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Nachtjägerseele

Tina Alba


zersa-tiano



Machandel Verlag

Charlotte Erpenbeck

ISBN 978-3-939727-81-1

Cover-Bildquelle: Svetlana Foote/www.shutterstock.com

Sonstige Illustrationen: div. Künstler/www.shutterstock.com

Haselünne

2015


Inhalt

Prolog

1. Tiano

2. Zersa

3. Kirak

4. Tiano

5. Zersa

6. Tiano

7. Kirak

8. Zersa

9. Tiano

10. Zersa

11. Tiano

12. Zersa

13. Tiano

14. Zersa

15. Tiano

16. Zersa

Epilog

Danksagung

Danksagung

Zu allererst gilt mein Dank meiner Verlegerin Charlotte Erpenbeck. Danke, dass du an meine Geschichten glaubst und ihnen ein Zuhause in deinem Verlag gibst.

Während ich die zweite Geschichte um Zersa und Tiano schrieb, hatte ich manchmal selbst das Gefühl, mich komplett im Wald verirrt zu haben. Tausendmal Danke an meine Lieblingsverlagskollegin Helen B. Kraft, an Kaja Evert, an Corinna Inderst und Nina C. Egli für das Speedbetalesen mitten im Entstehungsprozess des Rohmanuskriptes – ich umarme euch, Mädels, ihr habt diese Geschichte davor bewahrt, auf halber Strecke im virtuellen Papierkorb meiner verkorksten Windows-Installation zu verschwinden.

Ein ganz besonderer Dank gilt Tanja Rast, die mich in stundenlangen Telefonaten immer wieder davon abgehalten hat, den Kopf in den Sand zu stecken und nie wieder zu schreiben, und meiner Lieblingsbetaleserin Lisande für die fixe Schlusskorrektur.

Und zu guter Letzt: Was wäre ich ohne das Tintenzirkel-Autorenforum, über den ich so viele wunderbare Menschen kennengelernt und meine Verlegerin gefunden habe?

Danke, Maja Ilisch, für dieses kuschelige virtuelle Wohnzimmer, in dem es nach Papier und Tinte riecht, in dem man Tastaturgeklapper hört und sich so wunderbar über das Schreiben austauschen kann.

 

tiger

 

 


Prolog

 vogel


Sie rannte. Das Dorf stand in Flammen, sie konnte den Atem des Feuers in ihrem Nacken spüren, fühlte förmlich, wie die feinen Haare, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, sich in der Hitze aufrollten. Sie hatte nichts retten können außer dem, was sie am Leib und unter dem Herzen trug, und sie würde alles tun, um dieses Leben zu schützen, alles. Sogar töten. Und wenn es das Letzte war, was sie tat.

Es war, als wollte der Wald ihr helfen, zu fliehen. Unter ihren Füßen war nichts als federnder, weicher Boden, keine Wurzeln, an denen ihre nackten Füße hängenbleiben konnten, keine Schlingpflanzen, die ihr Fallen stellten. Fast schien es, als würde der Wald sich vor ihr weiten, als wichen die Bäume zur Seite, nur um sich hinter ihr wieder zu schließen, um ihre Verfolger in die Irre zu führen.

Es gibt keine Zukunft für uns, hatte er gesagt, als die anderen seiner Art kamen. Sie werden alles niederbrennen und dein Volk vernichten. Lauf! Flieh, so lange du noch kannst. Schütze unser Kind. Du weißt, wo die anderen Stämme sind, wir noch nicht, und das ist gut so. Ich versuche, sie aufzuhalten, so lange ich kann. Warne die anderen, aber sei dir bewusst, dass du nicht alle retten kannst. Ich liebe dich. Und jetzt lauf, rette dich, bevor sie wirklich da sind!

Sie hatte die anderen gewarnt. Viele waren mit ihr geflohen und noch mehr hinter ihr zurückgeblieben. Gefallen, mit Pfeilen und Messern im Rücken, an den Haaren gepackt und zu Fall gebracht, unter dem Johlen der Fremden zusammengebrochen. Er hatte ihr gesagt, was geschehen könnte, wenn andere Menschen kamen, und sie hatte lachend den Kopf geschüttelt und war davon ausgegangen, dass alle seine Leute so waren wie er. Sie hatte ihm nicht glauben wollen, als er sagte, die meisten seien anders. Sie hatte sich getäuscht. Und nun war er fort, ihr Dorf zerfiel hinter ihr zu Asche, ihr Volk starb und sie war auf der Flucht, obwohl sie eigentlich bei ihnen hätte sein sollen, war sie doch die Heilerin. Ata. Hohepriesterin, auf einer Stufe mit Moa, dem Ältesten, der sich vor seine Ratgeberinnen gestellt hatte und als erster gefallen war. Aber auch er hatte sie angefleht, zu fliehen und die anderen Stämme zu warnen.

Jetzt war sie allein. Irgendwie hatte sie die aus den Augen verloren, die mit ihr zusammen geflohen waren. Lebte überhaupt noch einer außer ihr? Sie taumelte, blieb stehen und lehnte sich an einen Baum. Sie konnte nicht mehr weiter. Ihre Lungen brannten, ihr Mund war ausgedörrt und ihr schwerer Leib schmerzte, als wühle ein Messer darin. Etwas rann an ihren Beinen herab, heiß und feucht.

Nein…

Keuchend rang sie nach Atem, schluchzte auf, schrie und krümmte sich, als der Schmerz kam.

Nicht… noch nicht… es ist noch zu früh, doch nicht jetzt!

Sie wusste, sie konnte das Kind nicht mehr aufhalten. Sie musste sich ein Versteck suchen und hoffen, dass die Verfolger ihre Spur verloren hatten. Sie biss die Zähne zusammen, umklammerte ihren Bauch und richtete sich auf. Es schmerzte. An ihren Beinen und auf dem Boden war Blut und Wasser. Mühsam scharrte sie mit dem Fuß Erde über den feuchten Fleck, dann schleppte sie sich ins Unterholz. Im Schatten eines Peitschenbaums brach sie zusammen. Mit letzter Kraft kroch sie unter die bis an den Boden herabhängenden, schnurartigen Zweige, die sich wie ein Vorhang aus grünen Blättern und himmelblauen Blüten hinter ihr schlossen.

Waldmutter, bitte, erlaube dem Baum, mich zu beschützen! Einen anderen Schutz als ihn hatte sie nicht.

Der Schmerz kam in Wellen, immer schneller und heftiger. Sie dachte daran, was sie als Heilerin den Frauen ihres Stammes gesagt hatte, wenn sie gebaren. Sie wusste, was sie tun musste, und doch wünschte sie sich jetzt eine Frau an ihrer Seite, die ihre Hand hielt, die ihr das Gesicht abtrocknete und die ihr zuflüsterte, dass alles gut werde. Sie vermisste die Gemeinschaft der Frauen, die um die Hütte der werdenden Mutter saßen und sangen, um ihr Kraft zu geben. Für sie sang niemand, nur der Baum rauschte sanft im schwachen Wind. Um nicht zu schreien, sang sie schließlich selbst, rau und von Schluchzern geschüttelt. Würde ihr Kind überhaupt leben können? Es kam viel zu früh auf die Welt. Noch mindestens einen Mond hätte es in ihr bleiben müssen.

Waldmutter, du gibst Leben. Waldmutter, du gibst Heilung und Kraft. Waldmutter, du bist Hoffnung. Waldmutter … du bist auch Tod, aber ich bitte dich, komm als Lebensbringerin zu mir und lass mir wenigstens dieses Kind …

Der Schmerz wurde zu einem roten Schatten, der sie umtanzte und mit Klauenfingern nach ihr griff. Sie hörte nur noch ihren eigenen Atem und ihr Blut, das in ihren Ohren rauschte. Die Wehen packten sie und pressten das neue Leben aus ihr heraus. Sie konnte es fühlen, als es auf den weichen Waldboden glitt. Dunkelheit umschmeichelte sie, lockte sie, sich fallenzulassen, aber das durfte sie auf keinen Fall tun. Darin lag der sichere Tod für sie und das Kind. Mühsam richtete sie sich auf. Das Kind, ein Junge, lag reglos vor ihr im Moos, schneeweiß, auf dem Kopf ein Wust kohlschwarzer Haare. Sie hob ihn auf und drückte ihn an ihren bebenden Körper.

Atme. Lebe. Bitte. Du musst leben.

Sie rieb ihn und klopfte ihm auf den Rücken, schüttelte ihn sanft.

Und dann schrie er. Laut, so laut und kräftig, dass sie ihn erschrocken fester an sich drückte. Als er sich wieder beruhigt hatte, lauschte sie voller Angst, aber nichts rührte sich. Dann erst wagte sie es, die Nabelschnur durchzutrennen. Sie war zu Tode erschöpft, aber sie wusste, ihr Sohn würde leben, als er ihre Brust fand und hungrig zu saugen begann. Er war ein Kämpfer, ein mutiger kleiner Kater, der zu einem starken Mann heranwachsen würde. Sie weinte in sein weiches Babyhaar, als er trank. Vielleicht würde sie sterben. Aber er, er sollte leben. Diese eine Aufgabe musste sie noch erfüllen. Sie musste für ihn einen sicheren Ort finden.

Mit dem Kleinen an der Brust sank sie in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf, zu erschöpft, um nachzusehen, ob auch die Nachgeburt ihren Körper verlassen hatte. Bei jeder anderen Frau hätte sie sich vergewissert, doch sie war so müde, dass sie an nichts anderes denken konnte, als an die tiefe Umarmung sanftschwarzen Schlafes. Als sie Stunden später wieder erwachte, fühlte sie sich schwach und fiebrig.

 

Tican stand inmitten der Ruinen des niedergebrannten Dorfes und wischte sich Tränen aus den Augen. Wo es zuvor nach Kochfeuern und Wald, nach Kräutern und wildem Honig gerochen hatte, stank es jetzt nach dem Brand von Krieg und Zerstörung. Nach Tod. Er musste würgen.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Nimm es nicht so schwer, Bruder. Das waren Wilde. Sie wollten nicht weichen, auch nicht, als wir sie freundlich gebeten haben. Ignorante Kreaturen. Sie hätten uns geben sollen, was wir benötigen. Wozu brauchen sie denn schon das Waldsilber? Sie wissen nicht um seinen Wert, sie basteln nur Schmuck daraus. Schmuck!“

Und was tun wir? Wir schleifen es zu Messerklingen und Schwertern. Das ist nicht Hirus Wille, und es kann nicht im Sinne Alneas sein, schwangere Frauen in den Wald zu jagen und Mädchen, die noch nicht einmal Brüste haben, als Sklavinnen zu verkaufen. Es sind Menschen, Macas. Sie sehen aus wie wir, sie sind intelligent. Das sind doch keine Tiere.“

Macas schnaubte. „Es sind Tiere. Sie sehen zumindest so aus, sieh sie dir doch an. Ich habe Stämme gesehen, bei denen den Wilden Federn statt Haar auf dem Kopf wuchsen. Dass diese kein Fell hatten, war alles. Sie waren gestromt, gefleckt, wie Wildkatzen, und ihr Verstand ist der von Tieren. Wir haben Tiere ausgerottet, die in Hütten leben. Intelligent sollen die sein? Ich sehe nirgendwo Bücher. Nirgends Schrift. Keine Zahlen, keine Karten, keine Götterbilder. Es sind Tiere.“

Ich verstehe dich nicht.“ Tican fühlte sich unendlich müde.

Und ich verstehe dich nicht, Bruder. Es geht um unseren Erfolg, da ist deine Sentimentalität unangebracht.“ Macas wandte sich ab.

Tican straffte sich. Er wusste, er sollte jetzt bei den Soldaten sein, sollte ihnen in einer Rede den Triumph der wahren Götter über die dämonischen Waldbewohner und ihre archaische Göttin beschwören, aber allein schon bei dem Gedanken wurde ihm schlecht.

Ich gehe fort“, sagte er.

Sein Bruder drehte sich noch einmal um. „Und wohin willst du? Allein schaffst du es nicht zurück bis in die Stadt, die Wilden zerlegen dich vorher in deine Einzelteile.“

Dann sei es so. Ich bleibe keinen Augenblick länger. Du bist genauso Priester wie ich, Bruder, predige du den Männern und segne ihre Suche nach dem Waldsilber. Ich kann es nicht.“

Du bist zu weich, Tican. Geh meinethalben. Ich weiß, dass du morgen früh wieder hier bist. Spätestens.“

 

Tican kehrte nicht zurück. Er folgte den Spuren, er sah das Blut und den Peitschenbaum, und am Ende fand er auch die Frau. Sie fieberte und war halbtot, aber das Kind an ihrer Brust war stark und wollte leben, das konnte er nicht nur sehen, er hörte es auch und er fühlte es, als der kleine schwarzhaarige Junge mit der milchweißen Haut nach seinem Finger griff und ihn umklammerte.

Die Urunifrau richtete sich mühsam auf und sah ihn an.

Tican. Du bist gekommen.“

Ich habe dich gesucht, Anoa." Behutsam schob er einen Arm unter sie. „Ich bin jetzt bei dir. Ich beschütze dich. Wir bleiben in den Wäldern, du und ich, wir lassen alles hinter uns, wir suchen einen Urunistamm, der uns aufnimmt …“

Nein“, flüsterte sie. „Für mich gibt es keine Zukunft. Etwas von der Geburt ist in mir geblieben und vergiftet mich. Aber dein Sohn hat Zukunft. Nimm ihn. Nimm ihn, Tican, gib ihm seinen Namen. Ich bin schon beinahe auf der anderen Seite. Ich gehe zur Waldmutter. Ich habe nur … auf dich gewartet.“

Sie schob ihm den Jungen in die Arme und er schloss seine Hände sanft um den kleinen Körper.

Sein Name. Gib ihm seinen Namen …“

Sie lächelte, als er den Namen flüsterte. Dann starb sie.

 

Tican begrub sie unter dem Peitschenbaum, unter dem sie ihren Sohn geboren hatte. Den runden Kristall, in dem sich das Licht so wunderbar brach, wenn sie ihn in die Sonne hielt, der Stein, den sie so sehr geliebt und behütet hatte, hängte Tican über ihrem Grab in den Baum, damit seine bunten Lichtreflexe nun auf die Stelle fielen, an der seine Liebste begraben lag. Er wusste, er hatte keine Zeit, andere Uruni zu suchen. Es würde Tage dauern. Sein Sohn würde die Suche nicht überleben. Er musste den Jungen mitnehmen, zurück ins Lager nahe dem zerstörten Dorf. Er dachte an Macas. Daran, wie das zufriedene Grinsen im Gesicht seines Bruders sich in Entsetzen verwandeln würde, sobald er den Kleinen sah. Und wenn er ihn täuschte?

Tican sah den Jungen prüfend an. Haut weiß wie Milch, schwarzes Haar, wie er es selbst auch hatte. Blaugrüne Augen, hell wie ein Bergsee. Sein Sohn sah nicht aus wie ein Uruni. Er sah aus wie ein Mensch. Tican atmete tief durch. Er konnte immer noch behaupten, das Kind in einem leeren Menschenlager gefunden zu haben. Ein Lager, überfallen von wilden Tieren. Davon gab es genügend in den Nebelwäldern. Bei den Menschen aufzuwachsen war die einzige Möglichkeit für den Jungen. Nur so konnte er überleben. Später einmal, wenn er älter war, würde Tican ihm sagen, wer seine Mutter war. Später.

 

Die Körbe der Packpferde waren schwer von Waldsilber. Wo einmal das Dorf gewesen war, klaffte nur noch eine große, von Hacken und Schaufeln aufgerissene Wunde im Waldboden. Tican mochte nicht zurückschauen, als er sich auf sein Pferd schwang. Schwindel erfasste ihn. Schon seit Tagen fühlte er sich scheußlich, immer wieder brach ihm der Schweiß aus allen Poren. Macas musterte ihn kritisch.

Vielleicht solltest du den Welpen lieber mir geben, nicht, dass er dir noch aus den Armen fällt. Du kannst dich doch kaum auf dem Gaul halten. Lass Liera nach dir sehen.“

Ich brauche keine Priesterin. Ich will nur hier weg und endlich wieder einmal in einem sauberen Bett schlafen. Lass uns reiten, Macas, ich bin nur müde. Und nenn ihn nicht Welpe, er hat einen Namen.“

Macas grummelte, aber Tican wusste, er meinte es nicht wirklich böse. So unterschiedlich ihre Ansichten über die Wilden auch waren, Macas war sein Bruder und sie liebten einander auf diese eigentümliche, unerklärliche Weise, auf die sich nur Geschwister lieben konnten, auch wenn sie unterschiedlicher waren als Tag und Nacht.

Sie ritten den Tag über, schlugen in der Nacht ihr Lager auf. Tican fror so sehr, dass er am liebsten in das Lagerfeuer hineingekrochen wäre. Noch nicht einmal die Nähe des Kleinen konnte ihn wärmen. Schließlich nahm Macas ihm das Kind ab, wickelte ihn in mehrere Lagen Decken und Umhänge und holte Liera.

Tican sah unbehaglich zu, wie die junge Alneapriesterin die Stirn runzelte, als sie seinen Puls fühlte.

Seit wann fühlst du dich schlecht?“

Seit ein paar Tagen. Ich sterbe vor Durst. Gib mir Wasser, Macas …“

Macas reichte ihm einen Becher.

Ist irgendetwas passiert? Hat dich etwas gestochen, hast du etwas gegessen, was du sonst nicht isst?“

Tican schüttelte den Kopf, aber in seinen Erinnerungen rührte sich etwas. Seine Hände bebten so sehr, dass er die Hälfte des Wassers verschüttet hatte, bevor Macas zugriff und ihm half. Es konnte doch nicht sein, dass so eine winzige Spinne … Er schob den Becher weg und tastete nach seinem Hals. Die kleine Schwellung war noch immer da, sie schmerzte und juckte zugleich wie die Hölle.

Da war diese Spinne“, sagte er. Warum war seine Zunge so schwer? Er hatte getrunken, und doch war sein Mund trocken, als hätte er auf ein Stück Pelz gebissen.

Bitte … noch mehr Wasser …“

War sie schwarz? Die Spinne, Tican, war es eine schwarze Spinne mit einem roten Fleck auf dem Hinterleib?“

Er erinnerte sich dunkel. Die Spinne hatte in seinen Kleidern gesessen, sie hatte ihn in den Hals gebissen, als er sein Hemd anzog und es zuschnürte. Er hatte sie weggewischt und sich noch darüber gewundert, wie hart ihre Haut war, wie zäh, und wie groß die Kiefer, für so ein kleines Krabbeltier.

Er hat ausgesehen wie ein Blutfleck. Rot. Glänzend wie frisches Blut. Wasser …“

Macas reichte ihm den Becher noch einmal, doch Liera schüttelte den Kopf.

Es wird seinen Durst nicht stillen, Hohepriester. Er wird trinken und trinken und doch wird er innerlich verbrennen. In seinem Körper ist Gift. Gegen das Gift dieser Spinne haben selbst die Wilden kein Heilmittel. Es tut mir leid, Macas. Dein Bruder wird sterben. Ich kann nichts tun. Beten wir zu den Göttern, dass sein Tod leicht wird.“

 

Ticans Tod war alles andere als das. Er flehte um Wasser, er trank, bis er sich erbrechen musste, trank und trank wieder, erbrach, bis nur noch Blut und Galle kamen. Das Fieber verzehrte ihn. Macas blieb bei ihm und hielt seine Hände. Liera hatte den Kleinen mitgenommen.

Das Kind“, flüsterte Tican in der frühen Morgenstunde. Seine Stimme klang wie brüchiges Pergament. „Das Kind. Macas, das Kind. Nimm es. Zieh den Jungen auf und sag ihm, du seist sein Vater. Bitte.“

Es würde leichter sein, wenn sein Sohn als Mensch unter Menschen aufwuchs. Viel leichter. Tican holte tief und bebend Atem. „Bitte.“

Macas nickte. „Ich nehme mich seiner an, das schwöre ich beim Licht Hirus und bei Alneas Silber. Aber sag mir die Wahrheit über den Jungen. Du hast ihn nicht einfach irgendwo gefunden. Sag es mir. Er ist dein Welpe, nicht wahr?“

Tican fühlte sich verbrannt und trocken wie eine Wüste, jeder Atemzug schmerzte. Er wollte weinen, aber nicht einmal dafür hatte sein Körper noch einen Tropfen Flüssigkeit übrig.

Er ist mein Sohn. Mehr musst ... du nicht wissen, Bruder. Bitte. Bitte beschütze ihn. Lehre ... ihn ... nenne ihn bei dem Namen, den ich ihm gegeben habe.“

Ticans Herz verbrannte. Licht hüllte ihn ein. Vor seinem flackernden Blick schwebte ein Gesicht, dieses geliebte Gesicht, und dahinter schien der majestätische Kopf einer großen Raubkatze. Frau und Katze verschwammen zu einer Einheit, sie war beides zugleich, wunderschönes Mädchen und Tiger, mit einem Pelz wie Schnee und Kohle und Augen wie Bergseen. Er starb mit einem Lächeln und einem Namen auf den aufgesprungenen Lippen.

Anoa ...“


1. Tiano


 tiger


Der Nebelwald hatte ihn schon immer wie magisch angezogen, doch seit er Zersa gefunden hatte, liebte er ihn. Am faszinierendsten war der Wald in dieser letzten Stunde Dunkelheit, bevor die Sonne durch das dichte Blätterdach brach und das Schimmern und Leuchten der Pflanzen und Pilze verblasste, die in der Nacht in kühl blaugrünen oder blassrosafarbenem Licht strahlten. Es wurde nie wirklich dunkel im Nebelwald. Tiano brauchte kein Licht, keine Fackel, keine Kerzen, kein Feuer. Der Wald selbst leuchtete, und er war wunderschön.

Nicht immer fiel ihm das Leben bei den Uruni leicht, aber er wollte es nicht mehr anders. Die Uruni, die auf ihn anfangs so schlicht, so einfach, manchmal sogar einfältig gewirkt hatten, steckten voller Überraschungen. Schon nach kurzer Zeit hatte er gemerkt, dass das Waldläuferleben, das er vor der Begegnung mit Zersa geführt hatte, nur ein schwacher Abglanz des Lebens eines wahren Waldbewohners gewesen war. Jetzt bewegte er sich sicher im Wald, er hatte viel von Zersa gelernt und er lernte noch immer. Doch dadurch war er lange noch kein Uruni. Er war ein Mensch, größer als die zierlichen Waldbewohner, lauter, anders. Sie nahmen ihn an, weil er zu Zersa gehörte, doch Tiano spürte immer wieder, dass ihn misstrauische Blicke streiften. Vor allem Ano, der Älteste, schien ihn immer und überall zu beobachten. Schon darum genoss Tiano die frühen Morgenstunden und das Alleinsein.

Am Abend zuvor hatte er Schlingen ausgelegt, genau dort, wo er die Fallen der Uruni noch vor einigen Wochen immer geplündert hatte. Vielleicht schätzten ihn die Uruni mehr, wenn er zeigte, dass er die Frau, die mit ihm zusammen lebte, und die Familie, die er mit ihr gründen wollte, auch wirklich ernähren konnte. Er spürte die Erwartung in seinem ganzen Körper, ein Prickeln wie von diesem wundersamen Wasser aus der Quelle in der Nähe des Dorfes, aus dem noch Stunden, nachdem es in einen Krug gefüllt worden war, kleine Bläschen aufstiegen. Sie kitzelten im Hals und in der Nase, wenn er das Wasser trank. Die Uruni nannten es lebendiges Wasser. Wasser, das Geschichten erzählt. Hielt er sein Ohr an einen Krug mit dem Wasser, konnte Tiano es beinahe glauben. Die kleinen Blasen blubberten und zischten darin, und es klang wirklich beinahe wie das Raunen der Alten, wenn sie am Feuer die Legenden des Stammes erzählten und die Kinder lehrten.

 

Tiano legte den Kopf in den Nacken und sah in die Krone des Baumriesen, unter dem er saß. Der Stamm war so mächtig, dass er ihn auch mit Zersa gemeinsam nicht hätte umfassen können. Silbrig schimmerte die Rinde, und zwischen den saftig dunkelgrünen Blättern leuchteten kleine blassblaue Blüten. Damit konnte die schönste Menschenstadt nicht mithalten. Wie hatte er nur so lange in den Städten leben können?

Noch immer staunte er darüber, dass Ano, Shia und die Ältesten ihn trotz ihres aus schlechten Erfahrungen mit den Menschen resultierenden Misstrauens erlaubten, zu bleiben. Niemand anderes als Zersa konnte das bewirken, die Heilerin, die ihn liebte, die Ata, der er geholfen hatte, ihren Namen von Mordanschuldigungen reinzuwaschen. Zersa hatte dabei mehr gefunden als nur den Beweis ihrer Unschuld – in ihr war die wahre Heilergabe der Waldmuttergöttin erwacht. Es hatte den ganzen Stamm aufgerüttelt. Immer wieder geschah es jetzt, dass Ano die menschlichen Besucher fortschickte und nicht mehr nur die Stimmen der Hiru- und Alneapriester hörte, sondern auch und gerade die Stimme seiner Ata. Tiano lächelte. Zersa war so glücklich, und ihr Glück machte auch ihn glücklich. Auch wenn sein Leben letzten Endes nicht gerade einfacher geworden war.

 

Die Schritte hinter ihm waren so leicht, dass er sie kaum hören konnte, und doch wusste er, dass sie da war, noch bevor sie die Arme um ihn legte und sich an seinen Rücken schmiegte.

Hier bist du. Schon lange?“

Tiano wandte den Kopf und hauchte einen Kuss auf Zersas Lippen. Die zierliche, dunkelhäutige Uruni erwiderte den Kuss und ließ sich neben ihm ins Moos sinken.

Ich mag es, dabei zu sein, wenn der Wald aufwacht. Wenn die Pilze und Blüten gerade noch leuchten und alles so wunderbar still ist. Und ich mag es, auch einmal nicht unter Anos Beobachtung zu stehen.“

Zersa runzelte die Stirn. „Er beobachtet dich nicht immer. Lass ihm Zeit, er muss sich an dich gewöhnen. Und er wird sich an dich gewöhnen. Vertrau mir, irgendwann wird sein Misstrauen nachlassen und er wird dich als einen von uns aufnehmen.“

Ich frage mich, wann das sein wird. Ich liebe dich, Zersa Ata, und ich will bei dir bleiben. Aber ich weiß nicht, ob ich das kann, wenn dein Stamm mich nicht wirklich annimmt.“

Zersa lächelte. „Das lass meine Sorge sein. Du wirst immer mehr wie ein Uruni. Du lernst schnell, und du lernst gut. Es ist richtig, dass du hier bist.“

Wo sollte ich sonst sein? Ich habe hier einen Platz gefunden, an dem ich bleiben will. Auch wenn dieser Platz mich im Moment noch nicht will.“ Er unterdrückte ein Seufzen. Es stimmte, dieser Ort, dieser Wald fühlte sich für ihn wie eine Heimat an, und zudem liebte er Zersa mehr als sein Leben. Aber was sollten sie tun, wenn Ano, Shia und die anderen ihn wirklich nicht annehmen würden? Was sollte er dann tun? Zersa verlassen? Allein der Gedanke daran zerriss ihm das Herz. Aber konnte er bleiben, wenn der Stamm ihn ablehnte? Konnte er sie unglücklich machen? Und wenn sie sich für ihn entscheiden und seinetwegen den Stamm verlassen würde? Konnte er dem Stamm die Heilerin wegnehmen? In diesem Moment wusste er, dass er gehen musste, wenn diese Fragen wirklich einmal am Ratsfeuer gestellt werden sollten. Er würde gehen – für Zersa.

Sie sah ihm in die Augen, Tiano sah die stumme Frage in ihrem Blick, eine heimliche Furcht, und wischte sie beiseite, indem er Zersa an sich zog und noch einmal küsste.

Seit ich dich gefunden habe, bin ich sicher, dass ich in die Wälder gehöre. Ich mochte die Stadt nie, das weißt du. Und ich will nie wieder einen Priester vor mir haben, der mir sagt, was ich tun oder lassen soll oder was gut für mich ist. Du bist gut für mich, Zersa, du und der Wald, dein Dorf. Auch wenn einige mich immer noch komisch anschauen.“ Seine Stimme klang unbekümmerter, als er sich fühlte. Es war nicht so leicht.

Zersa lehnte den Kopf an seine Schulter, ihr langes schwarzes Haar, das in weichen Wellen über ihren Rücken fiel, kitzelte seine Haut.

Auch wenn du kleiner bist als die meisten Menschen, bist du immer noch zu groß“, neckte sie ihn, „du bewegst dich beinahe wie ein Uruni, du lernst unsere Sprache, aber du hast einen fürchterlichen Akzent und deine Haut ist zu leer. Keine Streifen, keine Flecken, keine Katzenmale. Und doch ist etwas Katzenhaftes an dir.“ Sie lachte. „Großer plumper Kater.“

Tiano wickelte ihr Haar um seine Finger. „Kätzchen.“

Ihre goldenen Augen funkelten im ersten Tageslicht. Einen Moment sah es aus, als wollte sie noch etwas sagen, doch sie schwieg, und Tiano fragte sich, warum.