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Veit Bronnenmeyer

 

Russische Seelen

 

Albach und Müller: der erste Fall

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (3. Auflage 2013)

© 2005 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Sabine Cramer

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter

Verwendung einer Fotografie von Gerd Grimm

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

ISBN 978-3-86913-315-7

 

Für meinen Großvater

 

I. 1985 – Ein Nebenfluss der Weichsel?

Pfeifenrauch quoll in trägen Schwaden nach oben und bewegte sich unter der Decke in einem unförmigen Orbit um die Lampe. Zigarettenrauch stieg von der anderen Seite auf und bildete die Ausläufer des Spiralnebels. Etwas frische Luft hätte der Amtsstube gut getan. Auch die eine oder andere Grünpflanze auf dem Fensterbrett oder einem der Aktenschränke. In dem Raum befanden sich zwei Männer, die beide hart mit ihren Dienstpflichten zu kämpfen hatten. Der Jüngere hämmerte auf eine dunkelgrüne Triumph-Adler ein, die auf einem in Ehren angestaubten Resopal-Schreibtisch stand. Der Ältere hatte das Eichendekor seines Arbeitsplatzes mit einer Tageszeitung bedeckt und brütete über der Rätselseite. In der Ecke stand ein Beistelltisch, auf dem eine Kaffeemaschine brodelte, und das Kofferradio auf dem niedrigen Regal daneben spielte aktuelle Unterhaltungsmusik.

»Atlantis is calling – SOS for love«, kreischte es aus dem kleinen Lautsprecher.

»Atlantis«, murmelte Herbst, die Pfeife im Mundwinkel, »mythischer Kontinent. Passt.«

»Das ist gerade der letzte Schrei«, sagte Alfred von seiner Schreibmaschine aufblickend. »Modern Talking. Letzte Woche musste ich meinem Sohn die Platte kaufen.«

»Atlantis is calling from the stars above …«

»Immer diese englische Singerei …«, brummte Herbst. »Nelkengewächs, Vogelkraut … wo doch die deutsche Sprache so schön ist. Und es gibt so viele Wörter.«

 

Alfred lenkte seine Gedanken wieder zurück auf den Bericht. Er fragte sich ein Mal mehr, ob es richtig war, die Ermittlungen aufgrund fehlender Indizien und nicht erfolgter Identifizierung des Toten vorläufig einzustellen, und ob sie tatsächlich alles Mögliche und Unmögliche versucht hatten, um den Mörder zu finden. Wenn das Opfer wirklich ein Osteuropäer war, konnte in absehbarer Zeit tatsächlich nicht mit neuen Hinweisen gerechnet werden. Andererseits gab es keine Verjährungsfrist für Mord, und ungelöste Mordfälle blieben manchmal Jahrzehnte bei der Staatsanwaltschaft auf Wiedervorlage … Warum war es in der heutigen Zeit immer noch möglich, dass ein Toter so völlig unbekannt blieb? Warum empfand er so etwas als Miss­erfolg? Und warum gab es noch kein Tipp-Ex, das die zwei Durchschläge gleich mit korrigierte?

»Die basteln jetzt schon an Schreibmaschinen, wo man eine ganze Seite im Voraus tippen und dann noch einmal korrigieren kann, bevor sie geschrieben wird«, sagte Herbst, als er sah, wie Alfred sich mit dem kleinen weißen Papierstreifen abmühte.

»Du wirst es kaum für möglich halten, aber es gibt auch Computer«, entgegnete Alfred, »mit denen kann man hundert Seiten schreiben, immer wieder korrigieren und dann ausdrucken, sooft man will.«

»Ja, ja«, Herbst stopfte seine Pfeife nach und nichts in seinem Gesichtsausdruck ließ erahnen, was er dachte.

»Was meinst du?«, fragte Alfred, »haben wir die Ermittlungen aufgegeben oder bis auf weiteres eingestellt?«

»›Jetzt bringt den Russen endlich unter die Erde‹«, zitierte Herbst, »das waren doch die Worte vom Staatsanwalt, nicht wahr?«

»Ja, schon …«

»Also, dann lass ihn in Frieden ruhen! Wir haben schließlich noch genug andere Arbeit.«

»Wir könnten doch wenigstens versuchen, ob wir damit zu Aktenzeichen XY kommen«, schlug Alfred vor. »Das sehen jedes Mal zig Millionen Zuschauer. Danach können wir ihn ja immer noch abschreiben.«

»Glaubst du, die da drüben würden so einen Aufwand wegen einem von uns treiben?«, Herbst gestikulierte mit dem abgekauten Mundstück der Pfeife in Alfreds Richtung. »Es gibt eben so ungeschriebene Gesetze und wir tun gut daran, sie zu beachten, glaube mir. Wahrscheinlich könnten wir mehr für ihn tun, wenn er von einem anderen Stern wäre. Übrigens, kennst du einen Nebenfluss der Weichsel?«

 

Der Tote war in den Morgenstunden von einem Waldläufer entdeckt worden. Der Hund des Joggers hatte unweit des Tiergartens die vorgesehene Route verlassen und sich an einem Haufen Laub und trockenem Holz zu schaffen gemacht. Der Mann war zur nächsten Telefonzelle gerannt und hatte die Polizei gerufen. Die Routine-Maschine war bereits angelaufen, als Herbst und Alfred in ihrem 3er BMW vorfuhren. Der Tote lag anscheinend schon zwei bis drei Wochen im Wald und war nicht mehr im besten Zustand.

»Russe!«, hatte Herbst am Fundort gesagt, seinen Blick in die Umgebung schweifen lassen und festgestellt: »Da schau her, wir haben Juni und es gibt schon Maronen.«

Alfred hatte seinem Kollegen verwundert nachgeschaut, als dieser mit gezücktem Taschenmesser die direkte Umgebung des Geschehens verließ. Er wusste jetzt schon, dass es wieder ihn treffen würde, bei der Obduktion dabei zu sein. Von daher konnte er sich auch gleich den Magen verrenken und sich intensiver mit dem Anblick der Leiche beschäftigen. Es war offensichtlich, dass der Mann nicht hier im Wald zu Tode gekommen war. Er war völlig nackt, von seinen Kleidern keine Spur. Sein Körper wies viele kleine Wunden und Narben auf, die aber schon älter waren. Die Todesursache schien ein sauberer Genickschuss zu sein, womöglich eine Hinrichtung? Leider hatte es in den letzten vierzehn Tagen ziemlich viel geregnet, auf Spuren konnte man daher kaum hoffen. Es schien jedenfalls so, als ob der Täter reichlich Zeit gehabt hätte, denn der Leichnam war sorgfältig versteckt worden. Der oder die Täter hatten Äste, Zweige, Laub und Moos nicht einfach auf ihn draufgeschaufelt, sondern den Grabhügel geschickt in den Waldboden integriert.

»Nun, junger Freund«, Herbst stand hinter ihm. Er hielt seine braune Strickweste wie einen Sack in der linken Hand und aus einem Armloch lugten ein paar junge Waldpilze, »kannst du die Sprache dieses Todes verstehen?«

»Ich weiß nicht«, Alfred blickte aus der Hocke abwechselnd Herbst und den Kollegen der Spurensicherung an. »Er hat viele kleine Wunden und Verletzungen überall am Körper.«

Alfred richtete sich auf und sah Herbst in die blassblauen Augen, die, wie es ihm vorkam, seine Gedanken lesen konnten.

»Das war keine Folter«, sagte Herbst, »das können schon eher Kriegsverletzungen sein oder nähere Bekanntschaft mit einem Stacheldrahtverhau. Vielleicht war er ja Soldat. Außerdem Folter und dann gleich ein Genickschuss? Nein, nein.«

Viele Fragen blieben offen. Warum hatte der Mörder sein Opfer zum Beispiel nicht gleich tief vergraben? Anscheinend spielte es keine Rolle, ob man die Leiche entdeckte oder nicht. Alles, was der Täter brauchte, war wohl etwas Zeit gewesen, um wieder zu verschwinden. Einen Tag, vielleicht zwei. »Warum sich also mit dem schwierigen Waldboden abmühen?«, fragte Herbst rhetorisch.

Kurz darauf war Staatsanwalt Eckstein auf der Bildfläche erschienen. Er war schon im vorgerückten Alter und hatte eine wesentlich jüngere Frau geheiratet, die größten Wert auf ein modisches Erscheinen ihres Gatten legte. Was an sich ja noch kein Malheur gewesen wäre. Nur leider war Staatsanwalt Eckstein von Geburt an farbenblind und konnte sich so nicht gegen die gestalterischen Ambitionen seiner Frau wehren. Heute trug er eine hellblaue Bundfaltenhose zu einem ebensolchen Sakko, das an der Taille etwas knapper, dafür an den Schultern etwas ausladender geschnitten war. Die Schulterpartie wurde außerdem durch großzügige Polster zusätzlich aufgewertet. Darunter trug er ein pinkfarbenes Hemd mit einer dünnen Lederkrawatte. Seine Füße steckten in weißen Slippern der Größe 45. Alfred wusste nicht genau, mit wem er mehr Mitleid haben sollte, mit der Leiche oder mit Staatsanwalt Eckstein. Dem Zeitgeist und seinem noch jungen Alter zum Trotz war Alfred ein Bewahrer von klassischem Stil und Eleganz. Mit Schwarz, Weiß und Grau konnte man nichts falsch machen. Dazu ein paar Farbtupfer in möglichst natürlichen Tönen, fertig – war doch nicht so schwer. Die modischen Kapriolen der letzten Jahre konnte er nicht nachvollziehen, er verstand aber langsam den Sinn von schwarzen Roben als Dienstkleidung vor Gericht.

»Na, das ist ja wieder mal typisch«, hatte Eckstein gestöhnt, als er sich mit den wesentlichen Umständen des Falles vertraut gemacht hatte, »andere bekommen Serienmorde, einen reichen Erbonkel oder wenigstens einen Prostituiertenmord. Nur ich muss mich immer mit so was herumschlagen. Herbst!«

»Herr Staatsanwalt?«

»Und wer sind jetzt Sie?«, wandte sich Eckstein an Alfred.

»Kommissar Albach, Herr Staatsanwalt«, antwortete er zackig.

»Ja, natürlich. Sie wurden aber erst kürzlich zur Mordkommission überstellt, oder?«

»Aber Herr Staatsanwalt«, sprang Herbst ein, »Kollege Albach ist doch schon seit fast fünf Jahren bei uns. Sie erinnern sich doch sicher an den Fall Wegener, den er fast alleine gelöst hat.«

»Selbstverständlich. Da hatten Sie aber noch längere Haare und einen Schnauzbart«, befahl Eckstein.

Alfred, der Bärte jeder Art schon immer verabscheut hatte und die Haare seit der unsäglichen Föhn-Frisuren-Welle immer betont kurz trug, widersprach nicht. Es war allgemein bekannt, dass Eckstein nicht über das beste Gedächtnis verfügte und auch sonst ein eher zerstreuter Zeitgenosse war. Herbst zufolge war das aber keine Alterserscheinung, sondern schon immer so gewesen. Seine Erfolge verdankte Eckstein größtenteils dem Umstand, dass er sich immer sehr für die Belange der Polizisten und seiner anderen Mitarbeiter einsetzte. Er sah sie nicht als Erfüllungsgehilfen oder Handlanger an und war so in der glücklichen Lage, immer nur mit zufriedenen und motivierten Leuten zusammenzuarbeiten. Geschätzt wurde an ihm außerdem, dass er die Mordkommission nicht zwang, sich in aussichtslose Fälle zu verbeißen. Nichts war frustrierender, als monatelang hinter einem Fall her zu ermitteln, nur um ihn dann ohne Ergebnis zu den Akten zu legen. Zu Ecksteins zahlreichen Vorzügen gehörte weiterhin, dass er die Einschätzung über aussichtslose Fälle meistens der Polizei überließ.

»Tun Sie alles, was üblich und notwendig ist«, hatte er zu Herbst und Alfred gesagt, »von mir aus beziehen Sie die Presse mit ein. Irgendwelche Ergebnisse bitte ich, mir umgehend mitzuteilen. Ansonsten kommen Sie in vierzehn Tagen zu mir. Dann werden wir weitersehen. Noch Fragen?«

»Nein, Herr Staatsanwalt«

»Gut. Weitermachen!«

 

Es zeigte sich schon bald, dass Herbst und Eckstein Recht behalten sollten. Bei der Autopsie wurde der Genickschuss als Todesursache bestätigt. Gebiss und Schädel lieferten Hinweise, dass es sich bei dem Opfer um einen Osteuropäer, wahrscheinlich einen Russen handelte. Die morphologischen Feinheiten in der Anatomie konnten aber nur als Anhaltspunkte, nicht als Beweis gewertet werden. Es gab lediglich eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Herkunft des Toten, die auch vom Zustand der Leber und der Lunge zwar unterstützt, nicht aber abgesichert wurde. Der Mann hatte in seinem Leben auf jeden Fall schon ziemliche Mengen Alkohol genossen und außerdem Tabak geraucht, der durchschnittliche Europäer wie Herbst und Alfred schon längst umgebracht hätte. Die üblichen Maßnahmen zur Identifizierung unbekannter Toter brachten keine Ergebnisse. Fingerabdrücke, öffentliche Anschläge »Wer hat diesen Mann schon einmal gesehen?« blieben ebenso erfolglos wie Anfragen bei Interpol. Auch das charakteristische Gebiss verhalf der Leiche nicht zu einem Namen. Es war offensichtlich, dass er aus einer Gegend der Welt kam, wo die zahnmedizinische Versorgung noch stark unterentwickelt war. Etliche Zähne waren gezogen, ein Eckzahn durch ein Imitat aus Edelstahl ersetzt worden. Auch dieses Indiz wies Richtung Osten. Laut Gerichtsmedizin ließen sich hier typische Behandlungsmethoden von Militärärzten des Warschauer Paktes erkennen.

Was übrig blieb, war ein großes Rätsel und zwei Polizei­beamte auf der Terrasse des Café Kröll. Die Terrasse befand sich im ersten Stock, zu ihren Füßen lag der Hauptmarkt mit seinen berühmt-berüchtigten Marktfrauen sowie dem Schönen Brunnen und der Frauenkirche. Unablässig trieben die städtischen Fremdenführer Schulklassen und Touristen verschiedenster Natio­nalitäten über die Szenerie.

Alfred hatte sich ein Kännchen Kaffee gegönnt, während Herbst seinen obligatorischen Pfefferminztee trank. In der Tat hatte Alfred ihn kaum je etwas anderes als Pfefferminztee trinken sehen. »Kaffee«, pflegte er zu sagen, »Kaffee ist gar nicht gut.« Alfred hatte es schon längst aufgegeben, Herbst in allen Einzelheiten verstehen zu wollen. Er gefiel sich anscheinend in der Rolle des Sehers, der in dichte Rauchschwaden gehüllt rätselhafte Prophezeiungen von sich gab. Viele Kollegen bezeichneten Herbst als schwierig, einige sogar als vollkommen verrückt. Aber seine Erfolge waren nicht zu bestreiten. Das Unheimliche an ihm war wohl, dass kaum jemand seine Methoden, Vorgehensweisen oder gar Gedanken nachvollziehen konnte. Alfred hatte nach einiger Zeit der Verwunderung einfach beschlossen, Herbst nicht dauernd zu hinterfragen, sondern einfach zu beobachten und sich auf ihn einzustellen. So hatte er herausgefunden, dass Herbst meistens eine simple Verwirrungsstrategie anwandte. Er fragte Hauptverdächtige nach ihrem Namen, dem Mädchennamen der Mutter und Großmütter und hielt ihnen Vorträge über die Nachteile von modernem Mineralwasser. Dieses sei nämlich tot und damit grundsätzlich von Übel. Er empfahl ihnen nachdrücklich in der U-Haft nur Leitungswasser zu trinken. Alfred hatte schon mehr als ein Mal erlebt, dass Verdächtige nach nur wenigen Tagen – dem Wahnsinn nahe – unaufgefordert Kapitaldelikte gestanden hatten, nur um von Herbst und seiner absurden Kommunikation befreit zu werden. Seine sonderbare Art verunsicherte Täter, Mitwisser, Angehörige und Zeugen und ließ sie schnell Geheimnisse ausplaudern und Fehler machen. Ähnlich verhielt er sich seinen Kollegen gegenüber, so dass er zwar kaum Freunde, aber auch keine Feinde im Polizeipräsidium hatte. Man ließ ihn einfach in Ruhe seine Arbeit machen. Über mehrere Ecken hatte Alfred erfahren, dass Herbst sogar einmal Lehraufträge an der Beamtenfachhochschule der Polizei wahrgenommen hatte. Diese Art von Sendungsbewusstsein hatte er jedoch schon lange abgelegt und beschränkte sich nun darauf, als einfacher Kommissar Mordfälle zu lösen. Alfred ließ er am Geheimnis seines Erfolges teilhaben, erklärte es ihm aber nicht. Sein Kollege hatte diese Herausforderung begriffen und angenommen und manchmal, aber nur manchmal, schaffte es Alfred, auch einmal Herbst zu verwirren.

»Ich glaube«, sagte Alfred in seinem Kaffee rührend, »wir überschreiten gerade eine ethische Grenze.«

»Ethische Grenze?«, Herbst unterbrach die Arbeit mit dem Pfeifenstopfer für einen Moment und sah Alfred fragend an.

»Es scheint ein Urbedürfnis des Menschen zu sein, Tote zu identifizieren. Das Rote Kreuz öffnet heute noch Massengräber aus dem Zweiten Weltkrieg, nur um herauszufinden, wer sich darin befindet, und die Überreste den Verwandten zu überstellen, damit sie ordentlich begraben werden können.«

»Davon habe ich gehört«, nickte Herbst, seine Pfeife anzündend.

»Wie kann es dann sein, dass wir diesen Mann nach wenigen Wochen als Unbekannten verscharren. Da stimmt doch was nicht, oder?«

»Junger Freund«, antwortete Herbst sanft, »stimmst du mit mir darin überein, dass wir zwei hier nichts mehr tun können?«

»Ja.«

»Dann glaube mir, ich verstehe deinen Konflikt, aber du musst schon die vom Roten Kreuz fragen, warum sie sich lieber um unbekannte, seit Jahrzehnten tote Soldaten kümmern als um die frische Leiche unseres Russen. Er hat eben das Pech, dass er in einem kalten Krieg ums Leben gekommen ist.«

»Kalter Krieg«, Alfred begann, eine Zigarette zu drehen, »eben. Und jetzt frage ich dich, als erfahrenen Kollegen: Müssen da nicht die Geheimdienste ihre Finger im Spiel gehabt haben? Sprich zu mir Herbst, du weißt, ich halte dich für einen Weisen!« Es war ein relativ zuverlässiges Erfolgsrezept, Herbst wie einen mythologischen Seher zu behandeln, ähnlich dem alten, zahnlosen Theresias oder dem Orakel von Delphi. Alfred hatte vor einiger Zeit bemerkt, dass sich Herbst in solchen Zusammenhängen manchmal zu einer halbwegs deutlichen Aussage hinreißen ließ. Allerdings antworteten Orakel auch oft in Rätseln:

»In Dänemark gibt es Fischer«, Herbst zückte ein Taschentuch und fuhr sich damit über die Halbglatze. Alfreds Appell schien er nicht gehört zu haben.

»Und?«

»Die finden in regelmäßigen Abständen Leichen in ihren Netzen. Das sind fast immer Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, die versuchten, über die Ostsee in die westliche Welt zu fliehen. Wie viele davon werden auch nur als DDR-Bürger identifiziert?«

»Sag du es mir.«

»Nahezu keiner. Die DDR würde doch niemals zugeben, dass jemand aus ihrem gelobten Land fliehen möchte, und wir können nur etwas tun, wenn die Leichen einigermaßen erhalten sind und von Verwandten oder Bekannten im Westen erkannt werden. Da ist nicht nur eine Mauer zwischen uns, Kollege, wir leben in verschiedenen Welten.«

»Junge, Junge«, sagte Alfred nach mehreren Schweigeminuten, »wir müssten einfach mehr über Agenten, Geheimdienste und Spionage wissen.«

»Geheimdienste, Spionage«, wiederholte Herbst, »das ist gar nicht gut.«

 

»Nun, Alfred«, sagte Herbert Göttler tags darauf in der Kantine, »wie ich höre kannst du immer noch nicht von deinem toten Russen lassen?«

»Und wie ich höre bist du in die Partei eingetreten, die wir in Bayern als staatstragend bezeichnen«, entgegnete Alfred. Er verspürte wenig Lust, sich von seinem Freund aus Bepo-Tagen wieder seinen Idealismus vorhalten zu lassen.

»Und das solltest du auch tun«, Herbert lehnte sich zurück und strich seine Krawatte glatt. »Ich meine es nur gut mit dir, Alfred. Wenn du weiter vergeblich nach den Mördern von toten Kommunisten suchst, wirst du hier nicht weiterkommen.«

»Irgendwie glaube ich nicht, dass die mich dabeihaben wollen«, erwiderte Alfred müde und fragte sich, seit wann Herbert eigentlich Krawatten trug.

»Musst du das gleich wieder ideologisch überfrachten«, stöhnte Herbert. »Was du für eine Meinung hast, spielt dabei doch keine Rolle, Hauptsache, du lässt dich zu den richtigen Zeiten an den richtigen Orten blicken und sagst an den richtigen Stellen ›ja‹, ›bitte‹ und ›danke‹. So sind nun mal die Spielregeln. Anders kommst du nicht weiter!«

»Du solltest dich mal hören«, Alfred schüttelte den Kopf, »bei dir geht’s nur noch um Beförderung und Höhergruppierung.«

»Was ist gegen Ehrgeiz zu sagen?«

»Nichts, solange er der Sache dient!«, Alfred stand auf und nahm sein Tablett.

»Du wirst in zwanzig Jahren noch auf der Stelle treten, mein Freund!«, rief Herbert ihm nach.

 

Zwei Tage später ordnete Eckstein an, die Ermittlungen einzustellen. Eine mögliche Verstrickung von Geheimdiensten wollte er dabei nicht näher erörtern. »Sie könnten ja Recht haben, Herr Albert«, hatte er gesagt, »aber aus dieser Liga hat Deutschland sich vor vierzig Jahren verabschiedet. Wir haben zwar noch ein Stadion und auch Zuschauertribünen, aber wir stellen keine Mannschaft mehr.« Eckstein versicherte ihnen, den Fall lieber mit der Putzfrau zu besprechen, als den BND um Rat zu fragen. Er versprach Alfred wesentlich dankbarere Fälle, an denen er sich austoben könne, auch wenn sie sich gerade in einer Art Sommerloch befänden. »Außerdem wissen Sie ja«, hatte Eckstein noch angefügt, »dass wir ungelöste Mordfälle nie ganz abhaken. Ich werde mir die Akte jedes Jahr wieder ansehen und wenn ich gehe, wird sich mein Nachfolger damit vergnügen, so lange habe ich ja nicht mehr!« Herbst hatte wissend genickt. Alfred war immer noch frustriert. Er war sich sicher, dass Eckstein diesen Fall in spätestens zwei Monaten wieder vergessen haben würde, sah aber keine Möglichkeit, der geballten Urteilskraft der beiden zu widersprechen, und erklärte sich bereit, einen abschließenden Bericht zu verfassen. Er fragte sich nur, wie der Tote beerdigt werden würde: Sarg oder Leichentuch? Erd- oder Feuerbestattung? Katholischer oder orthodoxer Priester? Beim Verlassen von Ecksteins Büro verspürte er ein seltsames Ziehen im linken Ohr.

 

II. Die Flinte im Korn

»Armer Drugajew«, sagte Nikolai auf einem Baumstumpf sitzend, die Pistole lässig in der linken Hand, »jetzt hast du dich so lange versteckt und es hat doch nichts genützt. Russland will nichts mehr von Andropows Profis wissen und du hast in den letzten zwölf Jahren dein Gehirn mit Wodka so vernebelt, dass du unvorsichtig geworden bist. Du hast einige Grundregeln der Tarnung missachtet. Eigentlich sollte ich dich gar nicht erschießen. Es wäre eine viel größere Befriedigung, deinen Verfall weiter zu beobachten. Aber es hilft nichts. Willst du noch etwas sagen? Du hast das letzte Wort, auch wenn es niemand hören will!«

Drugajew würgte und lallte ein versoffenes »Fick dich!« Er war viel zu blau, als dass er noch mehr herausgebracht hätte. Männern wie ihm bedeutete ihr Leben nicht viel. Hätte er auch nur einen Furz auf die üblichen menschlichen und ethischen Werte gegeben, wäre er nicht so schnell aufgestiegen. Es brauchte schon besondere Männer für diesen Job. Männer, die in der Lage waren, in kürzester Zeit das Vertrauen anderer zu gewinnen und es ebenso schnell wieder zu missbrauchen. Es war notwendig, mit den Ängsten und Gefühlen von Menschen zu spielen, die tiefsten Abgründe ihrer Seelen zu erforschen, damit man sie später ein für alle Mal zerbrechen konnte.

»Willst du mir mit einer Pistole Angst einjagen, du Arschloch?« Drugajew hatte sich und sein näheres Umfeld auf der rechten Seite des Baums, an dem er saß, bereits ausgiebig voll gekotzt. Nikolai versetzte ihm einen Tritt, so dass er bäuchlings in seine Kotze klatschte, setzte ihm die Pistole in den Nacken und drückte ab.

Dann machte er seine Zigarette am Baumstumpf aus und steckte den Stummel in die Tasche. Er verließ das Unterholz und ging auf dem Schotterweg in Richtung Tiergarten. Nikolai saugte die kühle, feuchte Waldluft tief in seine Lunge. Er fühlte sich von einer jahrzehntealten Last befreit. Jewgenji war seit ihrer gemeinsamen Zeit bei den Fallschirmspringern in Rjasan sein bester Freund gewesen. Leider war er nicht nur ein scharfer Analytiker, charismatischer Redner und kluger Stratege gewesen, sondern auch ein Träumer. Nur so war es möglich gewesen, dass Drugajew ihn gefunden hatte.

 

Nikolai war vollkommen ahnungslos, als Jewgenji eines Abends im Frühsommer 1985 an seine Tür in Bernau klopfte. Er wirkte gehetzt und hatte ziemlich abgenommen seit ihrem letzten Treffen in Moskau vor zwei Jahren.

»Sie schicken mich mit einer Geheimsache nach Prag«, hatte Jewgenji erklärt, »vorher musste ich noch in die Botschaft nach Berlin. Und da ist mir ein alter Freund eingefallen, den ich auf dem Weg besuchen könnte.«

»Seit wann bist du Major?«, hatte Nikolai gefragt, während sie in seinem abgedunkelten Wohnzimmer saßen, Gurken aßen und Wodka tranken.

»Ach das«, er wirkte verärgert, »das war diese Myschinski-Geschichte vor knapp zwei Jahren.«

»Sie haben dich befördert, weil Myschinski geflohen ist?«, hatte Nikolai gelacht.

»Dafür hätten sie mich schon zum Oberst machen müssen«, lächelte Jewgenji hektisch, »ich konnte aber noch verhindern, dass er für den Nobelpreis nominiert wurde!«

»Was ist los mit dir? Du bist blass, unruhig, und abgemagert bist du auch«, stellte Nikolai nach kurzem Schweigen fest und blickte seinem Freund besorgt in die Augen.

»Wahrscheinlich trinke ich zu wenig.«

»Im Ernst«, Nikolai schenkte ihnen Wodka nach.

Jewgenji ging zum Fenster und blickte in die Nacht. Er zündete sich eine Belomor an und wurde kurz darauf von einem Hustenkrampf geschüttelt. Nikolai tat nichts. Er wusste, dass sein Freund immer der Erste war, wenn es darum ging, anderen zu helfen. Sich selbst helfen zu lassen hatte er sich jedoch nie angewöhnt. Nikolai konnte das gut nachvollziehen. Wenn man, wie sie beide, die Hölle in Afghanistan überlebt hatte, dann hatte man gelernt, sich nicht auf andere zu verlassen. Wenn du in einem Hochtal des Hindukusch in einen Hinterhalt der Mudschaheddin gerätst, dann springst du schnell hinter einen Felsen und wartest nicht darauf, dass ihn jemand vor dich rollt.

»Ich weiß nicht, wie lange das noch weitergehen soll«, Jewgenji drehte sich wieder um. Nikolai sagte nichts, sondern wartete, bis er von selbst weitersprach.

»Weißt du, uns geht es jetzt gut. Wir sind Offiziere, haben ein bisschen Einfluss, genug zu essen, brauchen nicht zu frieren … nicht einmal der Wodka geht mehr aus. Aber zu Hause gibt es immer noch tagelang kein Brot, mein Vater hat seit zwei Jahren eine schwere Bronchitis und bekommt keine Medikamente und in Afghanistan sterben jeden Monat Hunderte von Soldaten, die noch keine zwanzig sind!«, er setzte sich wieder in seinen Sessel.

»Wem sagst du das«, Nikolai dachte an den Granatsplitter in seinem Oberschenkel.

»Und wir ackern und ackern, aber es ändert sich nichts«, seufzte Jewgenji, »wir schütten mehr und mehr Benzin in ein Auto, das trotzdem nicht von der Stelle kommt.«

»Vielleicht hat es ein Loch im Tank«, Nikolai nahm sich noch eine Gurke.

»Vielleicht liegt es auch an der Benzinleitung«, Jewgenji gestikulierte mit den Armen, »es könnte aber auch der Vergaser sein, womöglich ist ja auch der Motor kaputt!«

»Es könnte auch jemand die Reifen gestohlen haben.«

»Du sagst es, alter Freund«, er nahm einen tiefen Zug und hustete wieder, »irgendwann fliegt uns das alles hier um die Ohren!«

»Wir sind Russen«, Nikolai machte eine schicksalsergebene Geste, »unser Volk hat schon Schlimmeres überstanden und wir beide auch, meinst du nicht?«

»Das schon.«

»Hier«, Nikolai warf Jewgenji eine alte Zeitung samt Bleistift zu, »schreib den Namen auf von der Medizin für deinen Vater. Ich habe gute Beziehungen zur Stabsapotheke.«

 

Ein paar Wochen später erfuhr Nikolai, dass sein Freund in der Nähe der westdeutschen Stadt Nürnberg tot aufgefunden worden war. Als KGB-Offizier hatte er Zugang zur Presse des Klassenfeindes. Jewgenji war erschossen und anschließend im Wald verscharrt worden. Die zuständige Polizei tappte im Dunkeln, sie war nicht einmal in der Lage, die Nationalität oder gar den Namen des Toten zu ermitteln. Nikolai schnitt die Pressemeldungen aus und steckte sie zunächst in das kleine Fotoalbum, in dem er ihre gemeinsame Zeit als Kadetten und Frontoffiziere dokumentiert hatte – Jewgenjis düstere Prophezeiung war eingetreten.

 

»Das sind seine Straßen, von jeher«, jaulte es aus dem Radio. Alfred und Renan hatten sich in ihr Büro zurückgezogen, weil ihnen gerade nichts anderes übrig blieb als zu warten. Die Momente, in denen man komplett von Informationen und der Arbeit anderer abhängig war, lagen jedes Mal wie Blei auf einer laufenden Ermittlung. An diesem Nachmittag begingen sie nun Totschlag. Das Opfer hieß Zeit. Die Tatwaffen waren eine alte, dunkelgrüne Schreibmaschine und eine alte Zeitung. Alfred hatte beschlossen, den Dienstreiseantrag für die Fortbildung nächsten Monat auf althergebrachte Weise auszufüllen, nachdem das Computer-Netzwerk am dritten Tag hintereinander zusammengebrochen war, ebenso wie die Nerven des Systemadministrators, der sich mittlerweile im Krankenstand befand. Renan tat, was sie schon seit zwei Jahren vorhatte: Fenster putzen. Sie sprühte gerade eine saftige Ladung Glasreiniger auf die Scheibe am Kopfende der Schreibtische und verrieb die Flüssigkeit mit einer ­Doppelseite der Süddeutschen – »Euere schlecht befestigten Wege machen es dem Thronwagen schwer« –, als ihr endgültig der Kragen platzte.

»Das ist unerträglich, Alfred!«, wetterte sie.

»Hm«, nickte er – Tschack – ohne seine Konzentration von der Tastatur abzuwenden.

»Könntest du vielleicht den Sender wechseln?«

»Aber das ist deutscher Soul, Kollegin« – Tschack, tschack –, »weißt du, wie lange die Nation auf so etwas gewartet hat?«

»Das Gewinsel geht mir aber ordentlich auf den Keks«, und dein Getue auch, ergänzte sie gedanklich.

»Du hast ja Recht … Hey!«, protestierte er, als ihn Renans feuchtes Zeitungsknäuel am Kopf traf. Im Gegensatz zu ihr konnte er derartigen Leerlaufphasen sehr viel abgewinnen. Früher hatte er damit auch Probleme gehabt. Es war dieses Gefühl, nicht alles Menschenmögliche zu tun, wenn man nicht zwölf Stunden am Tag rastlos von A nach B und von Verdächtigen zu Zeugen zu Experten hetzte. Mittlerweile war er fünfzig und konnte damit umgehen – einer der Vorzüge des fortschreitenden Alters.

»Glaubst du, das wird noch was?«, fragte sie, eine neue Doppelseite zerknüllend.

»Ich drehe den Sender gleich weiter«, beeilte er sich zu versichern, »muss nur noch den Reisezweck angeben.«

»Nein, ich meine die Aushänge, Bilder in der Zeitung, Anfragen bei Interpol und BKA. Immerhin ist heute Freitag!«

»Fertig«, freute sich Alfred und zog den Antrag aus der Schreibmaschine. Es war doch gut, dass er die alten Maschinenformulare nicht weggeworfen hatte, als die gesamte Verwaltung auf EDV umgestellt worden war.

»Du hast wahrscheinlich Recht«, antwortete er, während er das Formular liebevoll unterschrieb, »das ist weiß Gott kein spektakulärer Fall. Unser Direktor interessiert sich gerade überwiegend für den Wahlkampf seiner Parteifreunde und Hinweise auf einen Serientäter haben wir auch nicht – sieht so aus, als ob wir uns diesmal ein komplettes Wochenende gönnen dürften.«

»Falls nicht, müsste ich das jetzt auch wirklich langsam wissen«, Renan kniete mittlerweile auf ihrem Schreibtisch und ­bearbeitete die untere Hälfte des Fensters. Nachdem sie Hausmeister und Putzdienst etwa zwanzig Mal auf die verdreckten Scheiben hingewiesen hatte, war ihr der Geduldsfaden gerissen.

»Du hast wohl was Wichtiges vor am Wochenende?«, Alfred drehte ein paar Zigaretten auf Vorrat.

»Von wegen«, blaffte sie, »ich muss meinen Eltern im Betrieb helfen. Die haben einen wichtigen Auftrag, mit dem sie nicht rechtzeitig fertig werden. Ich werde mein Wochenende wahrscheinlich mit Schleifpapier, Lack und Pinsel verbringen.«

»Oje«, sagte Alfred, »aber du kannst ja behaupten, dass du hier unabkömmlich bist. Ich gebe dir ein wasserdichtes Alibi.«

»Und was mache ich mit meinem schlechten Gewissen?«, seufzte sie. »Ich gehe schon lieber hin, dann kann ich mich wenigstens ärgern … und meine Schwester ist natürlich gerade auf Abschlussfahrt in London!«

»Dann lass uns noch mal rekapitulieren«, er stützte sich mit den Ellenbogen auf seinen Schreibtisch, »wir haben einen Toten, Mitte vierzig, ohne Papiere. Keine sonstigen Identifikationsmerkmale. Wahrscheinlich Russe, auf jeden Fall aber von slawischer Herkunft. Er wurde ohne sichtbare Gegenwehr erschossen und hatte drei Komma vier Promille im Blut. Bei uns noch nicht aktenkundig … so einen Fall hatten Herbst und ich vor vielen Jahren schon einmal.«

»Echt?«, Renan stieg vom Schreibtisch ab und schloss das nunmehr saubere Fenster. »Und was ist damals dabei herausgekommen?«

»Nichts. Null Komma nichts. Der Fall wurde ziemlich schnell aufgegeben. Waren eben andere Zeiten. Kein genetischer Fingerabdruck, eine dicke Mauer und ein kalter Krieg. Das hat mich damals ziemlich frustriert.« Nicht lange nach der Besichtigung des Tatorts und der Leiche war die verdrängte Niederlage seiner Anfangsjahre wieder in Alfreds Bewusstsein gedrungen. Er hatte Renan nicht sofort eingeweiht, weil er die beiden Fälle erst mal ein paar Tage in Ruhe vergleichen wollte. Außerdem war Renan ohne diese Information eine objektivere Beobachterin. Leider hatte aber auch ihre Objektivität die Ermittlungen nicht maßgeblich weitergebracht, so dass es jetzt langsam an der Zeit war, ihr die alte Akte zu zeigen. Wegen dieser Verzögerung hatte er sich auf eine Strafpredigt eingestellt – doch sie blieb aus.

»Aber heute haben wir über eine Million russische Aussiedler hier«, sagte Renan, »da werden wir doch von irgendwoher ein paar Hinweise bekommen!«

In diesem Moment klingelte das Telefon. Es war die Sprechstundenhilfe eines Allgemeinarztes, die vermeldete, dass ihr Chef das Bild des Ermordeten in der Zeitung erkannt hatte. Der Tote war einmal zur Behandlung in der Praxis gewesen. Der Herr Doktor könne aber leider nicht ins Präsidium kommen, die Polizei müsse sich schon herbemühen.

 

»Herr Doktor, die Herrschaften von der Polizei sind jetzt da.«

»Sollen gleich reinkommen. Wir sind gerade fertig!« Dr. Braun verabschiedete gerade einen Patienten und wünschte ihm halbherzig alles Gute, als Renan und Alfred das Sprechzimmer betraten.

Nach dem üblichen Begrüßungsritual kam er schnell zur Sache:

»Ich habe diesen Mann schon einmal gesehen«, der Arzt hielt die Tageszeitung mit dem Foto des Toten hoch, »und dachte mir, dass das für Sie vielleicht von Interesse sein könnte.«

»Das interessiert uns natürlich sehr«, entgegnete Renan, während Alfred Stift und Notizblock zückte, »wir haben nämlich immer noch keinen Namen, geschweige denn eine Adresse von ihm. Er scheint eine Art Phantom gewesen zu sein.«

»Nun ja, zumindest hatte er menschliche Knochen«, sagte der Mediziner, »ich habe ihn wegen eines Armbruchs behandelt. Eigentlich wollte ich ihn ja in die Unfallklinik schicken, aber da hat er sich geweigert. Ich sollte ihn sofort behandeln und er würde bar bezahlen.«

»War er nicht krankenversichert?«, Alfred zog die Augenbrauen hoch.

»Offenbar nicht. Er gab an, nichts zu arbeiten, aber auch keine finanziellen Probleme zu haben, was mich umso mehr verwunderte. Er sprach ja mit starkem russischem Akzent.«

»Ja, wir sind bisher auch davon ausgegangen, dass es sich um einen Osteuropäer handelt«, nickte Alfred, »haben Sie Namen und Adresse von ihm erhalten?«