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JAN BEINSSEN

 

DIE MEISTERDIEBE VON NÜRNBERG

PAUL FLEMMINGS VIERTER FALL

 

Kriminalroman

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (3. Auflage 2009)

© 2008 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Hanna Stegbauer

Umschlaggestaltung: Anna Ponton, unter Verwendung eines Bildausschnitts von Albrecht Dürer, Kaiser Karl der Große

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-348-5

 

Für Philip

 

Nürnberg, 18. April 1945

Wilhelm Galster ist siebenundvierzig, Anton Schmidbauer fünfzig und Franz Kleinlein einunddreißig Jahre alt, als sie sich zwei Tage vor der Siegesparade der US-Army auf den Weg zu einem geheimen Treffen machen.

Es ist der 18. April 1945, der Tag, an dem die US-Infante­risten nach blutigen Kämpfen im Stadtteil Mögeldorf in Richtung des Reichsparteitaggeländes vordringen. Vereinzelt stellen sich ihnen noch deutsche Soldaten in den Weg. An der Siedlerstraße stehen zwei italienische Gebirgsgranatwerfer. Doch niemand setzt sie mehr gegen die zahlenmäßig überlegenen Invasoren ein. Die provisorischen Straßensperren knicken unter den Panzern der US-Army ein wie Streichhölzer.

Heckenschützen feuern in der Wodanstraße aus zerbombten Wohnungen auf die US-Soldaten. Einer der amerikanischen Tanks geht in Flammen auf. Nahe dem Dutzendteich liefern sich deutsche und amerikanische Soldaten vereinzelte Schusswechsel. Doch die Entscheidung ist längst gefallen: Als die Dämmerung einbricht, sind das Reichsparteitaggelände, die SS-Kasernen an der Frankenstraße sowie der Stadtteil Lichtenhof in der Hand der US-Army.

Im Graben neben der Münchner Straße liegen am Abend die Leichen von drei Zivilisten: Wilhelm Galster, Anton Schmidbauer und Franz Kleinlein. Eine Woche lang kümmert sich niemand um die Toten. Dann lassen die Amerikaner das Bergen der Leichname zu. Ihre Familien nehmen in aller Stille Abschied von ihnen.

 

1

Paul Flemming erwachte mit dröhnendem Kopf. Seine Schläfen pochten. Das Klingeln an seiner Wohnungstür hörte sich ungewöhnlich schrill an und schmerzte in seinen Ohren. Er musste sich zwingen, die Augen zu öffnen. Widerwillig blinzelte er in die grelle Sonne, die durch das ovale Oberlicht seines Ateliers hereinschien und ihn blendete.

»O Mann«, stieß er hervor und raffte sich mühsam auf. Wieder schellte es an der Tür. Erst jetzt bemerkte Paul, dass er bis auf die Schuhe komplett angezogen war. »O Mann«, wiederholte er leise.

Auf unsicheren Beinen schwankte er zur Tür. Er versuchte sich daran zu erinnern, wie er nach Hause gekommen war. Und vor allem auch daran, was er gestern Abend als letztes getrunken hatte.

Paul drückte die Klinke herunter. Keine Ahnung, wer das um diese Zeit sein konnte. Genau genommen hatte er keinen blassen Schimmer, wie spät es überhaupt war. Er öffnete langsam die Tür.

»Grüß Gott«, sagte einer der vier Männer, die sich vor seiner Wohnungstür aufgebaut hatten. Paul kannte sie nicht. Aber da zwei von ihnen die Uniform von Polizeibeamten trugen und alle vier sehr ernste Gesichter machten, hatte er kein besonders gutes Gefühl bei der Sache.

»Guten Tag«, brachte Paul heraus und fasste sich an den Kopf. Dieses Dröhnen war kaum auszuhalten.

»Sind Sie Herr Flemming? Paul Flemming?«, fragte der Mann, der ihn gegrüßt hatte. Das Jackett seines Anzugs war an der linken Seite leicht ausgebeult. Paul konnte sich denken, was er darunter verborgen hielt. Wahrscheinlich war der Typ von der Kripo. Aber was wollten diese Männer von ihm?

Paul wurde es mit einem Mal ganz anders: Hatte er gestern Nacht womöglich irgendwelchen Blödsinn angestellt? War er betrunken Auto gefahren? Aber nein, beruhigte er sich selbst. Den Wagenschlüssel hatte er gestern nicht angerührt. Er war ja nach der Arbeit nur noch zu Fuß unterwegs gewesen.

Genau, jetzt fiel es ihm wieder ein: Da waren diese Models gewesen. Ziemlich aufdringlich, aber letztlich doch ganz nett. Er hatte einen unterhaltsamen Abend in Jan-Patricks Goldenem Ritter verbracht. Nichts Besonderes, aber amüsant. Und ein wenig Ablenkung konnte er gut gebrauchen, gerade jetzt, da Katinka weit weg von ihm in Berlin war und sich so selten meldete. Ja, dachte Paul, es war ein netter Abend gewesen – wenn er nur nicht so viel getrunken hätte ...

»Paul Flemming, wohnhaft am Weinmarkt in Nürnberg«, stellte der Polizist in Zivil sachlich fest. »Waren Sie gestern Abend in den Lochgefängnissen im Kellergeschoss des Alten Rathauses?«

Paul spürte seine trockene Kehle. Was redete dieser Mann da? Im Lochgefängnis? Ja, dort war er vor seinem Besuch im Goldenen Ritter tatsächlich gewesen. So ziemlich den ganzen Tag hatte er sich in den düsteren Folterkammern aufgehalten. Ihm kamen die Probleme in den Sinn, die er damit gehabt hatte, die engen und niedrigen Gänge und Zellen auszuleuchten. Und wie schwer sich seine beiden Models anfangs damit getan hatten, sich in dem kalten und grusligen Ambiente des mittelalterlichen Kerkers für seine Modeaufnahmen zu entspannen.

»Ja«, sagte Paul schließlich. Seine eigene Stimme hallte in seinem Kopf wider und verursachte den nächsten Anflug von Kopfschmerzen.

»Ist Ihnen eine gewisse Beate Meinefeld bekannt?«

Was sollten diese Fragen? Paul fühlte sich mit seinem ausgewachsenen Kater auch ohne ein Kreuzverhör schlecht genug. Auf ein sinnloses Frage-und-Antwort-Spiel hatte er jetzt ganz bestimmt keine Lust.

»Ja«, sagte er unwirsch. »Sie hat gestern für mich als Model gearbeitet.«

Paul kamen sehr verschwommene Bilder vom Ende des Abends in den Sinn. Beate – oder Bea, wie sie sich nannte – war an ihm sehr interessiert gewesen. Um nicht zu sagen: Sie hatte sich ihm an den Hals geworfen. Etwas zu direkt und fast schon plump, wie Paul es empfand. Andererseits war ihm ein wenig Trost und Zuspruch von weiblicher Seite zur Zeit ja auch höchst willkommen. Und überhaupt: Er war momentan sozusagen ungebunden und niemandem verpflichtet. Warum also nicht?

»Frau Meinefeld ist heute früh von Reinigungskräften des Rathauses im Lochgefängnis aufgefunden worden. Tot«, stellte ihn der Zivilbeamte vor vollendete Tatsachen.

Paul war viel zu baff, um darauf etwas sagen zu können. Stattdessen konfrontierte ihn der Kriminalpolizist mit der nächsten schockierenden Neuigkeit: »Die Leiche von Frau Meinefeld befand sich in einer der historischen Folterzellen.«

»Sie lag auf den Steinstufen unter einer Streckbank«, ergänzte der andere nach einem Blick in seine Unterlagen. Der Beamte hob die rechte Braue: »Sie war nackt bis auf einen leichten Sommermantel. Sandfarben. Der Mantel eines ­Mannes.«

»In der Tasche steckte ein Portemonnaie«, redete der erste Polizist weiter. »Darin fanden wir Ihren Personalausweis und Visitenkarten mit dem Namen Ihres Fotostudios.«

»Mein Mantel?«, fragte Paul verblüfft und schaute sich nach seinem Garderobenständer um. Er war leer.

»Ja. Wie es aussieht, handelt es sich um Ihren Mantel«, bestätigte der Beamte. »Würden Sie uns bitte aufs Revier in der Rathauswache begleiten? Wir hätten da ein paar Fragen an Sie.«

 

2

Bea Meinefeld tot? Paul hatte noch immer starke Kopfschmerzen. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Doch der Nachricht vom Tod des Fotomodells musste er mit klarem Verstand begegnen.

Er saß in einem kahlen Verhörzimmer in der Rathauswache, der Kripomann von vorhin ihm gegenüber. Zwischen ihnen stand nur ein schlichter Tisch, der Kollege des Beamten wartete im Hintergrund.

Es war ganz wie im Fernsehen, nur dass es sich bei dem armen Teufel, den die Polizisten gleich in die Mangel nehmen würden, nicht um einen gut bezahlten Schauspieler handelte, sondern um Paul, und er sich nicht einfach entspannt als Zuschauer zurücklehnen konnte.

»Beginnen wir mit der nächstliegenden Frage«, setzte der Kriminalbeamte an, der ihm gegenüber saß. Paul schien es, als würde ein Lächeln die schmalen Lippen des Ermittlers umspielen. »Warum haben Sie dieses Mädchen getötet?«

»Ich habe was?« Paul sprang von seinem Stuhl auf und schnappte nach Luft. »Wie kommen Sie denn darauf?«

Der Beamte blieb ruhig sitzen und wiegte den Kopf. »Nun – Sie haben bereits zugegeben, dass Sie sich gestern im Lochgefängnis aufgehalten haben. Sie sind mit der Getöteten bekannt. Und sie trug Ihren Mantel, in dem immer noch der Schlüssel zum Lochgefängnis steckte. Da drängt sich uns der Verdacht auf, dass Sie für den Tod dieser Frau verantwortlich sind.«

Paul versuchte das nach wie vor starke Hämmern in seinen Schläfen zu ignorieren und setzte sich wieder hin. Er senkte den Blick, rieb sich die Augen. Er musste aufpassen. Denn das hier war kein Spaß.

Was genau war gestern Abend vorgefallen?, fragte er sich besorgt und klopfte sich mit den Fingerkuppen gegen die Stirn. Okay, zwang er sich zur Raison, wie war der Tag verlaufen? Sie hatten sich nachmittags vorm Rathaus getroffen: er selbst, Bea Meinefeld, ein anderes Model und die Visagistin. Paul hatte den Schlüssel fürs Lochgefängnis vom Presseamt der Stadt bekommen. Sie sollten freie Hand für ihre Fotoaufnahmen haben, denn wegen der Vorbereitungen für eine große Ausstellung im Rathaussaal, einen Stock höher, waren die alten Folterkeller für den Publikumsverkehr gesperrt worden ...

Alles harmlose Dinge – Pauls Berufsalltag. Wie konnte das mit einem Mord in Verbindung gebracht werden?

»Warten Sie«, sammelte Paul seine geschwächten Kräfte zum Selbstschutz. »Sie überfallen mich zu Hause, nehmen mich mit aufs Revier und konfrontieren mich mit einem ungeheuerlichen Vorwurf. Sie haben mir ja noch nicht einmal die Todesursache von Frau Meinefeld genannt. Wie ist sie denn gestorben?«

»Erstaunlich, dass Sie erst jetzt danach fragen«, stellte sein Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen fest.

Der andere Polizist hingegen fragte: »Wissen Sie das denn nicht selbst am besten?«

Paul ballte die Fäuste. Er war bereit zu rebellieren. Warum nur gingen diese beiden Männer so aggressiv gegen ihn vor und traten seine Würde mit Füßen?

Er zwang sich zur Ruhe. »Wie ist sie gestorben?« fragte er nochmals.

Die Beamten verständigten sich mit einem Blick. »Genickbruch«, sagte der eine knapp.

»Sie haben sie richtig hart angefasst«, sagte der andere.

Schon wieder so ein Vorwurf. Paul hätte am liebsten laut aufgeschrien. Doch dann fühlte er sich an etwas erinnert. Für eine Fotoreportage hatte er einmal den Kriminaldauerdienst begleitet und dabei gelernt, dass die Chancen, einen Mörder zu überführen, in den ersten Stunden nach der Tat am größten waren. Dann nämlich waren die Täter selbst noch angespannt und ihre Nerven lagen blank. In dieser psychologischen Extremsituation konnten ein paar energisch vorgebrachte Beschuldigungen reichen, um dem Schuldigen ein Geständnis zu entlocken.

Auf dieselbe Weise versuchten nun offenbar die beiden Polizisten, Paul zum Reden zu bringen. Plötzlich sah er ein, dass die Kriminalbeamten nichts weiter machten als ihren Job – und wahrscheinlich machten sie ihn sogar gut. Aber – verflucht! – er hatte ihnen nichts zu sagen! Wann würden sie das akzeptieren?

»Also?«, forderte ihn der Kripomann ihm gegenüber auf. »In welchem Verhältnis standen Sie zu dem Opfer?«

»Wir haben Fotos gemacht«, brachte Paul stockend hervor.

Der Beamte sah ihn wenig mitfühlend an. »Soso, Fotos. Natürlich. Sie machen Fotos. Denn Sie sind ja Fotograf.« Er führte seinen Zeigefinger an die dünnen Lippen. »Was waren denn das für Fotos?«

Paul kamen bei dieser Frage die Bilder von gestern in den Kopf. Die Korsagen aus schwarzem Leder, die Lackbustiers ... – Bea hatte eine gute Figur in diesen ausgefallenen Dessous gemacht.

»Modefotografie«, sagte Paul möglichst betonungslos.

»Ach?«, tat der Polizist überrascht. »Mode im Folterkeller. – Ist das nicht ein wenig geschmacklos?«

»Es war die Auftragsarbeit einer Nürnberger Boutique«, antwortete Paul. »Kleidung, Ort und Modelagentur wurden vom Auftraggeber bestimmt.« Er erinnerte sich sehr wohl daran, dass er anfangs Skrupel gehabt hatte, den Auftrag anzunehmen. Denn die Sado-Maso-Schiene lag ihm nicht besonders. Aber dann hatte er erkannt, dass die zu fotografierenden Teile zwar sexy, aber keineswegs anrüchig waren. Er musste also keine bösen Folgen für seinen Ruf befürchten – und das Geld konnte er allemal gebrauchen.

»Was genau waren denn das für Modefotos?« Der Beamte blieb hartnäckig.

Paul beschloss, die Wahrheit zu sagen, denn ein Anruf bei der Boutique würde der Polizei ja genügen, um es auch ohne seine Hilfe herauszufinden: »Salonfähiges Lack und Leder«, sagte Paul kurz und versuchte, dabei völlig souverän zu wirken.

Der Polizist setzte ein breites Lächeln auf und drehte sich zu seinem Kollegen um. »Hörst du das, Jürgen? Lack und Leder.« Dann wandte er sich wieder Paul zu. »Diese Beate Meinefeld war ja an sich schon von der Natur verwöhnt. Wenn man sie sich in Hardcore-Reizwäsche vorstellt – das kann einem schon den Verstand rauben, nicht wahr, Herr Flemming?«

Wollte ihn dieser Typ aufs Glatteis führen? Paul musste sich zwingen, seinen Mund zu halten und erst einmal nachzudenken. »Als Fotograf bin ich erfreuliche Anblicke dieser Art gewöhnt. Es ist mein Job, damit emotionslos umzugehen«, sagte er, aber er tat es mit bebender Stimme. Seine Souveränität war dahin.

Er sah Bea vor sich, mit all ihren Reizen. Sie war eine sehr schöne junge Frau gewesen. Traumfigur. Rassig. Ohne Hemmungen. Die reine Lebenslust. Aber Paul hatte schon nach den ersten Aufnahmen entschieden, dass er sie künftig als Model nicht mehr bestellen würde. Sie kokettierte ständig mit ihren Reizen. Wackelte mit ihrem Knackpopo, reckte die Brüste nach vorn, als ob es einen Preis dafür zu gewinnen gäbe. Sie war ihm schlichtweg zu anstrengend für die Arbeit.

Aber danach ... – Sie hatten so gegen neunzehn Uhr Feierabend gemacht. Die Visagistin hatte sich sofort verabschiedet. Doch die beiden Models – Bea voran – wollten noch etwas unternehmen. Sie überredeten Paul zu einem Absacker. Das war eigentlich nicht sein Stil, denn Paul hielt Job und Privatleben für gewöhnlich getrennt. Doch Bea war ausdauernd, und schließlich hatte er eingewilligt. Er lud die beiden auf einen Drink im Goldenen Ritter ein. Der war nicht weit vom Rathaus entfernt und auch nicht weit von seiner Wohnung am Weinmarkt, auf die er sich nach dem langen Arbeitstag schon gefreut hatte.

Er erinnerte sich noch genau an Jan-Patricks Gesichtsausdruck, als Paul mit den beiden Mädels das Lokal betreten hatte: »Um Himmels willen, wen hast du denn da aufgerissen?«, stand in den Augen des Wirts geschrieben. Paul hatte seinem alten Freund auf die Schulter geklopft und ihm zugeflüstert:

»Rein dienstlich.«

»Dienstlich?«, hatte Jan-Patrick zweifelnd wiederholt und sich nervös über sein öliges schwarzes Haar gestrichen. »Ich habe eher den Eindruck, dass du in alte Zeiten zurückfällst. Ich dachte, mit fast vierzig wärst du allmählich aus der Sturm- und Drangphase raus.«

Paul hatte daraufhin nur gelächelt und sich mit seinen beiden Begleiterinnen in die Erkernische des rustikal romantischen Altstadtrestaurants zurückgezogen.

»Das nehme ich Ihnen nicht ab!«, riss der Kriminalbeamte Paul aus seinen Gedanken. »Ein junges, attraktives Mädchen macht Sie an und versucht Sie zu verführen. Und Sie, ausgerechnet Sie als Junggeselle, wollen mir weismachen, dass Sie diesen Verlockungen widerstanden haben?«

Paul nickte unsicher.

Der Beamte schüttelte entschieden den Kopf. »Ich will Ihnen sagen, wie es war: Beate Meinefeld hat während der Fotoaufnahmen Ihre sexuelle Fantasie beflügelt. Die berufliche Distanz ging verloren, Sie wurden erregter ...«

»Geiler!«, mischte sich der andere Polizist ein.

Sein Kollege nickte. »Sie waren sexuell extrem stimuliert, als Sie mit Beate Meinefeld nach dem Fotoshooting im Goldenen Ritter eingekehrt sind.«

»Ach«, unterbrach Paul überrascht. »Sie wissen das mit dem Goldenen Ritter

»Selbstverständlich«, nickte der Beamte. »Die Kollegin der Toten hat uns sehr genau ins Bild gesetzt.« Er beugte sich zu Paul vor. »Legen wir doch die Karten auf den Tisch: Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass ein Mann im besten Alter ein solches Angebot nicht so einfach ausschlägt. Ich an Ihrer Stelle wäre sicher auch in Versuchung geraten. – Man muss sich das einmal bildlich vorstellen: Weibliche Reize in ­jugendlicher Blüte ...«

»Ersparen Sie mir Ihre billigen Klischees!«, ärgerte sich Paul. »Ich habe mein Triebleben sehr wohl im Griff, wenn es um den Job geht.« Aber hatte er das wirklich? Was genau war denn gestern Abend noch geschehen? Zugegeben: Bea hatte ihn angemacht. Das hatte schon während des Shootings begonnen und sich beim Feierabenddrink im Goldenen Ritter fortgesetzt. Sie war sehr geschickt zuwege gegangen. Ihr perfekter Körper war ihr stärkstes Argument – an dem war tatsächlich nichts auszusetzen. Und dann hatte sie diese Art, während des Gesprächs ständig Körperkontakt zu suchen: Mal berührten sich wie zufällig die Knie, mal lag ihre Hand auf seiner. Am Ende hatte er ihren Atem ganz dicht an seinem Ohr gespürt. Und auch an die feuchte Wärme ihrer Lippen konnte er sich plötzlich erinnern ...

»Wahrscheinlich hat sie Ihnen einen Korb verpasst, als Sie mehr wollten«, sagte der Kripomann.

»Erst heiß gemacht und dann abblitzen lassen«, mischte sich der andere wieder ein.

»Und dann sind Sie durchgedreht«, folgerte der erste. »Wie gesagt: Nur zu verständlich.«

Verständlich? Paul war völlig durcheinander. Was wollten ihm diese Bullen da einreden? Er hatte keinen Mord begangen! Zumindest ... konnte er sich nicht daran erinnern!

»Paul, lass es gut sein«, hatte ihm Jan-Patrick nach dem vierten oder fünften Bier gesagt. »Bestell den Mädels ein Taxi und geh heim. Es hat doch keinen Sinn, deinen Frust auf Ka­tinka mit zwei Halbwüchsigen auszuleben.«

»Das hier hat überhaupt nichts mit Katinka zu tun!«, hatte Paul widersprochen. »Die soll in Berlin Karriere machen und sich amüsieren. Ich lebe mein Leben, und das lasse ich mir nicht von Katinkas Sturheit verderben!«

»Aber diese Mädchen sind doch nichts für dich«, mahnte Jan-Patrick. »Lass die Finger von solchen Geschichten. Dafür bist du zu alt.« Paul hatte in diesem Moment den sanften Druck von Beas Hand auf seinem Oberschenkel gespürt und seinen Freund zum Teufel gewünscht. »Man ist so alt, wie man sich fühlt.« Er war zu allem bereit gewesen an diesem Abend ... – zu allem?

Der zweite Kripomann legte einen Stoß Papiere auf den Tisch. »Unterschreiben Sie hier.«

Paul sah ihn verdattert an. »Was ist das?«

»Leider noch kein Geständnis«, sagte der erste Beamte mit offenem Bedauern. »Es ist nur eine Erklärung.«

»Was für eine Erklärung?« Paul rechnete mit dem Schlimmsten.

»Darüber, dass Sie sich zu unserer Verfügung halten«, sagte der Beamte. »Sie wissen schon: Keine Reisen ins Ausland. Sie rufen uns zurück, wenn wir auf Ihren AB sprechen.«

»Soll das heißen ...« In Paul keimte neue Hoffnung auf. »Soll das heißen, Sie lassen mich gehen?«

»Nicht gern«, schaltete sich erneut der zweite Polizist ein. »Wir haben ein recht genaues Bild davon, was sich gestern Abend abgespielt hat und wer dafür verantwortlich ist.«

Paul versuchte sich an den Ausgang des Abends zu erinnern: Da waren zunächst die anregenden Stunden im Goldenen Ritter. Dann der Weg nach draußen, auf den Weinmarkt. Es war kühl geworden. Sternklarer Himmel. Bea hatte gefroren, Paul hatte ihr seinen Mantel angeboten. Aber dann? Wie war es weitergegangen?

Die frische Luft hatte Paul den Alkohol umso stärker spüren lassen. Er hatte Bea seinen Mantel über die Schultern gelegt. Daraufhin hatte sie sich an seine Seite geschmiegt. Er hatte ihren schmalen Körper neben sich gespürt. Wahrscheinlich hatte er seinen Arm um ihre Schultern gelegt. Und dann ... – er konnte sich nicht erinnern.

»Um es kurz zu machen«, sagte Ermittler Nummer eins, »wir haben leider nicht die Handhabe, Sie hier länger festzuhalten. Aber das kann sich schnell ändern.«

»Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass momentan alles gegen Sie spricht«, sagte der andere mit drohendem Unterton. »Uns fehlt nur noch ein Augenzeuge dafür, dass Sie in Begleitung der Getöteten tatsächlich noch einmal ins Lochgefängnis gegangen sind.«

»Warum auch immer Sie das getan haben«, ergänzte Pauls Gegenüber in anzüglichem Ton. »Ich weiß ja nicht, auf welche Art von Sex Sie stehen ...«

Paul riss sich zusammen. Er wollte aufspringen und die beiden Polizisten anschreien. Denn diese Vorhaltungen waren ungeheuerlich. Aber er hatte nichts, rein gar nichts, was er zu seiner Verteidigung vorbringen konnte.

Denn ihm fehlte ein entscheidender Teil seiner Erinnerung. Ihm wollte partout nicht einfallen, was auf die Szene mit dem Sommermantel gefolgt war. Hatte Bea sich verabschiedet und war gegangen? Oder waren sie beide zusammengeblieben? Waren sie womöglich gemeinsam in Pauls Atelier gelandet und hatten miteinander ...

Paul fiel in diesem Zusammenhang eine Episode aus seiner Vergangenheit ein. Es war kurz nach dem Abitur gewesen, als er erstmals Bekanntschaft mit dem Phänomen des sogenannten Blackouts gemacht hatte. Bei einer Party war er ziemlich abgestürzt. Er hatte wahllos alle möglichen Drinks konsumiert: Bier, Wein, Schnäpse, Cocktails. Am anderen Morgen hatte ihn die Gastgeberin damit konfrontiert, er habe die Reinigung ihres Kleides zu zahlen, das er absichtlich mit Rotwein bekleckert hätte. Paul hatte im Brustton der Überzeugung widersprochen. Bis ihm schließlich Fotos vorgelegt wurden, die ihn in voller Aktion zeigten: Breit grinsend stand er mit einer Weinflasche vor der Gastgeberin und hatte sichtlich Spaß daran, ihrem Kleid einen neuen, rot gescheckten Look zu verpassen.

»Sie haben offensichtlich bei jemandem einen Stein im Brett – über die Gründe möchte ich hier nicht spekulieren«, sagte Pauls Gegenüber mit kaum verhohlener Wut. »Deshalb – aber auch nur deshalb! – werden wir Sie laufen lassen.«

»Aber die Sache ist nicht ausgestanden«, betonte der andere noch einmal.

»In unseren Augen sind Sie schuldig.« Der erste Beamte sah Paul eindringlich an. »Der kleinste Fehler, und wir haben Sie.«

»Danke.« Paul erhob sich. Er bemühte sich um einen freundlichen Tonfall. »Einen schönen Tag noch.«

Er verließ das Revier in dem Bewusstsein, dass er womöglich ein Mörder war. Ihm fehlten die Erinnerungen an mindestens sieben oder acht Stunden der letzten Nacht.

 

3

Der Rückweg nach Hause, zum Weinmarkt, so kurz er auch sein mochte, geriet für Paul zum Martyrium. Die Vorstellung, das Gedächtnis verloren zu haben, war allein schon erschreckend genug. Aber dieser Mordvorwurf – das war zuviel für ihn. Paul fühlte sich schrecklich, und er gab sich keine Mühe, seinen Gemütszustand zu verbergen.

Zum Glück traf er keinen Bekannten, dem er Rechenschaft über seine Niedergeschlagenheit hätte ablegen müssen. Er war froh, als er unbehelligt das Haus erreicht hatte.

Während er die Treppen bis ins oberste Stockwerk hinaufging, machte er sich bittere Vorwürfe wegen des vergangenen Abends. In seinen Ohren hallten die Worte Jan-Patricks nach:

»Riskier doch nicht deine Beziehung mit Katinka«, hatte der Wirt ihm zugeraunt, als er eine neue Runde Getränke servierte.

»Beziehung?«, hatte Paul gezischt. »Was ist denn das für eine Beziehung, bei der es dem einen Partner nur immer um die Karriere geht? Sie hat mich für ihren ach so tollen Juristenjob in Berlin sitzen lassen, so sieht’s aus!«

»Du hattest die Wahl, sie zu begleiten«, hatte ihn Jan-Patrick leise an die Realität erinnert.

»Ja«, hatte Paul sauertöpfisch erwidert. »Aber das wollte ich nicht, und jetzt lass mich in Ruhe damit.«

Paul schloss seine Wohnungstür auf. Wie weit war diese Sache mit Bea gegangen, fragte er sich zum wiederholten Mal. Im Goldenen Ritter war außer gelegentlichem Händchenhalten nichts gewesen. Da war sich Paul ganz sicher, allein schon wegen Jan-Patricks argwöhnischen Blicken. Aber als sie das Lokal verlassen hatten, später am Abend? Es musste ihm doch endlich wieder einfallen!

Paul plumpste auf sein Sofa und ließ den Kopf in die Hände sinken. Er spürte eine beunruhigende Leere in sich. Der Mangel an Erinnerungen zermürbte ihn. In seinem Gedächtnis klaffte diese gewaltige Lücke – ihm fehlten die Bilder der entscheidenden Stunden.

Bilder? Paul hob seinen Kopf. Das war das Stichwort! Plötzlich sah er Licht am Ende des Tunnels. Mit etwas Glück konnte er Bilder des gestrigen Abends auftreiben. Er hatte nach den Fotoaufnahmen im Lochgefängnis zwar das Gros seiner Ausrüstung zurück ins Atelier gebracht, aber seine kleine Leica mitgenommen. Denn ganz ohne Kamera fühlte er sich nackt.

Im Goldenen Ritter hatte er den Fotoapparat ausgepackt, ein paar Schnappschüsse gemacht. Dann war die Kamera fleißig am Tisch herumgereicht worden. Jeder hatte jeden abgelichtet.

Während Paul jetzt mit fahrigen Bewegungen seine Wohnung absuchte, klammerte er sich an die Hoffnung, dass sie auch vom späteren Abend Fotos gemacht hatten.

Das Sofa, auf dem er in der Nacht eingeschlafen war, erwies sich als unergiebig. Er suchte weiter zwischen den Zeitschriften auf seinem Couchtisch. Dann durchwühlte er die Unterlagen auf seinem gläsernen Schreibtisch. Fehlanzeige.

Schließlich schaute er in der Küchenzeile nach. Diesmal mit Erfolg: Neben einem halb geleerten Glas Wein lag die kleine Leica. Paul schnappte sie sich und eilte zurück zum Schreibtisch.

Er schaltete seinen Computer an. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, bis der Rechner hochgefahren war.

Paul legte die Speicherkarte der Kamera in den Kartenleser des Computers. Innerhalb weniger Sekunden waren die Bilder übertragen, und Paul ließ sie als Diashow ablaufen.

Die muntere Runde des Vorabends füllte nun den Flachbildschirm aus. Paul sah Beate Meinefeld und das andere Model Arm in Arm vor der Kamera herumalbern. Dann erschienen die Mädchen einzeln, wieder lachend. Ein weiteres Foto zeigte sie alle drei zusammen mit Paul in der Mitte, fröhlich und ausgelassen. Er hatte das Bild mit ausgestrecktem Arm selbst gemacht.

Die nächsten Aufnahmen ließ Paul schneller durchlaufen. Schließlich wechselte die Kulisse: Aus der urig rustikalen Atmo­sphäre des Goldenen Ritters ging es hinaus in die pechschwarze Nacht. Paul betrachtete nun wieder jedes Bild einzeln.

Zu sehen waren Beate Meinefeld und er selbst. Wahrscheinlich hatte das andere Model diese letzten Aufnahmen gemacht. Fünf Stück waren es genau: Auf dem ersten Bild hatte sich Bea bei ihm untergehakt. Auf dem zweiten zog Paul ihren Kopf ganz nahe an den seinen. Das dritte Foto zeigte die beiden in inniger Umarmung. Das vierte und fünfte Bild wiederholte dieses Motiv aus wechselnden Perspektiven.

Das war alles. Mehr war auf dem Speicherchip nicht enthalten. Paul blickte stumpfsinnig auf den Bildschirm. Wieder und wieder schaute er sich die fünf letzten Fotos an. Er vergrößerte den Ausschnitt ihrer Köpfe. Details waren nicht zu erkennen, dafür war die Auflösung zu schlecht und das Licht zu bescheiden gewesen. Aber es sah ganz so aus, als ob Bea und er sich geküsst hätten. Und da die drei Bilder am Schluss dasselbe unveränderte Motiv zeigten, musste es ein langer Kuss gewesen sein.

Niedergeschlagen ließ Paul die Bilder von seinem Schirm verschwinden. Diese Aufnahmen hatten ihm nicht helfen können, im Gegenteil: Nun war klar, dass er sich mit Bea eingelassen hatte. Wie weit das gegangen war, konnte er nur ­mutmaßen. Er fühlte sich elend.

Ihm war danach, sich wieder auf seinem Sofa auszustrecken, die Decke über den Kopf zu ziehen und den Rest des Tages zu verschlafen. Seine Kopfschmerzen waren noch immer zu spüren, und unter Menschen wollte er heute auf keinen Fall mehr gehen.

Doch so verlockend es auch war, er legte sich nicht hin: Einem plötzlichen Impuls folgend, rief er die Fotodatei nochmals auf. Womöglich hatte er etwas übersehen, eines jener kleinen Dinge, die mitunter etwas auslösten. Vielleicht würde ein winziges Detail seinem streikenden Gedächtnis doch noch auf die Sprünge helfen.

Schon bei den ersten Bildern, denen vom Beginn des Abends, hielt er inne. Zu sehen war das andere Model. Eine schlichte Brünette, die den ganzen Tag über etwas im Schatten der blonden, impulsiven Bea gestanden hatte. Dieses andere Mädchen – Paul hatte sich nicht einmal ihren Namen gemerkt – hatte ja offensichtlich die letzten Fotos gemacht. Zwar hatte sie irgendwann aufgehört zu fotografieren. Gesehen aber hatte sie ganz sicher mehr! Vielleicht sogar mehr, als sie der Polizei gegenüber bisher preisgegeben hatte.

Paul musste sie sprechen!

Er zog sein Adressregister heran und ließ seine Finger durch die vielen Visiten- und Karteikarten flitzen. Dann hatte er die Richtige gefunden: die Karte der Modelagentur, die die Mädchen vermittelt hatte.

Paul ging mit dem schnurlosen Telefon zum Sofa zurück und tippte die Nummer ein.

»Mandy’s Model Company, Sie sprechen mit Frau Hufnagel«, meldete sich eine überzogen süßliche Stimme.

Paul atmete tief durch. Er ahnte, dass ihm ein Gespräch mit dem zweiten Model mit etwas Glück dabei helfen würde, die Lücken in seinem Gedächtnis zu schließen. Er war entsprechend aufgeregt, wollte sich das aber nicht anmerken lassen: »Hier spricht Flemming, Paul Flemming. Könnte ich bitte mit ...«

Weiter kam er nicht. Er hatte seinen Namen kaum aus­gesprochen, als seine Gesprächspartnerin auflegte. Paul dachte zunächst an ein Versehen und versuchte es erneut. Aber die Verbindung wurde sofort wieder unterbrochen. So etwas war kein Zufall, und Paul musste kein Hellseher sein, um den Grund zu begreifen: Das andere Model hatte längst mit seinen Kolleginnen geredet – der Verdacht gegen ihn hatte sich offenbar schon weiter herumgesprochen, als er dachte. Kein Wunder, dass die Telefonistin von Mandy’s Model Company sofort aufgelegt hatte.

Paul fluchte, den Hörer noch in seiner Hand, vor sich hin. Wie von selbst bewegten sich seine Finger, um eine andere Nummer einzutippen.

Er tat das nicht gern. Es gibt Menschen, die bittet man nur in äußerster Not um Hilfe. Doch Paul befand sich in Not – und um aus dieser zu entkommen, war er bereit, sich bis zu einem gewissen Grad zu erniedrigen. Denn eines war sicher: Für Victor Blohfeld würde es ein Triumph sein, Paul in einer so verzweifelten Lage zu sehen und zu wissen, dass seine Hilfe nötig war.

Während Paul dem Rufton lauschte, kam ihm aber auch der Gedanke daran, dass der Polizeireporter es womöglich schlichtweg ablehnen würde, ihn zu unterstützen. Denn Mord war kein Kinderspiel – und Paul hatte nicht den kleinsten Anhaltspunkt dafür, dass er unschuldig war.

»Blohfeld«, schmetterte es aus dem Hörer. »Wir haben gleich Schlagzeilenkonferenz. Machen Sie es kurz, Flemming!«

»Woher wissen Sie, dass ich ...«, setzte Paul verwundert an.

»Ich kann Ihre Nummer auf dem Display sehen, Sie Technikbanause«, unterbrach ihn Blohfeld. »Also, was gibt’s Wichtiges?«

Paul musste sich konzentrieren, um den Sachverhalt so neutral wie möglich zu schildern. Dennoch merkte er, wie seine Stimme vor innerer Anspannung zitterte.

Am anderen Ende der Leitung herrschte zunächst Schweigen. Nur das Bimmeln der Redaktionstelefone im Hintergrund sprach dafür, dass Blohfeld noch dran war.

Dann räusperte sich der Reporter. »Sie behaupten also, dass Sie selbst überhaupt keine Erinnerung an diese Vorfälle haben?«, fragte er skeptisch.

»Ja«, bestätigte Paul wahrheitsgemäß. »Zumindest nicht an die entscheidenden Stunden.«

»Sie wollen mir da nicht etwa einen Bären aufbinden, oder?«, hakte Blohfeld misstrauisch nach.

»Das würde ich gern«, sagte Paul mit einem kümmerlichen Anflug von Humor. »Aber dafür bin ich momentan nicht in der richtigen Verfassung.«

»Also gut«, sagte der Reporter knapp. »Es gibt eine Tote und einen Tatverdächtigen. – Ich bin gespannt, ob Sie in der heutigen Pressebilanz des Präsidiums erwähnt werden. Vielleicht ist man gnädig und kürzt Ihren Nachnamen ab.« Und dann in rüderem Tonfall: »Was um Himmels willen wollen Sie von mir, Flemming?«

»Wir kennen uns schon recht lange«, appellierte Paul an das Gewissen des Reporters, »und ich weiß, dass Sie meistens vor allen anderen das Gras wachsen hören. Wenn jemand etwas über die fraglichen Stunden herausbekommen kann, dann sind Sie es.«

»Hören Sie, Flemming: Ich muss jetzt wirklich in die Konferenz. Die anderen warten schon«, sagte Blohfeld ungeduldig. »Mag sein, dass ich etwas herausbekomme. Vorerst aber sind Sie ein Tatverdächtiger, und ich werde mich hüten, in polizeiliche Ermittlungen einzugreifen. Nehmen Sie sich lieber einen guten Anwalt. Außerdem ...«

»Außerdem was?«, fragte Paul enttäuscht.

»Außerdem musste es bei Ihrem Lebenswandel ja irgendwann soweit kommen.«

»Was soll das heißen?«, entrüstete sich Paul. »Mein Lebenswandel?«

»Nun, Sie sind – wie alt? Vierzig?«

»Fast!«

»... und unverheiratet ...«

»Deswegen müssen Sie mich nicht als Lebemann abstempeln!«

»Ach, Sie wollen kein Playboy sein? Wäre es Ihnen lieber, wenn ich Sie für schwul hielte?«, ätzte der Reporter.

»Blohfeld, lassen Sie Ihre blöden Scherze. Bitte.« Paul setzte all seine verbliebene Überzeugungskraft ein: »Ich brauche wirklich Ihre Hilfe!«

»Es tut mir leid für Sie, Flemming«, sagte Blohfeld nun ungewöhnlich mitfühlend. »Wie gesagt: Wenn ich etwas höre, werde ich es Sie wissen lassen. Aber vorerst ... – ich sage es nicht gern: Solange die Ermittlungen gegen Sie laufen, kann ich Sie unmöglich weiter als Fotograf für unsere Zeitung beschäftigen.«

Paul glaubte nicht recht zu hören: »Sie feuern mich? Jetzt? Wo ich mit dem Rücken zur Wand stehe?«

»Mein lieber Freund«, tat Blohfeld kumpelhaft, »in Kürze beginnt die große Ausstellung im Alten Rathaus. Sie wissen, wie wichtig das für die Stadt ist – also auch für unsere Zeitung. Ich werde den Fototermin für die Eröffnungsfeier anderweitig vergeben müssen. Wir haben da gerade eine angehende Fotografin im Haus, vielversprechende Person. Sie wird ganz sicher ...«

»Blohfeld!«, unterbrach ihn Paul. »Das können Sie mir nicht antun! Ich bin in einer Notsituation, ich bitte Sie um Hilfe, und Ihnen fällt dazu nichts anderes ein, als mir meinen Job wegzunehmen? Und ihn an eine unerfahrene Praktikantin zu vergeben?«

»Oh, nein, nein«, wiegelte Blohfeld ab. »Sie hat durchaus gewisse Erfahrungen.«

»Sie sind unmöglich! Sagen Sie, dass Sie das nicht ernst meinen!«

»Leider doch, mein Lieber«, sagte der Reporter und klang nun etwas kleinlaut. Paul meinte, eine Spur von schlechtem Gewissen in Blohfelds Stimme zu erkennen. »Sie wissen doch, welches Potenzial diese Ausstellung hat. Ich darf da kein Risiko eingehen.«

Die Reichskleinodien – vielmehr ihre Kopien – hatten in den letzten sechzig Jahren nicht gerade einen fürstlichen Platz gefunden. Sie fristeten in ihrer Nische in der kargen Ehrenhalle des Rathauses ein Schattendasein – trotzdem kamen Jahr für Jahr Hunderttausende Neugierige, um sich die Replikate anzusehen. Paul konnte nachvollziehen, dass die Stadt sich bei der vorübergehenden Rückkehr der echten Reichsinsignien aus Wien keinen Schnitzer leisten wollte.

»Ja, ja«, sagte Paul niedergeschlagen. »Krone, Zepter, Reichsapfel.«

»Nicht zu vergessen die Heilige Lanze«, knüpfte der Reporter an.

»Ich verstehe schon«, sagte Paul mit leichter Ironie. »Die epochale Heimkehr der Reichskleinodien. Ein potenzieller Mörder in ihrem Dunstkreis würde den Glanz schmälern.«

»Mal langsam, Flemming!«, zürnte Blohfeld durch den Hörer. »Ich glaube, Sie sind sich der Tragweite dieses Ereignisses wirklich nicht bewusst: Die Reichskleinodien sind ein Kulturgut von weltweiter Bedeutung. Für Nürnberg sind sie so wichtig wie die Kronjuwelen für London oder die Mona Lisa für Paris. Und der absolute Höhepunkt ist, wie gesagt, dass die Heilige Lanze dabei sein wird – die Lanze des Longinus«, betonte er weihevoll.

Paul kramte sein bescheidenes Wissen darüber zusammen. »Aber es ist doch nicht einmal erwiesen, dass es wirklich die Lanze ist, mit der ... äh ...«

»... die der römische Zenturio dem gekreuzigten Jesus in die Seite gestochen hat, um zu prüfen, ob er tot war. Mein lieber Flemming«, dozierte Blohfeld, »es ist vollkommen belanglos, ob die Speerspitze authentisch ist. Viele behaupten, dass nur ein Kreuznagel in die Lanze eingeschmiedet wurde, manche bestreiten auch das. So oder so ist es ein ­einzigartiges ­Exponat. Es wird seit Jahrhunderten verehrt, es bildete die Grundlage für den Machtanspruch Karls des Großen, und es ist vom Vatikan offiziell als Reliquie anerkannt. Die Heilige Lanze wird das Herzstück der Ausstellung! Nürnberg kann stolz sein, sie wenigstens für ein paar Wochen wieder beheimaten zu dürfen.«

»Ich merke schon«, sagte Paul, »ich muss mein Schulwissen über die Reichskleinodien auffrischen.«

»Ja, das müssen Sie. Dringend! Sonst werden Sie das kulturgeschichtliche Highlight Ihres Lebens versäumen«, behauptete Blohfeld. »Verstehen Sie jetzt allmählich? Es geht hier nicht um meine Person oder um Ihre, sondern um sehr viel mehr. Das Nürnberger Rathaus war immerhin einmal das symbolische Zentrum des Heiligen Römischen Reiches. Es verdient eine fantasievolle und offensive Darstellung seiner Geschichte, und die bekommt es nun endlich – durch diese Ausstellung. Das wird in diesem Herbst das größte History-Event nördlich der Alpen!«

Mit einer weiteren, wenig überzeugend dargebrachten Bitte um Verständnis dafür, dass Paul als Fotograf diesmal ausschied, verabschiedete sich Blohfeld und legte auf.

Paul saß immer noch auf seinem Sofa und hielt sich am Telefon fest.

Blohfeld konnte ein hundsgemeiner Kerl sein, eiskalt und mitleidlos. Doch immerhin konnte sich Paul mit dem Wissen trösten, dass unter der rauen Schale des alten Haudegens ein weicher Kern schlummerte. Ab und zu trat er zum Vorschein und vollbrachte wahre Wunder.

Ein Wunder konnte Paul in seiner jetzigen Situation gebrauchen. Mit Blick auf sein Telefon wusste er aber, dass so ein Wunder nicht von selbst des Weges kommen würde. Daher wählte er die nächste Nummer, die sich anbot.

Hannah meldete sich nicht. Doch immerhin schaltete sich ihr Anrufbeantworter ein.

Paul lauschte der aufgezeichneten Mitteilung und sah ­Katinkas Tochter dabei vor sich: ihre strahlend blauen Augen, die Korkenzieherlocken, die sich um ihr jugendlich freches Gesicht kringelten ...

»Hallo, Hannah Blohm ist leider nicht zuhause«, hörte er ihre etwas blechern klingende Stimme vom Band. »Ich bin entweder beim Shoppen, in der Disco, in der Uni oder ... – das geht Sie nichts an! Sollten Sie etwas Wichtiges auf dem Herzen haben, sprechen Sie nach dem Piepton. Ansonsten lassen Sie es bleiben.«

Paul verzichtete darauf, ihr eine Nachricht zu hinterlassen. Er blickte auf seine Armbanduhr. Für die Disco war es viel zu früh. Zum Shoppen hatte Hannah – soviel er wusste – kein Geld. Also blieb nur die Uni.

Paul beschloss nun doch, das geschützte Territorium seiner Wohnung aufzugeben und sich wieder unter Menschen zu wagen. Er wollte Hannah vor der WiSo, der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät, abfangen. Denn wenn jemand imstande war, ihm den Weg zu dem anderen Model zu ebnen, dann war es Hannah mit ihrer erfrischend direkten Art.

 

4

Paul legte die kurze Strecke mit dem Rad zurück. Die sommerlich milde Luft tat ihm gut, und er genoss den Fahrtwind, der ihm auf dem Weg den Burgberg hinunter ins Gesicht blies und seine düsteren Gedanken wenigstens für kurze Zeit verscheuchte.

Doch seine Unbeschwertheit war nicht von langer Dauer. Schon während er sich vor der Uni unter der Masse der Fahrräder nach Hannahs Rad umsah, um dort auf sie zu warten, kamen ihm wieder Zweifel. Wer sagte ihm denn, wie Hannah auf den Mordvorwurf gegen Paul reagieren würde? Woher nahm er die Zuversicht, dass sie ihm helfen würde – wenn er doch selbst nicht wusste, was er in der Mordnacht getan hatte?

Paul war klar, dass es für ihn nur eine Möglichkeit geben würde, Hannah für sich zu gewinnen: absolute Offenheit!

Er sah auf die Uhr. Zwanzig Minuten wartete er nun schon. Vielleicht wäre es das Beste, direkt in der Uni nach Hannah zu suchen, überlegte Paul. Vielleicht konnte eine ihrer Kommilitoninnen ihm den Weg zu Hannahs Seminar zeigen.

Er wollte gerade sein Rad abschließen, als er Hannahs unverkennbaren Lockenkopf in einer Gruppe von Studenten wippen sah.

»Hannah!«, rief Paul.

Hannah Blohm reagierte sofort. Sie verabschiedete sich mit knappen Gesten von ihren Begleitern und ging geradewegs auf Paul zu.

Ihre Augen waren heute besonders blau und ihre Wangen gerötet, bemerkte Paul. In ihrem Ausdruck lagen eine Spur Aggressivität und – da war sich Paul sicher – ein Hauch von Verachtung.

Er war irritiert und hatte Schwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden. Unsicher stand er dem Mädchen gegenüber, gestikulierte hilflos und konnte keinen Anfang finden. »Wie geht es dir?«, fragte er schließlich, um Zeit zu gewinnen.

»Die Frage lautet ja wohl eher: Wie geht es Ihnen, Flemming?«, sagte Hannah mit ungewohnt rauer Stimme.

»Mir?« Pauls Verblüffung wuchs. Sollte Hannah etwa auch schon Wind von der Sache bekommen haben? Aber das war doch unmöglich! In der Presse hatte noch nichts darüber gestanden, und die Polizei war vorerst zum Stillschweigen verpflichtet. Jedenfalls, solange keine Beweise gegen ihn vorlagen.

»Mama hat mir heute früh am Telefon gesagt, in was für einem Schlamassel Sie stecken«, lüftete Hannah das Geheimnis und blickte ihn so kalt an, dass Paul eine Gänsehaut bekam. »Sie hat durch ihre alten Connections zu den Kollegen der Nürnberger Justiz natürlich sofort davon erfahren – und sie ist nicht gerade begeistert.«

»Hör mal, Hannah«, beeilte sich Paul zu sagen. »Es ist überhaupt nicht bewiesen, dass ich etwas mit dem Tod dieses Models zu tun habe.« Er blickte sie beschwörend an. Als er aber seine Hand auf ihre Schulter legen wollte, stieß Hannah ihn empört zurück.

»Ach, nein?«, fragte sie laut. »Sind Sie etwa nicht mit diesem Mädel im Goldenen Ritter gewesen und haben gebechert, was das Zeug hält?«

Paul stellte beunruhigt fest, dass einige Studenten stehen blieben und ihn missbilligend ansahen.

»Und stimmt es etwa nicht, dass Sie danach noch mit ihr um die Häuser gezogen sind? Ihr sogar Ihren Mantel umgelegt haben?«, fuhr Hannah aufgebracht fort.

Paul spürte, wie die Röte in seinem Gesicht aufstieg. Hannah wusste also Bescheid. Aber wie sollte er jetzt darauf reagieren? Er schaute sich um, sah die fixierenden Blicke der Studenten. Zuallererst musste er Hannah dazu bringen, leiser zu sprechen.

Er trat näher an sie heran und sagte betont ruhig: »Hannah, auch wenn du mich jetzt für verrückt erklärst: Tatsache ist, dass ich mich an nichts erinnere, was nach dem Aufenthalt bei Jan-Patrick passiert ist. Wir haben gemeinsam den Goldenen Ritter verlassen, und dann – Cut! Filmriss!«

Hannahs Augen blitzten. Aber sie hielt sich mit Kommentaren fürs Erste zurück.

»Ich kenne die Vorwürfe gegen mich sehr gut«, setzte Paul leise fort. »Ich will mich auch gar nicht herausreden. Der Gedanke, dass ich für diese schreckliche Tat verantwortlich sein könnte, ist mir ja selbst unerträglich. Ja, es ist nicht zu bestreiten: Es kann sein, dass ich dieses Mädchen umgebracht habe. Aber, Hannah, sei ganz ehrlich: Würdest du mir so etwas zutrauen?«

Mit welcher Antwort rechnete Paul auf diese spontan formulierte Frage? Er hätte sich denken können, dass ein so plumper Versuch der Verbrüderung fehlschlagen musste. Und Hannah bestätigte sogleich seine Vorahnung:

»Mama sagt, dass Sie sich mal wieder mit den falschen Weibern eingelassen haben und dass Sie nun selbst sehen müssen, wie Sie aus der Sache herauskommen«, sagte Hannah in kaltem Ton.

»Und was sagst du?«, fragte Paul gequält, nachdem er diesen verbalen Faustschlag verdaut hatte.

»Ich ...« Hannah zögerte. Paul meinte erstmals, einen klitzekleinen Funken Verständnis in ihren Augen aufblitzen zu sehen. »Ich meine dasselbe wie Katinka. Sagen Sie doch mal selbst: Verstößt es nicht ziemlich krass gegen Ihr Berufsethos als Fotograf, mit dem erstbesten Model ins Bett zu gehen?«