Titel

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Übersetzung von Verena C. Harksen wurde neu

durchgesehen von Andy Hahnemann.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Stone of Farewell« im Verlag DAW Books Inc., New York

© 1990 by Tad Williams

Für die deutsche Ausgabe

© 2010/2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Birgit Gitschier, Augsburg,

Illustration Melanie Korte, Inkcraft

Illustrationen im Innenteil: © Jan Reiser, www.enter-and-smile.de

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96162-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10152-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

»… Von allen den Dingen, vorübergesprungen
in trübselig wirbelndem, wechselndem Tanz
geborstener Lieder, von Chronos gesungen,
sind nur noch die Worte gut, sicher und ganz.

Wo blieben die Könige mit ihren Kriegen,
die Worte-Verspotter? Wo sind sie, beim Kreuz?
Wo sind sie, die Helden mit all ihren Siegen?
Dahin Glanz und Glorie, und niemanden reut’s.

Ein träumender Schuljunge nur spürt beim Lesen
verwickelter alter Geschichten ihr Leid,
vorbei alle Herrlichkeit, fort und gewesen:
Tot sind sie, die Könige uralter Zeit.

Vielleicht ist die wandernde Erde im Grunde
nicht mehr als ein plötzliches, flammendes Wort,
im klirrenden Weltraum nur eine Sekunde
vernehmbar im endlosen Traume – und fort.«

Nach William Butler Yeats,
aus »Das Lied vom glücklichen Hirten«

Zusammenfassung

Band 1: Der Drachenbeinthron

Viele Jahrtausende hat der Hochhorst den unsterblichen Sithi gehört; doch vor dem Ansturm der Menschen sind sie aus der gewaltigen Burg geflohen. Nun regieren schon seit langer Zeit Menschen diese größte aller Festungen und mit ihr ganz Osten Ard. Johan der Priester, Hochkönig aller Länder der Menschen, ist der Letzte in der Reihe ihrer Gebieter. Nach einer Jugend voller Triumph und Ruhm herrscht er seit Jahrzehnten von seinem Drachenbeinthron aus über eine befriedete Welt.

Simon, ein tolpatschiger Vierzehnjähriger, ist einer der Küchenjungen des Hochhorstes. Seine Eltern sind gestorben, seine einzige wirkliche Familie sind die Kammerfrauen und ihre gestrenge Herrin, Rachel der Drache. Wenn es Simon gelingt, sich vor der Küchenarbeit zu drücken, schleicht er hinüber in die vollgestopfte Studierstube von Doktor Morgenes, dem exzentrischen Gelehrten der Burg. Als der alte Mann Simon anbietet, ihn zu seinem Lehrling zu machen, ist der Junge überglücklich – bis er merkt, dass Morgenes ihm lieber Lesen und Schreiben beibringen möchte, als ihn in der Magie zu unterrichten.

Da der hochbetagte König Johan bald sterben wird, bereitet sich Elias, der ältere seiner beiden Söhne, auf die Thronfolge vor. Josua, Elias’ schwermütiger Bruder, der wegen einer entstellenden Verwundung den Beinamen »Ohnehand« trägt, gerät mit dem zukünftigen König in einen heftigen Streit über Pryrates, einen übel beleumundeten Priester, der zu Elias’ engsten Ratgebern zählt. Der Zwist der beiden Brüder liegt wie eine unheilverkündende Wolke über Burg und Land.

Elias’ Königsherrschaft nimmt zunächst einen guten Anfang, bis eine Dürre über das Land kommt und mehrere Völker von Osten Ard von der Pest heimgesucht werden. Bald ziehen Räuberbanden über die Landstraßen, und aus einsam liegenden Dörfern verschwinden Menschen. Die Ordnung der Dinge zerfällt, und die Untertanen des Königs verlieren das Vertrauen in seine Herrschaft. Aber den Monarchen und seine Freunde scheint das alles nicht zu stören. Während im ganzen Reich Groll und Unzufriedenheit laut werden, verschwindet Elias’ Bruder Josua – manche sagen, um einen Aufstand anzuzetteln.

Elias’ Missherrschaft erregt großen Unmut, unter anderem bei Herzog Isgrimnur von Rimmersgard und Graf Eolair, dem Gesandten des im Westen liegenden Landes Hernystir. Selbst König Elias’ eigene Tochter Miriamel macht sich Sorgen, vor allem über den wachsenden Einfluss des scharlachrot gekleideten Pryrates auf ihren Vater.

Inzwischen schlägt sich Simon mehr schlecht als recht als Morgenes’ Gehilfe durch. Trotz Simons Mondkalbnatur und der Weigerung des Doktors, ihm Dinge beizubringen, die auch nur entfernt mit Zauberei zu tun haben, werden die beiden gute Freunde. Auf einem seiner Streifzüge durch die geheimen Gelasse des labyrinthischen Hochhorstes entdeckt Simon einen verborgenen Gang und fällt dabei um ein Haar Pryrates in die Hände. Er entkommt dem Priester jedoch und stößt auf eine versteckte unterirdische Kammer. Darin findet er Josua, der dort gefangen gehalten wird, um in einem von Pryrates geplanten, entsetzlichen Ritual geopfert zu werden. Simon holt Doktor Morgenes, und die beiden befreien Josua und schaffen ihn in die Wohnung des Doktors. Durch einen Tunnel, der unter der uralten Burg hindurchführt, gelangt Josua in die Freiheit. Während Morgenes damit beschäftigt ist, Botenvögel mit Nachrichten über diese Ereignisse an geheimnisvolle Freunde zu schicken, erscheint Pryrates mit der Wache des Königs, um den Doktor und Simon gefangen zu nehmen. Im Kampf gegen Pryrates findet Morgenes den Tod, aber sein Opfer ermöglicht es Simon, in den Tunnel zu fliehen.

Halb von Sinnen irrt Simon durch die Gänge unter der Burg, die durch die Ruinen des alten Palastes der Sithi führen. Auf der Begräbnisstätte vor der Stadtmauer kommt er wieder an die Oberfläche. Der Schein eines großen Lagerfeuers lockt ihn an. Er wird Zeuge eines unheimlichen Schauspiels: Pryrates und König Elias halten gemeinsam mit schwarzverhüllten, weißgesichtigen Wesen ein Ritual ab. Die bleichen Geschöpfe überreichen Elias ein fremdartiges graues Schwert von beunruhigender Macht, das sie Leid nennen. Simon flieht.

Das Leben in der Wildnis am Rande des großen Waldes Aldheorte ist elend, und nach ein paar Wochen ist Simon vor Hunger und Erschöpfung halbtot und immer noch weit von seinem Ziel entfernt: Josuas Burg Naglimund im Norden des Landes. Als er sich einer Waldkate nähert, um zu betteln, findet er in einer Falle ein seltsames Wesen – einen der Sithi, einer nur noch aus Sagen und alten Geschichten bekannten Rasse. Der Kätner kommt zurück, aber bevor er den hilflosen Sitha erschlagen kann, streckt Simon ihn nieder. Der Befreite nimmt sich gerade noch Zeit, einen weißen Pfeil nach Simon zu schießen, dann verschwindet er. Eine unbekannte Stimme aus dem Wald rät Simon, den weißen Pfeil an sich zu nehmen, weil er ein Geschenk der Sithi sei.

Die Stimme gehört einem zwergenhaften Troll namens Binabik, der auf einer großen grauen Wölfin reitet. Er erzählt Simon, dass er nur zufällig vorbeigekommen, nun aber bereit sei, den Jungen nach Naglimund zu begleiten. Auf dem Weg dorthin stoßen den beiden viele Abenteuer zu und sie haben seltsame Erlebnisse. Sie begreifen, dass etwas Größeres sie bedroht als nur ein König und sein Ratgeber, denen ein Gefangener entflohen ist.

Endlich, als sie von dämonischen weißen Hunden verfolgt werden, die das Brandzeichen von Sturmspitze tragen, einem berüchtigten Berg im hohen Norden, sind sie gezwungen, in Geloës’ Waldhaus Schutz zu suchen. Zwei andere Wanderer, die sie vor den Hunden gerettet haben und sich als Kammerdienerinnen der Prinzessin Miriamel zu erkennen geben, begleiten sie. Geloë, eine Waldfrau, der man nachsagt, sie sei eine Hexe, hält mit ihnen Rat und ist ebenfalls der Meinung, dass das uralte Volk der Nornen, verbitterte Verwandte der Sithi, auf irgendeine Weise in das Schicksal von Priester Johans Königreich verstrickt ist.

Menschliche und weitaus unheimlichere Verfolger bedrohen die Reisenden auf der Fahrt nach Naglimund. Als Binabik von einem Pfeil schwer verwundet wird, müssen sich Simon und Marya, eine der vorher geretteten Dienstmägde, allein im Wald durchschlagen. Ein zottiger Riese greift sie an, und nur das Auftauchen von Josuas Jagdgesellschaft rettet ihnen das Leben.

Der Prinz nimmt sie mit nach Naglimund, wo Binabiks Wunden versorgt werden und sich bestätigt, dass Simon in einen Strudel schrecklicher Ereignisse hineingestolpert ist. Elias ist bereits unterwegs, um Josuas Burg zu belagern. Simons Gefährtin, die angebliche Dienstmagd, ist in Wahrheit Prinzessin Miriamel, die in dieser Verkleidung vor ihrem Vater geflohen ist, von dem sie befürchtet, er sei unter Pryrates’ Einfluss wahnsinnig geworden. Überall aus dem Norden und von anderen Orten drängen verängstigte Menschen nach Naglimund und zu Josua, dem letzten Bollwerk gegen einen verrückten König.

Während der Prinz und andere die bevorstehende Schlacht besprechen, erscheint im Ratssaal ein seltsamer alter Rimmersmann namens Jarnauga. Er ist ein Mitglied des Bundes der Schriftrolle, eines Kreises von Gelehrten und Eingeweihten, dem auch Morgenes und Binabiks Lehrmeister angehörten. Jarnauga bringt weitere schlimme Nachrichten. Der Feind, so sagt er, sei nicht Elias allein; der König erhalte Hilfe von Ineluki, dem Sturmkönig, der einst ein Prinz der Sithi gewesen, nun aber schon seit fünf Jahrhunderten tot sei. Sein körperloser Geist beherrsche die Nornen von Sturmspitze, die bleichen Vettern der verbannten Sithi.

Es sei der grausige Zauber des grauen Schwertes Leid gewesen, der an Inelukis Tod und seinem unbändigen Hass auf alles Menschliche schuld war. Der Bund der Schriftrolle sei der Auffassung, dass der Pakt zwischen Elias und dem Sturmkönig nur der erste Schritt eines noch undurchschaubaren Racheplans sei, eines Plans, der ganz Osten Ard unter den Fuß des untoten Sithiprinzen zwingen solle. Die einzige Hoffnung liege in einer alten Weissagung, die anzudeuten scheine, »drei Schwerter« könnten dabei helfen, Inelukis mächtigen Zauber zu brechen.

Eines dieser Schwerter sei Leid, das Schwert des Sturmkönigs, jetzt im Besitz ihres Feindes König Elias. Das zweite sei die Rimmersgard-Klinge Minneyar, die sich früher ebenfalls auf dem Hochhorst befunden habe, deren jetziger Verbleib jedoch unbekannt sei. Das dritte sei Dorn, das schwarze Schwert von König Johans größtem Ritter, Herrn Camaris. Jarnauga und einige andere glauben, es an einem Ort im eisigen Norden aufgespürt zu haben. Aufgrund dieser vagen Hoffnung schickt Josua Binabik, Simon und ein paar Soldaten auf die Suche nach Dorn, während sich Naglimund für die Belagerung rüstet.

Die zunehmend kritische Situation beunruhigt auch Prinzessin Miriamel. Verärgert über die Versuche ihres Onkels Josua, sie zu schützen, flieht sie verkleidet aus Naglimund. Ihr Begleiter ist der geheimnisvolle Mönch Cadrach. Sie will sich in das südliche Nabban durchschlagen und ihre dortigen Verwandten um Hilfe für Josua bitten. Auf Josuas dringende Bitte versteckt auch der alte Herzog Isgrimnur seine eigenen, höchst markanten Züge unter einer Verkleidung und folgt ihr, um sie zu retten.

Tiamak, ein gelehrter Bewohner der Sümpfe von Wran, erhält von seinem alten Mentor Morgenes eine rätselhafte Botschaft, die schlimme Ereignisse ankündigt, in denen auch er selbst eine wichtige Rolle zu spielen habe.

Maegwin, Tochter des Königs von Hernystir, muss hilflos mit ansehen, wie der Verrat des Hochkönigs Elias ihre Familie und das Land in den Strudel der Kriegswirren reißt.

Simon, Binabik und ihre Gefährten geraten in einen Hinterhalt Ingen Jeggers, des Jägers von Sturmspitze. Nur das Eingreifen einiger Sithi rettet sie. Die Sithi führen Simon und seine Gefährten zu Jiriki, jenem Sitha, den Simon einst aus der Falle im Wald befreit hat. Als er von ihrem Vorhaben erfährt, beschließt Jiriki, sie zum Berg Urmsheim zu begleiten, der sagenhaften Behausung eines der großen Drachen, um mit ihnen nach dem Schwert Dorn zu suchen.

Als Simon und die anderen den Berg erreichen, hat König Elias bereits sein Belagerungsheer vor Josuas Burg Naglimund in Stellung gebracht. Obwohl die ersten Angriffe zurückgeschlagen werden können, erleiden die Verteidiger große Verluste. Endlich jedoch scheinen sich Elias’ Truppen zurückzuziehen und die Belagerung aufzugeben. Doch bevor die Bewohner der Feste fliehen können, zieht am nördlichen Horizont ein unheimliches Gewitter auf. Aber der Sturm ist lediglich der Mantel, unter dem Inelukis eigenes, grausiges Heer von Nornen und Riesen auf Naglimund zumarschiert, und als die fünf obersten Diener des Sturmkönigs, die Rote Hand, die Tore der Festung sprengen, beginnt ein entsetzliches Schlachten. Nur Josua und ein paar anderen gelingt es zu entkommen. Bevor sie in den großen Wald Aldheorte fliehen, verflucht Josua Elias wegen seines gewissenlosen Paktes mit dem Sturmkönig und schwört, er werde sich die Krone ihres Vaters von Elias zurückholen.

Inzwischen ersteigen Simon und seine Gefährten den Berg Urmsheim. Sie überwinden dabei große Gefahren und stoßen schließlich auf den Udunbaum, einen riesenhaften, zu Eis gefrorenen Wasserfall. Dort finden sie Dorn in einer gruftartigen Höhle. Noch bevor sie das Schwert an sich nehmen und den Ort verlassen können, erscheint erneut Ingen Jegger und greift sie mit seinen Kriegern an. Der Kampf weckt Igjarjuk, den weißen Drachen, der viele Jahre unter dem Eis geschlummert hat. Kämpfer beider Seiten finden den Tod. Allein Simon steht noch, am Rande eines steilen Abgrunds in die Enge getrieben. Als sich der Eiswurm drohend nähert, hebt Simon Dorn und schlägt zu. Das siedend heiße schwarze Blut des Drachen ergießt sich über ihn, kurz bevor er bewusstlos niedersinkt.

Simon erwacht in einer Höhle auf dem Trollberg von Yiqanuc. Jiriki und Haestan, ein erkynländischer Soldat, pflegen ihn gesund. Dorn ist vom Urmsheim gerettet worden, aber Binabik wird zusammen mit ihrem anderen Gefährten, dem Rimmersmann Sludig, von seinem eigenen Volk gefangen genommen und des Verrats angeklagt; das Urteil lautet auf Tod. Das Drachenblut hat Simon eine Brandnarbe zugefügt und eine breite Strähne seines Haars gebleicht. Jiriki gibt ihm den Namen »Schneelocke« und erklärt ihm, dass er nun ein unwiderruflich Gezeichneter sei.

Prolog

Der Wind strich über die leeren Festungsmauern und heulte wie tausend verdammte Seelen, die um Erbarmen schreien. Der Klang bereitete Bruder Hengfisk trotz der bitteren Kälte, die aus seinen einst so kräftigen Lungen die Luft herausgesogen und ihm die Haut an Gesicht und Händen gegerbt und abgeschält hatte, ein grimmiges Vergnügen.

Ja, so werden sie sich alle anhören, alle die Scharen der Sünder, die die Botschaft von Mutter Kirche verhöhnt haben – unter ihnen bedauerlicherweise auch die weniger strikten von Hengfisks hoderundianischen Brüdern. Wie sie aufschreien werden vor Gottes gerechtem Zorn und um Gnade winseln … dann, wenn es zu spät sein wird, viel zu spät …

An einem von einer Mauer heruntergefallenen, im Weg liegenden Stein stieß er sich schmerzhaft das Knie und stürzte mit einem Quietschlaut aus rissigen Lippen vornüber in den Schnee. Einen Augenblick blieb der Mönch wimmernd sitzen, aber die beißende Pein der auf seiner Wange gefrierenden Tränen zwang ihn wieder in die Höhe. Er hinkte weiter.

Die Hauptstraße, die durch Naglimund zur Burg hinaufführte, war voller Schneewehen. Häuser und Läden auf beiden Seiten waren unter einer erstickenden Decke aus tödlichem Weiß fast verschwunden. Selbst die noch nicht ganz zugedeckten Gebäude lagen so verlassen da wie Gerippe längst verstorbener Tiere. Auf der Straße gab es nur Hengfisk und den Schnee.

Als der Wind umschlug, pfiff er noch etwas schriller durch die Scharten der Zinnen oben auf dem Hügel. Der Mönch spähte mit zusammengekniffenen Augen zu den Wällen hinauf und senkte dann den Kopf. Durch den grauen Nachmittag stapfte er weiter, und das Knirschen seiner Schritte glich einem fast lautlosen Trommelschlag, der das Pfeifen des Windes begleitete.

Kein Wunder, dass das Volk aus der Stadt in die Burg geflohen ist, dachte er bibbernd. Ringsum gähnten schwarze Löcher in den unter der Schneelast eingestürzten Dächern und Mauern wie die offenen Münder von Schwachsinnigen. In der Burg, unter dem Schutz von Stein und dicken Balken, mussten sie sich sicherer fühlen. Feuer würden brennen, und rote, vergnügte Gesichter – Gesichter von Sündern, erinnerte er sich voller Verachtung, verdammte, unbekümmerte Sündergesichter – würden sich um ihn scharen und staunen, dass er den Weg durch diesen unnatürlichen Sturm gefunden hatte.

Es war doch schließlich Yuven-Mond, oder nicht? Hatte sein Gedächtnis so gelitten, dass er sich nicht mehr an den Monat erinnern konnte?

Aber natürlich war es Yuven. Zwei volle Monate zuvor war der Frühling gekommen – ein wenig kalt vielleicht, aber das machte einem Rimmersmann wie Hengfisk, aufgewachsen in der Kälte des Nordens, nichts weiter aus. Nein, das Widersinnige war eben, dass es jetzt so kalt war, dass das Wasser fror und der Schnee durch die Luft wirbelte – jetzt im Yuven, dem ersten Sommermonat.

Hatte sich nicht Bruder Langrian geweigert, das Kloster zu verlassen, und das nach allem, was Hengfisk getan hatte, um ihn wieder gesund zu pflegen? »Es ist mehr als nur übles Wetter, Bruder«, hatte Langrian gesagt. »Es liegt ein Fluch auf Gottes gesamter Schöpfung. Es ist der Tag, an dem Gut und Böse gegeneinander aufgewogen werden, und er kommt zu unseren Lebzeiten.«

Nun, wenn das Langrians Meinung war … wenn er in den verbrannten Ruinen der Abtei von Sankt Hoderund bleiben und sich von den Beeren und Früchten des Waldes ernähren wollte – und was würde denn noch wachsen in dieser für die Jahreszeit so unangemessenen Kälte –, dann sollte er seinen Willen haben. Bruder Hengfisk war kein Narr. Naglimund war der Ort, an den man sich jetzt begeben musste. Der alte Bischof Anodis würde Hengfisk willkommen heißen. Der Bischof würde den klugen Blick des Mönches bewundern und alles hören wollen, was er, Hengfisk, über die Vorkommnisse im Kloster und das sonderbare Wetter zu erzählen hatte. Die Naglimunder würden ihn freundlich aufnehmen, ihn speisen, ihm Fragen stellen, ihn an ihrem warmen Feuer sitzen lassen …

Aber von der Kälte müssen sie ja schon wissen, dachte Hengfisk stumpf und zog die eisstarrende Kutte enger um sich. Er befand sich jetzt unmittelbar unterhalb der Mauern. Die weiße Welt, die ihn seit so vielen Tagen und Wochen umgab, schien hier zu Ende zu sein wie ein Abgrund, der in ein steiniges Nichts führte. Das heißt, sie müssen über den Schnee und alles andere Bescheid wissen. Darum haben sie auch alle die Stadt verlassen und sind in die Burg gezogen. Es ist dieses elende, dämonenverfluchte Wetter, das die Posten von den Wällen getrieben hat. Oder nicht?

Er blieb stehen und musterte mit irrem Interesse den schneebedeckten Haufen Unrat, der das größte von Naglimunds Toren gewesen war. Die langen Säulen und massiven Steine unter den Schneewehen waren schwarz verkohlt. Das Loch in der eingestürzten Mauer stand weit auf, sodass zwanzig nebeneinanderstehenden Hengfisks, Schulter an knochiger, zitternder Schulter, auf einmal Einlass gewährt werden könnte.

Schaut doch, wie sie alles verkommen ließen! Oh, wie werden sie kreischen, wenn man das Urteil über sie fällt, schreien und kreischen, ohne auch nur eine einzige ihrer Taten wiedergutmachen zu können. Alles haben sie verkommen lassen – das Tor, die Stadt, das Wetter.

Ausgepeitscht sollten sie werden für solche Nachlässigkeit. Zweifellos hatte Bischof Anodis alle Hände voll zu tun, eine so widerspenstige Herde in Zucht zu halten. Hengfisk würde nur zu glücklich sein, dem ehrwürdigen alten Mann dabei zu helfen, sich um diese Faulpelze zu kümmern. Aber zuerst ein Feuer und etwas Warmes im Leib. Und dann ein wenig Klosterdisziplin. Man würde das bald alles wieder in Ordnung bringen … Vorsichtig setzte Hengfisk die Füße zwischen die zersplitterten Pfosten und weißverschneiten Steine.

Eigentlich, fand der Mönch nach einer Weile, war es in gewisser Weise sogar … schön. Hinter dem Tor war alles mit einem zarten Netz aus Eis bedeckt, wie ein Schleier aus Spinnweben. Die sinkende Sonne schmückte die bereiften Türme und eisüberkrusteten Mauern mit Rinnsalen bleichen Feuers. Hier, inmitten der Festungsmauern, erklang das Schreien des Windes ein wenig leiser. Lange blieb Hengfisk stehen, betroffen von der unerwarteten Stille. Als die matte Sonne hinter die Wälle glitt, färbte sich das Eis dunkler. Aus den Ecken des Hofs quollen tiefe, violette Schatten und zogen sich quer über die zerstörten Türme. Der Wind fauchte nur noch sanft wie eine Katze, und der Mönch senkte den Kopf. Er begriff.

Verlassen. Naglimund war leer, keine Menschenseele war übriggeblieben, um einen vom Schnee verwirrten Wanderer zu begrüßen. Meilenweit war er durch die sturmgepeitschte weiße Öde gelaufen, nur um einen Ort zu finden, der tot und stumm war wie Stein.

Aber, fragte er sich plötzlich, wenn das stimmt … was sind das dann für blaue Lichter, die in den Turmfenstern flackern?

Und was waren das für Gestalten, die über den verwüsteten Hof auf ihn zukamen und so anmutig über die vereisten Steine glitten wie schwebender Distelflaum?

Sein Herz raste. Als er ihre schönen, kalten Gesichter und das fahle Haar sah, hielt Hengfisk sie zuerst für Engel. Dann bemerkte er das böse Glitzern in den schwarzen Augen und ihr Lächeln, und er drehte sich stolpernd um und versuchte zu fliehen.

Die Nornen fingen ihn ohne Mühe und schleppten ihn in die Tiefen der verlassenen Burg, hinab unter die schattendunklen, eisumhüllten Türme mit ihren unablässig flackernden Lichtern. Und als die neuen Herren von Naglimund ihm mit ihren melodischen, flüsterleisen Stimmen Worte ins Ohr wisperten, übertönten Hengfisks Schreie für eine Weile sogar das Heulen des Windes.

Teil 1

1
Die Musik der Höhen

Sogar im Inneren der Höhle, wo das knisternde Feuer graue Rauchfinger nach dem Loch in der Steindecke ausstreckte und wo rotes Licht auf den in die Wand gemeißelten, sich ringelnden Schlangen und starr vor sich hin blickenden Stoßzahntieren spielte, nagte die Kälte an Simons Knochen. Während er sich zwischen Nacht und verhangenem Tageslicht durch einen fiebernden, unruhigen Schlaf quälte, war ihm, als wachse in ihm graues Eis, das seine Glieder erstarren ließ und ihn mit Frost anfüllte. Er fragte sich, ob ihm wohl je wieder warm werden würde.

Auf der Flucht vor der kalten Yiqanuc-Höhle und seinem kranken Körper wanderte er auf der Straße der Träume, hilflos von einer Fantasie in die nächste gleitend. Oft war es ihm, als sei er auf den Hochhorst zurückgekehrt, die Burg, die einmal seine Heimat gewesen war und es nie wieder sein würde – ein Ort sonnenwarmer Rasenflächen, schattiger Winkel und Verstecke –, das größte Haus, das es gab, voller Leben und Farbe und Musik. Noch einmal schlenderte er durch den Heckengarten, und der Wind, der vor der Höhle sang, in der Simon schlief, sang auch in seinen Träumen, blies sacht durch das Laub und zupfte an den zierlichen Hecken.

Einer seiner wunderlichen Träume schien ihn in Doktor Morgenes’ Wohnung zurückzuführen. Die Studierstube des Doktors befand sich jetzt ganz oben in einem hohen Turm. An den hohen Fensterbögen schwammen Wolken vorüber. Der alte Mann beugte sich verdrossen über ein großes, offenes Buch. Es lag etwas Furchterregendes in der Zielstrebigkeit und Schweigsamkeit des Meisters. Simon schien für Morgenes gar nicht vorhanden zu sein; gebannt starrte der alte Mann auf die unbeholfene Zeichnung dreier Schwerter, die sich über beide aufgeschlagenen Seiten zog.

Simon trat ans Fenstersims. Der Wind seufzte, obwohl keine Brise spürbar war. Simon schaute in den Hof. Von unten blickte mit großen ernsten Augen ein Kind zu ihm auf, ein kleines dunkelhaariges Mädchen. Es hob wie grüßend die Hand und war plötzlich verschwunden.

Der Turm und Morgenes’ vollgestopftes Zimmer zerschmolzen unter Simons Füßen wie Ebbe, die ins Meer zurückströmt. Zuletzt verschwand der alte Mann selber. Doch auch während er langsam verblasste wie ein Schatten bei wachsendem Licht, sah Morgenes Simon nicht in die Augen; stattdessen strichen seine knotigen Hände emsig über die Seiten des Buchs, als suchten sie rastlos nach Antworten. Simon rief seinen Namen, aber die ganze Welt war auf einmal grau und kalt, voll von wirbelnden Nebeln und Fetzen anderer Träume …

Er erwachte, wie es seit den Ereignissen auf dem Urmsheim schon so viele Male der Fall gewesen war, in einer nachtdunklen Höhle und sah Haestan und Jiriki auf ihren Lagern an der mit Runen bekritzelten Steinwand liegen. Der Erkynländer hatte sich schlafend in seinen Mantel gerollt, den Bart auf dem Brustbein. Der Sitha starrte auf etwas, das er in der langfingrigen hohlen Hand hielt. Jiriki schien völlig darin vertieft zu sein. Seine Augen glänzten schwach, als spiegele sich in dem, was er da hielt, die letzte Glut des Feuers. Simon wollte etwas sagen – er war hungrig nach Wärme und Stimmen –, aber schon wieder zupfte der Schlaf an ihm.

Der Wind ist so laut

Klagend fuhr er durch die Bergpässe, als seien es die Turmspitzen des Hochhorstes … die Zinnen von Naglimund … So traurig … der Wind ist traurig…

Bald war Simon wieder eingeschlafen. Die Höhle war still bis auf ein leises Atmen und die einsame Musik der Höhen.

Kreuz

Es war nur ein Loch, aber als Gefängnis vollkommen ausreichend. Zwanzig Ellen tief grub es sich in das steinerne Herz des Mintahoq-Berges, so breit wie zwei Männer oder vier Trolle, die Kopf an Fuß liegen. Die Wände waren glattpoliert wie der feinste Marmor eines Bildhauers, sodass selbst eine Spinne große Mühe gehabt hätte, an ihnen Halt zu finden. Der Boden war so dunkel, kalt und feucht wie in allen anderen Verliesen. Obwohl der Mond die verschneiten Spitzen der Berge streifte, erreichte die Tiefe der Grube nur ein dünner Mondstrahl; er berührte, ohne sie zu beleuchten, zwei reglose Gestalten. Schon lange, seitdem der Mond aufgegangen war, hatte sich an diesem Bild nichts geändert: Die bleiche Mondscheibe – Sedda, wie die Trolle sie nannten – blieb das einzig Bewegte in dieser nächtlichen Welt; langsam durchwanderte sie die schwarzen Felder des Himmels.

Jetzt bewegte sich etwas am Rand der Grube. Eine kleine Gestalt beugte sich hinab und spähte in die dichten Schatten.

»Binabik …«, rief die hockende Gestalt in der kehligen Sprache des Trollvolks, »Binabik, hörst du mich?«

Falls einer der Schatten am Boden sich bewegte, geschah es lautlos. Schließlich begann die Gestalt am Rand des steinernen Brunnens von neuem zu sprechen.

»Neun mal neun Tage, Binabik, stand dein Speer vor meiner Höhle, und ich wartete auf dich.«

Die Worte wurden intoniert wie ein Ritual, aber die Stimme schwankte unsicher und stockte einen Augenblick, bevor sie fortfuhr: »Ich wartete und rief deinen Namen am Ort des Echos. Nichts scholl zurück außer meiner eigenen Stimme. Warum erschienst du nicht, um deinen Speer wieder zu holen?«

Noch immer kam keine Antwort.

»Binabik? Warum erwiderst du nichts? Das wenigstens bist du mir schuldig, ist es nicht so?«

Der größere der beiden Gefangenen am Boden der Grube rührte sich. Ein dünner Strahl Mondglanz fiel auf blassblaue Augen.

»Was soll das Trollgewinsel? Schlimm genug, dass ihr einen Mann, der euch nie etwas Böses getan hat, in dieses Loch werft, aber müsst ihr ihn auch noch mit euerem unsinnigen Geschwätz belästigen, wenn er zu schlafen versucht?«

Die Gestalt am Rand der Grube erstarrte für einen kurzen Moment wie ein erschrockenes Reh im Schein grellen Laternenlichts und verschwand dann in der Nacht.

»Gut.« Sludig, der Rimmersmann, wickelte sich wieder in seinen feuchten Mantel. »Ich weiß nicht, was der Troll da zu dir gesagt hat, Binabik, aber ich halte nicht viel von deinem Volk, wenn sie zu dir kommen und dich verspotten – und mich auch, obwohl es mich nicht wundert, dass sie mein Volk hassen.«

Der Troll neben ihm schwieg und starrte den Rimmersmann nur aus dunklen, traurigen Augen an. Nach einer Weile drehte sich Sludig wieder um, zitternd vor Kälte, und versuchte zu schlafen.

Kreuz

»Aber Jiriki, Ihr könnt doch nicht gehen!« Simon, gegen die alles durchdringende Kälte in eine Decke gewickelt, hockte auf dem Rand seiner Lagerstatt. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte er gegen eine Woge von Schwindel an; in den fünf Tagen seit seinem Erwachen hatte er noch nicht oft aufrecht gesessen.

»Ich muss«, erwiderte der Sitha mit niedergeschlagenen Augen, als könne er Simons flehenden Blick nicht ertragen. »Ich habe Sijandi und Ki’ushapo bereits vorausgeschickt, aber meine eigene Anwesenheit in Jao é-Tinukai’i ist dringend erforderlich. Ein oder zwei Tage werde ich noch bleiben, Seoman, aber weiter werde ich meinen Aufbruch nicht hinauszögern können.«

»Ihr müsst mir helfen, Binabik zu befreien!« Simon hob die Füße vom kalten Steinboden zurück ins Bett. »Ihr habt gesagt, die Trolle vertrauten Euch. Macht, dass sie Binabik freilassen. Dann können wir alle zusammen reisen.«

Jiriki stieß einen dünnen Pfiff aus. »So einfach ist es nicht, junger Seoman«, versetzte er fast ungeduldig. »Ich besitze weder das Recht noch die Macht, irgendwelchen Einfluss auf die Qanuc auszuüben. Außerdem habe ich andere Verpflichtungen, die du nicht verstehen würdest. Ich bin nur deshalb so lange geblieben, weil ich dich wieder auf den Beinen sehen wollte. Mein Onkel Khendraja’aro ist schon längst nach Jao é-Tinukai’i zurückgekehrt, und die Verantwortung gegenüber meinem Haus und meiner Sippe zwingt mich, ihm zu folgen.«

»Zwingt Euch? Aber Ihr seid ein Prinz!«

Der Sitha schüttelte den Kopf. »Das Wort bedeutet in unserer Sprache nicht dasselbe wie bei euch, Seoman. Ich gehöre dem Herrscherhaus an, aber ich gebe keine Befehle und regiere über niemanden. Und auch mich regiert niemand, glücklicherweise – doch es gibt Dinge und Zeiten, die eine Ausnahme machen. Meine Eltern haben mitgeteilt, dass jetzt ein solcher Zeitpunkt ist.« Simon glaubte in Jirikis Stimme einen Unterton von Zorn zu vernehmen. »Aber hab keine Angst. Du und Haestan, ihr seid keine Gefangenen. Die Qanuc ehren euch. Sie werden euch gehen lassen, sobald ihr es wünscht.«

»Aber ich gehe nicht ohne Binabik.« Simon zog den Mantel fester um seinen Körper. »Und auch nicht ohne Sludig.«

In der Türöffnung erschien eine kleine dunkle Gestalt und hüstelte höflich. Jiriki sah über die Schulter und nickte. Die alte Qanucfrau trat ein und setzte einen dampfenden Topf vor Jirikis Füße, um dann aus ihrem zeltartigen Schafspelzmantel rasch drei Schüsseln zutage zu fördern und sie im Halbkreis aufzustellen. Obwohl ihre winzigen Finger behende arbeiteten und das runzlige Gesicht mit den runden Wangen ausdruckslos blieb, erkannte Simon einen Schimmer von Furcht in ihren Augen, als sie für eine Sekunde aufsah und seinem Blick begegnete. Sobald sie fertig war, entfernte sie sich eilig rückwärtsgehend aus der Höhle und verschwand so lautlos unter der Türklappe, wie sie hereingekommen war.

Wovor hat sie Angst?, fragte sich Simon. Jiriki? Aber Binabik hat gesagt, Qanuc und Sithi hätten sich immer vertragen – mehr oder weniger jedenfalls.

Plötzlich dachte er an sich selbst: doppelt so groß wie ein Troll, rotköpfig, mit einem behaarten Gesicht, in dem der erste Männerbart spross; dabei dürr wie ein Stecken, aber das konnte die alte Qanucfrau nicht wissen, in Decken eingepackt, wie er war. Welchen Unterschied gab es für das Volk von Yiqanuc zwischen ihm und einem verhassten Rimmersmann? Hatte nicht Sludigs Volk seit Jahrhunderten mit den Trollen Krieg geführt?

»Möchtest du etwas hiervon, Seoman?«, fragte Jiriki und goss eine dampfende Flüssigkeit aus dem Topf: »Man hat dir eine Schale hingestellt.«

Simon streckte die Hand aus. »Ist es wieder Suppe?«

»Es ist Aka, wie die Qanuc sagen – oder, wie du es nennen würdest, Tee.«

»Tee!« Begierig griff Simon nach der Schale. Judith, die Oberköchin auf dem Hochhorst, war sehr für Tee gewesen. Nach der langen Tagesarbeit pflegte sie sich mit einem großen heißen Becher des Gebräus hinzusetzen, und in der Küche breiteten sich die Dämpfe der Kräuter von den südlichen Inseln aus, die darin zogen. Wenn sie guter Laune war, hatte Simon manchmal etwas davon abbekommen. Usires, wie er seine Heimat vermisste!

»Ich hätte nie gedacht …«, begann er und nahm einen großen, tiefen Zug, nur um ihn sofort hustend wieder auszuspucken. »Was ist das?«, würgte er hervor. »Das ist kein Tee!«

Vielleicht lächelte Jiriki, aber da er die Schale vor den Mund hielt und langsam daran nippte, konnte sich Simon nicht sicher sein. »Aber selbstverständlich ist es Tee«, erwiderte der Sitha. »Die Qanuc verwenden lediglich andere Kräuter als ihr Sudhoda’ya – natürlich. Wie könnte es anders sein, wenn sie so wenig Handel mit euch treiben?«

Simon wischte sich den Mund ab und verzog das Gesicht. »Aber es ist salzig!« Er schnüffelte an der Schale und schnitt eine neue Grimasse.

Der Sitha nickte und nippte wieder. »Sie tun Salz hinein, ja – und auch Butter.«

»Butter!«

»Wunderbar sind die Wege von Mezumiirus Enkeln«, intonierte Jiriki feierlich, »und ohne Ende ist ihre Vielfalt.«

Simon stellte angewidert die Schale hin. »Butter. Usires steh mir bei, was für ein elendes Abenteuer.«

Jiriki trank gelassen seinen Tee aus. Der Name Mezumiiru erinnerte Simon wieder an seinen Trollfreund, der ihm einmal nachts im Wald ein Lied über die Mondfrau vorgesungen hatte. Seine Stimmung verdüsterte sich aufs Neue.

»Aber was können wir für Binabik tun?«, fragte er. »Können wir überhaupt irgendetwas für ihn tun?«

Jiriki schlug seine gleichmütigen Katzenaugen auf. »Wir werden morgen Gelegenheit haben, für ihn zu sprechen. Ich habe noch nicht herausgefunden, was ihm vorgeworfen wird. Nur wenige Qanuc sprechen eine andere Sprache als ihre eigene – dein Gefährte ist in der Tat ein sehr ungewöhnlicher Troll –, und ich beherrsche die ihre nur mäßig. Auch lieben sie es nicht, Fremde in ihre Angelegenheiten einzuweihen.«

»Was passiert morgen?«, fragte Simon und sank auf sein Bett zurück. Sein Kopf hämmerte. Warum fühlte er sich nur immer noch so schwach?

»Es wird eine Art … Hof gehalten, nehme ich an. Bei dem die Herrscher der Qanuc sich alles anhören und dann eine Entscheidung fällen.«

»Und dort werden wir für Binabik sprechen?«

»Nein, Seoman, nicht direkt«, antwortete Jiriki sanft. Ein sonderbarer Ausdruck huschte über seine hageren Züge. »Wir gehen dorthin, weil du dem Drachen des Berges begegnet bist … und noch lebst. Die Herrscher der Qanuc möchten dich sehen. Ich zweifle nicht daran, dass auch die Verbrechen deines Freundes zur Sprache kommen werden, in Gegenwart seines ganzen Volkes. Nun aber ruh dich aus, du wirst es nötig haben.«

Jiriki stand auf und streckte die schlanken Glieder, wobei er den Kopf auf seine bestürzend fremdartige Weise drehte, die Bernsteinaugen ins Leere gerichtet. Simon fühlte, wie ihn am ganzen Körper ein Schauder überlief, gefolgt von schrecklicher Müdigkeit.

Der Drache!, dachte er benommen, halb verwundert, halb entsetzt. Er hatte einen Drachen gesehen! Er, Simon der Küchenjunge, das verachtete, herumlungernde Mondkalb, hatte das Schwert gegen einen Drachen erhoben und es überlebt – sogar, als das kochende Drachenblut über ihn gespritzt war! Wie in einer der alten Geschichten!

Er sah hinüber zu Dorn, das schwarzglänzend halb zugedeckt an der Wand lag und wie eine schöne, tödliche Schlange auf etwas Unbestimmtes wartete. Selbst Jiriki schien wenig Lust zu haben, es in die Hand zu nehmen oder auch nur darüber zu sprechen; gelassen hatte der Sitha Simons Fragen danach abgewehrt, welcher Zauber wohl wie Blut durch Camaris’ seltsames Schwert rinnen mochte. Simons kalte Finger stahlen sich an sein Kinn und zu der noch immer schmerzenden Narbe, die sich über sein Gesicht zog. Wie hatte er, ein bloßer Küchenjunge, es auch nur wagen können, ein so mächtiges Ding zu berühren?

Er schloss die Augen und fühlte, wie die riesige und gleichgültige Welt sich langsam, ganz langsam um ihn drehte. Er hörte Jiriki durch die Höhle zur Tür gehen, spürte den schwachen Luftzug, als der Sitha an der Klappe vorbei ins Freie schlüpfte; dann zog der Schlaf ihn in die Tiefe.

Kreuz

Simon träumte. Wieder schwamm das Gesicht des kleinen, dunkelhaarigen Mädchens an ihm vorüber. Es war ein Kindergesicht, aber die ernsten Augen waren alt und tief wie der Brunnen auf einem verlassenen Kirchhof. Es war, als wollte sie ihm etwas sagen. Ihr Mund bewegte sich lautlos, aber als sie durch die trüben Gewässer des Schlafs davonglitt, glaubte er für eine Sekunde ihre Stimme zu hören.

Als er am nächsten Morgen erwachte, stand Haestan vor ihm. Die Zähne des Wachsoldaten waren in einem grimmigen Lächeln entblößt. Sein Bart funkelte von schmelzendem Schnee.

»Zeit zum Aufstehen, Bursche. Viel los heute, viel los.«

Es dauerte einige Zeit, aber obwohl er sich recht schwach fühlte, schaffte er es, sich anzuziehen. Haestan half ihm mit den Stiefeln, die er nicht wieder angehabt hatte, seit er in Yiqanuc aufgewacht war. Sie kamen ihm an den Füßen brettsteif vor, und der Stoff seiner Kleidung kratzte auf seiner merkwürdig empfindlich gewordenen Haut, aber nachdem er aufgestanden war und sich angezogen hatte, fühlte er sich besser. Vorsichtig ging er ein paar Mal in der Höhle auf und ab und kam sich allmählich wieder wie ein zweibeiniges Tier vor.

»Wo ist Jiriki?«, fragte er und zog sich den Mantel um die Schultern.

»Schon da«, erwiderte Haestan. »Aber hab keine Angst, du kommst schon noch rechtzeitig zur Versammlung. Ich könnte dich huckepack nehmen, schmal wie du bist.«

»Man hat mich hierhergeschleppt«, sagte Simon und hörte, wie sich eine überraschende Kälte in seine Stimme schlich, »aber das heißt nicht, dass ich nun immer getragen werden muss.«

Der stämmige Erkynländer lachte, ohne beleidigt zu sein. »Ich bin genauso froh, wenn du läufst, Junge. Diese Trolle bauen ganz schön schmale Pfade, da hat man sowieso wenig Lust, noch jemanden mit sich herumzuschleppen.«

Am Höhleneingang musste Simon einen Moment innehalten, um sich an das durch die hochgehobene Türklappe eindringende, grelle Licht zu gewöhnen. Als er ins Freie trat, war das spiegelnde Gleißen des Schnees selbst an diesem bedeckten Morgen fast zu viel für ihn.

Sie standen auf einer breiten Steinterrasse, die vor der Höhle beinahe zwanzig Ellen weit ins Offene herausragte. Zu beiden Seiten setzte sie sich als Weg fort, der an der Bergwand entlangführte. Simon konnte auf seiner gesamten Länge die rauchenden Öffnungen anderer Höhlen erkennen, bis der Weg hinter der Biegung des runden Mintahoq-Bauches verschwand. Ähnlich breite Wege liefen weiter oben quer über den Hang, eine Reihe über der anderen, die ganze Bergwand hinauf bis nach oben. Von höher gelegenen Höhlen hingen Leitern herunter, und dort, wo die Unebenheiten des Abhangs es unmöglich machten, die Pfade miteinander zu verbinden, waren viele Terrassen über tiefe Abgründe durch schwankende Brücken, die aus wenig mehr als Lederriemen zu bestehen schienen, miteinander verknüpft. Während Simon dort hinaufblickte, erkannte er die winzigen, in Pelze gehüllten Gestalten von Qanuckindern, die über diese schmalen Stege hüpften, lebhaft wie Eichhörnchen, obwohl ein Sturz den sicheren Tod bedeutet hätte. Beim bloßen Anblick drehte sich Simon der Magen um, darum richtete er seinen Blick wieder nach vorn.

Vor ihm lag das weite Tal von Yiqanuc. Die steinernen Nachbarn des Mintahoq ragten aus der nebligen Tiefen empor und türmten sich auf, bis sie mit dem grauen, schneeverhangenen Himmel verschmolzen. Sie waren mit kleinen schwarzen Löchern übersät, zwischen denen winzige Gestalten, jenseits des dunklen Tales kaum erkennbar, über verschlungene Pfade huschten.

Lässig in ihren Sätteln aus gegerbtem Leder sitzend, kamen auf zottigen Widdern drei Trolle den Weg heruntergeritten. Simon trat einen Schritt vor, um ihnen Platz zu machen, und bewegte sich dabei langsam über die Terrasse, bis er nur noch wenige Fuß vom Rand entfernt war. Als er hinabblickte, überkam ihn einen Moment lang der gleiche Schwindel, den er auf dem Urmsheim gefühlt hatte. Unter ihm fiel der Berghang steil nach unten ab; hier und da war er mit verkrüppeltem immergrünem Gestrüpp bewachsen und kreuz und quer von einem Netz weiterer Terrassen überzogen, an denen zahlreiche Leitern hingen. Er merkte, dass es plötzlich still geworden war, und sah sich nach Haestan um.

Die drei Reiter hatten mitten auf dem breiten Weg angehalten und starrten Simon staunend an. Der Wachsoldat, im Schatten des Höhleneingangs hinter ihnen kaum sichtbar, salutierte spöttisch über ihre Köpfe weg.

Zwei der Reiter trugen schüttere Kinnbärte. Über ihren schweren Mänteln lagen Halsketten aus dicken Elfenbeinperlen. In den Händen hielten sie kunstvoll geschnitzte Speere mit hakenförmigem Ende, die aussahen wie Hirtenstäbe und mit denen sie ihre krummgehörnten Reittiere lenkten. Sie waren alle größer als Binabik; selbst während der kurzen Zeit in Yiqanuc hatte Simon bereits bemerkt, dass Binabik zu den kleinsten Erwachsenen seines Volkes zählte. Diese Trolle wirkten auch primitiver und gefährlicher als sein Freund, gut bewaffnet und trotz ihrer kleinen Gestalt grimmig und bedrohlich.

Simon starrte die Trolle an. Die Trolle starrten auf Simon.

»Sie haben alle von dir gehört, Simon«, dröhnte Haestan. Die drei Reiter, erschreckt von der lauten Stimme, blickten auf. »Aber kaum einer hat dich bisher gesehen.«

Die Trolle musterten den großen Wachsoldaten unruhig von Kopf bis Fuß, schnalzten dann ihren Tieren etwas zu und ritten hastig weiter, bis sie hinter der Kurve des Berges verschwunden waren. »Jetzt haben sie wenigstens was zu klatschen«, feixte Haestan.

»Binabik hat mir von seiner Heimat erzählt«, sagte Simon, »trotzdem habe ich sie mir nicht recht vorstellen können. Die Dinge sind nie wirklich so, wie man glaubt, nicht wahr?«

»Nur unser guter Herr Usires kennt alle Antworten«, nickte Haestan. »Wenn du jetzt deinen kleinen Freund sehen willst, sollten wir uns lieber auf den Weg machen. Sei vorsichtig – und geh nicht so nah am Rand entlang.«

Kreuz

Langsam stiegen sie den gewundenen Pfad hinab, der quer zum Hang verlief und abwechselnd schmaler und breiter wurde. Oben stand die Sonne hoch am Himmel, aber ein Nest rußfarbener Wolken verbarg ihr Licht. Über das Antlitz des Mintahoq pfiff ein beißender Wind. Der Berggipfel über ihnen trug eine weiße Eisdecke wie die hohen Spitzen auf der anderen Talseite, aber hier, ein Stück weiter unten, lag nicht überall Schnee. Ein paar breite Verwehungen bedeckten stellenweise den Pfad, andere schmiegten sich in Höhleneingänge, aber es gab auch überall trockenen Fels und blanken Boden. Simon wusste nicht, ob diese Art Schnee für die ersten Tage des Tiyagarmonats hier in Yiqanuc normal war; was er aber genau wusste, war, dass er Graupelwetter und Kälte zutiefst satthatte. Jede Flocke, die ihm ins Auge wehte, fühlte sich an wie eine Beleidigung; das narbige Fleisch an Wange und Kinn schmerzte höllisch.

Nachdem sie den anscheinend stärker bevölkerten Teil des Berges hinter sich gelassen hatten, waren nur noch wenige Trolle zu sehen. Aus manchen Höhlenöffnungen spähten dunkle Gestalten durch den Rauch, und zwei weitere Gruppen von Reitern, die in dieselbe Richtung ritten, überholten sie, wurden langsamer, um sie anzustarren, und trabten dann so hastig weiter wie der erste Trupp.

Die beiden kamen an einem Rudel Kinder vorbei, das in einer Schneewehe spielte. Die jungen Trolle, kaum höher als Simons Knie, waren in dicke Jacken und Hosen pelzig eingemummt und sahen wie kleine runde Igel aus. Als Simon und Haestan vorüberstapften, bekamen sie große Augen, und das schrille Geschnatter verstummte; aber sie rannten nicht weg und zeigten kein Zeichen von Furcht. Das gefiel Simon. Er lächelte sanft, wobei er auf seine schmerzende Wange achtete, und winkte ihnen zu.

Eine Schlinge des Pfades hatte sie weit nach der Nordseite des Berges geführt. Sie befanden sich jetzt in einem Gebiet, in dem der Lärm der Bewohner des Mintahoq gänzlich verstummt war und nur noch die Stimme des Windes und der wirbelnde Schnee sie umgaben.

»Gefällt mir kein Stück«, bemerkte Haestan.

»Was ist das?« Simon deutete den Hang hinauf. Auf einer Felsterrasse hoch über ihnen erhob sich ein fremdartiger, eiförmiger Bau aus sorgfältig zusammengefügten Schneeblöcken. Von der schrägen Sonne rosig gefärbt, schimmerte er matt. Davor stand eine Reihe schweigender Trolle, Speere fest in den Fausthandschuhen, die Gesichter unter den Kapuzen hart.

»Nicht mit dem Finger zeigen, Junge«, warnte Haestan und zupfte Simon leicht am Arm. Hatten einige der Wächter zu ihnen hinuntergeblickt? »Das ist was Wichtiges, hat dein Freund Jiriki gesagt. Heißt ›Eishaus‹. Die kleinen Leute regen sich zur Zeit grade fürchterlich darüber auf. Weiß nicht, warum – will’s auch gar nicht wissen.«

»Eishaus?« Simon machte große Augen. »Wohnt dort jemand?«

Haestan schüttelte den Kopf. »Jiriki hat nichts davon gesagt.«

Simon betrachtete Haestan nachdenklich. »Hast du viel mit Jiriki geredet, seit du hier bist? Ich meine, weil ich ja nicht ansprechbar war?«

»Nun ja …«, meinte Haestan und stockte. »Eigentlich nicht viel. Sieht immer aus, als ob … als ob er grad über was Bedeutendes nachdenkt, verstehst du? Irgendwas Wichtiges. Aber auf seine Art ist er ganz nett. Nicht so richtig wie ein Mensch, aber in Ordnung.« Haestan dachte weiter darüber nach. »Nicht so, wie ich mir ein Zauberwesen vorgestellt hatte. Redet ganz vernünftig.« Haestan lächelte. »Hält viel von dir, Junge. So wie er von dir spricht, könnte man glauben, er schuldet dir Geld.« Er gluckste in seinen Bart.

Für einen Menschen, der so geschwächt war wie Simon, erwies sich der Weg als lang und anstrengend: zuerst aufwärts, dann wieder nach unten, kreuz und quer über den ganzen Berg. Obwohl Haestan ihm jedes Mal, wenn er wankte, stützend die Hand unter den Ellenbogen schob, fragte Simon sich schließlich, ob er überhaupt noch weitergehen könnte. Aber da bogen sie um einen Felsvorsprung, der in den Pfad hineinragte wie ein Stein in den Fluss, und standen vor dem weiten Eingang zur großen Höhle von Yiqanuc.

Das riesige Loch, von einer Seite zur anderen mindestens fünfzig Schritte breit, gähnte im Gesicht des Mintahoq wie ein Mund, der sich gerade auftun will, um ein feierliches Urteil zu verkünden. Gleich vornean erhob sich eine Reihe mächtiger, verwitterter Standbilder: rundbäuchige, menschenähnliche Figuren, grau und gelb wie faule Zähne, gebeugt unter der Last des Tordachs. Ihre glatten Schädel waren mit Widderhörnern gekrönt, aus den Lippen wuchsen große Hauer. Jahrhunderte rauher Witterung hatten sie so abgeschabt, dass die Gesichter fast keine Züge mehr aufwiesen. In Simons erstaunten Augen verlieh ihnen das weniger den Anschein hohen Alters als vielmehr den einer noch ungeformten Neuheit – so, als seien sie just im Begriff, sich aus dem Urgestein selbst zu erschaffen.

»Chidsik Ub Lingit«, sagte eine Stimme neben ihm, »das Haus des Ahnen.«

Simon machte einen Satz und drehte sich überrascht um. Es war nicht Haestan, der gesprochen hatte. An seiner Seite stand Jiriki und starrte hinauf zu den blinden Steingesichtern.

»Wie lange steht Ihr schon hier?« Simon schämte sich, weil er so zusammengefahren war. Er wandte den Kopf wieder dem Eingang zu. Wer hätte gedacht, dass die winzigen Trolle sich derart riesenhafte Torwächter meißeln würden?

»Ich bin dir entgegengegangen«, erklärte Jiriki. »Sei gegrüßt, Haestan.«