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Für meine Schwester Mareike

Dafür, dass Du mich bis an Dein Lebensende bei Dir aufnehmen würdest, ich bei Stürmen bei Dir im Bett schlafen durfte und Du mir noch in jede Klinik Bananenmilch geschmuggelt hast.

Ich musste durch Scham. / Jag måste genom skam.

Ich musste durch Träume. / Jag måste genom drömmar.

Vielleicht musste ich erst einige Male sterben, um zu leben. / Kanske måste jag dö några gånger, innan jag kann leva.

(Nach Håkan Hellström)

1. Kapitel

Siebenmal hinfallen, achtmal aufstehen. Es ist nur ein Gewitter an einem ansonsten sonnigen Tag.

Zugegeben, in manchen Situationen kann ich meine eigenen Kalendersprüche kaum ertragen. Vor allem dann nicht, wenn ich auf einer Bare hilflos ausgeliefert durch die Krankenhäuser dieser Welt geschaukelt oder mit Blaulicht in das nächstliegende Krankenhaus verfrachtet werde und verzweifelt versuche, meinen Gedanken Ausdruck zu verleihen. Doch irgendwo zwischen Sprachzentrum und Mund herrscht ein Wackelkontakt, der mir das Sprechen verweigert.

»Sa-a I-scho«, höre ich verwirrte Vokale meinen Mund verlassen, während die Trage unsanft gegen eine Kante stößt. Verflucht. Buchstabenchaos im Kopf. »Wissen Sie, wie Sie heißen?«, wiederholt eine Männerstimme lautstark und überzogen deutlich. Zugegeben, meinem Notfallausweis, den sie inzwischen gefunden haben werden, ist eine gewisse Hilfebedürftigkeit zu entnehmen. Aber meine Ohren sind vollkommen in Ordnung und davon, schwer von Begriff zu sein, bin ich ebenfalls noch eine ganze Ecke entfernt. Ich kann es vielleicht nicht von allzu vielen Körperteilen behaupten, aber eins weiß ich ganz bestimmt: Meine Ohren, die sind superklasse. Allzu gern sitze ich zu Hause auf meinem Badewannenrand, rauche eine heimliche Zigarette als Hommage an meine persönliche Filmheldin Margot Tenenbaum und lausche durch die Wand hindurch gespannt den Telefongesprächen meines Nachbarn Tobi, den sein Schürzenjäger-Dasein wieder und wieder in allerlei Kalamitäten stürzt. Ich wohne dort schon bald zwei Jahre und doch konnte ich bei dem armen Kerl keinerlei Lernprozess in Liebesangelegenheiten feststellen. Mich soll es nicht weiter stören. Zum einen ist es eine unterhaltsame Ablenkung zu meinem eigenen Liebesleben, das, sagen wir es einmal nordisch nobel, in eine Art ausweglos erscheinende Flaute geraten ist. Zum anderen dient es meinen inoffiziellen Sozialstudien, einem Hobby, dem ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit genüsslich fröne.

Die lautstarken Klänge hallen in meinem Gehirn noch immer von einer Schädelwand zur anderen. Wenn ich könnte, würde ich meine Hände an die Ohren pressen und den armen Mann anbrüllen, dass ich ihn durchaus verstanden habe, mein Gehirn derzeit nur aufgrund eines Resets und daraus resultierender Wartungsarbeiten etwas länger braucht, um die Frage zu verarbeiten und schließlich die Buchstaben für eine Antwort zusammenzukramen. Ich atme tief durch. Konzentriere dich, Sarah, du schaffst es und ganz bestimmt darfst du dann einfach schlafen. Inzwischen scheint eine gefühlte Ewigkeit vergangen, dennoch kneife ich mein Gehirn zusammen und unter größter Kraftanstrengung höre ich mich noch einmal ein »Saha Ischo« herauspressen. Nicht schlecht. Nur drei Buchstaben sind auf ihrem langen Weg von der Idee im Sprachzentrum bis zur Lautäußerung im Mundraum verloren gegangen. Und dass ich das H vom Ende meines Vornamens in die Mitte versetzt habe, um zumindest zwei Silben bilden zu können, zählt ja wohl nicht. Das F als Endlaut meines Nachnamens wurde aufgrund des Ermüdungsgrades meines Kopfes gewissermaßen hintenraus wegrationalisiert und das B ist mir momentan einfach zu anstrengend. Lippen zusammenpressen ist einfach nicht drin. Zuletzt lenke ich meine Gedanken auf das R. Nach großen Anfällen ist es ein wahrer Rabauke. Es wird am längsten verschwunden sein. Häufig dauert es bis zum nächsten Tag, bis der Artikulationsprozess es wieder gekonnt ausspucken kann. Aber vielleicht versteckt es sich heute nur für einige Stunden. Hoffentlich. Sarah Bischof. So heiße ich. Und ich habe Epilepsie. Oder »E-i-le-ie«, wie ich es gerade ausdrücken würde.

Ich muss in einen tiefen Schlaf gefallen sein. Als ich wieder zu mir komme, habe ich nicht den Funken einer Vorstellung, wie viel Zeit vergangen ist. Ich muss nicht die Augen öffnen, um zu wissen, wo ich bin. Das monotone Piepen ist zu einem jener vertrauten Geräusche geworden, die einem zum Beispiel auch im Elternhaus begegnen. Die Art und Weise, wie die alten Wände knarzen, Mamas bedächtige Schritte auf der Treppe zu unseren Kinderzimmern, die Kombination des abendlichen Abwaschs mit Papas leisem Gesang alter Bob-Dylan- oder Mark-­Knopfler-Lieder, die von einer tiefen inneren Ruhe und Zufriedenheit zeugen, oder auch die Schwalben vor meinem Fenster, die mir Morgen und Abend verkünden. Bei diesen Geräuschen scheint die Zeit stehen zu bleiben. Von frühester Kindheit an bis heute umhüllt mich derselbe Mantel wohliger Geborgenheit und ich verspüre ein tiefes Heimatgefühl.

Ich versuche mich innerlich zu sammeln und die letzten Stunden zu rekapitulieren. Hunderunde – Frühstück – E-Mails – Telefon – Maja – übersetzen – Mittagspause – einkaufen – Cut. Streng dich an, Sarah. War es im Supermarkt? Auf der Straße? Panik überkommt mich. Habe ich eingenässt? Wer hat mich gefunden? Habe ich den Menschen Angst gemacht? Wo ist meine Handtasche? Müssen Einkäufe in den Kühlschrank? Und dann schnürt sich mein Herz zusammen. Maja, meine kleine Maja! Hatte ich sie dabei? Wartet sie vielleicht immer noch angebunden vor dem Supermarkt? Hat sie jemand mitgenommen? Ruhig – ganz ruhig. Es wird alles gut sein. Es muss alles gut sein. Die grellen Krankenhauslichter blenden mich durch die geschlossenen Augen hindurch und der Sauerstoffschlauch kitzelt in meiner Nase. Ich greife ortskundig nach der wohlbekannten Klingel und hole noch einmal tief Luft, ehe ich drücke. Schließlich weiß ich, dass ich den ganzen Rattenschwanz, den so ein Anfall mit sich bringt, damit in Bewegung setze. Dennoch, ich brauche Gewissheit, wo Maja ist.

Kurze Zeit später höre ich Schwesternpuschen geradlinig über den Krankenhausflur schleichen und unter ihnen das Linoleum gelegentlich aufschluchzen, ehe sie vor meiner Tür zum Stehen kommen. Die Tür öffnet sich schwungvoll und prallt mit einem leichten Knall gegen ihren Stopper vor der Zimmerwand. Ich zucke zusammen.

»Frau Bischof, wie schön, dass Sie wieder bei uns sind. Wie geht es uns denn?«, fragt eine energische Krankenschwester in den Fünfzigern. Mit ihrem stämmigen Körperbau, dem burschikosen Kurzhaarschnitt und dem forschen Befehlston ist sie alles andere als das, was mein Nachbar Tobi schätzungsweise mit einer Krankenschwester assoziiert, doch mir soll es gleich sein, ich habe eh nur ein Ziel: dieses Krankenhaus so schnell wie möglich in Richtung heimische Wohnung zu verlassen. »Gas gu geh es«, murmele ich voller Hoffnung, dass sie meinen Wortbrei übersetzen kann. Während die Schwester Pupillen, Puls, Blutdruck und Konsorten überprüft, erschlägt sie mich mit den üblichen Fragen – brav dem Klischeeprotokoll folgend in der ersten Person Plural – und ebenso unüberhörbar und betont deutlich wie die vorangegangene Männerstimme:

»Frau Bischof, wissen wir denn, was passiert ist?«

»Haben wir uns irgendwo wehgetan?«

»Sollen wir mal etwas trinken?«

»Können wir uns schon allein aufrichten?«

Meine kapitulierenden »Hms« wähle ich aufgrund körperlichen und geistigen Ausgeliefertseins trotz des inneren Bedürfnisses nach sarkastischen Antworten. Für mühevolles Aufrichten und einige Schlucke Wasser werde ich mit einem teilnahmslosen »Ganz, ganz toll machen Sie das, na sehen Sie, so schlimm ist es doch gar nicht!« entlohnt und fühle mich wie ein Welpe, der heute mal nicht auf den Teppich gepinkelt hat. Könnte sie mich bitte noch ein klein wenig tätscheln? Gott sei Dank lenken Geräusche an der Tür die Krankenschwester – Kategorie launischer Drache – von meiner zunehmend grimmigeren Miene ab. Die Klinke wird diesmal sehr bedacht heruntergedrückt und ein schmächtiger, gazellenartiger Arzt betritt beinahe lautlos den Raum. Wie Schatten folgt ihm eine beachtliche Zahl junger, wissbegieriger Assistenzärzte und Studenten, die sich geübt um mein Bett drapieren und entweder gelehrig, teilnahmslos, mitleidig, wichtigtuerisch oder den Arzt anhimmelnd dreinschauen. Zu gern wäre ich in der Lage, mich etwas mehr aufzurichten, um nachzuschauen, ob der lautlose Doktor wohl Mokassins trägt. Mit seinem lakonisch-fragilen Stimmchen befragt er mich, eine vertraute Routine überkommt mich. Ob dies schon öfter passiert sei, ob ich in Behandlung sei, ob die motorischen wie sprachlichen Folgestörungen bekannt seien usw. Natürlich kann er dies alles in meiner stattlichen Krankenhausakte nachlesen, doch das wäre zu einfach. Schließlich haben es einige Neurologen so an sich, dass sie sich selbst für den hellsten Stern am Ärztehimmel halten und glauben, dass in ihrem brillanten Hirn der Schlüssel zu meiner Anfallsfreiheit verborgen sei. Selbstverständlich ist dieses Engagement in gewisser Weise auch löblich, dennoch stellt das Überhäuftwerden mit Fragen in einem noch relativ unmittelbaren Postanfallsmoment für mich eine reine Folter dar. Jeder Satz – so ein Unfug: jedes einzelne Wort und jeder Buchstabe stellen eine enorme Arbeit für mich dar und treiben mir die Tränen ins Gesicht, schreit mein Körper doch nur nach Ruhe und Schlaf und zwar zu Hause, in meinem vertrauten Bett und nach Möglichkeit mit meiner vertrauten kleinen Hundedame Maja an meiner Seite. Maja, die einen in gewohnter Manier kritisch betrachtet, tief seufzt und sich dann extra fest an einen drückt, als wolle sie sagen: Alles wird gut.

Alles in allem bin ich nach zehn Jahren Erfahrung mit dieser Krankheit doch gewissermaßen ernüchtert, was meine Hoffnung angesichts der immer gleichen Untersuchungen durch immer wieder neue Ärzte betrifft, und ein unfreiwilliger Krankenhausbesuch infolge eines Anfalls in der Öffentlichkeit bedeutet für mich in erster Linie einen Routineablauf, der an Und täglich grüßt das Murmeltier erinnert und den ich so schnell wie möglich beendet wissen möchte. Während die Gazelle spröde über den weiteren Ablauf und Therapieoptionen monologisiert, denen ich alarmiert Wortfetzen wie »Im Laufe der Woche« oder »Langzeituntersuchung« entnehme, suche ich in meinem Kopf nach den richtigen Buchstaben und versuche diese festzuhalten, um so Wörter zu basteln, mit denen ich mein Anliegen mitteilen kann. Doch die Gazelle ist in dieser Einrichtung von enormer Wichtigkeit und stets auf dem Sprung und ehe nur das kleinste Wort meinen Mund verlässt, eilt sie wieder wortlos aus dem Raum, der Schwarm eifrig folgend, mir noch den ein oder anderen aufmunternden Blick zuwerfend. »Macht euch keine Sorgen, Kinder, ich bin das gewöhnt und komme schon klar, Ehrenwort!«, möchte ich ihnen zurufen. Also wirklich, die Studenten hat es doch viel schlimmer als mich getroffen. Ich bin bald wieder zu Hause, doch sie müssen weiter Tag um Tag den selbstverliebten Monologen der überirdischen Gazelle lauschen.

Da sich kein Holz in Reichweite befindet, klopfe ich dreimal auf meinen Kopf und klingle erneut nach einer Schwester. Mein Holzkopf trägt Früchte. Anstelle des Dragonerweibes betritt eine junge Kollegin – Kategorie freundliche Verbündete – meinen Raum. Nachdem ich ihr gestisch zu verstehen gegeben habe, dass ich nur sehr schwer und wenig sprechen kann, frage ich sie, ob jemand versucht hat, meinen Notfallkontakt Lena zu erreichen. Sie hört geduldig zu, bis ich wenigstens annähernd die Buchstaben zusammengesammelt und in einigermaßen verständliche Worte verpackt habe, und verspricht, sich unverzüglich darum zu kümmern und Lena überdies nach meinem Hund zu fragen. Während sie sich aufmacht, betrachte ich die gekachelte Decke, und noch bevor ich anfangen kann, zur Beruhigung Kacheln zu zählen, bin ich wieder ins Traumland entschwunden.

»Na, mein Zappelinchen«, befördert mich Lenas vertraute Stimme wieder in die Wirklichkeit. Ich lächle sie an, unfähig auszudrücken, wie unvorstellbar dankbar ich bin, dass sie da ist. Noch bevor ich etwas fragen kann, sagt sie: »Maja ist bei deinem Nachbarn. Der ist übrigens ziemlich heiß. Das hast du mir nie erzählt, du Schweinebacke. Jetzt wollen wir dich mal nach Hause holen, was?«

Zunächst müssen wir einer äußerst enttäuschten Gazelle mitteilen, dass ich nicht für weitere Untersuchungen bleiben werde, sondern mich auf eigene Verantwortung gewissermaßen selbst entlasse. Einen Termin in der Epilepsie-Ambulanz lehne ich ebenfalls dankend ab. Als Privatpatientin ist man bei Ärzten begehrter als die letzte Cola in der Wüste, doch ich bin seit mittlerweile vier Jahren bei einer niedergelassenen Neurologin, die ich nicht nur ob ihres trockenen Humors sehr zu schätzen weiß. Also gilt es, die Entlassungspapiere zu unterschreiben, ein paar Schmerzmittel und Tabletten zur Muskelentspannung bei weiteren Krämpfen einzusacken und sich von Lena im Rollstuhl Richtung Ausgang schieben zu lassen.

»Grundgütiger, du hast keine Ahnung, was gestern passiert ist«, sprudelt es unbehelligt aus ihr heraus, sobald wir außer Hörweite der Dragonerschwester sind, die ebenso wie Artgenossen gleicher Kategorie auf alle Menschen eine einschüchternde Wirkung hat, selbst auf die toughe Lena. »Ich habe mir doch neulich mit meinem Exfreund Jan geschrieben. Der ist tatsächlich von seinem Selbstfindungstrip runter und wir haben uns gestern Abend getroffen.« Und sie berichtet mir, wie sie sich als ehemalige Liebende erst heftig stritten, sich dann geistig und unter zunehmendem Einfluss unserer einzigen Droge, Rotwein, schließlich auch körperlich näherkamen, bis sie sich wie in ihren innigsten Zeiten im Bett suhlten. Dafür liebe ich Lena. Sie akzeptiert meine Epilepsie und alles, was diese so mit sich bringt, als ganz normalen Bestandteil meines Lebens und unserer Freundschaft und anstatt ein großes Gewese um derartige Zwischenfälle zu machen, weiß sie diese geschickt in unseren Alltag einzubinden. Und zu unserem Alltag gehören eben auch Männergeschichten.

Auf dem Weg nach Hause komme ich dazu, sie zu fragen, ob sie wisse, wo mein Anfall passiert und wie Maja zu Tobi gekommen sei. Sie hat keine Ahnung, verspricht aber völlig uneigennützig, unmittelbar nach unserer Ankunft ausführlich Tobi darüber zu befragen: »Vielleicht sollte ich mir mal seine Nummer geben lassen. Nur falls was ist. Immerhin wohnt er direkt neben dir.« Ich lache und sehe aus den Augenwinkeln, wie Lena selbstzufrieden in sich hineinlächelt, vor lauter Begeisterung über diesen Plan, den sie soeben ausgeheckt hat.

Ich kenne Lena seit dem Kindergarten. Wir sind beide im südschwedischen Lomma, einem kleinen Vorort von Malmö, aufgewachsen und haben gemeinsam den deutsch-schwedischen Kindergarten besucht. Mit deutschen Vätern und schwedischen Müttern ausgestattet, spürten wie früh eine innere Verbundenheit, die ich sonst nur mit meiner großen Schwester Mathilda teile. Im Alter von 13 Jahren zog Lenas Familie nach München und unser Kontakt erlitt in den Teenagerjahren altersbedingte Turbulenzen. Nach meinem Abitur an einer internationalen Schule besuchten wir uns gegenseitig und die magische innere Verbundenheit war innerhalb kürzester Zeit ohne großes Zutun wiederhergestellt. Ich glaube, so entstehen Freundschaften, die eine Lebenszeit überdauern können. Inzwischen habe ich gelernt, dass wahre Freundschaften weniger darauf beruhen, dass man denselben Weg einschlägt, sondern vielmehr darauf, dass man jederzeit unterschiedliche Abzweigungen nehmen kann, ohne dass sich an der Freundschaft etwas ändert. Irgendwann kreuzen sich die Wege wie im Falle von Lena und mir erneut und wie zwei Landstreicher wandert man wieder gemeinsam, nebeneinander, miteinander. Und vor allem bedingungslos. Doch ich weiß, falls bei Lena und mir ein weiterer Abschied ansteht, können wir immer auf ein sicheres Wiedersehen vertrauen.

Kurz nach dem Wiederaufkeimen unserer Freundschaft vor zehn Jahren folgten meine ersten Anfälle und nach ungewissen Monaten mit vielen Arztbesuchen, Krankenhausaufenthalten und großer Verzweiflung stand die Diagnose Epilepsie fest, welche Lena und mich im Gegensatz zu vielen anderen Freundschaften nur enger zusammenführte. Während ich mich die ersten Jahre mit der Epilepsie nicht traute, die behütete Scholle meiner Heimat und vor allem die Nähe zu meinen Eltern zu verlassen, fand ich vor fünf Jahren endlich den Mut, mich zu lösen, und zog zum Hauptstudium an die Isar. Bis ich eine eigene Wohnung fand, teilten wir uns sogar Lenas Einzimmerwohnung und fühlten uns wie in unserer Kindheit, wenn wir eng aneinandergekuschelt beieinander übernachteten und die von unseren Eltern angebotenen Luftmatratzen oder Gästebetten als Affront empfanden. Seither wandern wir gemeinsam. Nicht immer einer Meinung und nicht immer in der gleichen Geschwindigkeit, doch falls einem von uns ein Baumstamm den Weg versperrt, setzen wir uns darauf und trinken erst einmal ein Glas Wein, ehe wir ihn gemeinsam beiseite räumen.

Heute ist Lena eine ehrgeizige PR-Frau in einer Modeagentur und ich, nun ja, ich schlage mich mit dem Übersetzen durch. Das klingt jetzt wahnsinnig aufregend, aber ehrlich gesagt sind es in der Regel schwedische Anleitungen, die ich ins Deutsche übersetze, oder Fachartikel. Keine spannenden oder anspruchsvollen Fachartikel, eher aus der Ecke der Jahresberichte vom Verband schwedischer Kaninchenzüchter, die ihrem freundschaftlich verbundenen deutschen Partnerverband den Rammler des Jahres vorstellen wollen und von weiteren erstaunlichen Erfolgen berichten. Jedenfalls gleicht es alles in allem nicht im Entferntesten der Illusion, die der Normdeutsche mit dem Beruf der Übersetzerin verbindet. Und so oft dies vermutet wird: Reisen, nein, reisen musste ich noch nie deshalb.

Wenn ich nicht gerade spannende Artikel übersetze, verbringe ich meine Zeit mit der Arbeitssuche. Die Hoffnung auf eine Festanstellung im Kulturbereich habe ich nicht aufgegeben, obgleich ich einsehen musste, dass Epileptiker nicht die favorisierten Bewerber sind. Erwähne ich es direkt im Lebenslauf, kann ich schon froh sein, wenn die Absage einigermaßen persönlich formuliert ist und kein reiner Standardtext. Spreche ich es erst im persönlichen Gespräch an, sehe ich meinem Gegenüber förmlich an, wie seine Gedanken schon zum nächsten Bewerber wandern. Die Menschen meinen dies nicht böse, die meisten zumindest. Hoffentlich. Sie sind einfach unwissend und haben Ängste. Zu lange schon dümpelt die Nervenkrankheit Epilepsie in einer dunklen Ecke im Keller des Krankheitskabinetts vor sich hin und die Öffentlichkeit bekommt kaum eine Chance, sich dem offenen Umgang mit ihr zu stellen und so die vorherrschenden Vorurteile und Stigmata abzubauen.

Eine Studie zu Epilepsie, die ich dämlicherweise einmal gelesen habe, ergab, dass elf Prozent aller Befragten Epilepsie für eine Geisteskrankheit halten. Jeder Fünfte hält Epileptiker für »schwer von Begriff« und die Vorstellung, dass ihre Kinder einen Menschen mit Epilepsie heiraten, widerstrebt einem ebenso großen Teil der Befragten. Dass diese zwanzig Prozent darüber hinaus selbst keinen Epileptiker als Partner möchten, versteht sich von selbst. Die Zahlen haben sich in mein Gehirn eingebrannt. Lena wird geradewegs wütend, wenn ich diese Studie auch nur ansatzweise erwähne, und schärft mir stets ein, dass ich auf so etwas gar nichts geben soll. Das ist jedoch leicht gesagt und schwieriger umgesetzt. Ich kann manchmal einfach nicht aufhören, darüber zu grübeln, dass jeder zweite der Befragten zugab, bewusst den Umgang mit Epileptikern zu scheuen. Ich spüre dies immer wieder und habe deshalb eine gewisse Scheu und großes Misstrauen gegenüber fremden Menschen. Zu spüren bekomme ich das zum Beispiel bei erwähnten Bewerbungsgesprächen. Ein Arbeitgeber ist selbst nur eine Privatperson im Anzug oder Chefsessel, dessen Meinung sich weitestgehend mit derjenigen der breiten Öffentlichkeit deckt. Dass Vorurteile gegenüber der Einstellung einer Epileptikerin wie mir bestehen, lässt sich also nur dadurch abbauen, indem die Krankheit für alle Menschen aus ihrem dunklen Kellerverschlag gezerrt wird und Vorurteile und Ängste schwinden können.

Inzwischen sind wir zu Hause angekommen und Lena hat mich gekonnt in den zweiten Stock gehievt. »In Zukunft lebst du nur noch im Erdgeschoss, das habe ich dir schon gesagt, als du hier eingezogen bist. Oder du suchst dir endlich einen Mann, der dich hier hochschleppt. Ach, da war ja noch was«, ein Schmunzeln erhellt ihre erschöpfte Miene, »ich hole kurz Maja von deinem Nachbarn.«

Kurz darauf höre ich zwei balzende Stimmen im Hausflur und frage mich, warum vor allem Frauen immer anfangen müssen, so albern zu sprechen, kaum dass sie einen adretten Jüngling im paarungstauglichen Alter antreffen. Ich sehe vor mir, wie Lena ihre langen dunklen Locken gekonnt zurückwirft und ihr schönstes Lachen hervorzaubert, während sie Tobi ihre Nummer zusteckt – natürlich für den Fall, dass mal etwas mit mir sein sollte. Jeder sollte eine behinderte Freundin haben, denke ich mir, damit lernt man sogar heiße Typen kennen. Ein vertrautes näherkommendes Trippeltrappel lässt mein Herz höher schlagen. Und ehe ich mich versehe, hat Maja den schmalen Flur durchquert und springt in meinem Zimmer, das Küche, Esszimmer, Wohnraum und Schlafzimmer zugleich ist, über den Sessel auf mein Bett, das sich in einer gemütlichen Nische befindet, um schwanzwedelnd und quiekend auf meinem Bauch herumzuhopsen. Wie gut, dass die kleine Mischlingshündin nur vier Kilogramm wiegt, denke ich mir, und drücke das kleine braune Bündel purer Lebensfreude an mich. Zu Hause.

»Scheu dich nicht, mich anzurufen«, zirpt es durchs Treppenhaus, ehe Lena mit stolzgeschwellter Brust zurück in meine Wohnung tanzt. »Ich wette, er ruft mich an. Und keine Sorge, dafür musst du nicht erst einen Anfall bekommen. Wie gut, dass ich mich heute früh doch für die dekolletierte Bluse entschieden habe. Eigentlich war ich nach der Nacht mit Jan ziemlich gesättigt, aber ich scheine meine Begegnung mit deinem Nachbarn vorausgeahnt zu haben. Wenn du noch einmal so einen Kerl vor mir versteckst, gibt es übrigens mächtig Ärger, Sarah. Kennst du den gut?«

Ich erzähle aufgrund meiner Erschöpfung kurz, dass ich mit Tobi manchmal ein Glas Wein trinke, wenn es sich ergibt, und er ein feiner Kerl ist, der nach Anfällen manchmal Maja ausführt und mir Spezi besorgt. Während Lena sich daraufhin in eine Art Pro-und-Kontra-Monolog über ihren Exfreund und meinen Nachbarn verstrickt und beiläufig über ihre neue stutenbissige Kollegin aufregt, tigert sie routiniert durch meine kleine Wohnung. Zunächst holt sie zwei Stoffhosen aus meinem Kleiderschrank und ein gemütliches T-Shirt, das ich meinem letzten Freund beim Auszug aus der gemeinsamen Wohnung stibitzt habe. Ehe Lena mir beim Anziehen hilft, kommt sie mit einer Nierenschale und einem Einmal-Waschlappen – ich bin mittlerweile professionell ausgestattet – aus dem Bad und ich wasche mich, so gut es geht. Als Erwachsener regelmäßig einzunässen, das ist wirklich eine Erfahrung, die ich niemandem wünsche. Es gibt Dinge, die Anfälle mit sich bringen, an die ich mich gewöhnt habe. Doch das Gefühl, nach einem Anfall im nassen Bett aufzuwachen oder mehrere Stunden im eigenen Urin zu schlafen, ist ein ums andere Mal so unangenehm wie nach dem allerersten Grand-Mal-Anfall vor zehn Jahren.

Obgleich das Gros der Bevölkerung Epilepsie mit den großen Anfällen suggeriert, den zappelnden und zuckenden, mit Schaum vorm Mund und verzerrtem Gesicht, gibt es zahlreiche unterschiedliche Formen und nicht nur die eine Epilepsie. Manche Epilepsien äußern sich nur durch kurze Bewusstseinsverluste. Mit diesen fing auch meine Epilepsie an. Und wenn ich keine Antiepileptika – wie die Tabletten gegen die Anfälle genannt werden – nehme oder sie nicht richtig wirken, trete ich gelegentlich einfach kurz weg. Grundsätzlich wird zwischen fokalen und generalisierten Epilepsien unterschieden. Bei einer fokalen Epilepsie ist im Gehirn ein bestimmter Herd auszumachen, in dem die Anfälle sich abspielen, manche auch ohne Bewusstseinsverlust. Bei den großen, generalisierten – meinen – finden die Anfälle hingegen im gesamten Hirn statt. Im Laufe des Wachstums meines Gehirns hat sich über meinem linken Ohr eine Fehlbildung entwickelt, von der die Anfälle ausgehen.

»Jetzt ist es zunächst einmal Zeit für einen Myskväll«, ruft Lena, die inzwischen die zweite Stoffhose trägt, die sie meinem Schrank entnommen hat, und sich zu mir ins Bett kuschelt. »Myskväll« ist schwedisch und bedeutet Müßigabend: Das sind Abende, an denen man sich zu Hause ins Bett oder aufs Sofa kuschelt und nur bei akuter Lebensgefahr das Haus verlässt. Eine moderne schwedische Tradition besteht in der »fredagsmys«, zu Deutsch Freitagsmuße. Während an Samstagabenden gern ausgegangen wird und Bars und Tanzclubs einen regen Zulauf haben, wird am Freitag das Wochenende bevorzugt mit einem Müßigabend eingeläutet. Für diesen ist ein gemütliches Outfit selbstredend verpflichtend. Im Optimalfall wird Essen bestellt, notfalls fußläufig geholt. Nach Anfällen schreien mein Körper und meine Seele nach Ruhe. Abgesehen davon, dass ich mich aufgrund der Muskelschmerzen infolge der starken Krämpfe noch die nächsten Tage schwertun werde, Bett und Haus zu verlassen, sind die Anfälle für den Kopf eine Belastung und die innere Ruhe muss ebenfalls wiederhergestellt werden. Müßigabende sind also Balsam für Post-Anfalls-Tage.

Abgesehen von meiner großen Schwester Mathilda sind Lena und mein guter Freund Jakob die Einzigen, deren Nähe mir nach Anfällen nicht unangenehm ist. Die körperliche wie sprachliche Versehrtheit und die Hilfsbedürftigkeit beim Aufrichten, bei Toilettengängen und beim Essen ist das Intimste, was ich von mir preisgeben kann und natürlich trage ich in mir die stete Befürchtung, dass ich in der Wahrnehmung anderer Menschen dann zukünftig nicht mehr so wie vorher, sondern vielleicht schwächer oder kränker, ja, sogar wertloser bin, so erschreckend das klingen mag.

Während ich, in einen Kissenberg versunken, mit beiden Händen meine Paulaner Spezi, die Beste der Welt, umklammere und das klebrig-süße Glück in mich aufsauge, schaltet Lena den Fernseher an. Bei einer Musik-Castingshow bleibt sie hängen und schaut mich fragend an. »Perfekt. Urlaub fürs Gehirn«, sage ich nickend und schon weniger holprig als noch im Krankenhaus. Lena kann nicht anders, als mich wegen dieser trockenen Bemerkung auszulachen: »In erster Linie findest du den Finnenhappen Samu Haber heiß, die Sendung ist dir vollkommen gleich!« Ich grinse geheimnisvoll und als wüsste ich nicht, wovon sie spricht. Dass an diesem Abend mein geliebter FC Bayern das Viertelfinalhinspiel der Champions League in Manchester bestreitet, ist aus meiner Erinnerung verschwunden. »Du bist das tapferste Mädchen der Welt, ich bin so froh, dass nichts weiter passiert ist.« Lena nimmt meine Hand. »Danke, dass du da bist«, murmele ich und schon schlafe ich wieder ein, höre aber noch im Dämmerzustand, wie meine beste Freundin »Immer, das weißt du doch. Wir beide« sagt.