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Gustavo Machado

Unter dem Augusthimmel

Kriminalroman

 

 

Aus dem brasilianischen Portugiesisch

von Lisa Graf-Riemann

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Obra publicada com o apoio do Ministério da Cultura do Brasil/ Fundação Biblioteca Nacional.

Diese Publikation wurde vom brasilianischen Kulturministerium/Stiftung Nationalbibliothek gefördert.

 

 

Titel der Originalausgabe: »Sob o Céu de Agosto«

First published by Dublinense in Brazil, 2010

© 2010 by Gustavo Machado

 

 

Vollständige E-Book-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage 2013)

© 2013 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Stefan Imhof

Satz: Christine Richert, www.typoholica.de

Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von

plainpicture/Millennium/Vincent Catala

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-297-6

 

Für meinen Sohn João Francisco

 

»Gütiger als Gott ist der Teufel. Da er nicht

so mächtig ist, kann er nicht so grausam sein.

Ich habe keine Angst, meine Freunde!«

 

Joseph Roth, Hiob. Roman eines einfachen Mannes

 

 

1

Am Anfang war die Feuchtigkeit. Dann Kälte und Gestank, Dunkelheit und mein zerschlagener Körper. Was mir am meisten wehtat, war mein Auge, ein mit feinen Glasscherben gefüllter Tortellino. Wenn mir etwas wehtut, kann ich nicht tot sein, dachte ich. Dann hörte ich weit weg Stimmen. Wortfetzen. Gelächter, einen tropfenden Wasserhahn, jemanden, der hustete, eine Klospülung, eine hämmernde Schreibmaschine, Niesen, Gesundheit, danke. Ich hörte, wie jemand weinte und nach Gott schrie. Schritte von draußen, die näher kamen, näher, noch näher. Ein Schlüssel, der umgedreht wurde, klick, gleißendes Licht, Schritte im Raum.

Jemand setzte sich an mein Bett. Ich hatte Angst, es könnte ein Häftling sein, einer, der versuchen würde mich zu vergewaltigen oder zu töten. Ach ja, jetzt sah ich die Szene mit den beiden Polizisten wieder vor mir, die mir Fragen gestellt hatten, die mich nicht schlafen ließen mit ihren Fragen und noch mehr Fragen auf dem Weg zurück in die Stadt. Der eine furzte die ganze Zeit, und der andere lachte über die Fürze seines Kollegen und stellte gleich die nächste Frage. Ich erinnerte mich an den Rücksitz eines alten Golfs, eines innen und außen verdreckten Golfs, an die Bonbonpapiere und Pappbecher, die über den nackten Boden rollten, auf dem keine Gummimatten lagen, während das Auto die steilen Serpentinen bergab fuhr. Alles klapperte und krachte in diesem Wagen, der alte Motor röchelte. Ich erinnerte mich auch daran, dass mich jemand vor sich hergeschoben und in diese Zelle gebracht hatte, in der ich vorübergehend sitzen und Papiere unterzeichnen musste, einen Haufen Papiere. Unterschreiben Sie hier. Und jetzt hier. Was für ein schreckliches Licht. Und die Schmerzen im Auge.

»Otto?«

Es gelang mir nach drei Versuchen, das gute Auge geöffnet zu halten, aber das helle Licht war das reinste Gift für die Netzhaut meines unverletzten Auges. Der Mann an meinem Bett sah nicht aus wie ein Mithäftling. Er stand auf. Er ging herum, als sei er nach vielen Jahren wieder bei einem Freund zu Besuch und betrachte die Einrichtung ganz genau, um festzustellen, was sich seit dem letzten Besuch verändert hatte. »Klack, klack, klack«, machten seine Schuhe mit den zerkratzten Spitzen, »klack, klack, klack«. Schon nach wenigen Sekunden hatte er sich in ein wildes Tier verwandelt, das in einem Zoo eingesperrt war. Zoos machen mich übrigens richtig traurig. Diese neurotischen Wesen mit ihren Bewegungen, die sich immer wiederholen, unterbrochen werden, wieder anfangen, Kreisbewegungen wie bei den Insassen psychiatrischer Anstalten. Einmal habe ich einen Kollegen in der Psychiatrie besucht und …

»Sie sind also Otto. Otto, na gut. Richtig. Otto mit Doppel-t.« Ich schwieg. Ich lauschte diesem »Klack, klack, klack«. Der Mann war klein, gedrungen, ohne Hals. Ein kleiner, stämmiger, halsloser Kerl, der klassische Typ. Als junger Mann musste er muskulös gewesen sein. Er war etwa fünfzig, hatte ein hartes Gesicht, Hängebacken wie ein Hund aus einem Zeichentrickfilm und graues Haar, das sehr kurz geschnitten war und den Schädel an einigen Stellen durchschimmern ließ. Er roch nach Mottenpulver und Zigaretten. Mehr nach Zigaretten als nach Mottenpulver. Vielleicht gehörte das Mottenpulver auch gar nicht zu ihm, sondern vielmehr zu diesem Ort. Aber er roch stark nach Dingen, die lange irgendwo aufbewahrt wurden. Das musste nicht bedeuten, dass er nicht geduscht hatte. Ich weiß das, weil ich Freunde hatte, die selbst dann nach dem Schrank ihres Urgroßvaters rochen, wenn sie gerade aus der Dusche kamen. Es gibt Leute, die diesen Geruch einfach von Natur aus haben, auch wenn sie sich noch so bemühen, gut zu riechen.

»Wissen Sie, wo Sie sind?«, fragte er.

Ich schwieg noch immer.

»Das hier ist das Kommissariat Fünf, Mordkommission«, sagte er, und in seinem Gesicht lag eine Spur Ekel, als er mich so direkt ansah.

»Haben sie Sie hier so zugerichtet? Hat man Ihnen das hier angetan?«

Ich dachte nach und schüttelte den Kopf.

»Sie wurden gestern Nacht festgenommen, oben in den Bergen, und dann gleich verhaftet, nachdem Sie einen Doppelmord gestanden haben. Erinnern Sie sich daran?«

Ich nickte. Bis dahin erinnerte ich mich mehr oder weniger, an ein paar Stücke zumindest, an nicht mehr als zwei oder drei unzusammenhängende Bilder. Es war mir klar, dass da noch wichtige Teile fehlten.

Der Mann streckte mir einen Plastikbecher mit Kaffee aus einer Thermoskanne entgegen, die auf magische Weise unter seinem Arm aufgetaucht war. In meiner Fantasie wurde er zum Zauberer. Tio Tony fiel mir ein, der Magier aus dem Fernsehen meiner Kindheit, und fast musste ich lachen. Aber ich dachte, das würde sich ganz schlecht machen, wenn ich in meiner Lage – in Polizeigewahrsam und aus dem letzten Loch pfeifend – einfach so wegen einer Erinnerung loslachte.

»Können Sie behalten«, sagte er und zeigte auf die Kanne, ohne sie aus der Hand zu geben. Dann setzte er sich wieder an mein Bett.

Ich bedankte mich für den Kaffee und nahm einen Schluck. Er war gar nicht so übel. Meine Zunge fühlte sich ziemlich dick an, sie passte kaum zwischen die Zähne, die sich vervielfacht hatten. Wie viele Zähne haben Säugetiere? Ich hatte so an die achtzig, neunzig.

»Ich heiße Sampaio und bin der Dienststellenleiter.«

Wir schüttelten uns flüchtig die Hände. Er wischte seine diskret an der Hose ab und redete weiter, redete und redete.

»Ich hatte frei, als man Sie hierherbrachte. Eigentlich habe ich immer noch frei.«

Er machte eine Pause, um auszuspucken. Wartete er darauf, dass ich mich dafür entschuldigte? Er spuckte noch einmal und fuhr fort.

»Sie wurden leider hierhergebracht, weil die Kommissariate, die näher beim Tatort liegen, überlastet waren. Wissen Sie, wie das läuft?«

Ich sagte Ja, das wisse ich.

»Bürokratische Entscheidungen«, fuhr er fort. »Die Polizisten machen ihren Job, aber sie wissen nicht mehr wohin mit den Festgenommenen. Also brachten sie Sie hierher, und nun sitzen wir hier und genießen zusammen meinen freien Tag.«

Ich nickte zustimmend, als begriffe ich endlich alles.

»Sie müssen einen wichtigen Freund in der Regierung haben. Sie sind aber nicht selbst Regierungsmitglied, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. Aber ich war mir nicht sicher. Wenn ich es gewesen wäre, und wenn auch nur indirekt, wäre ich nun wahrscheinlich schon wieder auf freiem Fuß gewesen. Ich war freiwillig aus dem öffentlichen Dienst ausgeschieden.

»Und von der Partei? Sind Sie von der Partei?«

Fehlanzeige, signalisierte ich mit dem Kinn. Da war ich mir ganz sicher.

»Aber Sie haben eine Stelle bei der Regierung, nicht? Sie haben oder hatten dort einen Posten.«

Ich nickte, immer noch stumm. Das stimmte, aber es war nicht einmal eine Anstellung gewesen. Langsam begannen die Dinge sich zu klären, ohne Eile, wie die Morgendämmerung an einem wolkenverhangenen Tag. Mir gefiel das Bild der Morgendämmerung an einem wolkenverhangenen Tag, und ich dachte an Landschaften, die ich später hyperrealistisch zu malen versuchen würde. Falls es in dieser Polizeistation Pinsel und Farbe geben sollte. Ich mag es, wenn der Tag so anfängt, ohne großes Trara. Nur den Schmerz im Auge hätte ich nicht gebraucht.

»Na gut«, sagte er. »Ich glaube, Sie müssen einen wichtigen Freund in der Regierung haben, denn man hat mir gesagt, dass Sie von hier aus nicht ins Gefängnis wandern, bevor Ihr Fall nicht ganz genau geprüft worden ist. Man interveniert für Sie, falls Sie immer noch nicht verstanden haben. Ihre Lage ist ziemlich günstig, eigentlich kann ich Sie gar nicht einsperren.«

Das fand ich gut. Aber ich schwieg weiterhin.

»Man hat mich bedroht, wissen Sie? Und das fand ich nicht in Ordnung. Niemandem gefällt das, oder? Werden Sie gern bedroht? Oder Ihre Freunde?«

Dieser Teil machte mir ein bisschen Sorge. Und was hatte es mit dieser fast günstigen Ausgangslage auf sich, von der er gesprochen hatte?

»Man sagt – und es tut nichts zur Sache, wer –, man sagt, dass Sie gefoltert wurden. Man beschuldigt meine Abteilung des Amtsmissbrauchs, der Misshandlung, des Erpressungsversuchs, solcher Sachen. Das eigentliche Verhör hat nicht einmal stattgefunden, es wurde von höherer Stelle abgeblasen. So nennen sie sich selbst: ›höhere Stellen‹. Dieses Land geht wegen diesen Leuten zugrunde. Nun sind sie an die Macht gekommen, diese Fanatiker. Dadurch ist vieles schlechter geworden. Ihr Fall ist im Grunde reine Fiktion. Seltsam, finden Sie nicht?«

Es war tatsächlich seltsam. Es war alles ziemlich merkwürdig, aber ich wollte es nicht kommentieren. Eine kleine Küchenschabe lief vorbei, wich in einer hektischen Aktion dem rechten Fuß des Polizeibeamten aus und verschwand in der waagerechten Ritze zwischen Fußboden und Wand.

»Es ist, als ob Sie sich mitten in einem schlechten Traum befänden«, sagte der Polizist.

»Ein schlechter Traum?«

»Genau. Sie trinken hier auf dem Revier Kaffee, während Sie im wirklichen Leben bei sich zu Hause sind und – nach dem Essen oder weil Sie zu viel getrunken haben – gerade ein Nickerchen machen.«

»Ach …«

»Wenn Sie hier hinausgehen«, fuhr er fort, »mal angenommen, Sie gehen hier wieder hinaus, dann wird es so sein, als wären Sie nie hier gewesen. Verstehen Sie, was ich sagen will?«

Ein Albtraum, dachte ich, während ich mir mit der Hand über die Stellen meines Körpers strich, die mir wehtaten – und das waren fast alle, aber nichts war so schlimm wie mein verletztes Auge. Als Kind hatte ich oft Albträume gehabt. Ich stellte mir vor, ich würde immer näher zu einer sich auf und ab bewegenden Nadel einer gigantischen Nähmaschine hingezogen. Eine Art Däumling-Komplex, meinte einmal eine Freundin, die Psychologie studierte. Wobei sie nicht sicher sagen konnte, ob dieser Komplex bereits in den Handbüchern der psychischen Störungen verzeichnet oder eher eine private Theorie von ihr war.

»Ich kann diesen Fall vergessen, mir eine schöne Geschichte ausdenken, und das war’s dann. Sie verschwinden von hier und hören auf, mir auf die Nerven zu gehen. Verstehen Sie?«

Ich nahm den letzten Schluck Kaffee. Ein Keks wäre prima gewesen. Irgendetwas sagte mir, dass es nicht so einfach sein würde. Nicht der Keks – und nicht, hier rauszukommen.

»Es ist nur so: Sie mögen es vielleicht komisch finden, aber ich bin anders als andere Polizisten.«

Lebenslänglich, Gaskammer, elektrischer Stuhl, dachte ich.

»Ich bin wirklich anders«, fuhr er fort, »und deshalb habe ich zu diesen Leuten, die mich so unter Druck setzten, gesagt, okay, sagte ich, wenn dieser Typ unschuldig ist, wenn der Arme tatsächlich dazu gezwungen wurde, irgendetwas zu gestehen, dann ist die Sache gegessen. Komplett einverstanden. Ich lasse den Tatvorwurf fallen, und der Staatsanwalt soll entscheiden, wie er den Fall weiterbehandeln will. Oder der Menschenrechtskommissar. Oder eine der höheren Stellen, die hinter Ihnen stehen. Oder der Teufel selbst. Oder keiner entscheidet irgendwas, und es bleibt, wie es ist. Was weiß ich. Aber wenn er, in diesem Fall Sie ... wenn also tatsächlich Sie diese beiden Menschen getötet haben sollten, dann können Sie ein Freund des Staatspräsidenten sein, und ich werde Sie trotzdem hinter Gitter bringen. Auch wenn ich dafür selbst ins Gefängnis wandere. Ich scheiße auf Ihre Freunde. Verstehen Sie?«

Wir schwiegen beide.

»Ich mag Kriminelle nicht«, sagte er schließlich in das Schweigen hinein. Dann schenkte er erneut zwei Becher Kaffee ein, wobei er die Kanne, von der er behauptet hatte, sie gehöre mir, bei sich behielt. Er reichte mir einen der Becher. Ich nahm ihn. Meine Zunge erreichte langsam wieder ihren Normalzustand. Meine überzähligen Zähne verschwanden.

»Ich bin hergekommen, weil ich gerade nicht auf dem Revier war, als die Polizisten Sie brachten«, sagte er. »Ich möchte, dass Sie mir Ihre Geschichte erzählen. Wenn Sie ehrlich sind und die Wahrheit sagen – und ich bin immer bereit, ehrlichen Menschen zuzuhören, denn ich gehöre nicht zu denen, die glauben, dass die ganze Menschheit verloren ist –, dann werde ich merken, dass Sie die Wahrheit sagen, und alles ist in Ordnung. Wenn Sie mich nicht überzeugen können, werde ich den Fall weiterverfolgen und Sie noch heute ins Zentralgefängnis überstellen. Dort werden Sie bleiben, Fußbälle nähen und Unterricht in Marxismus genießen, bis Sie an Altersschwäche sterben. Und unsere Freunde von der Regierung sind mir scheißegal. Verstanden?«

»Klar«, sagte ich und fand meine Stimme dumpf und metallisch. Sie klang wie aus einem dieser batteriebetriebenen Radios, die die Leute ins Fußballstadion mitnehmen.

In die folgende Stille hinein hallte ein Schmerzensschrei durch das Gebäude. Der Polizeibeamte schien ihn nicht zu hören. Er wandte sich mir zu.

»Also, Otto, Sie können anfangen.«

Ich dachte nach.

»Wo soll ich anfangen?«

»Am Anfang, würde ich sagen.«

»Ganz am Anfang?«

»Natürlich. Möchten Sie?« Er bot mir eine dünne, lange Zigarette aus einer zerknitterten Packung an. Er zog auch für sich eine heraus und zündete beide an. Wir rauchten ein wenig. Meine Kehle war rau und kratzig, wie ich beim zweiten Zug bemerkte. Das gute Auge litt schon nicht mehr so stark unter dem Licht der nackten Glühbirne, die mit der Grazie eines erhängten Männchens von der Decke baumelte. Das kaputte Auge tat immer noch höllisch weh. Es kam mir mittlerweile schlimmer vor. Würde ich vielleicht blind werden? Einäugig? Es war wirklich nicht besonders toll, hier mit diesem Polizisten herumzuhocken. Außerdem ging mir der Kerl, der da draußen irgendwo herumschrie, an die Nieren. War es wirklich ein Mensch, der da schrie? Es konnte nichts anderes sein. Aber warum schrie er so?

»Kann ich vorher etwas fragen?«

Er zuckte mit den Achseln, was so viel hieß wie: nur zu.

»Wer ist dieser Kerl, der da die ganze Zeit schreit?«

»Ein Kerl, der schreit?«

Sampaio tat völlig überrascht. Wir spitzten beide die Ohren wie Wachhunde, während dieser Mensch an irgendeinem Ort in diesem Gebäude weiterschrie und heulte, »um Gottes willen, bei meiner Mutter, Jesus, Heilige Mutter Gottes« und andere Dinge. Der Kommissar kniff die Äuglein zu, als ob etwas von dem, was seine Ohren wahrnahmen, plötzlich in sein Gesichtsfeld treten könnte.

»Ich höre nichts. Es muss von der Straße kommen. Wir haben hier eine ziemlich laute Nachbarschaft. Also, Ihre Geschichte.«

»Ganz von vorne?«

»Von vorne, ja.«

Ich seufzte leise. Ich dachte an Berta. Ich hatte Sehnsucht nach ihr. Sie war eine so gute Geschichtenerzählerin. Ich wünschte, sie wäre hier gewesen und hätte mir geholfen, die Fäden aus diesem Knäuel he­rauszuziehen.

»Ich war ein glücklicher Mann, Herr Kommissar«, begann ich. »Mein kleines Leben lief ganz gut. Bis ich kein Geld mehr hatte, einen Job annahm und Sophia kennenlernte.«

 

2

Mein kleines Leben lief ganz gut. Bis ich kein Geld mehr hatte, einen Job annahm und Sophia kennenlernte. Ich erinnere mich gut an den Tag. Jeder würde sich daran erinnern. Auch ist es noch nicht lange her. Es war einer der kältesten Wintertage der letzten Jahre, wie der Wetterdienst des Achten Distrikts feststellte, den ich im Radio hörte. Ich verfolge die Analysen der Meteorologen immer sehr aufmerksam. Ein bläuliches Grau lag auf der Stadt. Ein bläuliches Grau? Na ja, das ist nur eine Hilfsbeschreibung. Ein bläuliches Grau mit einigen weißen Flecken, die die zahllosen Wolkenblöcke, die sich wie in einem Kaleidoskop übereinanderschoben, in einzelne Schichten zerschnitten. Ich hatte früher schon mehrfach versucht, diese Farbe zu malen, aber es war mir nicht gelungen. Ich hatte gedacht, ich müsste mehr ins Bleifarbene gehen, mit einigen zarten Violetttönen. Aber es blieb immer künstlich, zu dunkel, zu hell oder zu violett. Nie traf ich es genau, obwohl es beinahe zur Obsession geworden war. Schon lange hatte ich dieser Farbe einen Namen gegeben, für den Fall, dass es mir gelingen sollte, sie zu bestimmen: Augusthimmel, so hieß diese Farbe. Vielleicht, weil der August so etwas wie eine Allegorie des südlichen Winters ist. Dieser Augusthimmel ist meiner Meinung nach der farbliche Grundton des Winters, aber das tut jetzt nichts zur Sache.

An dem Tag, als alles anfing, brachte Berta mir bei, wie man Karottenkuchen mit Schokoladenguss backt. Das war die Lektion der Woche. Ich hatte den Mixer angeschaltet, ohne vorher den Deckel aufzusetzen. Ein Malheur. Wir waren mit Teig bespritzt. Wir beide und die ganze Küche. Sogar die Decke. Berta fand das sehr lustig. Sie lachte, bis sie Tränen in den Augen hatte. Sie bog sich vor Lachen, hatte die Hände auf den Bauch gepresst und war ganz rot im Gesicht. Sehr witzig. Sie würde das alles natürlich nicht sauber machen, klar. »Ich liebe rohen Teig«, sagte sie und versuchte mein Gesicht abzulecken. »Hör auf damit, Berta, hör auf mit dem Quatsch«, sagte ich und schob sie weg, aber es fing schon fast an mir zu gefallen. Das Telefon rettete mich, es klingelte einmal, zweimal, dreimal. Ich war ein bisschen grob und gab Berta einen Schubs, um an ihr vorbei ins Wohnzimmer zu gelangen. Im Gehen wischte ich mir die Hände an der Hose ab. Ich war barfuß und trat bei jedem dritten oder vierten Schritt auf den Saum meiner Hose, die sehr locker auf der Hüfte saß.

»Ja, bitte?«

»Otto? Otto, ich bin’s!«

Teos Stimme schien vom anderen Ende der Erde zu kommen, schwach und gepresst. Quatsch, die Stimme war okay. Die Verbindung auch. Aber Berta hörte die Platten, die sie in mein Apartment mitbrachte, immer sehr laut – ich sage Platten, denn es waren alte Vinylscheiben dabei, vor allem aber CDs. Sie stand auf Jazz.

»Einen Moment, Teo. Berta, mach leiser«, schrie ich.

»Banause!«, schimpfte sie und schaltete den Apparat aus. (Ein Freund von mir behauptet ja, dass Frauen eine charakteristische, universelle Tendenz haben. Sie neigen zu Extremen. Du bittest sie, die Musik etwas leiser zu machen, nur ein bisschen, aber sie sind beleidigt und schalten gleich das Gerät aus.) Dann ging Berta zurück in die Küche, und ich konnte mit Teo sprechen.

»Feierst du gerade eine deiner Arbeitslosen-Partys?«, nahm Teo unser Gespräch wieder auf. Fast konnte ich seine dicken Lippen sehen.

»Arbeitslos, aber nicht ohne Beschäftigung. Auf jeden Fall ist mein Arbeitstag beendet.«

»Na, okay. Bist du wieder mit deiner dreizehnjährigen Nachbarin zusammen? Hat sie jetzt schon etwas kräftigere Beine?«

»Fünfzehn. Fünfzehn Jahre. Worum geht’s, Teo? Ich bin gerade beim Kochen.«

In der Küche fing Berta an zu singen. Immer dieselben Lieder. Ihr Englisch war ziemlich gut. Sie machte alle Schnuten und Zungenstellungen, die dafür nötig waren. Aber sie war keine gute Sängerin, obwohl sie eine schöne, tiefe und leicht heisere Stimme besaß. Selbst jemandem, der nichts von Musik verstand, wäre das aufgefallen. Sie wurde wieder lauter, sodass Teos Stimme kaum mehr zu hören war.

»Warte noch mal, Teo, Entschuldigung. Berta, sei jetzt entweder ruhig oder geh nach oben.«

Sie war sofort ruhig. Meine Drohung wirkte auf der Stelle. Sie wäre vor Angst gestorben, wenn sie allein oben in ihrer Wohnung hätte bleiben müssen. Sie fürchtete sich vor den Gespenstern, die unser Haus aus den Vierzigerjahren bevölkerten und immer wieder Hausmeister und Putzfrauen dazu brachten, ihren Job zu kündigen. Ich würde ja sehr gern mal eines dieser Gespenster sehen. Es ist mir aber noch nie geglückt.

»Jetzt bin ich wieder da, Teo.«

»Wie sieht’s aus, malst du gerade an irgendwas? Hast du Arbeit?«

Er wusste, dass ich keine hatte. Monate lagen hinter mir, in denen ich nicht ein einziges Bild auf einer Kunstmesse verkauft hatte. Und es wurde immer schlimmer.

»Das ein oder andere Bild, ja. Sonst nichts«, log ich.

»Bist du noch interessiert an einem Job?«

»Im Ernst?«

Meine Krämerseele jubelte. Nein, nichts jubelte, denn ich habe gar keine Krämerseele. Hätte ich eine, dann hätte ich es möglicherweise leichter im Leben. Vergangene Woche hatte ich Teo gebeten, mir dabei zu helfen, einen Job zu finden, irgendwas. Verwaltung, Fahrer, Anstreicher, wirklich irgendwas. Ich hatte tatsächlich »irgendwas« gesagt, obwohl ich wusste, dass er mir nichts anbieten würde, was außerhalb meiner natürlichen oder erworbenen Fähigkeiten lag, und von denen hatte ich nicht gerade viele. Meine finanziellen Reserven schwanden mit jedem Tag mehr, und ich bekam allmählich Angst. Deshalb mein Hilferuf. Nur hatte ich nicht gedacht, dass so schnell etwas passieren würde.

»Willst du nun den Job, oder willst du ihn nicht, Otto?«