9783869132723.jpg

 

 

 

 

 

 

 

 

Krimi-Logo_sr.jpg 

 

Christian Klier

 

Das ganze Jahr

November

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage November 2013)

 

© 2013 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Stefan Imhof

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung einer Fotografie von Grischa Georgiew/Fotolia

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-298-3

 

À ma femme

 

»In jedem Menschen schlummert ein Prophet: erwacht er,

so gibt es ein klein wenig mehr des Übels in der Welt.«

 

Emil M. Cioran, Lehre vom Zerfall

 

 

»I swear I would live in the sun

I would live in the sun

With my wife, my lover

With my daughters and sons«

 

Benjamin Biolay, Vengeance

 

Teil 1

 

Kapitel 1

Ich falle.

Meine Angst überschlägt sich und sucht nach Halt. Irgendwo. Greift verzweifelt um sich und greift nur ins Leere. Ich falle, und es gibt kein Ende. Immer weiter, immer tiefer, immer schneller. Meine Arme schlagen um sich, meine Beine schlagen aus. Ich vergesse zu atmen. Ich vergesse zu sehen.

Sehen.

Der Himmel ist blau. Strahlend. Tiefblau. Und ich sehe eine Puppe, die geschleudert wird. Ihre starren Hände aus Bakelit, sie greifen ins Blau und können es nicht halten. Ihr Kleid ist rot und wirbelt gegen eine Sonne, die ihre letzten Strahlen wirft.

Die Puppe fällt. Fällt dahin, wo ich stehe. Ich stehe vor einem Tor, einem verschlossenen Tor aus Eisen, dessen Gitterstäbe zu Lanzen werden. Und du, meine rote Puppe, du fällst hinab. Und fällst hinein in diese Spitzen. Mit dem Herzen voran. Ich blicke zu dir hoch und begreife, dass ich nicht mehr fallen kann. Meine Hände greifen nach dir, doch sie erreichen dich nicht. Dein Kleid weht im Wind, im kalten Novemberwind. Und das Blut, das aus deinem Herzen tropft, vermischt sich mit dem Rot deines Kleides.

Sehen.

Und ich sehe das Gesicht der Puppe. Dort liegst du, Sophie. Deine Lippen und deine Augen. Blau und tot. Wie der Himmel.

Ich höre das Geräusch, das ein Herz macht, wenn es bricht.

 

Wo war ich? Einen Moment lang musste ich nachdenken. Als ich aus dem Zugfenster sah, fiel es mir wieder ein. Bäume, die ihre Blätter abwarfen. Wiesen, auf denen Kühe standen, schwarz-weiß gefleckt. Bauernhäuser und Scheunen. Und Wolken, die über den Himmel zogen, gleichgültig und schnell.

Ich stand auf, um in den Gang zu treten. Die Frau, die neben mir saß, warf mir einen skeptischen Blick zu. Ob ich im Schlaf geschrien hatte?

»Können Sie mir sagen, wo wir uns gerade befinden?«

»Vor ein paar Minuten sind wir an Caulnes vorbei. Es dauert noch eine halbe Stunde, bis wir in Saint-Brieuc ankommen.« Die Frau versuchte ein Lächeln. »Geht es Ihnen gut?«

Ich legte meine Hand auf die Stirn und bemerkte den Schweiß. »Mir geht es gut«, sagte ich. »Sehr gut. Danke.« Ich stolperte zur Toilette.

 

Starrte in den Spiegel. Meine Wangen waren eingefallen, meine Gesichtshaut fahl. In meinen Augen lag nur Leere, sonst nichts.

»Sophie.«

Ich ließ meine Hand über die trockenen Bartstoppeln gleiten. Strich mein Haar nach hinten. Schob meinen Kopf in die Lücke zwischen Becken und Wasserhahn. Dann drückte ich auf den Schalter für das Wasser, bis mein Kopf völlig nass war.

Ich griff nach der Klorolle, zog sie aus ihrer Halterung und riss mehrere Blätter ab, um mich abzutrocknen. Mit meinen Händen fuhr ich durch mein nasses Haar. Ich warf mir einen letzten Blick zu und atmete tief ein, bevor ich die enge Kabine verließ.

Ich brauchte dringend etwas zu trinken.

 

Die drei Whiskys hatten nichts besser gemacht, dachte ich, als ich auf den Bahnsteig trat. Dass Träume so stark sein konnten. Dass sie in der Lage waren, einen derart zu betäuben, dass der Rest des Tages schon vorgezeichnet schien. Man fand einfach nicht mehr aus ihnen heraus. Wie von einer durchsichtigen Blase, die man nicht zerreißen konnte, wurde man von ihnen umgeben. Unabwendbar war man von diesem wabernden Etwas eingehüllt. Es begann mit dem Aufstehen, der Dusche am Morgen, und es war immer noch da, wenn man am Abend einschlief, auf einem durchgelegenen Sofa neben einer Flasche, die nach scharfem Alkohol roch. Der Alkohol, der es nicht geschafft hatte, die Stimmung, die Atmosphäre, den Grundton des bösen Traumes zu ertränken. Nur ein neuer Traum vermochte dies. Ein Traum mit einer starken Farbe, mit Momenten voller Helligkeit und großen Gesten.

 

Ich war immer der Meinung gewesen, dass ich die französische Sprache einigermaßen beherrschte. Doch von den Lautsprecherdurchsagen verstand ich kaum ein Wort. Ich ging zu einem Schalter und erkundigte mich nach dem nächsten Zug nach Lannion.

»Vor zwei Minuten ist der Regionalzug abgefahren, tut mir leid. Der nächste geht erst wieder in einer halben Stunde auf Gleis sieben.«

Ich setzte mich in ein Café, das sich innerhalb des Bahnhofs befand. Bestellte einen Kaffee und ein Sandwich.

Mein alkoholisiertes Gehirn hatte dringend Ordnung nötig. Deshalb ging ich im Geiste durch, warum ich mich in diesem Augenblick, an diesem neunten November um fünfzehn Uhr und zwei Minuten, gerade hier an diesem Ort befand.

Alles hatte mit Sophies Tod begonnen, dachte ich. Ihr Gesicht, wenige Tage, bevor es so weit war. Dieses Gesicht hatte so rein gar nichts mehr mit dem zu tun gehabt, was sie einmal gewesen war. Ihr Körper war zwar noch am Leben, aber dieses Gesicht, es war tot. Aufgefressen, zerfallen, zerfurcht von der Krankheit, gegen die es kein Mittel gab. Diese Krankheit, die einen lehrte, was Erbarmungslosigkeit und Konsequenz bedeuteten.

Sophies Augen. Sie strahlten blau und entrückt. Und sie sahen durch alles hindurch. Durch die Decke des Krankenhauses, durch das Dach, durch die Wolken. Und sie sahen auch durch mich hindurch, als wäre ich nicht mehr da. Ich ertrug ihn nicht, diesen Blick, der keiner mehr war. Und deshalb starrte ich nur auf ihre Hände. An ihren Händen, da konnte ich sie noch erkennen. Ihre feingliedrigen Finger, deren letztes Glied ein wenig nach oben abstand. Ich fand immer, dass ihr das etwas Besonderes, etwas Edles verlieh. Und die Linien, die dort auf den Handflächen verliefen, so lieb und teuer, so vertraut. Aber dieses Gesicht mit den fernen Augen, die längst nicht mehr hier waren, dieses Gesicht machte mir Angst.

Und es machte mich wissend.

Wissend, dass es vorbei war.

Alles hatte mit Sophie begonnen, und nichts war zu Ende gebracht. Sophie war gegangen, aber ich war noch hier. Da war eine Schuld, die ich spürte. Eine Schuld, die mich trennte, vom Leben, das um mich herum stattfand. Eine Schuld, die ich jeden Tag in Alkohol aufzulösen suchte.

Du wirst aufhören, diese Frauen zu treffen.

In mir zerbrach etwas. Ich war schuldig. Schuldig, weil ich Sophie über all die Jahre hinweg betrogen hatte. Ich hatte diese Frauen umworben, die mir nur Körper und Sex bedeuteten, und die Frau, die mich liebte, hatte ich damit umgebracht. Sophies Worte hallten durch mein Gehirn wie das Echo einer Vergangenheit, die ich nicht mehr ändern konnte. Wie ein Abgrund, der mich mit einer schizophrenen Fratze anlächelte und sich wünschte, ich würde mich endlich von ihm verschlingen lassen, ganz und gar.

Ich werde dich nicht verlassen, Tristan. Ich kann dich nicht verlassen. Denn du und ich, wir beide sind füreinander bestimmt.

Das waren wir. Immer noch, auch über ihren Tod hinaus.

Ich griff in meine Tasche, holte den Stein heraus und fuhr mit meinen Fingern über die raue Oberfläche. Ich sah Sophies Augen vor mir. Augen, die mich anblickten. Blau und voller Güte. Und neben der Güte, da lag etwas in ihren Augen, das keinen Widerspruch zuließ.

 

Der Stein beruhigte. Ich konzentrierte mich auf meine Atmung und darauf, dass meine Angst, meine Verzweiflung erträglicher würden.

Der Seelenstein war ein Geschenk von Sophie. Sie hatte ihn von ihrem Großvater geerbt, der ihn aus Australien mitgebracht hatte. Dieser Großvater, der in ihrer Familie als unumstößliches Vorbild galt, weil er während des Dritten Reichs im Widerstand aktiv gewesen und aus Deutschland geflüchtet war. Ein evangelischer Pfarrer, der sich bemühte, den Eingeborenen den rechten Glauben aufzuzwingen. Warum, so fragte ich mich, warum hatte er von dort diesen Seelenstein mitgebracht? Hatte er vielleicht begonnen, den Naturglauben der Aborigines anzunehmen, wenigstens zum Teil? Er habe ihn immer bei sich getragen, hatte Sophie erzählt. Bis zu seinem Tod. Die Seele, die darinnen war, würde ihn beschützen, hatte er behauptet.

Und diese Seele, sie beschützt auch dich.

 

Es war nicht meine Idee gewesen, eine Auszeit nehmen. Ich war durchaus der Meinung, dass meine anwaltliche Tätigkeit mich nicht überanstrengte. Schließlich beschäftigte ich mich vorrangig mit den kleineren Angelegenheiten innerhalb der Kanzlei: Nachbarschaftsstreitigkeiten, Verkehrsdelikte, Diebstähle im Rahmen des Jugendstrafrechts. Mein Arzt hatte die Idee. Er wollte, dass ich mich krankschreiben ließ. Ich bestritt, an einem Erschöpfungssyndrom, an Depressionen zu leiden. Dass man ab und zu einen Aussetzer hatte, war doch normal. Und ja, meine Frau war gestorben, aber das Leben ging doch weiter.

Der Arzt widersprach mir nicht. Er lächelte nur und legte seine Hand auf meine Schulter, das war alles. Eine Woche später nahm ich sein Angebot an und ließ mich auf unbestimmte Zeit krankschreiben.

 

Und dann lag da eines Tages dieser Brief in meinem Briefkasten. Abgestempelt in Paris, im 18. Arrondissement. Ein Absender fehlte. Ob es Zufall war, dass er just zwei Wochen nach Sophies Tod ankam?

Ein Brief, dem eine Fahrkarte, tausend Euro und die Aufforderung beilagen, an einen Ort in der Bretagne zu fahren, von dem ich noch nie gehört hatte.

Es geht um Sie und Ihre Familie.

Was hatte dieser Brief zu bedeuten? Ich hatte Vater angerufen, doch auch der konnte sich keinen Reim auf das Schreiben machen. Ich solle besser die Finger davon lassen. Vielleicht handle es sich ja um einen bösen Scherz. – Und die Fahrkarte? Das Geld? – Vater konnte mir keine Antwort geben.

Natürlich war dieser Brief höchst dubios und unseriös. Klang das Ganze doch irgendwie nach einer Werbung für ein Gewinnspiel oder eine Versicherung. Das mochte so sein, doch der Brief gab mir etwas, das mir fehlte. Er hatte mich raus aus meiner Stadt gebracht. Raus aus meinem zermürbenden Alltag, der voll war von Selbstvorwürfen und Sophie. Vielleicht war dieser Brief ja so etwas wie ein Wink des Schicksals. Vielleicht würden mich diese Reise nach Frankreich, dieser Weg ans Meer auf neue Gedanken bringen. Mich vielleicht sogar von meinen quälenden Erinnerungen und Schuldgefühlen erlösen.

Und ich war aufgebrochen.

Deshalb saß ich nun hier, in diesem Bahnhofs­café in Saint-Brieuc. Trank einen Kaffee, der bitter schmeckte, und sah den Leuten dabei zu, wie sie von und zu den Bahnsteigen liefen, rastlos und gehetzt. Auf der Jagd nach irgendwelchen Zielen, die es zu erreichen galt.

Mein Blick fiel auf eine Frau, die am Nebentisch saß. Ihr Haar war nachlässig hochgesteckt, schwarze Strähnen fielen in ihre Stirn und auf die Wangenknochen. Von der Seite konnte ich ihre langen Wimpern erkennen und ihre Lippen, glänzend und voll. Sie führte eine brennende Zigarette an ihren Mund.

»Entschuldigen Sie, Madame. Excusez-moi.«

Sie drehte den Kopf und lächelte.

»Ja bitte?«

»Hätten Sie vielleicht noch eine Zigarette?«

Mit einem Nicken in Richtung der kleinen Schachtel, die auf dem Tisch lag, deutete sie an, dass ich mir eine herausnehmen dürfe. Ich stand auf, ging zwei Schritte, griff nach der Schachtel.

»Könnte ich Feuer haben?«

Die Frau nahm ihre Zigarette aus dem Mund und blies den Rauch in die Luft. Ich wartete darauf, dass sie mir ihr Feuer reichte, doch nichts geschah. Da sah ich, dass ihr der linke Arm fehlte.

Die Frau war schön, trotz dieses Makels. Ich empfand eine seltsame Diskrepanz, die schwer zu fassen war. War versucht, mich zu entschuldigen. Doch ich beherrschte mich. Die Frau hatte meinen Blick bemerkt. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden und hatte einer gewissen Verhärmtheit Platz gemacht, einer Resignation, die ich mochte. Für einen Moment hatte ich Lust, mit ihr zu schlafen.

»Vielen Dank«, sagte ich, als sie mir ihre Zigarette reichte, an deren Glut ich meinen Glimmstängel entzündete.

Ich gab ihr die Zigarette zurück. Die Frau sagte etwas, das ich nicht verstand. Ich achtete auf die Lautsprecherdurchsage. Mein Zug wurde aufgerufen.

Ich ging zurück zu meinem Tisch, zog mein Portemonnaie aus der Tasche und legte ein paar Münzen auf die Tischplatte.

Während ich zu Gleis sieben lief, dachte ich an Sophie. Wenn sie nur leben würde, von mir aus mit einem Arm – aber wenn sie nur leben würde.

 

Es war beinahe fünf Uhr, als das Taxi vor dem Hôtel Castel Beau Site anhielt. »Ploumanac’h«, sagte der Taxifahrer, während er das Geld entgegennahm, »die Touristenhochburg im Sommer. Aber jetzt im November kann man hier wunderschöne Spaziergänge an der Küste unternehmen. Da sind diese Felsen aus orange-rotem Granit.« Er deutete auf steinerne Hügel, die sich vor uns an den Seiten einer Bucht befanden. »Nirgendwo sonst auf der Welt findet man so eine Küste!«

Ich bedankte mich und ließ mir meinen Koffer geben.

Als das Taxi verschwunden war, fing es plötzlich zu regnen an. Schnell und heftig. Die Tropfen prasselten auf meinen Mantel, in mein Gesicht. Ich lief zum Eingang und öffnete die Tür zur Lobby.

Hier empfing mich ein riesiger Leuchter, von dem ein dezentes Licht ausging. Nur ein einziger Mensch war da, ein Mann, der an einem niedrigen Tisch saß und in eine Zeitung vertieft war. Sein Seitenscheitel strahlte eine Akkuratesse aus, die mir nicht besonders zeitgemäß erschien. Ich ging zur Rezeption, die sich zwischen an­thrazitfarbenen Marmorsäulen befand. Nach einigen Minuten des Wartens betätigte ich die Klingel. Ein junger Mann in Gilet erschien.

Der Mann mit der Zeitung stand auf und drängte sich an den Tresen. »Ist nun das Zimmer mit dem Meerblick endlich frei?« Ich nahm den Geruch von Rasierwasser und Gin wahr. Der Mann hatte schlechte Zähne.

»Moment, bitte.« Der Hotelbedienstete griff nach dem Telefonhörer und wählte. Das Gespräch dauerte nicht lange. Kurz darauf übergab er dem Mann einen Schlüssel.

»Danke.« Der Mann ging zu den Aufzügen. Mir fiel auf, dass er ein Bein nachzog.

»Entschuldigen Sie bitte, Monsieur«, wandte sich der Angestellte endlich mir zu. »Sie wünschen?«

»Es müsste eine Reservierung für mich vorliegen.«

»Ihr Name, Monsieur?«

»Novembre, Tristan Novembre.«

 

Es war schon immer seltsam für mich, meinen Namen auszusprechen. Im 17. Jahrhundert war meine Familie aus Frankreich geflüchtet. Im Zuge der Hugenottenverfolgung hatten sich meine Vorfahren im südlichen Deutschland angesiedelt. Der französische Name war bis heute geblieben. Mein Großvater legte während der Zeit des Dritten Reiches unseren französischen Namen ab. Er wollte sich offensichtlich vom verhassten Erbfeind abgrenzen, bis hinein in die Sprache. Doch sein Sohn, mein Vater also, machte diese Eindeutschung wieder rückgängig. Dabei ging es meinem Vater weniger darum, sich auf unsere Wurzeln zu besinnen. Als ehemaliges aktives Mitglied der Außerparlamentarischen Opposition Ende der Sechzigerjahre war es ihm ein Anliegen, sich von der nationalsozialistischen Vergangenheit seiner Familie deutlich zu distanzieren. Ulrike Meinhofs Diktum vom klaren Strich, den man zu ziehen habe, zwischen sich selbst und denen, die man bekämpft, galt im Hause meiner Eltern als ein Erziehungsgrundsatz, den ich bis heute nicht vergessen habe.

Meinem Vater habe ich auch meinen Vornamen zu verdanken. Als Professor für Ältere Germanistik hatte er seit jeher ein Faible für die Sagen um Tristan. Im Laufe seiner aktiven Zeit veröffentlichte er viele Forschungsarbeiten zu diesem Thema. Die Figur des Tristan als erstem Protagonisten in der deutschen Literatur, der sich gegen das Establishment stellte. Der Seite an Seite mit Baader und Meinhof der faschistischen Gesellschaft, die sie umgab, den totalen Krieg erklärte. Für Vater stand vermutlich niemals die Frage im Raum, ob sein Sohn einen anderen Namen als den seines persönlichen Helden tragen würde. Ob das ein Fluch oder ein Segen war, das stand auf einem anderen Blatt. Im Allgemeinen war ich mit meinem Namen zufrieden. Nur etwas fremdartig klang er mir manchmal in den Ohren, so als würde er nicht wirklich zu mir gehören.

 

Nachdem ich mein Zimmer bezogen hatte, begab ich mich nach draußen. So schnell der Regen gekommen war, war er auch wieder gegangen. Ich spazierte hinunter zur Bucht. An den Seiten des Sandstrandes erhoben sich Felsen, die im Abendrot hell aufleuchteten. Durch ihre rundliche Form hatte es den Anschein, als handele es sich um überdimensionierte Kiesel, die einem Riesen im Vorbeigehen aus der Tasche gefallen waren. Hätte man nur dieses Bild, ging es mir durch den Kopf, diese Bucht mit den Steinen, das Meer und das Licht, man wäre versucht, diese Szenerie im Süden zu verorten, so warm, so weich strahlte das Ganze.

Ich ging weiter und kam zu einer kleinen Kapelle. Ich nahm Platz auf einer steinernen Bank. Drüben, auf einer Insel, erkannte ich ein Schloss. Das orange-rote Licht der Sonne überflutete den Horizont, vermischte sich mit dem dunklen Blau des Meeres, bis es verschwand. Das Licht. Das Meer. Der Himmel.

Die Dunkelheit.

 

Gegenüber dem Hotel befand sich eine Moulerie. Dort ging ich essen. Ich sah aus dem Fenster, heftete meine dunklen Gedanken an die Lichter dort draußen, an ihren Widerschein, der sich auf den Wellen brach und der an den Felsen in Stücke gerissen wurde.

Bevor ich das Restaurant verließ, kaufte ich dem Wirt eine Flasche von seinem Weißwein ab.

 

Ich lag im Bett. Neben mir die Flasche Wein. Ich hielt den abgegriffenen Brief in Händen und las erneut:

 

Sehr geehrter Herr Novembre,

ich habe Informationen, die Sie interessieren dürften. Es geht um Sie und Ihre Familie. Nehmen Sie sich einige Tage frei und kommen Sie nach Frankreich, in die Bretagne.

Unten ist die Anschrift eines Hotels angegeben. Dort ist für Sie ein Zimmer reserviert und auch schon bezahlt. Für die Reise habe ich Ihnen eine Fahrkarte und 1.000 Euro beigelegt.

Wir treffen uns am 10. November um 10 Uhr am Leuchtturm von Ploumanac’h. Bitte seien Sie pünktlich.

Hochachtungsvoll

 

Ich versuchte die Unterschrift zu entziffern, aber es gelang mir auch diesmal nicht. Irgendetwas mit »-ert« oder »-art« am Ende. Vielleicht »Bernart« oder »Robert«.

Ich überlegte. Warum gerade Frankreich? Warum gerade die Bretagne? Um welche Informationen, von denen ich nichts wusste, würde es gehen? Das Einzige, was mich mit Frankreich verband, waren ein paar Vorfahren aus dem 17. Jahrhundert. Das war’s dann aber auch schon. Ich hatte hier weder Verwandtschaft noch Freunde noch Bekannte noch irgendwen.

Wieder nahm ich das Briefkuvert in die Hand und suchte nach Hinweisen auf einen möglichen Absender. Da war nur dieser Poststempel vom 20. Oktober: »Paris 18e Arr.«.

Ich legte den Brief auf das Nachtkästchen. Stellte das Weinglas neben die leere Flasche. Dann schaltete ich das Licht aus.

 

Ich schlug die Augen auf. War ich von dem unruhigen Traum oder von diesem Geräusch wach geworden? In dem Zimmer über mir polterte es. Ich hörte Schritte. Unregelmäßig und schwer. Eine Tür wurde geschlossen. Durch das Fenster drang ein schnelles Blinken und tauchte die Zimmerdecke für einen kurzen Moment in ein gespenstisches Licht.

 

Zum Frühstück gab es Kaffee und Croissants. Ich saß vor einem hohen französischen Fenster. Von dem schmiedeeisernen Gitter am unteren Rand blätterte Farbe ab. Manchmal warfen Streben und Gitter Schatten, wenn für Sekunden der Himmel aufriss und eine helle Novembersonne den dunklen Boden des Speiseraums flutete.

Ich trank von meinem Kaffee und sah nach draußen. Unter einem großen Regenschirm, zwischen den Steinen am Strand, stand ein altes Ehepaar. Der Mann deutete auf ein Heiligenbild, das sich in einem steinernen Häuschen befand. Er senkte den Kopf, sah über die Lesebrille hinweg in das Häuschen und begann zu seiner Frau zu sprechen. Die Art, wie er über die Brille hinwegblickte, wie er seine Arme und Hände bewegte, erinnerte mich an meinen Vater.

Ich aß das Croissant auf, dann sah ich auf die Uhr. Es war noch Zeit bis zu meiner rätselhaften Verabredung. Ich beschloss dennoch, schon nach draußen zu gehen. Ich wollte mir die Beine vertreten. Gegen die innere Unruhe ankämpfen, die von Minute zu Minute größer wurde.

 

Der Geruch von Tang und Meersalz erfüllte die Luft. Ich ging ein paar Schritte an der Strandpromenade entlang. In einem Andenkenladen kaufte ich mir einen Reiseführer und einen Regenschirm. Zum wiederholten Male sah ich auf die Uhr.

 

Hinter einer Wegbiegung erschien die Spitze des Leuchtturms. Plötzlich flog mir eine Möwe vors Gesicht, so dicht, dass sie mich mit ihrem Flügel streifte. Ich erschrak. Die Möwe flog weiter.

Ich sah zum Leuchtturm. Da fiel ein Lichtreflex in meinen Blick. War es das Licht des Leuchtturms? Oder nur ein Sonnenstrahl, der eine Glasscheibe getroffen hatte?

Meine Vergangenheit war ein Puzzle. Ein Puzzle aus den Splittern einer zerbrochenen Scheibe, auf denen dann und wann ein heller Lichtstrahl auftraf, der heftig in den Augen schmerzte. Mit einem Mal rückte der Traum der letzten Nacht in mein Bewusstsein:

Mir steckte ein Messer in der Brust. Und bei jedem Herzschlag spürte ich die Spitze des Messers, spürte ich die Schmerzen, spürte, wie es stach. Ein Mann in einem weißen Kittel erschien. Er hatte einen Seitenscheitel, ein Arm fehlte ihm. Er lächelte mich an mit seinen schlechten Zähnen.

»Was soll ich tun?«, fragte ich hilflos.

Er antwortete mir: »Das Messer steckt zwischen den Herzkammern, genau in der Mitte. Du kannst das Messer herausziehen, dann wird der Schmerz verschwinden. Und mit ihm dein Leben. Du wirst verbluten.«

»Und wenn ich es nicht herausziehe?«

»Dann geht dein Leben weiter. Aber der Schmerz wird bleiben.«

»Für immer?«

»Für immer. Du musst dich entscheiden.«

Der Mann drehte sich um und ging.

Das Licht des Leuchtturms.

Das Licht auf meinen Seelensplittern.

 

***

 

Michel Le Goff tat das, was er immer tat, wenn sein anstrengender Zehntagesdienst als Leuchtturmwärter auf der Île-aux-Moines zu Ende war. Er tauchte.

Während er sich in seinem Neoprenanzug zwischen Felsbrocken, Schlamm und Grünalgen hindurchschlängelte, dachte er darüber nach, was für ein Privileg es doch war, dass sein Schwager Thierry und er die letzten Leuchtturmwärter in ganz Frankreich waren. In den Neunzigern hatte man damit angefangen, die Türme zu automatisieren. Als einer der letzten Leuchttürme sollte der ihrige im August 2007 umgestellt werden. Doch Thierry und er hatten mithilfe der Gewerkschaft erreicht, dass sie mindestens noch acht Jahre als Wärter arbeiten durften.

Michel liebte seinen Beruf. Er liebte seine karge Insel, auf der außer der Leuchtturmanlage nur die Ruinen einer alten Befestigung vor sich hindümpelten. Er liebte es, wenn der Wind an den Haaren zog, wenn das aufgewühlte Meer seine Gischt über die Klippen auf das öde Grün der Insel spritzte, wenn er oben im Turm saß, hinüber aufs Festland oder über die benachbarten Inseln blickte und dabei Pfeife rauchte. Und er liebte es auch, wenn nach zehn Tagen sein Dienst vorbei war. Wenn er in das kleine Motorboot stieg und hinüberfuhr im Morgengrauen, zurück an die rosafarbene Küste. Dann begab er sich, nachdem er in seinen Wagen umgestiegen war, hinunter an die kleine Bucht. Schlüpfte in den Taucheranzug, überprüfte die Sauerstoffflasche, setzte die Brille auf und tauchte ein in die unsichtbare Welt des Meeres.

 

Er hatte einen Rochen aufgeschreckt, der sich plötzlich aus dem Sand vom Meeresgrund löste und sich davonmachte. Ein Fischschwarm knabberte an einer Wand aus Algen, die an einem Felsen klebte. Unter ihm schossen ein paar Robben vorbei.

Michel Le Goff tauchte tiefer hinab. Seine Augen suchten zwischen dem Gestrüpp aus Meerespflanzen. Er sah nach links, er sah nach rechts, sah hoch und hi­nunter, und irgendwann hatte er gefunden, was er suchte.

Er verscheuchte die Aale, die ganz offensichtlich an ihr interessiert waren. Dann blickte er sie an.

Ihre Haut leuchtete aschfahl, und ihre Augen waren geschlossen. Ihre Haare schienen zu schweben. Wie dünne Fasern hingen sie im Wasser und bewegten sich rhythmisch in den Strömungen des Meeres. Sie schimmerten rötlich in dem Licht, das durch das Wasser von oben herabfiel. Es kam ihm vor, als atme der Ozean diese Haare. Als würden sie bewegt von einer besonderen Melodie, die außerhalb des menschlichen Wahrnehmungsfeldes lag.

Einatmen. Ausatmen. Immerzu. Und dieser unhörbare Ton, der ihre Haare bewegte, ihren Körper leicht hin- und herwiegte. Er konnte gar nicht glauben, dass sie tot war. Die Konturen ihres Gesichts waren wie immer. Die hohen Wangenknochen, der geschwungene Mund. Ihre Augen waren geschlossen, als ob sie schliefe. Er kannte die Augen, die unter diesen Lidern lagen. Leuchtend und grün wie Smaragde, dachte er. Jetzt war dieses Grün zu einem Algengrün geworden. Mit dem Leuchten ihrer Augen war es vorbei. Denn da war dieses Loch in ihrer Stirn, unwiderruflich machte es klar, dass sie nicht mehr am Leben war.

Da lag sie, ohne dass eine Kette oder ein Seil sie festhielten. Ganz natürlich drückte sie der Strom des Meeres an dieser Stelle in eine kleine Kuhle aus Felsgestein. Er hob sie sanft an. Griff ihr mit einer Hand unter das Kinn, sodass er sie mit sich ziehen konnte, und tauchte in Richtung Küste.

Als er im seichten Wasser unterhalb einer Klippe eine Stelle gefunden hatte, von der er wusste, dass sie vom Festland her kaum einzusehen war, legte er den Körper ab. Sie hatten alles bedacht, freute er sich. Das Meer würde in den nächsten Stunden zurückgehen. Der Körper würde also nicht weggeschwemmt werden. Er würde liegen bleiben auf dem roten Stein.

Michel Le Goff zog eine goldene Uhr aus einer Tasche des Taucheranzugs hervor. Er öffnete den Mund der Leiche und steckte die Uhr hinein. Bevor er wieder ins Meer hinaustauchte, presste er die Kiefer der Frau zusammen, sodass ihre weichen Lippen aneinanderlagen.

 

Er hatte einen Bogen nach Westen hin geschlagen. Die Stelle, an der er an Land kam, ähnelte einem Gletscher aus rotem Stein. Er nahm zuerst die Brille ab, dann die Sauerstoffflasche. Zog die Flossen aus, um besser über diese Geröllschneise laufen zu können.

Er blickte hinüber zu Men Ruz, dem Leuchtturm von Ploumanac’h. Ein Mann mit Regenschirm und grauem Mantel lief darauf zu.

Michel Le Goff dachte daran, dass die Deutschen den Turm 1944 zerstört hatten. Ein Jahr später, als die Besatzer besiegt und abgezogen waren, hatte man ihn wieder aufgebaut.

Er sah auf die Uhr und kam zu dem Schluss, dass es nun an der Zeit sei, die Polizei zu rufen.