9783869134208.jpg

 

 

 

 

 

 

 

LOGO-ARS-VIVENDI-RSch.gif 

 

Jan Beinßen

 

Görings Plan

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage April 2014)

 

© 2014 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Hanna Stegbauer

Korrektorat: Eva Elisabeth Wagner, Margit Schwab

Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-306-5

 

1

Reglos saß er auf seinem Stuhl und starrte durch das vergitterte Fenster in den Abendhimmel. Irgendwann schlug er die graue Wolldecke von seinen Oberschenkeln zurück und nahm das Buch in die Hände. Das Buch, das seinen letzten großen Plan enthielt.

Jetzt flackerte ein Hoffnungsschimmer über sein rundes Gesicht. Ganz legal hatte er das Gesetzbuch in seine Zelle mitnehmen dürfen. Die Gefängnisverwaltung hatte den Antrag genehmigt. Zwischen den Seiten 334 und 335 fand er, was er suchte: eine schmale Unebenheit, eingelassen in das Papier. Mit dem Nagel seines kleinen Fingers ritzte er das Blatt an den Kanten des Einschubs auf und entnahm dem Versteck einen hauchdünnen, gefalteten Bogen.

Er ließ das Buch auf seine Beine fallen und beugte sich über den schmalen Tisch unter dem Zellenfenster. Handbeschriebene Notizen, Stifte und Fotos seiner Frau und Tochter lagen auf der abgeschabten Tischplatte. Er zog die Schreibtischschublade auf und holte eine Brille mit leicht verbogenem Gestell heraus, faltete den winzigen Brief auseinander, strich ihn mit dem Daumen glatt und hielt ihn dicht vor seine Augen. Dann las er:

»Ich habe lange nachgedacht. Ich übernehme die Sache.«

Er ließ die Botschaft sinken. Sein Unterkiefer schob sich vor, seine Augen wurden schmal. Er atmete scharf und kurz durch die Nase. Und etwas, das an ein Lächeln erinnerte, legte sich auf seine Züge.

Er las die kurze Botschaft ein zweites Mal. Anschließend ließ er die Flamme eines goldenen Benzinfeuerzeugs, das man ihm zum Entzünden seiner Pfeife zugestanden hatte, am Rand des Briefes lecken, bis feine Ascheflocken durch die Luft wirbelten. Er warf das brennende Papier in das blecherne Waschbecken an der Zellenwand und sah grimmig zu, wie die Buchstaben vom Feuer verzehrt wurden.

 

2

»Danke, Maike, für deinen Musikwunsch, den wir dir gern erfüllen werden. Gleich nach der Werbung. Bleib dran!«

Das aufgesetzte Lächeln verschwand aus Julian Heldts Gesicht, kaum dass das rote Licht erloschen und sein Mikro tot war. Zu diesem Lächeln zwang er sich seit einiger Zeit bei seinen Sendungen, weil er erkannt hatte, dass die hochgezogenen Mundwinkel es ihm erleichterten, seine Gute-Laune-Stimme beizubehalten. Und ohne gute Laune lief es nun mal nicht in der Morning Show eines kommerziellen Radiosenders. Doch kaum ließ er das Grinsen sein, verdüsterte sich seine Stimmung und die nagenden Zweifel kehrten zurück.

War er mit seinem Job auf Dauer zufrieden, fragte sich Julian Tag für Tag. Gehörte er eigentlich noch hierher?

Schön und gut: Julian galt als Aushängeschild der Morning Show, was im Rundfunkhaus einer Spitzenposition gleichkam. So gesehen hatte er durchaus Karriere gemacht. Damit war das Ende der Fahnenstange aber auch schon erreicht. Das Rundfunkhaus bot ihm kaum noch eine Perspektive und keine weiteren Aufstiegschancen. Wohin sollte ihn ein Aufstieg denn auch führen? Von der seichten Unterhaltung am Vormittag zu der lapidaren am Abend?

Die größten Sorgen bereitete ihm der Zeitfaktor. Er war nun Mitte dreißig und hatte das Gefühl festzustecken. Die Wochen, Monate und Jahre flossen dahin, umströmten ihn immer schneller, ohne dass er selbst vorankam, während er Kolleginnen und Kollegen vorbeiziehen und die Arbeitsplätze wechseln sah.

Das hatte natürlich seine Gründe. Julian hatte sich mit seinem Leben arrangiert, wie er sich eingestehen musste, hatte die Vorzüge eines regelmäßigen Gehalts und einer gewissen Prominenz in der Stadt genossen und dabei die Tatsache verdrängt, dass er nicht das Leben führte, das ihm ursprünglich vorgeschwebt hatte. Journalist hatte er sein wollen, und zwar ein ernst zu nehmender. Ein akribischer Rechercheur und gnadenloser Aufklärer. Während seines Studiums hatte er sich in die Redaktionen von Spiegel und Süddeutscher geträumt, gelandet aber war er im Nürnberger Rundfunkhaus, zunächst als Praktikant, später dann als fester Freier und schließlich als Frontmann der Morning Show.

»Haderst du mal wieder mit der Welt?« Die tiefe, warme Stimme gehörte zu Ingo, Julians gemütlichem Co-Moderator, dessen Breite in etwa seiner Größe entsprach. Ingo walzte zum Mikrofon, stellte den Galgen auf seine Höhe ein und legte sich seine mit Eselsohren gespickten Textblätter für die gleich folgenden Lokal-News zurecht. Von der zeitgemäßen Variante, sie vom Bildschirm abzulesen, um gegebenenfalls Aktualisierungen berücksichtigen zu können, hielt Ingo, das Sender-Urgestein, nicht besonders viel. Wie übrigens von allem, was seine Routine störte und ihn womöglich zu so etwas Unbequemem wie einer Fortbildung nötigen könnte.

»Mit der Welt nicht gerade. Ich genüge mir selbst zum Hadern.« Julian lächelte gequält. »Hast du auch was für mich dabei? Etwas, das für mehr reicht als für einen Zehnsekunder?«

Ingo sah auf das digitale Uhrdisplay: noch knappe zwei Minuten bis zum Nachrichtenblock. Während Maikes Wunschhit über den Äther lief, hielt Ingo ihm einen zusammengetackerten Stapel Blätter hin. »Du kannst es mal damit probieren«, meinte er und reichte ihn Julian.

»Was ist es diesmal? Wieder ein Politskandal, der keiner ist? Oder eine Umweltsünde, über die sich kein Mensch mehr aufregt?« Julian fand es wirklich nett und fürsorglich von dem Kollegen, dass er ihn immer wieder mit News-Brocken versorgte, aus denen sich seiner Meinung nach »vielleicht etwas machen ließe«. Doch die wirklich guten Storys schnappten ihnen meistens die Online-Menschen, die etablierten Printmedien oder die personell viel besser aufgestellte Konkurrenz der Öffentlich-Rechtlichen weg. Fürs Rundfunkhaus mit schmalem Etat und dünner Personaldecke blieben Brosamen – für Mister Morning Show nicht einmal die.

»Nein, nein, ist echt was Interessantes«, versicherte Ingo und zwinkerte ihm mit dunklen Knopfaugen über seine Pausbacken hinweg aufmunternd zu. »Lies es dir mal durch. Ist ein Nazistoff. So was läuft immer.«

»Nazistoff?« Julian hielt die Papiersammlung mit spitzen Fingern hoch. »Nee, ne? Bitte nicht die tausendste Wiederholung irgendeiner Hitler-Story. Das Thema ist abgegrast, ausgeweidet, tot.«

»Überhaupt nicht! Der braune Spuk zieht heute mehr denn je. Wenn du mit einer Story landen willst, liegst du mit dieser Thematik goldrichtig. In Buchform könntest du damit die Bestsellerlisten stürmen. Vertraue einem Veteranen wie mir.«

»Lieb gemeint, Ingo. Aber danke, nein. Meinen Durchbruch als Reporter möchte ich mit einem Thema von heute schaffen. Auf Nazis kann ich dabei gut verzichten.«

»Wirf wenigstens mal einen Blick drauf.«

Julian winkte ab. »Du bist gleich dran mit den Nachrichten. In fünf, vier, drei …«

»Die Story wäre der Mühe wert. Ich spüre das.«

»… einer Sekunde. Dein Einsatz!«

Das rote Licht leuchtete, und Julian lehnte sich in seinem barhockerhohen Stuhl zurück. Während Ingo Neues aus der Welt verlas, ließ Julian seinen Blick durch das Studio gleiten, verweilte auf den Tastaturen, Schiebereglern und Monitoren, dann sah er hinüber zu den Wänden mit ihren schallschluckenden Styroporelementen und schließlich zur hermetisch abgedichteten Tür, deren Schließmechanismus an den eines Safes erinnerte.

Er würde hier nie mehr rauskommen, dachte Julian. Nicht in diesem Leben.

 

Den Rest der Sendung wickelte er routiniert ab und atmete auf, als für ihn Schluss war. Er durchquerte das Großraumbüro, das sich fünf verschiedene Lokalsender teilten, schnellen Schrittes. Julian hatte heute keine Lust auf Small Talk und schon gar nicht auf irgendwelche kurzfristig einberufenen Meetings. Das sah man ihm wohl an, denn niemand heftete sich an seine Fersen, keiner rief ihm etwas zu. Sie ließen ihn einfach in Ruhe. Schwein gehabt, dachte er, als er das lindgrüne Foyer erreichte, die Fahrstuhltür sich öffnete, er unbehelligt hineinschlüpfte und auf die Erdgeschosstaste drückte.

Zu früh gefreut: Victoria zwängte sich durch die zugleitenden Lifttüren. Alle nannten sie hier Vic. Volontärin beim Kuschelrocksender. Sie war ganz nett anzusehen, vornehm blass und blond, aber mit ihrer aufdringlichen Art auch etwas nervig. Julian nickte ihr unverbindlich zu und schaute auf den Boden. Jetzt bloß kein Gespräch anfangen.

»Das ist ja schön, dass ich Sie mal treffe.« Vic respektierte sein Bedürfnis nach Ruhe leider nicht.

»Wieso?«, fragte er und merkte selbst, wie abweisend er klang. »Du triffst mich jeden Tag.«

»Ja, aber nur so im Vorbeigehen. Sie haben es immer eilig. Ist ja auch verständlich in Ihrem Job.«

»Okay, Vic. Der Fahrstuhl ist gleich unten. Willst du mir irgendwas Bestimmtes sagen?«

Die Volontärin mit dem kurzen, fransig geschnittenen Haar nahm ihre Brille ab und sah ihn aus knallblauen Augen an. »Wenn ich es jetzt nicht mache, dann tue ich es nie.«

»Bitte? Was?« Julian schaute sie fragend an. Ihm schwante Böses. Wollte sie ihn jetzt etwa anmachen?

Vic holte tief Luft, schloss für einen Moment die Augen und schien Julians Ahnung zu bestätigen. Dann fasste sie sich und sagte: »Ich möchte Partnerin in Ihrer Show werden!«

Julian blieb für den Moment die Spucke weg. Das kam überhaupt nicht infrage!

Bevor er zu einer Antwort fähig war, redete die junge Frau weiter: »Die Sendung ist ursprünglich für ein zweigeschlechtliches Moderatoren-Duo konzipiert worden. So wie früher, als Lea noch dabei war, und ich sehe mich …«

»Zweigeschlechtlich? Was ist denn das für ein Quatsch?« Die Fahrstuhltür glitt auf. »Kein Interesse, Vic. Tut mir leid.« Julian verließ den Aufzug, Vic folgte ihm auf den Fuß.

Die Volontärin hatte einen wunden Punkt bei ihm erwischt, und das mochte er sich keinesfalls anmerken lassen. Julian wollte sein lästiges Anhängsel abschütteln, doch Victoria hing an ihm wie eine Klette.

»Die Hörer vermissen das nette Mann-Frau-Geplänkel. Lesen Sie das nicht auf Facebook?«, rief sie ihm nach.

»Facebook ist mir scheißegal.« Er hatte es eilig, zu seinem Wagen zu kommen, der weit hinten auf dem Hof stand.

»Aber wenn Sie bei der nächsten Hörweitenanalyse abkacken, wird Ihnen das nicht egal sein«, sagte seine Begleiterin und stolperte über eine niedrige Hecke, die die Parzellen voneinander trennte.

Das saß. Julian hielt an, wandte sich zu ihr um. »Was willst du eigentlich von mir?«

Vic rappelte sich auf und strich den Dreck von ihren Knien. »Ich möchte Ihnen nur einen Vorschlag machen.«

»Hör mit dem Gesieze auf, das ist albern. Im Rundfunkhaus duzen sich eh alle.« Er sah sie scharf an. »Wenn ich eine neue Partnerin brauche, werde ich sie mir selbst aussuchen.«

Sie trippelte nervös von einem Fuß auf den anderen. »Glauben Sie, ähem, glaubst du, Lea kommt so bald zurück aus Köln?«

Julian spürte den Zorn in sich aufsteigen. Doch er riss sich am Riemen. »Nichts gegen deine Karrierepläne. Die sind legitim. Aber Lea ist immer noch die Frontfrau der Morning Show. Und solange die Sendeleitung sie nicht aus dem Cast streicht, bleibt sie das. Bis zu ihrer Rückkehr wird Ingo sie vertreten. Köln ist bloß eine Phase für Lea, eine Etappe …« – Ihm wollte nicht das richtige Wort einfallen für das, was Leas Aufenthalt am Rhein bedeutete.

Victoria schob ihre Brille zurück auf den Nasenrücken, nuschelte eine Verabschiedung und flüchtete trippelnd über den Parkplatz.

War seine Reaktion zu heftig gewesen, fragte sich Julian, während er ihr nachsah. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Denn selbst wenn er Vic ein schnelles Vorankommen im Beruf gönnte und ihren Ehrgeiz respektierte, war sie zu weit gegangen. Sie wusste – wie jeder im Rundfunkhaus –, dass Lea nicht nur Julians Pendant in der Show, sondern seine Freundin war. Auch dass die momentane räumliche Trennung ihm zu schaffen machte, musste Vic klar sein. Also war es schlichtweg taktlos und verletzend, ihm gerade jetzt die Frage nach Leas Nachfolge zu stellen.

Oder musste man Vics Vorstoß als rein professionelles Engagement bewerten? Als einen Versuch, der Morning Show durch einen neuen weiblichen Part den alten Schmiss zurückzugeben, den viele Hörer wohl wirklich vermissten? In diesem Fall hätte er überreagiert und müsste sich bei ihr entschuldigen.

Er würde eine Nacht darüber schlafen. Vielleicht wäre es zu erwägen, sie doch ins Team aufzunehmen. Aber was, wenn Vic sich in seiner Sendung festsetzte? Lea, deren Comeback in Nürnberg schon von einigen Lästerzungen angezweifelt wurde, wäre damit die Rückkehr verbaut. Dieses Risiko durfte er nicht eingehen. – Oder etwa doch?

Kopfschüttelnd über die eigene Unschlüssigkeit öffnete er die Tür seines Exoten, einer rabenschwarzen Corvette C2 Sting Ray, Baujahr 1965. Der einzige wahre Luxus in seinem Leben, denn Benzin und Reparaturkosten des schnittigen Oldtimers erlaubten ihm kein weiteres Hobby.

Kaum hatte er sich in den tiefen, schalenförmigen Sitz fallen lassen, drückte ihn etwas. Er zog es aus der Gesäßtasche: das Papierbündel, das Ingo ihm aufgenötigt hatte. Julian schnaufte missmutig und faltete es auseinander. Es handelte sich um gut zehn Seiten, eng bedruckt, gefolgt von einem Quellenverzeichnis.

Er dachte an Ingos Worte: eine Nazistory. Was konnte das schon sein? Mal wieder eine Verschwörungstheorie, die Entdeckung einer neuen alten Wunderwaffe, oder waren zur Abwechslung Hitlers »echte« Tagebücher aufgetaucht?

Da er die Blätter nun schon mal in der Hand hielt, warf Julian einen Blick darauf. Die Absenderin, wohl eine Studentin, hatte eine Art Abstract an die Redaktion geschickt, anscheinend die Zusammenfassung einer längeren wissenschaftlichen Arbeit, die ihre wichtigsten Thesen verriet, jedoch nicht deren genaue Begründung. Außerdem hatte sie sorgsam ihre Bezugsquellen und Gewährsleute aufgeführt. In der Erwartung, den Stoß Papier spätestens nach der fünften Zeile aus den Händen zu legen, überflog Julian den Textanfang. Doch dann blieb er hängen.

Er las die klar und präzise formulierte Darstellung eines Teilaspekts der Nürnberger Prozesse, des internationalen Tribunals zur juristischen Aufarbeitung der Verbrechen während der NS-Diktatur sowie der Aburteilung der Täter. Besonderes Augenmerk legte die Verfasserin auf einen der Hauptangeklagten: Hermann Göring. Hatte Julian zunächst durch die Seiten geblättert, sprang er nun von Absatz zu Absatz, um die restlichen Passagen schließlich Zeile für Zeile zu studieren. Denn die Geschichte, die sich hier um die Person des Reichsmarschalls und stellvertretenden Kanzlers entspann, entwickelte einen Sog und ließ ihn bis zum packenden Ende nicht los.

Alle Achtung, dachte Julian. Für eine studentische Arbeit hatte es dieser Text in sich. Die Schreiberin besaß ohne Frage journalistisches Talent. Und die Story, die er inzwischen in Form der abgelösten Blätter auf dem Beifahrersitz verteilt hatte, hatte das Potenzial für einen Knüller. Spannend, provokant und reich an historischen Details. Ob sich die gewagten Annahmen der Studentin würden halten lassen, wagte Julian zwar zu bezweifeln, doch die These an sich war frisch, neu und eine kleine Sensation. Ingo lag richtig: Julian hatte endlich seine Herausforderung gefunden.

Er nahm sein Handy zur Hand und tippte die Nummer ein, die Ingo ihm auf einem gelben Post-it notiert hatte für den Fall, dass Julian doch noch Interesse an dem Thema entwickelte und Kontakt mit der Verfasserin aufnehmen wollte.

Es verging eine Weile, bis sich jemand meldete: »Melanie Schmitz, hallo?« Die Stimme einer jungen Frau. Klar, offen, aber kurz angebunden.

»Hallo, Frau Schmitz. Hier ist Julian Heldt vom Rundfunkhaus. Sie haben uns da einen interessanten Text geschickt.«

Im Telefon blieb es still.

»Sind Sie noch dran?«, fragte Julian.

»Ja, ja.« Die Antwort fiel sehr knapp aus, hörte sich für Julian beinahe abweisend an.

»Wir würden gern etwas darüber bringen. Können wir uns für ein Interview treffen? Haben Sie in den nächsten Tagen Zeit? Am liebsten wäre es mir, wenn Sie zu uns ins Studio kommen könnten, denn Telefoninterviews sind tontechnisch nicht das Gelbe vom Ei.«

Wieder Stille, gefolgt von einer Absage: »Tut mir leid. Die Sache hat sich erledigt.«

Julian hob verwundert die Brauen. »Bitte? Sie haben doch den Kontakt zu uns gesucht, warum jetzt ein Rückzieher?«

»Schauen Sie mal aufs Datum der Mail, mit der ich Ihnen meine Zusammenfassung geschickt habe. Es ist fast zwei Wochen her, dass ich Ihrer Redaktion geschrieben habe.«

»Heißt das, jemand anderes bringt Ihre Story exklusiv?«, fürchtete Julian und verfluchte im Stillen die Schlamperei von Ingo, der schon manche Nachricht viel zu spät weitergeleitet oder sogar ganz unter den Tisch fallen lassen hatte.

»Nein, niemand wird berichten. Ich darf mit meiner Arbeit nicht an die Öffentlichkeit gehen.«

»Verstehe ich nicht. Wieso dürfen Sie nicht? Wer kann es Ihnen verbieten?«

»Mein Professor. Wenn studentische Arbeiten ausgewertet werden, läuft das ausschließlich über ihn. Er war nicht gerade begeistert darüber, dass ich mich an die Medien wenden wollte.«

»Er fühlt sich also übergangen, der werte Herr …«

»Professor Dr. Ingolf Schachtmeister. Ja, er duldet keine Alleingänge seiner Studenten. Ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis.«

Julian verpasste dem schwarzen Lenkrad einen Klaps. »Nicht, nachdem ich Ihre Rechercheergebnisse gelesen habe«, blieb er beharrlich.

»Aber ich habe es Ihnen erklärt: Es geht nicht! Sie können darüber nicht berichten. Tut mir leid.« In ihre Stimme mischten sich Besorgnis und Unruhe.

Julian konnte sich denken, unter welchen Druck er die junge Frau gerade setzte. Dennoch wollte er sich die Sache nicht durch die Lappen gehen lassen. »Soll ich mal mit Ihrem Prof reden?«, schlug er vor.

»Auf keinen Fall!« Ihre Antwort klang panisch. »Ich möchte mir meinen Abschluss nicht vermasseln.«

Nun legte Julian allen radioerprobten Schmelz in seine Stimme: »Liebe Frau Schmitz, Ihre Arbeit ist zu gut und wichtig, als dass man sie in den Annalen des Universitätsarchivs verstauben lassen dürfte. Überlegen Sie es sich noch einmal. Lassen Sie uns zusammen einen Kaffee trinken und nach einer Lösung suchen.«

Es war deutlich zu hören, wie sie nach Luft schnappte. »Nein. Unmöglich. Vergessen Sie das Ganze. Ich werde jetzt auflegen.«

Julians Ton wurde drängend: »Ich will das nicht einfach vergessen! Ihre Studie könnte die Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit verändern. Meine Hörer sollen erfahren, dass Görings Selbstmord in seiner Nürnberger Zelle womöglich gar kein Selbstmord war.«

 

3

Julian forderte dem Motor seiner Corvette die Leistung ab, für die er konstruiert worden war. Zwar vermied er es, das Tempolimit um mehr als zwanzig Stundenkilometer zu überschreiten, um sich keine Punkte einzufangen. Dennoch kam er dank der guten Beschleunigung und Agilität seines Wagens erfreulich flott durch den Stadtverkehr. Daran war ihm auch gelegen, denn Julian befürchtete, dass Melanie Schmitz, die auf sein Drängen schließlich doch noch in ein Treffen eingewilligt hatte, es sich wieder anders überlegen könnte. Zu sehr schien sie unter der Fuchtel ihres Professors zu stehen, der sich publicityträchtige Auftritte offensichtlich ungern von seinen Studenten wegschnappen ließ. Also musste Julian schnell zu Melanies Adresse in der Nordstadt gelangen.

Er überholte waghalsig, handelte sich dafür wütendes Hupen und sogar einen Stinkefinger ein, lag aber gut in der Zeit. Auch wenn man seinen Fahrstil nicht eben rücksichtsvoll nennen konnte, gab ihm das rasante Tempo ein gutes Gefühl. Endlich tat sich was in seinem Leben! Dies war das Gegenteil von Stillstand, dachte er beschwingt und wechselte zum wiederholten Mal die Spur.

Während er seinem Ziel zügig näher kam, wuchs seine Neugierde auf das, was die emsige Studentin über Göring herausgefunden hatte. Denn viel war ihm über Hitlers Paladin nicht bekannt, außer dass der Reichsmarschall zu den schillerndsten Figuren des Nationalsozialismus gezählt hatte, Macht, Reichtum und Popularität genoss und bereit war, dafür jedes noch so abscheuliche Verbrechen zu verantworten. Ein ambitionierter Mann, der alles im Überfluss wollte und darüber vom ranken, schlanken Emporkömmling zum trägen, durch und durch korrupten Fettwanst mutierte.

Aber sonst? Soviel Julian wusste, hatte Hermann Göring kein Tagebuch hinterlassen, kaum persönliche Dokumente oder Aufzeichnungen. Was ihn bewegt und geprägt hatte, lag weitgehend im Dunkeln. Womöglich blieb von allem, was Göring einst umgetrieben hatte, am Ende nur die Prunksucht übrig und ein Charakter, der über Leichen ging.

Julian verließ den Nordring, verringerte das Tempo und suchte nach der genannten Adresse.

Über Görings Tod war ihm noch weniger bekannt als über sein Leben. Dass er sich mit Gift umgebracht hatte, kurz bevor man ihn aufhängen wollte, war ihm geläufig. Auch die Tatsache, dass nie gänzlich geklärt werden konnte, woher er das Gift für seinen Suizid bekommen hatte. Zweifel an einem Freitod hatte es für Julian indes nie gegeben – genauer gesagt hatte er nie darüber nachgedacht. Warum auch? Nun aber interessierte ihn Melanie Schmitz’ überraschende These. Denn gesetzt den Fall, dass Göring seine Zyankalikapsel nicht aus freien Stücken geschluckt hatte, hätte es sich um Mord gehandelt.

Diese Annahme warf natürlich Fragen auf: Wer hätte einen verurteilten Kriegsverbrecher ermorden sollen, wenn das Todesurteil wenige Stunden später sowieso vollstreckt worden wäre? Das ergab auf den ersten Blick keinen Sinn – bot aber Stoff für jede Menge Spekulationen und somit eine gute Story! Genau diese Mischung aus Fakten und Mutmaßungen bildete die Zutaten dafür. Das war Julian voll und ganz bewusst und stachelte ihn an. Und zwar so sehr, wie seit seinen Anfangsjahren als Redakteur nicht mehr.

Er zwängte sich mit seinem Ami-Schlitten in eine Parklücke, stieg aus und fing sich einen abfälligen Blick von zwei Fußgängerinnen ein. Diesen Blick kannte er, denn mit seiner schwarzen Corvette erzielte er eine völlig andere Wirkung, als es etwa mit einem italienischen Sportwagen der Fall gewesen wäre. Sein niedriges, breitbereiftes Gefährt löste Assoziationen wie »Zuhälterauto« oder »Aso-Schlitten« aus. Doch das störte Julian kaum, denn er stand zu seinem Hobby – selbst wenn ihn das Bezahlen an der Tankstelle angesichts des horrenden Spritverbrauchs ab und zu ins Schwanken brachte.

Die Haustür war unverschlossen, sodass er ins Treppenhaus und gleich hinauf in den dritten Stock gehen konnte. Ein Mietshaus wie viele andere mit eierschalenfarbenen Wänden. Abgetretene Steintreppen, Handlauf aus verblasstem Kunststoff. Das Türschild mit dem Namen Schmitz war handgeschrieben in ordentlicher, geschwungener Mädchenschrift. Julian hoffte, dass er nicht zu spät kam, und drückte beherzt auf den Klingelknopf.

Als sich nichts rührte, klingelte er erneut und klopfte zusätzlich an die Tür. Drinnen blieb es still. Schon glaubte Julian, dass sich seine Ahnung bewahrheitet hatte und er versetzt worden war. Doch dann näherten sich leise Schritte. Eine Frau, schätzungsweise Mitte zwanzig, öffnete. Einen Kopf kleiner als er, kurzes schwarzes Haar, blasser Teint. Sie trug einen grauen Jogginganzug, unter der halb geöffneten Jacke lugte ein pinkfarbenes T-Shirt hervor.

»Sie sind umsonst gekommen«, sagte sie flapsig, wobei sie ihn abschätzig taxierte. Sie ließ ihre Blicke über sein Gesicht gleiten, verweilte kurz auf seinen graublauen Augen, dann auf dem struwweligen dunkelblonden Haar, bevor sie Oberkörper und Beine einer blitzschnellen Überprüfung unterzog. Dabei machte sie keinerlei Anstalten, ihn in die Wohnung zu bitten.

»Wie meinen Sie das, Frau Schmitz?«, wollte Julian wissen.

»Gerade habe ich mit Professor Schachtmeister gesprochen. Ich muss mich ja absichern. Und natürlich: Er ist strikt ­dagegen, dass ich mit Ihnen rede.« Sie verzog ihre Lippen zum Schmollmund.

Seltsam, durchfuhr es Julian. Irgendwie hatte er sich Melanie Schmitz nach dem Telefongespräch ganz anders vorgestellt. »Wenn seine Ablehnung für Sie so ›natürlich‹ ist, frage ich mich, weshalb Sie uns überhaupt geschrieben haben.«

»Zugegeben: war eine blöde Idee. Ich dachte, ich würde groß rauskommen. Aber das geht ja nicht so einfach am Professor vorbei. Hätte mir eigentlich klar sein müssen.«

Verhalten und Sprache kamen Julian wenig erwachsen vor. Er spürte einen klaren Widerspruch zu dem Eindruck, den Melanie in ihrem Schreiben und auch am Telefon gemacht hatte.

»Jedenfalls«, sagte sie und drängte ihn aus der Tür, »gibt es zwischen uns nichts zu bequatschen. Hat sich erledigt, die Sache, okay?« Sie grinste und ließ einen Edelstein aufblitzen, der in einem ihrer Schneidezähne eingelassen war. »Und tschüss!« Damit krachte die Tür ins Schloss.

Julian blieb perplex davor stehen. Dann eben nicht! Lassen wir es also bleiben, lautete sein erster Impuls. Er war ziemlich verärgert über diese schroffe Abfuhr, und als er das Haus verließ und auf seinen Wagen zuging, kam er zu dem Schluss, dass das Thema Göring für ihn gestorben wäre.

Statt aber die Sache innerlich abhaken zu können, stellte er fest, dass die Angelegenheit weiter in ihm gärte. Deshalb suchte er nach Ablenkung und fand sie in einem China-Imbiss auf der anderen Straßenseite. Es war ohnehin fast Mittagszeit, und Julian entschied sich für zwei Frühlingsrollen mit Sojasoße.

»Sie sind es doch, oder?«, fragte ihn der kleine Asiate hinterm Tresen und legte die Hand auf ein plärrendes Kofferradio. Er strahlte. »Julian Heldt aus der Morning Show! Es ist mir eine Ehre, Sie zu bedienen.«

Julian war es gewohnt, in der Stadt von Leuten angesprochen zu werden. Denn sein Sender warb auf Plakatwänden mit ihm, und auch im Internet war sein Konterfei präsent. Normalerweise schmeichelte ihm der Zuspruch seiner Hörer. In diesem Fall aber hätte er einfach nur gern in Ruhe seine Frühlingsrollen verspeist.

»Heute schon Feierabend?«, erkundigte sich der Koch, während er an der Fritteuse hantierte.

»Ja, das ist der Vorteil eines Morgenmoderators. Man hat den Nachmittag für sich. Dafür muss ich aber verdammt früh aufstehen.«

»Muss ich auch«, sagte der Koch. »Großmarkt geht um fünf los. Und abends um sieben stehe ich immer noch hier.« Dieser Satz klang nicht wie ein Vorwurf und war wohl auch nicht so gemeint. Dennoch löste er bei Julian ein schlechtes Gewissen aus. Obwohl sein Wecker für sein Gefühl regelmäßig zur Unzeit läutete, hatte er doch ziemlich komfortable Arbeitszeiten und nicht wirklich einen Grund zum Klagen.

»Ich nutze meine Nachmittage viel zum Recherchieren«, fühlte er sich zu einer Rechtfertigung genötigt.

»Klingt spannend. Was recherchieren Sie denn?«, fragte der neugierige Imbissmann.

»Dies und das«, blieb Julian vage, da ihm auf Anhieb nichts einfiel. Die Wahrheit sah doch meistens so aus, dass er seine freien Stunden mit Müßiggang und etwas Sport herumbrachte. Da ihn aber der Koch so erwartungsvoll ansah, wollte er ihn nicht enttäuschen.

»Göring«, deutete Julian an. »Sagt Ihnen der Name etwas?«

»Ja. So heißt diese Grünen-Chefin.«

»Nein, die meine ich nicht«, stellte Julian belustigt klar. »Es geht um den Nazi Hermann Göring. Ein großes Tier im Dritten Reich.«

»Nazi?« Der Asiate wirkte auf einmal sehr besorgt. »Mit denen hatte ich schon öfter Ärger. Die mögen keine Ausländer.« Er wedelte abwehrend mit beiden Händen: »Kein gutes Thema. Nicht für uns, die Hörer der Morning Show. Machen Sie lieber so weiter wie bisher. Lustig soll es sein und Spaß machen. Dann macht mir meine Arbeit auch mehr Spaß.«

Julian sagte kein Wort mehr, sondern schlang in aller Eile sein Essen hinunter. Er war froh, als er in seinem Auto saß. Dieser Imbisskoch hatte bei ihm etwas ausgelöst. Indem er exakt auf den Punkt gebracht hatte, was die Hörer von der Show erwarteten, wurde Julian seine prekäre Position bewusst. Wenn er auch nur annähernd seinen selbst gesteckten journalistischen Ansprüchen genügen wollte, musste er Pfade jenseits seiner Sendung beschreiten.

Nun also erst recht, entschied er aus dem Bauch heraus. Der ganze Nachmittag lag ja vor ihm: lauter freie Stunden, die genutzt werden wollten. Das war er seinem Ego schuldig. Und es gab noch einen zweiten Grund weiterzumachen: Lea, die sich in letzter Zeit wiederholt über seine Lethargie beschwert hatte – mal offen, mal unterschwellig. Wenn er sie zurückholen wollte, nach Nürnberg und vor allem in sein Herz, musste er ihr etwas beweisen. Beweisen, dass er kein Waschlappen war. Er wollte ihr zeigen, dass er etwas leisten und eine große Geschichte an Land ziehen konnte. Das, so hoffte er, würde sie beeindrucken, mehr als jedes materielle Geschenk. Weil ja auch Lea Vollblutjournalistin war und ihre Werte und Ansprüche daran ausrichtete. Julian konnte also nur punkten, indem er dranblieb.

Wenn Melanie dicht machte, musste eben der Professor selbst herhalten. Mit frischem Elan machte sich Julian auf den Weg zur Universität in Erlangen, die er eine knappe halbe Stunde später erreichte.

 

Die geschichtswissenschaftlichen Lehrstühle verfügten über ein gut organisiertes Sekretariat, über das der Kontakt zu Professor Ingolf Schachtmeister schnell hergestellt war. Julian kam mit ihm in der gut besuchten Cafete zusammen, wo ihn der hochgewachsene, sehr schlanke Lehrstuhlinhaber freundlich und mit festem Händedruck begrüßte. Schachtmeisters Lächeln zeigte zwei Reihen ebenmäßig weißer Zähne. Über einer geraden Nase und dunklen Augen zierte ein Kranz brauner Haare seinen bereits kahlen Schädel. Sein etwas steifes Auftreten verlieh ihm den Habitus eines Oberlehrers.

Julian kam gleich auf den Punkt und offenbarte sein Anliegen.

»So so, Göring«, nahm Schachtmeister den Faden auf und ignorierte den Lärm der Studenten, die am Nachbartisch in eine lautstarke Diskussion über die Qualität des Mensakaffees verwickelt waren. »Da haben Sie sich einen schwierigen Kandidaten für Ihren Bericht ausgesucht.«

»Nicht ich, sondern eine Ihrer Studentinnen«, stellte Julian richtig. »Wieso schwierig? Halten Sie das Thema nicht für geeignet, um darüber zu berichten?«

Schachtmeister schürzte die Lippen. »Diese Entscheidung liegt bei Ihnen. Göring stellt ohne Frage ein interessantes Studienobjekt dar. Denn obwohl er die Nummer zwei im Dritten Reich war, populär wie kein anderer der hohen Naziführer, ist bislang keine ernsthafte Bemühung unternommen worden, das Leben Hermann Görings dokumentarisch belegt darzustellen.«

»Sie meinen, es existiert kein aussagekräftiges Material über ihn?« Julian sah seinen eigenen Eindruck bestätigt. Ihm fielen zwar eine ganze Reihe von Büchern und Fernsehdokus über alle möglichen Nazigrößen ein, von Beiträgen über Hitlers Lieblingsarchitekt Albert Speer bis hin zu TV-Mehrteilern über »Wüstenfuchs« Erwin Rommel. Aber über Göring las, sah und hörte man in der Tat relativ wenig und wenn, dann eher Belangloses.

»Es gibt selbstverständlich die eine oder andere Arbeit über ihn, darunter aber kaum etwas Seriöses. Aus irgendeinem Grund, der sich mir nicht erschließen mag, hat sich bisher keine unserer Koryphäen Görings angenommen. Möglicherweise erscheint ihnen der Mann als zu profan und schlicht gestrickt. Keine Herausforderung für einen Akademiker. Ich sehe das anders. Denn was weiß man schon über Göring?« Er sah Julian an, als erwarte er eine Antwort. Diese gab er sich jedoch selbst: »Ein hoch dekorierter Jagdflieger, dessen langer Sinkflug nach dem Ersten Weltkrieg begann, als er in den Dunstkreis Adolf Hitlers geriet. Ein bekennender Republikgegner mit einem romantisch-forschen Männerbild, äußerst empfänglich für die Ideologie der Nationalsozialisten. 1923 beim Marsch auf die Feldherrenhalle lebensgefährlich verletzt, seitdem morphiumsüchtig. Dass sich die pathologischen Züge seiner Psyche mehr und mehr verstärkten, das weiß man. Dass er mit zunehmender Brutalität und Rücksichtslosigkeit seine Ziele verfolgte, ebenfalls.« Schachtmeister neigte leicht den Kopf. »Andererseits besaß Göring ein weltmännisches Auftreten, hatte Zugang zum gesellschaftlichen Establishment und zog Diplomatie und Wirtschaftsmacht der kriegerischen Auseinandersetzung vor. Ein Mann mit zwei Gesichtern, dessen widersprüchliches Wesen viele Fragen aufwirft. Aus rein wissenschaftlicher Perspektive wäre hier noch ein großes und durchaus ergiebiges Feld zu bestellen. Deshalb habe ich Frau Schmitz ermuntert, sich der Materie anzunehmen.«

»Mit Erfolg, wie mir scheint. Denn das, was sie herausgefunden hat, ist …«

»… ist gar nichts!« Schachtmeister zog die Brauen zusammen. »Frau Schmitz steht ganz am Anfang ihrer Analysen. Sie befindet sich erst in der Sammelphase: Zusammentragen der Materialien und Auswertung der Quellen. Eine Bewertung ihrer Forschungsergebnisse steht ihr zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu. Schon gar nicht ohne Rücksprache mit ihrem Dozenten. Dass sie sich an die Öffentlichkeit gewandt hat, ist unverzeihlich.«

»Ich kann Ihren Ärger verstehen, Herr Professor«, sagte Julian im Versuch, ihn zu einer Kooperation zu bewegen. »Aber nehmen wir an, ich mache meine Story mit Frau Schmitz und Ihnen zusammen. Ihr Lehrstuhl würde in der Öffentlichkeit sehr gut dastehen, zumal damit zu rechnen ist, dass das Thema bundesweit Wellen schlägt. Wenn nicht sogar international.«

Schachtmeister strich sich mit der Hand das Resthaar glatt, und für einen Moment schien es Julian so, als hätte er ihn bei seiner Eitelkeit gepackt. Doch prompt erfolgte die Abkehr: »Nein, darauf kann ich mich nicht einlassen. Frau Schmitz’ Arbeit beruht auf einer Reihe von Vermutungen und Hypothesen, die kaum belegt sind. Es fehlt der solide Unterbau, eine hieb- und stichfeste Argumentationskette. Die Sache ist schlichtweg unausgegoren.« Er schnaufte verärgert. »Nach allem, was vorgefallen ist, überlege ich ernsthaft, Frau Schmitz das Thema wieder zu entziehen. Sie ist offenbar nicht imstande zu eigenverantwortlicher Forschungsarbeit.«

Julian dachte an die kurze Begegnung mit Melanie Schmitz, die ihm jung und flatterhaft erschienen war. Eine gewisse Oberflächlichkeit bei der Recherche war ihr zuzutrauen, da mochte der Professor durchaus recht haben. Dennoch wollte Julian nicht aufgeben. »Wenn Sie sich die Arbeit von Frau Schmitz noch einmal selbst vornehmen oder ihr einen Ihrer wissenschaftlichen Assistenten zur Hand geben, ließen sich die fehlenden Details vielleicht ergänzen«, appellierte er. »Ich kenne ja nur die Zusammenfassung, aber die allein hat mich von den Socken gehauen. Dass Göring ermordet worden sein soll …«

Damit entlockte er seinem Gegenüber bloß ein spöttisches Lächeln. »Sie sind wohl leicht zu beeindrucken.« Schachtmeister stieß ein leises Stöhnen aus, bückte sich nach einer Aktentasche und beförderte einen Ordner zutage. Er legte ihn auf den Tisch und klappte ihn auf. Mit sichtlichem Widerwillen blätterte er durch die Unterlagen. »Wie gesagt: Die Recherche ist lückenhaft und unzureichend. Man müsste mindestens ein weiteres Semester investieren. Besser noch, ich würde das Thema einem ihrer Kommilitonen überlassen, der sorgfältiger vorgeht und etwas mehr Verantwortungsbewusstsein zeigt.«

Schachtmeister wirkte unerbittlich, sodass Julian keinen Sinn mehr darin sah, ihn weiter zu löchern.

»Danke«, sagte er enttäuscht und ohne eine Vorstellung, wie er seine Recherche fortsetzen könnte. »Nett von Ihnen, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben.«

»Gern«, entgegnete der Professor, anscheinend noch immer erbost über seine eigenwillige Studentin. »Im Gegensatz zu Melanie Schmitz kann man sich auf mich verlassen. Die gute Frau hält es nicht mal für nötig, meine Vorlesungen zu besuchen. Heute früh haben wir einen wichtigen Teilaspekt der Nürnberger Prozesse behandelt, aber Frau Schmitz glänzte durch Abwesenheit.«

Genau, dachte Julian, denn er hatte sie ja in ihrer Wohnung angetroffen.

Als er die Mensa verließ, überlegte er, warum Melanie die Uni geschwänzt hatte, wenn das Thema sie doch so sehr interessierte. Krank schien sie nicht zu sein. Es musste wohl an der Angst vor einem Anschiss ihres Professors liegen. Oder sollte es noch einen anderen Grund geben?

Diese Frage beschäftigte ihn auch noch, als er in den Wagen stieg und den Zündschlüssel drehte. Mit gemischten Gefühlen machte er sich auf den Rückweg.

 

4

Wie üblich trug sie ihre flachen Schuhe, deren Sohlen kaum mehr vorhanden waren, und fror an ihren nackten Beinen, die dürr wie Spargelstängel unter ihrem leichten Mantel herausragten. Schnellen Schrittes eilte Margarete Galster über das Kopfsteinpflaster den Burgberg hinab und richtete ihren Blick auf die protzige Fassade des Rathauses, über dessen Hauptportal die US-amerikanische Fahne wehte. Der imposante Renaissancebau war zumindest an der Frontseite kaum zerstört worden und lenkte sie bei ihrem täglichen Gang zur Arbeit von der deprimierenden Trümmerwüste ab, in die sich ihre Stadt durch die alliierten Bombenangriffe am 2. Januar 1945 verwandelt hatte. Innerhalb von nur einer halben Stunde waren mehr als sechstausend Spreng- und über eine Million Brandbomben auf die Dächer der Stadt niedergeprasselt. Mit verheerenden Auswirkungen. Heute, weit über ein Jahr danach, waren die Spuren der Verwüstung noch überall zu sehen.

Kaum wandte sie den Blick in die andere Richtung, wurden die Erinnerungen an die Bombennacht wach: Die Sebalduskirche hatte mehrere schwere Treffer hinnehmen müssen. Granaten hatten den Dachstuhl zerfetzt, von den beiden stolzen Kirchtürmen standen nur noch die rußgeschwärzten Stümpfe. Zwei geköpfte Riesen, dachte sie.

Nicht viel besser sah es am Hauptmarkt aus, den Margarete Galster kurz darauf erreichte. Auch hier waren die meisten Häuser Skelette, Ruinen mit misshandelten Sandsteinfassaden und unwiederbringlich vernichtetem Innenleben. Überall türmten sich Schutt und Abraum, dazwischen schlängelten sich die Gleise der Lorenbahnen, mit denen geborstenes Holz, zersprungene Ziegel und verbogene Regenrohre abtransportiert wurden. Ein ewiger Treck der Trümmerarbeiterinnen, einer Ameisenstraße gleich.

Sie ging weiter, vorbei an provisorischen Läden, die ihr überschaubares Angebot in selbst gezimmerten Einrichtungen anpriesen oder ihre Geschäfte unter den grauen Planen ausgedienter Wehrmachtlastwagen abwickelten. Verängstigte Katzen streunten einsam herum. Blumentöpfe standen in Fenstern, hinter denen es keine Zimmer mehr gab. Alle paar Meter kam sie an Bombentrichtern vorbei, umgeben von Ringen aus verbranntem Asphalt. Sie begegnete Kindern, die unbekümmert zwischen den Ruinen tobten, als sei die malträtierte Stadt ein einziger großer Abenteuerspielplatz. Dabei schwebten sie in ständiger Gefahr: Die leichteste Erschütterung, die kleinste Unachtsamkeit, schon konnte einem ein Blindgänger um die Ohren fliegen. Das aber kümmerte die Strolche nicht. Sie machten das Beste aus ihrer belasteten Kindheit und improvisierten: Ein Bub trieb einen Papierknäuel als Fußballersatz vor sich her, ein Mädchen balancierte auf einer zerbeulten Radkappe. Margarete lächelte der Kleinen zu und setzte ihren Weg fort.

Sie traf andere Fußgänger, ausgemergelte Gestalten in viel zu weiten Mänteln. Ab und zu kam ein Radfahrer des Wegs, selten auch Autos. Sie sah halb umgerissene Ziegelmauern und abgeknickte Schornsteine. Dazwischen eroberte sich die Natur die Stadt zurück: Brombeeren wucherten, auch Sauerampfer, aus dem aufgeplatzten Kopfsteinpflaster sprossen Löwenzahn, Disteln und die allgegenwärtigen Trümmerblumen: schmalblättrige Weidenröschen.

Ihr Weg war lang, und wo früher Stadtbusse und Straßenbahnen verkehrten, musste man sich nun selbst behelfen. Ein Rad konnte sie sich nicht leisten, und die Mitfahrgelegenheit, die ihr ein junger US-Soldat offeriert hatte, hatte sie ausschlagen müssen. Das gebot der Anstand. Also lief sie Tag für Tag zu Fuß, bei Wind und Wetter, sechsmal in der Woche bis zum Justizpalast an der Fürther Straße. Nur sonntags hatte sie frei. Dazu kamen zehn Tage Jahresurlaub.

Ihre Arbeitszeit lag bei zehn Stunden am Tag, manchmal dauerte es auch länger. Ihren Lohn erhielt sie regelmäßig und in bar. Dazu kamen Bezugsscheine, einzulösen gegen Grundnahrungsmittel und Kohle oder Petroleum. Sie konnte sich nicht beklagen, auch wenn die Aufgaben, mit denen man sie betraut hatte, ihr alles andere als leicht fielen.

Margarete Galster war Hilfskrankenschwester. Nach ihrer kriegsbedingt verkürzten Ausbildung hatte sie für wenige Wochen bei einem Allgemeinmediziner am Egidienplatz gearbeitet. Danach pendelte sie zwischen verschiedenen Krankenhäusern und Feldlazaretten und lernte mit dem Grauen zu leben. Mit einer ganz neuen Dimension des Schreckens wurde sie kurz nach Kriegsende konfrontiert, als sie sich auf einen Aushang der Stadtverwaltung meldete, um sich für eine Stelle zu bewerben: Der Alliierte Kontrollrat suchte nach politisch unbelasteten Deutschen für Hilfsarbeiten rund um das Nürnberger Tribunal. Margarete Galster wurde dem Sanitätskorps zugeteilt – und hatte seitdem täglichen Kontakt mit den schlimmsten Verbrechern, die die Welt je gesehen hatte.

Eine besonders schwere Bürde für sie, denn durch den Krieg hatte Margaretes Familie große Verluste erlitten: Ihr Vater war ebenso gefallen wie ihr älterer Bruder Franz. Zwei Cousins, die an der Ostfront gekämpft hatten, galten als vermisst. Wahrscheinlich waren auch sie gefallen oder in russische Kriegsgefangenschaft geraten. Margarete wusste nicht, welches das geringere Übel sein mochte. Ihre Mutter war durch die erschütternden Erlebnisse traumatisiert und nicht mehr arbeitsfähig. Das bedeutete, dass Margarete allein für sie und den kleinen Bruder Harald, das Nesthäkchen, sorgen musste. Wem sie all das Leid der vergangenen Jahre zu verdanken hatten, war Margarete spätestens seit 1940 klar. Denn sie hatte sich, so jung sie auch war, nicht von der Goebbels-Propaganda einfangen lassen, hatte sich einen klaren Blick bewahrt und weiter zu unterscheiden gewusst zwischen Gut und Böse. Zwischen Aggressor und Opfer. Deutschland hatte einen verbrecherischen Angriffskrieg geführt und übelste Menschenrechtsverletzungen zu verantworten. Das stand für sie fest.

Nun hatte sie es mit den Köpfen dieses Verbrechersystems zu tun, stand ihnen jeden Tag von Angesicht zu Angesicht gegenüber, wenn sie die Visite der Stabsärzte begleitete. Das erzeugte einen permanenten psychischen Druck, der auch ein halbes Jahr nach ihrem Arbeitsantritt nicht nachlassen wollte, und machte ihr ein ums andere Mal Gänsehaut. Die Gefangenen erschienen ihr wie böse Geister aus der Vergangenheit, die, ließe man sie los, immer weiter brandschatzen und morden würden. Reue erkannte sie bei kaum einem der Inhaftierten.

Endlich erreichte sie ihr Ziel: Margarete passierte die Wachen an den haushohen schmiedeeisernen Toren des imposanten Gerichtsgebäudes, auf dessen weitem Vorplatz Jeeps und Panzerwagen parkten, flankiert von rund um die Uhr besetzten Geschützen. Dahinter erstreckte sich der riesige Komplex des Justizpalastes. Wie durch ein Wunder war der im Stil der Deutschen Renaissance errichtete Monumentalbau weitgehend unzerstört geblieben. Mit intaktem Schwurgerichtssaal und angeschlossenem Gefängnis. Das war wohl der eigentliche Grund, warum das Tribunal in Nürnberg und nicht in irgendeiner anderen deutschen Großstadt tagte, vermutete Margarete.

Noch vor dem Hauptgebäude wurde sie von einem kleinen, gedrungenen Mann mit schwarz geränderter Brille abgefangen, der sein Haar mit viel Pomade zurückgekämmt hatte. US-Sergeant William Stringer entstammte einer deutschstämmigen Familie und beherrschte die Sprache seiner Ahnen nahezu perfekt. Stringer gehörte ebenfalls zum medizinischen Stab und erfüllte die Funktion eines Gefängnispsychologen.

»Wie geht es Ihnen heute, Fräulein Galster?«, fragte er höflich und geleitete Margarete die ausladenden Treppenstufen hinauf. Stringers Stimme war weich, beinahe sanft, und entsprach ganz seiner Art, die Margarete als einfühlsam empfand. Das genaue Gegenteil vom Wesen der Männer, mit denen Stringer und sie es hier Tag für Tag zu tun bekamen.

»Danke, so weit gut.« Sie nickte ihm lächelnd zu und brachte damit ihr welliges kastanienbraunes Haar zum Wippen.

»Nur ›so weit‹?«, erkundigte sich Stringer fürsorglich, während das Klackern seiner Stiefelabsätze bei jedem Schritt von den hohen Flurwänden widerhallte.

Margarete war sich nicht zu schade, die Gutmütigkeit des Sergeanten auszunutzen. Immerhin ermunterte er sie ja regelmäßig dazu. »Es ist zur Zeit so schwer, an Gemüse zu kommen. Geschweige denn an frisches Obst. Auf dem Wochenmarkt gibt es nur Kohl und Steckrüben aus der letzten Ernte.«

»Ich werde Ihnen Kartoffeln und Salat zukommen lassen. Vielleicht auch ein paar Äpfel.«

»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen.«

»Wie sieht es mit Eiern aus?«

»Könnten Sie denn …?« Sie schlug bescheiden die Augen nieder.

»Es wäre mir eine Freude.«

Margarete nahm dankend an, zumal sie inzwischen wusste, dass Stringer keinerlei Gegenleistungen erwartete. Er besaß ein zurückhaltendes, niemals aufdringliches Wesen. Das, was er ihr zuliebe tat, tat er gern.

Sie durchquerten das zentral gelegene Treppenhaus mit seinem wilhelminischen Prunk und Protz, mit Marmorfliesen, Stuckdecken und lebensgroßen Büsten. Pflichtbewusst zeigten sie vor jedem Trakt unaufgefordert ihre Dienstausweise und gelangten schließlich zu dem Korridor, der das Gericht vom Gefängnis trennte. Dieser Bereich war besonders gesichert und wurde von britischen und sowjetischen Soldaten gemeinsam bewacht.

Hinter der unsichtbaren Grenze lagen die Zellen der Angeklagten. Stringers Aufgabe bestand darin, sich möglichst häufig mit ihnen zu unterhalten, um den Kommandanten über ihre seelische Verfassung auf dem Laufenden zu halten. Eine psychologische Ergänzung der ebenfalls regelmäßig stattfindenden körperlichen Untersuchungen durch den Gefängnisarzt. Stringer genoss somit das zweifelhafte Privileg, jederzeit Zugang zum Zellenblock zu bekommen – und mit ihm Margarete als seine Assistentin.

»Mit wem haben wir es heute zu tun?«, erkundigte sie sich mit banger Stimme. Sie hoffte inständig, dass es nicht Julius Streicher sein würde, der unsägliche Judenhetzer und Chauvinist, der sie bei jeder Visite mit Blicken verschlang. Und auch Rudolf Heß sollte es nicht sein, dessen große Gestalt und irre Blicke ihr Angst machten.

Stringer salutierte vor einem höherrangigen Offizier, als sie den Gefängnisbau betraten. Dann blieb er stehen und richtete seine Aufmerksamkeit ganz auf das blasse Gesicht seiner schmalen Begleiterin.

»Einen harten Brocken haben wir heute vor uns. Mal sehen, ob wir ihn diesmal ein wenig mehr aus der Reserve locken können«, kündigte er an. »Wir besuchen Hermann Göring.«

 

5