufsatz aus dem Jahr 2002 denkt der amerikanische Soziologe Thomas F. Gieryn darüber nach, was Gebäude eigentlich »tun«. Seine Antwort formuliert er in Form von Fragen: »Bieten sie Schutz vor Wettereinflüssen? Sind sie Geldquelle für Architekten und Unternehmer? Ein Versteck? Ein Symbol für Status und guten Geschmack? Orte für Arbeit oder Freizeit? Eine Anlagemöglichkeit? Sind sie dazu da, um Dinge aufzubewahren oder zu verkaufen? Oder um manche Menschen draußen und andere drinnen zu halten?« Und er kommt zu dem Schluss: »Gebäude tun all dies – und vieles mehr«.[1] Höchst verwunderlich sei es deshalb, dass sich die Soziologie bislang so selten mit Gebäuden beschäftigt habe. Eine ähnliche Irritation formuliert Heike Delitz. Obwohl sich, wie sie schreibt, Menschen ständig in Wechselwirkung mit Straßen, Häusern, Einkaufspassagen, Plätzen, Bahnhöfen, Schulen, Supermärkten etc. befänden, entstehe »erst aktuell […] eine systematische und explizite Architektursoziologie, ein genuin soziologisches Interesse für Architektur sowohl in theoretischer als auch empirischer, gesellschaftsdiagnostischer Absicht«.[2] Wolfgang Eßbach führt die von ihm ebenfalls diagnostizierte Ignoranz der Soziologie gegenüber dem Gebauten auf ihre »antitechnische und antiästhetische« Grundhaltung zurück: »Soziologie hat sich grundbegrifflich als Theorie reiner Sozialwelt den Zugang zu technischen und ästhetischen Artefakten als Kulturleistungen des Menschen weitgehend verbaut und stattdessen in der Hauptsache am Bild religiöser Vergemeinschaftung ihr Kategoriengefüge aufgebaut.«[3] Würden Artefakte oder künstlerische Phänomene thematisiert, dann lediglich hinsichtlich ihrer symbolischen Dimension. Das, was letztlich Sozialität erzeugt, seien »Religionssurrogate oder funktionale Äquivalente«[4] wie Wissen, Wert, Geist oder Ideologie. Einen Ausweg aus der »soziologischen Sperrklausel gegen die grundbegriffliche Einbeziehung der Materialität«[5] sieht er in der Entwicklung eines neuen, an poststrukturalistischen Perspektiven orientierten Kulturbegriffs.

Schaut man aber genauer in die Geschichte der Soziologie, dann fällt doch eine Reihe von Ansätzen ins Auge, die sich – wenngleich nicht immer vordergründig – mit der sozialen Relevanz von Artefakten oder gebauten Räumen beschäftigt haben. Immer schwingt dabei die Frage mit, auf welche Weise Dinge oder Gebäude sinnhaft auf soziales Handeln beziehungsweise auf gesellschaftliche Strukturen bezogen sind. Prinzipiell lassen sich drei Hauptherangehensweisen unterscheiden: Einmal werden Dinge oder Gebäude als materialisierte Strukturen des Sozialen begriffen und analysiert (vgl. Abschnitt 1.1), während sich eine zweite Perspektive nicht zentral auf Dinge oder Gebäude an sich, sondern auf sinnhafte Modi des Umgangs mit ihnen konzentriert (vgl. Abschnitt 1.2). Eine dritte Herangehensweise findet man schließlich in jüngeren poststrukturalistischen Ansätzen, die auf der Annahme einer unmittelbaren sozialen Effektivität der Dingwelt beruhen (vgl. Abschnitt 1.3). Im Folgenden sollen diese drei Positionen als soziologische Theoriefiguren herausgearbeitet und beschrieben werden. Nicht immer beziehen sich die vorgestellten Argumente explizit auf Gebäude, oft wird – breiter angelegt – die »Dingwelt« in ihrem Verhältnis zur »Sozialwelt« untersucht. Da es mir hier grundsätzlich um das Ausloten der Möglichkeiten eines soziologischen Nachdenkens über Architektur geht, werden im Folgenden auch allgemein an Dingen entwickelte Argumente diskutiert, die sich – mit bestimmten Implikationen – ebenso auf Architektur anwenden lassen. Im Zentrum der Diskussion soll die Frage stehen, wie der Zusammenhang zwischen Sozial- und Dingwelt in den einzelnen Ansätzen konzipiert wird. Um zu zeigen, welche Aspekte der gebauten Umwelt durch die vorgestellten Theoriebrillen jeweils in den Blick geraten, werden die Positionen am Ende in einer hypothetischen Anwendung auf das Bauhausgebäude in Dessau zusammenfassend gegenübergestellt (vgl. Abschnitt 1.4).

1.1 Gebäude als materialisierte Strukturen des Sozialen

Aus soziologischer Perspektive wurden Gebäude und Artefakte – wenn sie Gegenstand der Untersuchung waren – lange Zeit vor allem als materialisierte Strukturen des Sozialen begriffen. Paradigmatisch findet man diese Position in der Soziologie von Norbert Elias formuliert, der in seiner figurationstheoretischen Studie über den höfischen Adel im Ancien Régime dessen »Wohnstrukturen als Anzeiger gesellschaftlicher Strukturen« interpretiert.[6] Elias zeigt, wie Größe, Ausschmückung und räumliche Anlage des Königshofes in Versailles und der adligen »Hôtels« die klare hierarchische Gliederung sowie das Geschlechterverhältnis dieser Gesellschaft repräsentieren. Architektursoziologisch ist seine Studie deshalb hochinteressant, weil sich an ihr die Kernfrage soziologischen Nachdenkens über Architektur verdeutlichen lässt: Wie wird der Zusammenhang von Sozial- und Dingwelt konzipiert? Oder zugespitzter formuliert: Als wie sozial effektiv erscheint die Dingwelt in einem soziologischen Ansatz? Elias bezeichnet die untersuchten Wohnstrukturen als »Anzeiger« gesellschaftlicher Strukturen, was den Schluss nahelegt, dass Architektur bloß als passiver Ausdruck oder Indikator der Sozialwelt verstanden wird.[7] Die Gesellschaft aber, die Elias untersucht, ist eine, die sich im Modus des Anzeigens, des Repräsentierens überhaupt erst herstellt. Elias schreibt: »Ein Herzog, der nicht wohnt, wie ein Herzog zu wohnen hat, der also auch die gesellschaftlichen Verpflichtungen eines Herzogs nicht mehr ordentlich erfüllen kann, ist schon fast kein Herzog mehr.«[8] So betrachtet, wird die Architektur der höfischen Gesellschaft – neben anderen »Anzeigern« wie Etikette oder Kleiderordnungen – zu einem ihrer konstitutiven Elemente. Die Frage nach der sozialen Effektivität der Dingwelt begleitet auch die beiden im Folgenden detaillierter vorgestellten strukturtheoretischen Ansätze. Sie haben recht unterschiedliche Antworten formuliert, wenngleich hier wie dort Gebäuden eine soziologische Relevanz zugeschrieben wird. Im ersten Fall werden sie als »soziale Tatsachen«[9] betrachtet, die die Gesellschaft »stabilisieren«, im zweiten Fall geraten sie unter Ideologieverdacht.

Ansätze, die Gebäude als »soziale Tatsachen« behandeln, unterstellen ihnen eine objektive Sinnstruktur. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Dingwelt eine geronnene, sedimentierte Form des Sozialen ist, welche sich über eine zum Beispiel kunsthistorische, architektur- oder auch raumtheoretische Analyse dieser Form[10] entschlüsseln lässt, die dann wiederum gesellschaftsdiagnostisch interpretierbar ist.[11] Ausgangspunkt einer solchen Analyse ist immer das Gebäude selbst. Die soziologische Grundlage für dieses Verständnis von Architektur findet man in der sozialen Morphologie der französischen Durkheim-Schule.

Die soziale Morphologie basiert auf der These, dass Institutionen und die gesellschaftlichen Vorstellungen von der den Menschen umgebenden Welt ihre Spuren in dieser Welt hinterlassen. Folglich interessieren sich ihre Vertreter – zu nennen sind hier vor allem Émile Durkheim sowie seine Schüler Marcel Mauss und Maurice Halbwachs – nicht nur für kollektive Denk- und Handlungsweisen, sondern auch für das »materielle Substrat«[12] des Gesellschaftlichen. Darunter verstehen sie Gebäude und Werkzeuge ebenso wie die räumliche Verteilung einer sozialen Gruppe auf einem Gebiet, ihre Verkehrswege und -mittel sowie ihre Kleidung.[13] Dieser materiellen Dingwelt schreibt Durkheim Eigenschaften zu, mit deren Hilfe er auch die vergesellschaftende Funktion von Kollektivvorstellungen und Rollenerwartungen charakterisiert.[14] So stehe die räumlich-physische Ordnung der Welt dem Individuum ebenso äußerlich, unabhängig, allgemeingültig und zwanghaft gegenüber wie institutionalisierte Denk- und Handlungsweisen oder Moralvorstellungen. Mit anderen Worten: Auch Gebäude lassen sich als soziale Tatsachen betrachten, wie Durkheim in seiner Studie über den Suizid expliziert:

Und überhaupt stimmt es nicht, daß die Gesellschaft nur aus Individuen besteht. Sie umfasst auch Materielles, das eine wesentliche Rolle im Gemeinschaftsleben spielt. Die soziale Tatsache wird manchmal so sehr zur Wirklichkeit, daß sie zu einem Gegenstand der äußeren Welt wird. Zum Beispiel ist ein bestimmter Typus von Architektur eine soziale Erscheinung. Er ist einmal zum Teil in Häusern und allen möglichen anderen Gebäuden verwirklicht, die zu Realitäten mit eigener Existenz werden, unabhängig von den Individuen, sobald der Bau beendet ist. Genauso ist es mit Verkehrs- und Transportwegen, mit industriellen Einrichtungen und Maschinen oder solchen der privaten Sphäre, in denen sich das Niveau der Technik in jedem Augenblick der Geschichte, der Stand der Schriftsprache usw. dokumentiert. Das soziale Leben, das sich hier sozusagen auskristallisiert und sich materieller Hilfswerkzeuge bedient, wird auf diese Weise zu einem externen Agens, und seine Wirkung auf uns kommt daher von außen. Verbindungswege, die vor unserer Zeit gebaut wurden, geben dem Ablauf unserer Tätigkeit eine bestimmte Richtung, die uns mit diesem oder jenem Land in Verbindung bringt. Der Geschmack eines Kindes wird dadurch gebildet, daß es in Kontakt kommt mit national anerkannten Monumenten, die wiederum Hinterlassenschaften früherer Generationen sind.[15]

Die empirische Fundierung von Durkheims Vorstellung eines materiellen Substrats der Gesellschaft haben vor allem seine Schüler Marcel Mauss und Maurice Halbwachs übernommen. In einer ausführlichen Sekundäranalyse ethnografischer Studien analysiert Mauss den »jahreszeitlichen Wandel der Eskimogesellschaften«[16] und untersucht, wie »die materielle Form der menschlichen Gruppierungen, das heißt Natur und Zusammensetzung ihres Substrats, auf die verschiedenen Modi kollektiver Tätigkeiten einwirken«.[17] Für Mauss hat diese Studie exemplarischen Charakter: Die »Eskimogesellschaften«[18] eignen sich wegen ihrer geringen Größe und Ausdifferenzierung sowie aufgrund des großen jahreszeitlichen Wandels ihres materiellen Substrats besonders gut für eine Analyse dieser Art. Sein ausdrückliches Ziel aber ist es, verallgemeinerbare Zusammenhänge zwischen Sozial- und Dingwelt zu formulieren. Die Eskimogesellschaften breiten sich auf einer relativ großen Fläche rund um den Nordpol aus. Ihre Basiseinheit sind »Siedlungen«, also Gruppen »miteinander verbundener Familien, die durch spezielle Bande zusammengehalten werden und ein Wohngebiet haben, über das sie […] zu den verschiedenen Zeitpunkten des Jahres ungleich verteilt sind und das gleichwohl ihre Besitzung ausmacht«.[19] Die Größe einer Siedlung wird mit maximal 250 Personen angegeben, wobei der Frauenanteil in der Regel höher ist (da viele Männer bei der Jagd sterben) und nur wenige Kinder sowie ältere Menschen dazuzählen.[20] Da die Eskimogesellschaften ihre Reproduktion allein durch Jagd und Fischfang sichern, sind sie je nach Jahreszeit auf unterschiedliche Jagd- und Fischgründe angewiesen, was einen großen Wandel ihrer sozialen Morphologie bewirkt. Im Sommer leben sie entlang der Küste in weit verstreut stehenden Zelten. Jede Familie bewohnt ein Zelt, der Abstand zwischen den Zelten ist groß und für die Jagd werden zum Teil lange Reisen unternommen. Im Winter wohnen sie in dicht aneinandergedrängten Gemeinschaftshäusern, so genannten »Langhäusern«. Ein Langhaus wird durch einen halb unterirdischen Eingang erschlossen und ist im Inneren entlang der »Bank«, die durch Trennwände in Nischen unterteilt ist, strukturiert. Jede Familie bewohnt unabhängig von ihrer Größe eine dieser Nischen, zwei bis acht Familien und damit durchschnittlich rund 30 Personen bewohnen ein Langhaus, mehrere Langhäuser bilden eine Siedlung, in deren Mitte der so genannte »Kashim«, ein Gemeinschaftshaus mit zentralem Herd und ohne räumliche Unterteilung, steht.[21] Mauss schließt aus seiner Beschreibung, dass die soziale Morphologie der Eskimogesellschaften nach zwei entgegengesetzten Prinzipien organisiert ist: Im Winter findet eine »extreme Konzentration der Gruppe«[22] bis hin zur Verschmelzung im »sexuellen Kommunismus«[23] statt, im Sommer eine weitgehende Zerstreuung und Individualisierung. Er argumentiert, dass sich dieser Dualismus durch alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zieht. So basiert die Rechtsordnung im Sommer auf einem patriarchalischen Familienrecht, das auch individuellen Besitz kennt, während das Winterrecht auf einem »umfassenden Kollektivismus«[24] und der Führung durch eine Person mit besonderen persönlichen Qualitäten beruht. Das religiöse Leben kommt in den Sommermonaten nahezu zum Erliegen – Ausnahmen sind Riten für Geburt und Tod –, der Winter hingegen ist von Magie, Tänzen, Sühneriten und schamanischen Zeremonien, kurz: von einem »Zustand permanenter religiöser Überspanntheit«,[25] bestimmt. Die Differenz zwischen Sommer und Winter reicht bis hinein in kollektive Klassifizierungen von Menschen und Dingen. Im Sommer geborene Menschen werden als »Eiderenten« bezeichnet, im Winter geborene als »Schneehühner«,[26] es gibt Winterdinge (zum Beispiel Seehundfelle) und Sommerdinge (zum Beispiel Rentierfelle), wobei Berührungen von Winter- und Sommerdingen etwa beim Bau von Zelten oder bei der Jagd strikt verboten sind. »Man kann sagen, daß der Begriff des Winters und der Begriff des Sommers gleichsam zwei Pole sind, um die das System der Ideen der Eskimos gravitiert.«[27] Aus dem Dargestellten zieht Mauss zwei komplementäre Schlüsse: Einerseits sei die Studie ein Beleg dafür, dass sich das soziale Leben in allen seinen Formen mit seinem Substrat ändere.[28] Andererseits aber sei der jahreszeitliche Wandel der Sozialformen nicht allein als Folge unterschiedlicher Jagdtechniken zu verstehen. Die Siedlung als Basiseinheit der Eskimogesellschaft ziehe sich zwar zusammen und zerstreue sich »synchron mit der des umgebenden Lebens«, dies erkläre jedoch nicht, warum die Konzentration im Winter »derart dicht ist« und warum ein solch »intensives Kollektivleben« entsteht.[29] Qualität und Abfolge von profan-individueller Lebensweise im Sommer und religiös-kollektiver Lebensweise im Winter deutet Mauss vielmehr als Resultat der Gesamtzivilisation:

Man kann sagen, daß das soziale Leben auf den Organismus und das Bewußtsein der Individuen eine Gewalt ausübt, die sie nur eine gewisse Zeit lang ertragen können, und daß ein Moment kommt, wo sie genötigt sind, es zu verlangsamen und sich ihm teilweise zu entziehen. Daher dieser Rhythmus von Verstreuung und Zusammenziehung, von individuellem und kollektivem Leben.[30]

Obwohl Mauss Gesellschaften als abhängig von ihrem materiellen Substrat begreift, entgeht er mit dieser Erklärung jeglicher Form von physischem Determinismus. Im Gegenteil: Durkheim folgend wird hier Soziales mit Sozialem erklärt. Die »Wirkung des Bodens«, betont Mauss, sei jedoch »immer verflochten mit der tausend anderer Faktoren, die davon nicht zu trennen sind«.[31] Kurz formuliert: Marcel Mauss denkt das Verhältnis von Sozial- und Dingwelt als Verflechtung, ohne dies allerdings theoretisch genauer auszuführen.

Stärker mit architektonischen Artefakten als der materiellen Grundlage der Gesellschaft beschäftigt sich Maurice Halbwachs. Seiner Auffassung nach bleiben wesentliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens unverstanden, wenn sie losgelöst von den Spuren untersucht werden, die sie – zwangsläufig – in der physischen Welt hinterlassen. Zu den Aufgaben der Soziologie zähle deshalb die detaillierte Analyse der materiellen Gestaltwerdung des Sozialen. Denn das Soziale schreibe sich förmlich in seine materielle Grundlage ein:

Institutionen sind nicht einfach nur Gedankengebilde: sie müssen auf die Erde gebracht werden, ganz mit Stofflichem beschwert, menschlichem Stoff und unbelebtem Stoff, mit Lebewesen aus Fleisch und Blut, mit Bauwerken, Häusern, Plätzen, dem Gewicht des Raums. All diese Dinge gehören dazu, es sind Gestaltungen im Raum, die man beschreiben kann, zeichnen, messen und wägen, deren Teile man zählen, deren Ausrichtung, deren Veränderung man erkennen, deren Vergrößerung, deren Verkleinerung man sehen kann. In genau diesem Sinne besitzen dann alle Einrichtungen des sozialen Lebens auch materielle Formen.[32]

Diese Formen verdienten unsere Aufmerksamkeit jedoch nur deshalb, »weil sie aufs Engste mit einem gesellschaftlichen Leben verbunden sind, das allein aus Vorstellungen besteht«.[33] Den Ort des Sozialen, so lässt sich daraus ableiten, sieht Halbwachs, dem späten Durkheim[34] folgend, in kollektiven Bewusstseinsformen, wenngleich Dinge und Orte für ihn eine wichtige Rolle bei der Formierung kollektiver Bewusstseinsformen spielen. Sie können beispielsweise ein Erinnern evozieren:

Und tatsächlich fühlen wir auf den Straßen dunkel die Gegenwart derer, die ihnen ihre Richtung gaben, Straßen über das flache Land, Gebirgspfade, in den Fels seit mehr als tausend Jahren eingeschlagen, römische, mittelalterliche Wege, gepflastert mit unregelmäßigen Steinen, moderne Verkehrsstraßen, deren Gefälle genau berechnet wurde: es scheint, als ob wir die Spuren derjenigen sähen, die sie zum ersten Mal betraten, die ihnen den Weg bahnten, als ob wir dort die Zeichen und Male jener Werkzeuge wiederfänden, mit denen man sie durchs Land getrieben hat. Und vor allem stellen wir uns jene vor, die dort vor uns gewandert sind, die, wie an unserer Seite, ihren Fuß daraufsetzten. Und so sind all diese materiellen Erscheinungen nie ohne jeden gesellschaftlichen Bezug.[35]

Halbwachs widmet der Kohäsionskraft des »kollektiven Gedächtnisses« umfangreiche Studien. Dabei betont er immer wieder, dass die »materiellen Gegenstände […] uns ein Bild der Permanenz und der Beständigkeit darbieten« und dass die Dinge, die uns »schweigsam« und »unbeweglich« umgeben, den »Eindruck von Ruhe und Ordnung« vermitteln.[36] Der Eindruck einer stabilen Ordnung gehe selbst in Zeiten gesellschaftlicher Krisen nur bedingt verloren, was Halbwachs der »physischen Trägheit der Dinge« und der »Unempfindsamkeit der Steine« gegenüber den Zeitströmungen zuschreibt.[37] So würden etwa »Umwälzungen, die die Gesellschaft wanken machen« kollektiv erst dann als real anerkannt, wenn sich auch die »Physiognomie der Stadt« verändere.[38] Hinzu komme, dass das »Bild der Dinge […] an deren Trägheit selbst« teilhabe, weil wir uns auch an gebaute Räume erinnern, selbst wenn diese gar nicht mehr vorhanden sind. Um eine Gruppe auszulöschen, bedürfe es deshalb zweierlei: der Zerstörung ihrer materiellen Grundlage und der Zerstörung des Bildes beziehungsweise der Erinnerung an diese. »Als man die Herren und Nonnen von Port Royal zerstreute, war damit nichts getan, solange man nicht die Gebäude der Abtei dem Erdboden gleichgemacht hatte und nicht diejenigen dahingeschieden waren, die sie in Erinnerung behielten.«[39] Umgekehrt bewirke jede Veränderung in der materiellen Grundlage einer Gruppe auch eine Veränderung der Gruppe selbst, und zwar nach Halbwachs deshalb, weil sich mit den materiellen Erscheinungsformen der sozialen Welt auch das kollektive Bild derselben wandelt.[40]

Aus Halbwachs’ Beschäftigung mit Artefakten und gebauten Strukturen lassen sich drei Punkte festhalten: Die materielle Grundlage einer Gesellschaft kann erstens als »eine Art Anker, mit dessen Hilfe die Gesellschaft sich eine Gestalt gibt, aber auch Halt verleiht«,[41] verstanden werden. Die Dingwelt wird damit zum Stabilisator der im Kollektivbewusstsein gründenden Sozialwelt. Aufgrund ihrer Trägheit kann die Dingwelt zweitens allerdings nicht mit dem Tempo institutioneller Veränderungen mithalten, weshalb sie »nicht einfach als Spiegel der Gesellschaft zu betrachten«[42] ist. Es gibt immer eine Art time lag, was vor allem im Hinblick auf zeitdiagnostische Deutungen von Architektur zu berücksichtigen ist. Drittens lässt sich mit Halbwachs festhalten, dass jede Gruppe – vermittelt über kollektive Bewusstseinsvorgänge – eine gruppenspezifische Vorstellung von ihrer materiellen Grundlage entwickelt. Halbwachs öffnet die strukturtheoretische Perspektive der sozialen Morphologie damit für handlungs- und subjekttheoretische Ansätze (vgl. Abschnitt 1.2). Sein Vorschlag wurde in der Architektursoziologie jedoch bislang allenfalls rudimentär aufgenommen und weiterentwickelt.[43]

Eine weitaus breitere Rezeption in der architektursoziologischen Diskussion fand die Position von Karl Marx. Auch Marx sieht in der Dingwelt seiner Zeit eine geronnene, sedimentierte Form des Sozialen, allerdings – und das setzt ihn entscheidend von Durkheim und seinen Schülern ab – eine zutiefst ideologieverdächtige. Denn die Dingwelt seiner Zeit ist eine Warenwelt, das heißt, eine auf der Basis der kapitalistischen Produktionsweise entstandene Dingwelt. Marx widmet im ersten Band von Das Kapital dem Ausdruck der Werte von Waren im Kapitalismus eine detaillierte »Wertformanalyse«,[44] aus der er den Schluss zieht, dass eine Ware nur »auf den ersten Blick als ein selbstverständliches, triviales Ding«[45] erscheine, sie tatsächlich aber etwas Mysteriöses in sich trage.

Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge.[46]

Die warenförmige Dingwelt des Kapitalismus verschleiere ihre eigentlich wertbildende Substanz, die in der durchschnittlichen gesellschaftlichen Arbeitskraft liege, welche zur Herstellung eines Produkts vonnöten sei. Aus Marx’ Perspektive stehen den Menschen ihre eigenen Sozialverhältnisse in Form der Waren quasi-natürlich gegenüber, denn es sei »nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt«.[47] Dass die Menschen die eigentlichen Wert- und Sozialverhältnisse, die in den Waren zum Ausdruck kommen, nicht erkennen können, führt Marx auf ein »notwendig falsches Bewusstsein« zurück, das sich aus den Strukturbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise und Vergesellschaftung ergebe. Die Warenwelt verschleiere somit, dass sie eine menschengemachte Welt ist: »Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.«[48] Jede (ideologie-)kritische Analyse müsse deshalb die hinter den Waren liegenden, realen Wertverhältnisse freilegen.

Obwohl Marx hier nicht explizit über Architektur schreibt, ist diese Theoriefigur vielfach auf die Untersuchung der – meist breiter verstandenen – »gebauten Umwelt« übertragen worden. So sind es allen voran Manuel Castells[49] und David Harvey,[50] die vor dem Hintergrund einer sich in den 1970er Jahren entwickelnden neomarxistischen New Urban Sociology »die Stellung der gebauten Umwelt im gesamten Akkumulationsprozess« untersuchen.[51] Im Fokus ihrer Analyse steht das Waren produzierende Zusammenspiel von Grundstückseigentümern, Bauunternehmern, Immobiliengesellschaften, Finanzinstitutionen und Bodenspekulanten[52] mit dem Konsumverhalten potenzieller Bewohnerinnen und dem Staat als zentraler Planungsinstitution und Großinvestor. Das Resultat dieses Zusammenspiels zeige sich in der Form der gebauten Umwelt, welche als »Architektur« fetischisiert wiederum zum Überbauphänomen werde, in dem sich die gesellschaftliche Basis verdingliche. Der marxistische Kulturtheoretiker Fredric Jameson sieht den Höhepunkt dieser Verschleierung im »postmodernen Hyperraum«, den er als Resultat einer »spätkapitalistischen« Produktionsweise deutet und am Beispiel des Bonaventure Hotels (Architekt: John Portman, fertiggestellt 1976) in Los Angeles beschreibt.[53] Er charakterisiert das Hotel als totalen Raum, als in sich vollständige Miniaturstadt, die die (echte) Stadt außerhalb des Gebäudes zum Bild von sich selbst mache. Im Innern fordere es den Besucher auf, das körperlich erfahrbare Durchschreiten des Gebäudes als Erzählung, als Fiktion zu betrachten. Diese Raumerfahrung werde durch die zahlreichen Rolltreppen und verglasten Fahrstühle des Gebäudes unterstützt. »Als Besucher sind wir aufgefordert, diese Architektur der dynamischen Wege und narrativen Paradigmen mit unserem eigenen Körper und unseren Bewegungen zu erfüllen und sie zu vervollständigen.«[54] Allerdings fehle den postmodernen Subjekten der entsprechende Wahrnehmungsapparat, um sich in diesem Raum zurechtzufinden. Die Distanz zwischen wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt, die notwendig ist für das Erfassen von Perspektive und Volumen, gehe im Bonaventure Hotel verloren. Man stehe buchstäblich »bis zum Hals« in diesem Hyperraum.[55][56][57]Verschleierung