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Frank Goyke

Hundstage

Theodor Fontane und der Tote im Walzwerk

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Inhalt

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

 

Glossar

Danksagung

Über Den Autor

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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ebook im be.bra verlag, 2015

© der Originalausgabe:

berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2015

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

post@bebraverlag.de

Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin

Umschlag: Ansichtssache, Berlin, unter Verwendung eines Gemäldes von Adolph von Menzel (© akg images)

ISBN 978-3-8393-6148-1 (epub)

ISBN 978-3-89809-521-1 (print)

www.bebraverlag.de

Die wichtigsten existierenden und fiktiven Personen des Romans

Kriminalkommissar Aschinger

Doktor Reinhard Berg, Amtsrichter in Neustadt-Eberswalde Felix von Bethmann Hollweg, Landrat des Kreises Oberbarnim Willibald Beutler, Fabrikinspektor Theodor Fontane, Schriftsteller Emilie Fontane, seine Frau

Beate Jonas, Dienstmädchen im Schloss Lichterfelde Arnold Köster, Arbeiter im Walzwerk »Eisenspalterei« Herr Loeffler, Majordomus des Schlosses Lichterfelde bei Eberswalde

Frau Loeffler, seine Gattin Gotthelf Mädewein, Vorarbeiter im Walzwerk Karl August Mädewein, dessen Cousin, Treidler Adolf Menzel, Maler

Friedrich Schmidt, Bauunternehmer und Ziegeleibesitzer August Heinrich Schmidt, sein jüngerer Bruder Hermann von Seyfarth, Chefingenieur des Walzwerkes Ireneusz Tutasz, polnischer Kampagnearbeiter in einer Ziegelei

Carl Melchior Wittbrodt, Direktor der Eisenspalterei bei Neustadt-Eberswalde

Konrad Zimmermann, Kösters Freund, ebenfalls Arbeiter im Walzwerk

Erstes Kapitel

Montag, 26. Juli 1875, vormittags

Schon am Vormittag war die Hitze unerträglich. Nur die Mücken fühlten sich wohl, die in großen Schwärmen über dem Finowkanal tanzten wie Mänaden bei einem dionysischen Fest. Allerdings hatten sie den Wein durch das Blut der Wanderer ersetzt. Theodor Fontane verscheuchte sie durch Wedeln mit dem karierten Schweißtuch, dann fuhr er sich zum x-ten Male über die Stirn. Obwohl er erst vor einer halben Stunde vom Bahnhof Neustadt-Eberswalde aufgebrochen war, war der Rucksack auf seinem Rücken bereits so schwer, als hätte er Wackersteine geladen. Die Riemen schnürten sich durch den Gehrock in die Schultern, auf Gesicht, Hals und Händen blühten die Pusteln der Mückenstiche. Welcher Teufel nur hatte ihn geritten, ausgerechnet während der Hundstage nach Lichterfelde wandern zu wollen?

Der Teufel hieß Adolf Menzel und schritt beschwingt neben ihm, so als würden ihm die Unbilden des Wetters überhaupt nichts ausmachen. Vor drei Tagen hatten sie in der Frederichsschen Speisewirtschaft gesessen, dem Stammlokal des Malers, in dem er täglich seine Abendmahlzeit einzunehmen pflegte, und sich gegenseitig von ihrer Arbeit erzählt, Fontane von seinem Zeitroman Allerlei Glück, der nie fertig zu werden drohte, Menzel von seinem Gemälde Eisenwalzwerk, an dem er bald den letzten Strich zu machen gedachte; Fontane hatte es nicht ohne Neid zur Kenntnis genommen. Fast hundert Zeichnungen hatte Menzel in der schlesischen Königs-hütte angefertigt, und er hatte sich auch einige Male in der Eisenspalterei umgesehen, die schon 1830 von Carl Blechen in dem Gemälde Walzwerk Neustadt-Eberswalde verewigt worden war. Doch bevor er seine Arbeit abschloss, wollte er noch einmal zu letzten Studien ins Tal der Finow aufbrechen. Von den Gründen, warum man es auch märkisches Wuppertal nannte, hatte sich Fontane bereits überzeugen können, waren sie doch auf ihrem Wege an dem Kupferhammer vorbeigekommen, mit anderen Worten: an rauchenden Schloten. Immerhin war das Finowtal das älteste Industrierevier Preußens; ob der Vergleich mit dem Tal der Wupper gerechtfertigt war, vermochte Fontane nicht zu sagen. Doch war er nicht wegen der Fabriken gekommen, auch wenn eine von ihnen sogar Papier herstellte, für einen Schriftsteller kein überflüssiger Stoff. Nein, er hatte seinen schon länger geplanten Aufsatz Von Sparren-Land und Sparren-Glocken im Hinterkopf, als er sich Menzel als Begleiter anbot. Und er hatte gehofft, der Glut der Großstadt zu entkommen. Schon jetzt verfluchte er seinen Entschluss.

Menzel blieb stehen.

»Gott im Himmel, mein lieber Fontane«, sagte er, »Sie schnaufen wie eine Lokomotive!«

»Ich fühle mich auch, als würde mein Leib mit glühenden Kohlen beschickt.«

Der Maler betrachtete sein Gegenüber durch die kleine Brille mit Metallrand. Wie zu den meisten Menschen musste er auch zu Fontane aufschauen.

»Ihre Präzision lässt nach, Meister des Wortes«, sagte er. »Seit wann beschickt man den Kessel einer Lokomotive mit glühender Kohle?«

»Wir hätten eine Droschke nehmen sollen.« Fontane wischte sich Schweiß aus den Augen.

»Eine Droschke? Firmieren Ihre geschätzten Aufsätze nicht unter Wanderungen?«

»Ja, ja. Wobei ich einräumen muss, dass ich manche Wege allein per Korrespondenz oder in der Bibliothek zurückgelegt habe. Lichterfelde ist nicht Paris, man muss es nicht gesehen haben.«

Menzels Augen wurden schmal. »Wollen Sie umkehren?«

»Oh, nein. Doch für den heutigen Tag genügt mir das Walzwerk als Ziel. Ist es noch weit?«

»Keinesfalls.« Der Maler legte seinen Ranzen ab, schnürte ihn auf und entnahm ihm einen vergilbten Plan. Kgl. Privilegierter Amts-Plan der Kur- und Badestadt Neustadt-Eberswalde stand darauf. Es gab hier nämlich nicht nur hohe Essen, sondern auch einen Gesundbrunnen, nicht nur eine Provinzial-Irrenheil- und Pflegeanstalt, sondern auch Badegäste. »Schauen Sie, der Treidelweg.« Menzel tippte mit dem Zeigefinger auf die Karte. »Nur noch wenige Schritte bis zur Drahthammerschleuse, und von dort ist es bloß ein Katzensprung.«

Fontane schaute. Und stieß einen Seufzer aus: Das Gehölz neben dem Weg hieß Hölle.

Da Menzel den Ranzen schon abgelegt hatte, biwakierten sie für eine Viertelstunde unter einem Strauch zwischen Treidelweg und Hölle. Fontane streckte sich im Gras aus und schob den Hut ins Gesicht, um für ein paar Minuten die Sonne nicht sehen zu müssen. Lange währte die Ruhe nicht. Er hörte Stimmengemurmel, und als er die Augen öffnete, erblickte er eine Gruppe von eleganten Menschen. Zwei Herren in lockeren Jacken, weiße Zylinder auf den Häuptern, begleiteten drei Frauen, die drei Generationen zu repräsentieren schienen. Sie trugen helle Sommerkleider und Strohhüte mit farbigen Bändern, und jede von ihnen schützte sich mit einem weißen Schirm gegen die Sonnenstrahlen. Als sie die ruhenden Wanderer sahen, nickten sie ihnen zu, während die Herren die Zylinder lüfteten. Fontane vermutete in ihnen Kurgäste, die sich das Walzwerk anschauen wollten, in dem man bereits in den Zwanzigerjahren begonnen hatte, Besichtigungen für Touristen anzubieten – zu einer Zeit, als das Wort Tourist gerade seinen Siegeszug durch die besseren Kreise Europas begonnen hatte. Irgendeine Sensationslust trieb die Menschen offenbar an, oder es war die Langeweile. Oder das Nomadentum aus der Zeit der Jäger und Sammler in jedermanns, auch in Fontanes Blut.

Die Gruppe entfernte sich. Menzel skizzierte sie, Fontane schloss noch einmal die Augen. Seine Gedanken schweiften nach Hause, nach Berlin, wo seine Frau Emilie mitten in den Reisevorbereitungen für die Sommerfrische in Schlesien steckte. Manchmal verbrachte sie viele Wochen bei ihrer Jugendfreundin Johanna Treutler, die den Besitzer eines Zuckerrübengutes in Neuhof bei Liegnitz geheiratet hatte. Die Kinder begleiteten sie, Sohn Theodor mit seinen achtzehn Lenzen allerdings nur nach langer Debatte, denn mit dem Abitur in der Tasche begab man sich für gewöhnlich auf die Grande Tour, jedenfalls wenn man von Familie war – und der Junior betonte stets, er sei schließlich adlig, da ein von Thane!

Fontane musste schmunzeln. Er hörte, wie Menzel seinen Tornister öffnete, sicher um seine Zeichenutensilien zu verstauen, dann vernahm er einen Schrei, der ihn auffahren ließ. Er kam aus Richtung der davonwandernden Gruppe, und als sich Fontane zu ihnen wandte, sah er einen Mann, der offenbar aus der Hölle auf die Damen und Herren zugesprungen war. Er tänzelte vor ihnen auf und ab. Die Frauen wichen zurück, die Männer versuchten, ihn mit ihren Gehstöcken zu verjagen. Der Mann, mit einem gestreiften Hemd, dunklen Hosen mit breiten Trägern und einem Strohhut bekleidet, lachte anscheinend, verbeugte sich linkisch und setzte seinen Weg fort. Er ging nicht, er sprang den Treidelweg entlang, und seine Gliedmaßen schleuderten immer wieder nach allen Seiten. Je näher er kam, desto deutlicher wurde, dass er unartikulierte Laute ausstieß. Doch schälten sich das eine und andere verständliche Wort, ja ganze Wortgruppen aus seinem Gestammel: »Bäh, bäh, widerlich … janz un’ jar … Bah, bah, bäh! Wi-der-lichst! Allerhöchst widerlichst!« Er kicherte und sprang wie das Rumpelstilzchen, nur eben nicht im Kreise. Der Strohhut bekam bei den Sprüngen eine immer gefährlichere Neigung, vom Kopf zu fallen, auch die Hosenträger waren verrutscht. Aus groben Schuhen, die Arbeitsschuhen von Fabrikarbeitern glichen, quollen wollene Socken, als wäre Winter.

Vor Menzel und Fontane baute er sich auf. Menzel zog schnell den soeben verstauten Zeichenblock und einen Stift aus dem Ranzen und warf ein paar Skizzen aufs Papier; der Mann versuchte, stillzustehen, was ihm kaum gelang. Sein Gesicht war verzerrt, seine Zähne mahlten unermüdlich Worte, und es war schwer zu sagen, ob er wirklich grinste oder ob nur sein Tic eine Art Grinsen hervorrief. Zwischen all den Lauten und Rufen, zwischen den vielen Bahs und Bähs waren nun aber auch zwei einigermaßen klare Sätze zu verstehen: »Lieb mir oder ick zerhack dir die Kommode!« und sogar ein überraschendes »Der Tor hat seine Schuldigkeit getan.«

Er zappelte und sprang, wiederholte das »Lieb mir oder ick zerhack dir die Kommode!«, während er sich davonmachte, der Stadt Neustadt-Eberswalde entgegen. Immer leiser klang es über den Treidelpfad, als der Mann längst hinter einer Biegung verschwunden war: »Lieb mir oder ick zerhack dir die Kommode!«

Fontane drehte sich halb zu Menzel um. »Was war denn das?«

»Vielleicht ein entsprungener Irrer?«

»Es hatte den Anschein …« Fontane erhob sich mühselig und klopfte Gehrock und Hosen ab. »Vermutlich aus Berlin.«

»Weil er berlinert?« Menzel schob Block und Stift zurück in

den Tornister. »Das könnte auch reinstes Eberswalder Kanaldeutsch gewesen sein, das dem Berliner Dialekt sehr ähnelt. Man könnte sogar sagen, es ist berlinerischer als das Berlinerische. Wie wäre es mit einer Kostprobe?«

»Ich weiß nicht.« Fontane hob ebenfalls seinen Reiserucksack vom Boden auf. Mücken umtanzten sein Haupt.

Menzel war nicht zu bremsen: »Ick sitz am Tisch und esse Klops. Uff eenmal klops. Ick kieke, staune, wundre mir – uff eenmal jeht se uff, die Tür. Nanu, denk ick, ick denk nanu, jetzt isse uff, erst war se zu. Ick jehe raus und kieke! Wer steht draußen? Icke!« Er lachte kurz auf, dann zückte er seine Uhr und ließ den Sprungdeckel aufschnappen. »Und nun kommen Sie, mein Lieber, mein Gemälde soll ja kein Nachtstück werden!«

Auf dem Treidelpfad näherten sie sich nun dem Gutsbezirk Eisenspalterei, und von der Drahthammerschleuse aus konnte man wieder Schlote sehen. Der Schleusenwärter hockte vor dem Schleusenhaus und betrachtete gleichmütig die beiden Wanderer, während er eine Limonade schlürfte. Sein Hund hatte sich zu seinen Füßen zusammengerollt und beachtete sie nicht. Fontane seufzte, während er dem forsch ausschreitenden Menzel folgte. Unter anderen Umständen hätte er sicher versucht, ein Gespräch mit dem Wärter zu führen und sich hernach ein paar Kostproben des Eberswalder Kanaldeutsch notiert, um sie als Fußnote in seine Wanderungen einfließen zu lassen; als Mann der Sprache war er neugierig auf Mundarten und sprachliche Raritäten. Die schwüle Hitze aber lähmte jeglichen Tatendrang, und selbst wenn es anders gewesen wäre, die plötzliche Eile des kleinen Professors verhinderte eine weitere Pause.

Fontane trottete ihm langsam hinterdrein, in Gedanken versunken. Rechter Hand erstreckte sich das Gelände einer kleinen Werkstätte, die von einem bescheidenen Schornstein überragt wurde.

»Was schleichen Sie denn so?«, fragte Menzel über die Schulter. Er verlangsamte seinen Schritt, blieb aber keinesfalls stehen.

»Ach, ich dachte nur …« Fontane schloss auf. Hinter dem Werkstattgelände war die Seitenfront eines Arbeiterwohnhauses zu sehen. »Das Berlinern gilt ja mehr als eine Eigenart der Unterschicht …«

»Und der Parvenüs«, fiel Menzel ein. »So manche Frau Kommerzienrat mit zweifelhaftem Herkommen mischt gern ick und icke mit je und moi – und findet sich gebildet. Worauf wollen Sie hinaus, Fontane?«

»Ich meine nur … das Kanaldeutsch der Hiesigen wird gewiss nicht von den besseren Ständen gesprochen. Kein Mensch, der auf sich hält, sagt ›Lieb mir oder ick zerhack dir die Kommode!‹ Das sagt, um in Ihrem Bild zu bleiben, nicht einmal der Geheime Kommerzienrat zu der Magd, die er sich als Geliebte hält. Es ist einfach zu vulgär!«

»Ad eins, mon cher: Es gibt ungeheuer viele vulgäre Kommerzienräte! Ad zwei: Ihre Herleitung ist verzwickt. Ich frage abermals: Worauf wollen Sie denn nun hinaus?«

»Ich sehe einen Widerspruch in den Worten des Irren. Auf der einen Seite das Gewöhnliche und Ungeschlachte, auf der anderen: ›Der Tor hat seine Schuldigkeit getan.‹ Diese Anspielung lässt doch schon auf eine gewisse Bildung schließen.«

»Mein Gott, Fontane!« Menzel beschleunigte wieder seine Schritte. »Der Mann ist ein Irrer! In seinem Kopf geht alles durcheinander, mischen sich Hohes und Niedriges. Aber lassen wir dieses Thema! Wir sind gleich da.«

Das war Fontane nicht entgangen. Der Lärm der Schmiedehämmer vom Gelände der Hüttenwerk Eisenspalterei AG war schon längere Zeit zu vernehmen, drang nun aber ungehindert durch die schmalen Fenster einer lang gestreckten Halle, die unmittelbar am Kanal stand. Ein dunkler, fetter Rauch entwand sich den hohen Essen, denen sie so nahe gekommen waren, dass Fontane den Kopf in den Nacken legen musste, um die Spitzen sehen zu können. Es war genau dieser Rauch, der in ihm das Gefühl auslöste, Fabriken seien irgendwie gefährlich – womöglich war das der Erinnerung an die Schwaden über den Schlachtfeldern geschuldet, die er als Kriegsberichterstatter visitiert hatte.

Wenige Meter vor ihnen querte eine hölzerne Klappbrücke den Wasserlauf, die nach Menzels Worten erst vor acht Jahren errichtet worden war. Jenseits dieser Brücke waren zwei Kähne zu sehen, die von Pferden gezogen wurden, und zwar in westlicher Richtung, also der Havel entgegen. Einer hatte Kartoffeln geladen, der andere Ziegel, und es war durchaus möglich, dass beides für Berlin bestimmt war, denn die Hauptstadt hatte immer großen Hunger, auf Nahrungsmittel und spätestens seit der Reichseinigung auch auf Baumaterial.

Sie betraten die Brücke, begaben sich auf das jenseitige Ufer.

Wenn Fontane nach rechts schaute, erblickte er die Werkhallen der Papierfabrik Wolfswinkel, auch sie seit mehr als hundert Jahren ein Markenzeichen des märkischen Wuppertal. Linker Hand lagen an der Straße die aus gelben Klinkern erbauten dreieckigen Giebelfronten der Eisenspalterei, deren auffälligster Schmuck treppenförmige Ziegelmuster waren. Die Straße hieß ausgerechnet Lichterfelder Straße und erinnerte ihn an den Grund seines Hierseins; er hatte sogar einen Brief an den Besitzer von Gut Lichterfelde, Johannes Karbe, geschrieben und seine Visite angekündigt, den Zeitpunkt jedoch im Ungefähren gelassen. Des übereilten Aufbruchs wegen hatte er keine Antwort erhalten. Fontane hielt kurz inne, drehte sich um, warf einen scheelen Blick in nördliche Richtung und verwarf den Gedanken, dem Werksbesuch noch einen Fußmarsch nach Lichterfelde anzuschließen – das dortige Schloss würde ihn auch noch an einem späteren, weniger heißen Tag erwarten.

Unter der Brücke glitt eine Schwanenfamilie durch, bestehend aus zwei Altvögeln und vier grauen Jungtieren, die in einem Märchen des Hans Christian Andersen hässliche Entlein genannt wurden. Dieser Andersen war nun im siebzigsten Jahr, und Fontane war nicht sicher, ob er überhaupt noch lebte. Vermutlich ja, denn er war in aller Welt bekannt, also würden die großen Blätter von seinem Ableben berichten.

Gleich hinter dem geöffneten Tor zum Hof der Hüttenwerke stand ein einspänniger Landauer. Auf der Rückbank lag eine weiß gekleidete Person – die jüngste der drei Frauen, in denen Fontane Badegäste gesehen hatte. Es herrschte eine enorme Aufregung rund um den Wagen: Die gouvernantenhafte Älteste hantierte mit einem Riechfläschchen, die mittlere wedelte der blassen Person mit dem Strohhut Luft zu, und auch die Herren bemühten sich, allerdings wirkten sie eher ratlos. Anscheinend war die junge Frau in Ohnmacht gefallen. Vielleicht der Hitze wegen.

Sie traten näher an das Werkstor heran. Auf dem gepflasterten Hof der Fabrik wimmelte es von Arbeitern, die in Gruppen zusammenstanden und teils zu der Werkhalle, teils auf einen Spritzenwagen starrten; als Fontane die Augen zusammenkniff, konnte er die Aufschrift lesen: Freiwillige Feuerwehr Neustadt-Ew., und darunter, viel kleiner: Im Einsatz fürs Gemeinwohl seit 1. Februar 1875. Sie war also eine recht neue Einrichtung.

Schon die Anwesenheit des Feuerwagens verhieß nichts Gutes. Es schlugen zwar keine Flammen aus den Fenstern und auch nicht aus dem Dach, dennoch konnte natürlich ein Feuer ausgebrochen sein, dass sich noch nicht ausgebreitet hatte und von den Feuerwehrleuten unter Kontrolle gebracht worden war – nur dass sich die Männer in blauer Uniform und mit metallenen Schutzhauben nicht in das Gebäude begaben, sondern einen Halbkreis um eine Trage gebildet hatten, die auf dem Pflaster stand. Neben ihr hockte ein Mann mittleren Alters, der Gehrock, Weste, weißes Hemd und Binder trug und eine Arzttasche abgestellt hatte; auf der Tasche lag sein Hut, den er wohl aus Gründen der Pietät abgelegt hatte. Gerade hob er das graue Tuch, das die Trage bedeckte und auf dem sich ein großer roter Fleck abzeichnete. Der Doktor zuckte zurück, durch die Arbeiterschaft ging ein Murmeln. Niemand wagte, die Stimme zu heben. Die junge Dame hatte also vermutlich nicht wegen der drückenden Temperatur einen Schwächeanfall erlitten.

Aus Richtung eines ebenfalls aus gelben Klinkern errichteten, aber eher villenartigen Gebäudes mit Erkern und Türmchen kam ein Mann in Anzug und Bowler, der ein Tablett mit Gläsern und einer beschlagenen Karaffe balancierte, genau auf den Landauer zu.

»Chefingenieur von Seyfarth«, erklärte Menzel. Seine Stimme klang dünn.

Der Arzt richtete sich langsam auf und schüttelte den Kopf. Ein Raunen ging durch die Menge.

Hinter den Feuerwehrleuten hatte bis jetzt ein unauffälliger kleiner Mann gestanden, dessen Anwesenheit Fontane erst gewahr wurde, als dieser sich auf den Weg zum Tor machte. Der Arzt hob seine Tasche auf und schloss sich ihm an. Als sie zwischen den Gruppen der Arbeiter hindurchgingen, erhob sich etwas wie Protest; manche hoben die Arme, ohne dass man ihre Geste als Drohgebärde bezeichnen konnte. Es lag eine gewisse Abwehr in ihr, gleichwohl auch Verzweiflung.

»Direktor Wittbrodt«, sagte Menzel. »Nun denn, vom Starren werden wir nicht klüger«, fügte er hinzu und trat näher. Fontane folgte.

Der Fabrikdirektor redete auf die Arbeiter ein, nickte und schüttelte den Kopf. Der Chefingenieur reichte den Damen und ihren Begleitern die Erfrischung. Ein Arbeiter rief: »Wir haben auch Durst!«, woraufhin sich von Seyfarth umdrehte und brüllte: »Aber Sie sind nicht ohnmächtig geworden!« Der Arbeiter war nicht auf dem Mund gefallen und erwiderte laut: »Ich sinke sofort in die Arme meiner Brüder!« Doch der Chefingenieur bot ihm Paroli: »Nun, sollte es geschehen, schöpfe ich höchsteigenhändig Kanalwasser.« Ein raues Gelächter ging durch die Belegschaft.

Fabrikdirektor Wittbrodt war anzusehen, dass ihn die Anwesenheit eines Malers an einem solchen Tag nicht gerade erfreute. Die kostenlose Reklame durch ein Gemälde war ihm nicht unwillkommen, aber nun hatte es einen Toten gegeben, und er wusste nicht mit Bestimmtheit, was Menzel in seinem Werk darstellen würde. Regelrecht sorgenvoll wurde seine Miene, als der Maler seinen Begleiter vorstellte – einen Schriftsteller, der für Zeitungen arbeitete, konnte er noch weniger gebrauchen.

Wittbrodt nahm seine Melone ab, zog ein weißes Tuch aus der Rocktasche, trocknete sich die Stirn, wischte auch die Kopfbedeckung aus, steckte das Tuch wieder ein und behielt den Hut in der Hand. Es sah aus, als wolle er Zeit gewinnen und müsse überlegen, womit er diesen Skribenten abspeisen könnte.

»Sie müssen sich keine Sorgen machen, Herr Direktor.« Menzel machte eine begütigende Geste. »Mein Freund Fontane hält sich aus den Niederungen des Alltags heraus. Allein aus seinen Wanderungen durch die Mark keltert er Artikel, und da sein wohlmeinendes Interesse gerade dem Finowtal gilt, begleitet er mich.«

»Die Industrie …?«, fragte Wittbrodt zerstreut.

»Oh, nein, die Sparrs. Insbesondere der erste preußische Generalfeldmarschall Otto Christoph von Sparr, nicht wahr?«, entgegnete Menzel. »Und die Sparren-Dörfer wie Heckelberg, Lichterfelde …«

»Hohenfinow, Tornow, Sommerfelde«, fügte Fontane eilig hinzu. »Aber eigentlich will ich Gut Lichterfelde besuchen.«

»Ja, so …« Ganz war das Misstrauen des Direktors nicht gewichen. »Sparr? Man hörte davon. Muss lange her sein? Hohenfinow, Tornow und Sommerfelde gehören heute zum Gut unseres hochverehrten neuen Landrats, des Herrn Bethmann Hollweg. Er steht dem Kronprinzen nahe, der übrigens mehrfach auf Hohenfinow weilte, zur Jagd.« Ein kurzes Räuspern, dann wies Wittbrodt zu der Villa. Von hier war zu sehen, dass neben dem Eingang ein weißes Emailleschild mit der Aufschrift Contor & Directions=Bureau angebracht war. »Ich denke, wir haben alle einen Schluck bitter nötig. Bitte, die Herren, folgen Sie mir.«

Fontane war sicher, dass Wittbrodt sie aus der Nähe des Toten haben wollte. Er verstand, dass der Mann keine Presse gebrauchen konnte, aber er würde kaum verhindern können, dass der Unfall in eine Gazette kam, wenigstens in den örtlichen Märkischen Stadt- und Landboten oder in das Oberbarnimer Kreisblatt, womöglich aber auch in eine Zeitung der Sozialisten, denen ein Arbeitsunfall durchaus Anlass sein mochte, die gesellschaftlichen Verhältnisse anzuprangern.

»Was ist denn nun eigentlich passiert?«, wollte Menzel wissen.

»Ein schrecklicher Unfall. Wir alle sind erschüttert.« Wittbrodt schob sich durch die Arbeiter, Menzel und Fontane folgten ihm. Ein junger Mensch mit Schirmmütze rief: »Unser Maler!«, ein noch jüngerer: »Heut jibt’s nischt zu schmieren!« Worauf sich Menzel ärgerlich umdrehte und zurückrief: »Jeder macht seine Arbeit, und jede Arbeit macht Ehre!«

»Ja, aber das Malen bringt nicht um!«, hieß es daraufhin von dem mit der Schirmmütze.

In seinem holzgetäfelten Bureau ließ Direktor Wittbrodt Cognac bringen, dann setzte er sich erschöpft in seinen Schreibtischsessel. Menzel und Fontane wurden genötigt, an einem langen Tisch Platz zu nehmen. Ein besonderer Schmuck des Zimmers waren die photographischen Aufnahmen an den Wänden, die ausnahmslos etwas mit dem Hüttenwerk zu tun hatten: Man sah sowohl die Gebäude als auch zwei Aufnahmen aus der Werkhalle, auf denen der Direktor und der Chefingenieur inmitten der Arbeiter posierten, die wiederum so taten, als schmiedeten sie gerade ein großes Werkstück. Die Photographien umgaben einen kolorierten Stich, der nach Blechens berühmtem Gemälde angefertigt worden war, wie die Bildunterschrift verkündete. Fontane, der den Maler in der Grafschaft Ruppin erwähnt hatte, musste feststellen, dass das Bild einen Bau darstellte, den man auch heute noch, fünfundvierzig Jahre später, sehen konnte.

Wittbrodt hatte seinen Cognac hinuntergestürzt und schüttelte betrübt den Kopf, als der Chefingenieur eintrat. In seiner Begleitung befand sich ein hochgewachsener, kräftig wirkender Mann mit einem außerordentlichen Schnurrbart. Er trug einen dunkelgrünen Waffenrock mit roten Verstößen, einen runden Stehkragen mit Unteroffizierstresse sowie den Adler-Kragenknopf der Sergeanten und war somit als Wachtmeister der Preußischen Landgendarmerie zu erkennen. Als solcher stellte er sich auch vor: »Wachtmeister Schreiber.« Er ließ die Hacken knallen. »Habe die Ehre, Herr Direktor!« Ein militärisch knappes Nicken. »Meine Herren!«

»Ja, Herr Wachtmeister …« Wittbrodt nickte zerstreut. »Sie müssen wohl … Ihre Pflicht … Wenn ich bitten darf.«

Schreiber lehnte den ihm angebotenen Platz höflich ab und blieb stehen. Er zog ein Notizbüchlein aus der Brusttasche sowie einen kurzen Bleistift, den er mit der Zunge anfeuchtete. »Wenn die Herren mir eine kurze Schilderung der Ereignisse offerieren könnten?«

»Ja, bitte.« Wittbrodt deutete auf Seyfarth. »Unser Chefingenieur wird Ihnen Rede und Antwort stehen.«

»Es handelt sich um Arnold Köster, einen Arbeiter von vielleicht fünfundzwanzig Jahren«, sagte von Seyfarth. »Das Einzige, was ich zu sagen weiß, ist, dass er irgendwie in einen der großen Transmissionsriemen geraten sein muss … und zerquetscht wurde … zu Tode gequetscht …« Er schüttelte den Kopf. »Scheußlich!«

»Sie sagen es.« Schreiber notierte. »Zeugen?«

»Äh, wie meinen?«

»Gibt es Zeugen des Unfalls?«

Seyfarth wechselte einen raschen Blick mit dem Direktor.

»Darum habe ich mich noch nicht gekümmert. Aber natürlich muss es welche geben: die Arbeiter, die mich gerufen haben. Der Vorarbeiter, der die Maschine ausstellen ließ. Sie müssen gesehen haben …« Er brach ab und schaute zum angelehnten Fenster. Von draußen drangen die Debatten der Arbeiter herein, die kaum zu verstehen waren – bis auf einzelne Worte: »Die da oben … Arbeitsbedingungen … die Partei … Ach, geh mir doch …«

»Hat der arme Teufel Angehörige?«, fragte Schreiber.

»Tja …« Wittbrodt goss sich noch einmal ein und schaute verzweifelt zu seinem Ingenieur.

»Ich weiß nicht, aber das lässt sich herausfinden.« Von Seyfarth verließ den Raum. Wittbrodt starrte mit zusammengekniffenen Augen auf Fontane und Menzel, deren Anwesenheit ihm immer weniger zu behagen schien.

Der Wachtmeister fragte: »Kommen solche Unfälle häufiger vor?«

»Überhaupt nicht!« Wittbrodt hob energisch den Kopf.

»Die Arbeit in einem Walzwerk ist nicht ungefährlich, und es hat schon Quetschungen, Knochenbrüche und Verbrennungen gegeben – so etwas bleibt nicht aus. Aber noch nie, jedenfalls nicht zu meiner Zeit, ist ein Arbeiter in einen Transmissionsriemen geraten. Ich kann mir nicht erklären, wie dergleichen geschehen sein soll.«

Den Arzt im Gefolge, den er als Dr. Birnbaum vorstellte, kehrte Seyfarth zurück. Auch Birnbaum bekam einen Cognac. Er setzte sich und seufzte.

»So schlimm?«, wollte Wittbrodt wissen.

Der Doktor nickte. »Gut, dass die Damen ihn nicht gesehen haben. Nur seine Konturen unter dem blutigen Tuch.«

»Wo sind die Herrschaften jetzt?«

»Ich habe mir erlaubt, einen Ihrer Lehrjungen um eine Droschke nach Neustadt zu schicken. Aber nachdem er losgelaufen war, machte der Vorarbeiter … Mädewein, wenn ich nicht irre?«

»Gotthelf Mädewein«, bestätigte Seyfarth.

»Er schlug vor, doch ein Gespann des Walzwerkes zu nehmen, damit man insonderheit die Damen schnell nach Neustadt schaffen könne. Er selbst spannte an und brachte die Badegäste zu ihrem Hotel.«

»Ich müsste aber mit ihm sprechen«, bemerkte Wachtmeister Schneider.

»Das können Sie doch auch. Ich schätze, er wird in einer halben Stunde zurück sein.« Dr. Birnbaum leerte sein Glas in einem Zuge, was einen Ausdruck von Missfallen auf Wittbrodts Miene erscheinen ließ, immerhin war ein Cognac kein Kartoffelschnaps.

»Was Kösters Angehörige betrifft, weiß man nur von einer …«

Seyfarth hüstelte. »Er lebt wohl in wilder Ehe mit einem Dienstmädchen von Gut Lichterfelde und soll sogar ein Kind mit ihr haben. Wie es heißt, wollten sie im Herbst heiraten.«

Wittbrodt zuckte mit den Schultern. »Nun ja, die unteren Klassen … Sie nehmen es nicht so genau mit der Moral. Lichterfelde, sagen Sie?« Er kniff die Augen zusammen und warf Fontane einen Blick zu. »Wird man die Kindsmutter verständigen müssen? Ich meine, sie sind ja nicht verwandt.« Seyfarth sagte: »Aber der Anstand gebietet …«

»Ja, ja.« Wittbrodt hatte noch immer Fontane im Visier. »Es ist eine delikate Angelegenheit, eine Aufgabe, die Fingerspitzengefühl verlangt. Da Sie doch ohnehin nach Lichterfelde wollen … Würden Sie?«

»Ich?« Fontane fühlte sich düpiert. »Warum ich?«

»Weil Sie als Schriftsteller … und auch der Herr Menzel als Maler natürlich … weil sie die notwendige Sensibilität aufbringen, mehr Sensibilität als wir Männer der Technik, die noch dazu einem Walzwerk vorstehen, wo es laut zugeht und schmutzig ist …« Wittbrodt nestelte eine Geldbörse aus der Weste, öffnete sie und schaute hinein. Nach kurzem Zögern nahm er eine Münze heraus, fünf Goldmark, und reichte sie Fontane. »Für Mutter und Kind … zur Überbrückung. Bis die polizeiliche Untersuchung abgeschlossen ist. Wir zahlen dann auch noch ausstehenden Lohn, selbstredend … Werden die Untersuchungen lange in Anspruch nehmen, Wachtmeister?«

Schreiber fühlte sich überrumpelt und stutzte kurz, bevor er antwortete: »Das kann ich nicht sagen.«

»Aber die Sachlage ist eindeutig.« Wittbrodt erhob sich und drückte erst Fontane, dann Menzel die Hand. »Verbindlichsten Dank.«

Fontane und Menzel konnten die Pferdedroschke benutzen, die der Lehrling gerufen hatte, sehr zur Freude des Kutschers, der nun nicht umsonst gekommen war. Er ließ die Peitsche knallen, und es ging auf der Lichterfelder Straße nach Norden.

»Da hat man ja eine elegante Form gefunden, uns vom Schlachtfeld zu expedieren«, meinte Fontane.

»Die Rolle eines Boten schlechter Nachrichten missfällt mir«, sagte Menzel. »Ich wollte ein paar abschließende Zeichnungen vom Walzwerk machen und keine Landpartie unternehmen … Ist dieses Lichterfelde wenigstens sehenswert?«

»Oh, ja«, mischte sich der Kutscher ein. In den märkischen Badestädten waren die Fuhrleute oft auch zugleich Fremdenführer, zumindest maßten sie sich das an. »Es gibt das Schloss und den Schlosspark, die alte Kirche und das Familiengrab der Karbes auf dem Kirchhof. Der Oberamtmann Karbe zu Gramzow hat das Rittergut seinerzeit erworben.«

Sie hatten inzwischen das Tal der Schlote verlassen und fuhren durch eine vom Ackerbau geprägte Landschaft. Am Rand der unbefestigten Straße wuchsen Apfel- und Kirschbäume, und es war so heiß, dass sogar die Lerchen verstummten.

»Eine Karbe hat es doch als Dichterin zu einigem Ansehen gebracht?«

»Ja, Anna Karbe.« Der Kutscher musste die Peitsche heben, da seine Pferde den Schritt verlangsamt hatten. »Das ist eine traurige Geschichte.« Der Kutscher schnaufte. »Mit sieben Jahren ist sie so schwer gestürzt und hat sich unheilbar am Rückgrat verletzt, dass sie sich manchmal kaum bewegen konnte. Vor zwei Jahren hat sie dann in Freienwalde ihren Cousin geheiratet, den Lichterfelder Gutsherrn, und ein Töchterchen geboren, aber das lebte wohl nur zwei Wochen. Tja, und dieses Jahr im April ist sie selbst gestorben, keine zweiundzwanzig Jahre alt.« Erneutes Schnaufen fürs zahlende Publikum.

»Kennen Sie ihre Gedichte?«, fragte Fontane.

»Wie werde ich? Ich kann nicht lesen.«

»Wie sind sie denn?«, wollte Menzel wissen.

»Tja, ich kenne sie auch nicht«, bekannte Fontane. »Ich weiß nur, dass sie selbst von Küchenliedern gesprochen hat, was einiges über ihre Qualität aussagt … Ja, und Philipp Wackernagel hat ein paar Werke in die sechste Auflage seiner Auswahl deutscher Gedichte aufgenommen.«

Es war kein weiter Weg von Eberswalde-Eisenspalterei nach Lichterfelde, aber er reichte doch, Chauffeur, Fahrgäste und Pferde über und über mit feinem Staub zu bedecken, und so waren sie froh, als sie den Lichterfelder Kirchturm aus dem Korn ragen sahen, das entgegen seiner poetischen Bestimmung nicht wogte.

Menzel hatte einen Skizzenblock auf den Knien und zeichnete, was sich ihm darbot. Jetzt hielt er ein alltägliches dörfliches Ambiente fest. Das erinnerte Fontane an etwas. »Wie konnten Sie vorhin nur behaupten, dass ich mich aus den Niederungen des Alltags heraushalte? Sie wissen doch genau, dass ich allem, was um mich herum geschieht, höchst zugewandt bin!«

»Reine Vorsicht.« Menzel schob den Block in seinen Ranzen, denn das Dorf war erreicht. »Ich habe es nur getan, damit Direktor Wittbrodt nicht fürchtet, über den Unfall übermorgen in der Kreuzzeitung oder der Vossischen zu lesen. Ohne sein Einverständnis kann ich keine letzten Skizzen mehr machen, vous comprenez?«

»Oui«, entgegnete Fontane und sah den Kutscher stolz lächeln ob seiner gebildeten Kundschaft.

Das Herrenhaus von Lichterfelde war ein Werk der Sparrs. Fontane hatte sich natürlich belesen und wusste, dass die Brüder Arendt und Christoph im Jahr des Herrn 1565 den Baumeister Francesco Chiaramella de Gandino mit Entwurf und Ausführung beauftragt hatten, jenen Italiener, der auch die Festung Spandau begonnen hatte.

Als sie sich, verschwitzt und verstaubt, dem Schloss näherten, setzte Fontane die Geschichte seinem Freund Menzel auseinander.

Der nickte, während er die große Feldsteinkirche betrachtete, hinter der das Gutshaus hervorlugte. Dann aber sagte er: »Sie sprechen immer von den Sparrs und dem Sparren-Land, mein lieber Fontane. Mir will scheinen, dass ein späterer Besitzer des Rittergutes sich den Hiesigen viel stärker eingeprägt hat, nennt man das Eberswalder Urstromtal mit der Finow und den Hauptorten Neustadt und Heegermühle doch im Volksmund Splitgerbers Reich – und nicht etwa Sparren-Reich!«