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Martin von Arndt

 

Tage der Nemesis

 

Roman

 

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage März 2014)

 

© 2014 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Stefan Imhof

Korrektorat: Eva Elisabeth Wagner

Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-305-8

 

Preis, o Nemesis, Dir!

Allmächtig waltende Gottheit!

Die, allschauend, das Leben durchspäht

vielstämmiger Menschen.

Ewige, vielverehrt, die allein

sich freut der Gerechten.

 

(Aus den Hymnen des Orpheus)

 

 

Vorwort des Verfassers

Fast einhundert Jahre ist es her, dass auf dem Boden des ehemaligen Osmanischen Reiches Hunderttausende von Armeniern bei sogenannten »Umsiedlungsaktionen« innerhalb von wenigen Monaten getötet wurden. Die Verantwortlichen dieser Massaker, eine Gruppe um den ehemaligen Großwesir Talât Pascha, tauchten nach Ende des Ersten Weltkriegs 1918 in Deutschland unter; doch anders als dreißig Jahre später, als die Nürnberger Prozesse die Schuldigen des Völkermords in Nazideutschland zur Rechenschaft zogen, mussten sich Talât und Konsorten niemals persönlich vor Gericht verantworten. Obwohl sie von türkischen Richtern für diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit – wenn auch nur in Abwesenheit – zum Tode verurteilt wurden.

Es war eine armenische Terrororganisation, die unter dem Decknamen der Rachegöttin Nemesis beschloss, auf eigene Faust Gerechtigkeit walten zu lassen; oder vielmehr: blutige Rache an den Verantwortlichen dieses Völkermordes zu nehmen. Mein Buch erzählt die Geschichte dieser Organisation. Dabei handelt es sich um »Doku-Fiction«: Weite Teile folgen den historischen Fakten, einiges musste ich aus dramaturgischen Gründen umgestalten. So sind vor allem die Figuren der Ermittler fiktional, andere handelnde Personen und die Faktenlage entsprechen den geschichtlichen Tatsachen. Ich stütze mich dabei auf allgemein zugängliche Polizei- und Prozessakten sowie auf die Bücher international anerkannter Historiker aus den USA, aus der Türkei, aus Armenien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland.

Es waren türkische Freunde, die mich mit dem Stoff um »Operation Nemesis« erst bekannt gemacht haben. Eine »Beleidigung des Türkentums« lag daher nie in meiner Absicht. Es ist heute wichtiger denn je, zu verstehen, dass es eine ­verbrecherische kleine Clique ist – die Führungsriege der ­sogenannten »Jungtürken« um das Jahr 1914 –, nicht das türkische Volk, das diesen Genozid zu verantworten hat. Denn es darf als gesichert gelten, dass zu Beginn der Deportationen zahlreiche untere und mittlere Beamte des Osmanischen Reiches tatsächlich davon ausgegangen sind, es handle sich »nur« um kriegsrelevante Umsiedlungen der Armenier aus grenznahen Regionen; dass einige Armenier zu ihren christlichen Glaubensbrüdern in Russland hielten, mit denen sich das Osmanische Reich im Krieg befand, ist in diesem Zusammenhang nicht von der Hand zu weisen.

Sicher ist auch, dass die einfachen Menschen im Osmanischen Reich die Deportationen und das, was dabei geschah, als unmenschlich ablehnten – egal ob Türken, Kurden oder Araber, alle Chronisten berichten einhellig von heimlichen Rettungs- und Solidaritätsaktionen von Bauern und Stadtbürgern, und das trotz drohender Todesstrafen.

Umso mehr schmerzt es, dass es in der Türkei noch immer Kreise zu geben scheint, die diese Massaker leugnen oder sich weigern, sie als verbrecherisch zu verurteilen. Dabei lehrt uns die historische Erfahrung, dass man nicht notwendig auf jeden Aspekt seiner Geschichte stolz sein muss (welches Volk kann das schon sein?!); zudem hatte das türkische Volk diese für den Genozid verantwortliche Riege nicht einmal gewählt, Talât und Konsorten putschten sich an die Regierung, waren also in ihren mörderischen Absichten nicht vom Volk legitimiert (ganz im Gegensatz zu den Verantwortlichen der Schoah).

Dennoch habe ich die Hoffnung, dass die Menschen in der Türkei ebenso wie die türkischstämmigen Mitbürger hierzulande meinen Roman in diesem Sinne richtig deuten werden. Und so widme ich dieses Buch sowohl dem türkischen als auch dem armenischen Volk – in der Zuversicht, dass Aussöhnung eines Tages möglich sein wird.

 

1. Berlin, März 1921

Es war viel zu kalt für diese Jahreszeit.

Grau und Schwarz waren die alles beherrschenden Farben: An einem grau-schwarzen Himmel trieben grau-schwarze Wolkenfetzen. Ab und an sah die Sonne hervor, um zu bibbern und sich rasch wieder zu verziehen. Obwohl es schon Mitte März war, hielt der Winter die Stellung. Es regnete und schneite, regnete und schneite, tags wie nachts. Die meisten Berliner hatten einen Schnupfen.

Sein kurzes blondes, hier und dort schon silbern schimmerndes Haupthaar, der schütter sprießende, krause Schnurrbart und das sich nach vorn verjüngende Gesicht verliehen ihm das Aussehen eines überdimensionierten Nagetiers. Dazu kam, dass er einen speckig glänzenden, grauen Anzug sowie einen Binder in derselben Farbe trug und seine Kiefer in unablässiger Kaubewegung seine Unterlippe bearbeiteten. Kriminalbezirkssekretär Gerhard Wagner, ein hagerer Ostpreuße Anfang dreißig, nur wenig größer als die Gassenjungen, die er soeben mit den Worten »Das ist ein Tatort, ihr Mistkruken« vom Bürgersteig scheuchte, hatte schlechte Laune. Er war in eine Pfütze getreten, seine Schuhe sogen sich mit dem Schmutzwasser voll. Er spuckte aus, fluchte, spuckte wieder aus.

Den Leichnam hatte man längst wegschaffen lassen, die Zeugen waren zur Hauptvernehmung auf dem Revier, die Spurensicherung hatte sich verzogen, und die Arbeit am Tatort war so gut wie beendet. Was also wollte Eckart noch hier? Sich die Patronenhülse ansehen? Die Blutlache am Boden? Wollte er wissen, ob der Mörder gegen die Sonne gesehen hatte, als er den Schuss abgab? Oder traute er Wagner einfach mal wieder nicht zu, dass er in der Lage war, den organisatorischen Mist allein zu regeln?

Der Nager herrschte einen Schupo an, besser darauf zu achten, dass die Schaulustigen nicht durch die Spuren trampelten. Dann war er wieder zurück in seiner Gedankenwelt und zerbiss seine Lippe.

Eckart. Manchmal schnupperte dieser verrückte Seelenklempner durch Tatortwohnungen wie ein Bluthund, der seine Witterung aufgenommen hatte. Und Rosenberg, sein Judenbengel, immer um ihn herum, sah ihn dann stets von schräg unten mit seinen großen Augen an, notierte sich jeden Unsinn in den Kladden, die er immer mit sich herumtrug. Sieben Jahre war er, Wagner, älter, außerdem schon viel länger in Berlin, und trotzdem hatten Rosenberg und er denselben Dienstgrad. Das konnte ja nicht mit rechten Dingen zugehen! Höchste Zeit, dass diese Zustände sich änderten! An allem hatten Leute wie dieser Eckart Schuld, kämen die Kaisertreuen wieder ans Ruder, würde es den beiden schlecht ergehen!

Wagner tat einen erregten Schritt zur Seite, als wollte er mit dem linken Bein die ganze Demokratenbrut von der Erdoberfläche wischen. Dabei trat er erneut in eine Pfütze. Sie war tiefer, Wasser und Straßenkot schwappten über das Futterleder ins Innere des Schuhs, beim Anheben des Fußes war ein schmatzender Laut zu hören. Die Kollegen lachten, Wagner ballte die Faust in ihre Richtung. Dann hörte er das vertraute Motorengeräusch.

Kriminaloberkommissar Dr. Andreas Eckart kam im Mordauto des Polizeipräsidiums, einer schwarzen Mercedes-Limousine, in die Hardenbergstraße vorgefahren. Sein Assistent Ephraim Rosenberg spielte wie so oft den Chauffeur.

Eckart war ein groß gewachsener und, obwohl schlank, in seinen Bewegungen ein wenig unbehände wirkender Enddreißiger, der sich regelrecht aus dem Wagen herausschälen musste. Er hatte nachtschwarzes Haar, ein grünes und ein braunes Auge, darunter einen Schmiss auf der linken Wange; eine eigentümlich fahle Gesichtsfarbe trug dazu bei, dass sich die Augenränder, die er auch dann hatte, wenn er einmal ausgeschlafen war, noch dunkler ausnahmen. Selbst wenn er frisch rasiert war, sah man einen blauen Bartschatten in seinem Gesicht.

Rosenberg, der immer mit ihm Schritt zu halten sich bemühte, war Mitte zwanzig. In seiner Kindheit in Potsdam hatte er den künstlerisch dilettierenden Freundinnen seiner Mutter Modell gestanden. Wahrscheinlich als Putte. Er hatte lockiges blondes Haar und ein weiches, fast mädchenhaft wirkendes Gesicht, das ihn um Jahre jünger erscheinen ließ. Nur die Hornbrille, die ihm ein intellektuelles Aussehen verlieh, und der aus England stammende, weiße Trenchcoat verschafften ihm eine gewisse Autorität im Kollegenkreis.

Als Eckart in seinem langen schwarzen Ledermantel und sein Kollege an den Tatort herantraten, schien es Wagner, als näherte sich eine große Krähe, neben der ein weißer Pudel dahinjagte.

Rosenberg nahm seine Brille ab und blinzelte in den Regen. Eckart nickte Wagner zur Begrüßung zu.

»Bringen Sie mich auf den neuesten Stand«, sagte der Kommissar und setzte seinen Hut auf.

»Toter Türke«, schnarrte Wagner. Er war unentwegt damit beschäftigt, seine Schuhe vom Straßenschmutz zu reinigen.

»Und wo ist er?«

»In der Wohnung der Witwe.«

»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«

Eckart funkelte seinen Untergebenen von oben herab an. Er war mehr als einen Kopf größer als Wagner.

»Wer hat das veranlasst?«

»Da hat irgendein hohes Tier angerufen.«

»Ein hohes Tier? Was denn für ein hohes Tier?«

»Vom Auswärtigen Amt.«

»Soso, vom Auswärtigen Amt. Fabelhaft, Wagner, jetzt fehlt uns die Leiche. – Rosenberg, Sie kümmern sich darum, dass der Tote so schnell wie möglich in die Rechtsmedizin gebracht wird.«

Eckart überlegte. Auswärtiges Amt. Das ließ auf nichts Gutes schließen. Immer wenn sich Wichtigtuer aus der Regierung einmischten, war ein »nasser Fisch« zu befürchten, ein Fall, der wohl nie gelöst werden würde. Er verscheuchte den Gedanken wieder.

»Raubmord?«, fragte er.

»Deutet nichts darauf hin, Herr Kommissar. Wir haben Papiere und Geld bei ihm gefunden.«

Wagner reichte seinem Vorgesetzten einen Ausweis.

»Ali Sai Bey. Geschäftsmann.«

Eckart öffnete den Pass mit dem grün-goldenen Wappen des Osmanischen Reichs und hielt ihn etwas über Augenhöhe ins Licht, um zu erkennen, ob die Stempel echt waren.

»Geht’s etwas genauer?«

»Obsthändler.«

»Obsthändler?«

Eckart fasste Wagner scharf ins Auge. Dann sagte er sehr langsam: »Na, unser Obsthändler muss ein ganz schönes Früchtchen gewesen sein, wenn sich das Auswärtige Amt so um seine Leiche sorgt.«

Der Ermittler sah sich um. Der Tote musste vor Nummer 17 gelegen haben, zwischen Fasanen- und Joachimsthalerstraße. Keine hundert Meter bis zum Bahnhof Zoo. Eine der belebtesten Gegenden Charlottenburgs – wer hier jemanden umbrachte, kam nicht weit. Er begann einen Halbkreis um den Tatort zu beschreiten. Es war, als wollte er den fehlenden Leichnam an den ihm zugehörigen Platz zurückstarren. Dann ging er schnellen Schritts die Straße hinauf Richtung Hochschule der Bildenden Künste, anschließend hinab, der Gedächtniskirche entgegen, begleitet von den missbilligenden Blicken Wagners. Nachdem er Orientierung gewonnen zu haben schien, kehrte er zu seinen jüngeren Kollegen zurück.

»Gut. Was wissen wir, Rosenberg?«

Der Angesprochene zog ein schon reichlich zerfleddertes Notizbuch aus seinem Jackett und begann zu lesen.

»Erste Zeugenaussagen, durch die Schupo vorgenommen: Ein orientalisch aussehender junger Mann begegnet einem orientalisch aussehenden älteren Mann. Sie gehen aneinander vorbei. Plötzlich dreht sich der Jüngere, er …«

»Halt, Rosenberg«, rief Eckart, »kommen Sie!«

Er zog seinen jungen Kollegen mit sich.

»Sie sind das Opfer, ich der Täter. Woher komme ich?«

Rosenberg orientierte sich neu in seinen Aufzeichnungen.

»Sie gehen eine Zeit lang auf der anderen Straßenseite Richtung Fasanenstraße. Dann wechseln Sie auf meinen Bürgersteig und gehen an mir vorbei.«

Eckart überquerte rasch die Straße, die Augen fest auf den Boden geheftet, sodass er zwar dem Grünzeug ausweichen konnte, das sich zwischen den Fahrbahnen befand, aber beinahe von einem Wagen überfahren wurde. Erst dessen lautes Hupen ließ ihn wieder den Kopf heben.

»Gehen Sie los!«, rief er Rosenberg vom anderen Bürgersteig zu. Beide Männer setzten sich in Bewegung. Auf halber Höhe querte Eckart die Straße, blickte dabei zu den offenen Fenstern hinauf, aus denen Neugierige herabstarrten, er sah zu Rosenberg, wieder zu den Fenstern. Schließlich fixierte er seinen Assistenten mit solcher Vehemenz, dass seine Augenlider zu zittern begannen. Kaum war er an ihm vorüber, rief der:

»Jetzt ziehen Sie eine Pistole. Sie schießen mir aus nächster Nähe in den Hinterkopf. Ich falle um, ein Zeuge sagt aus, meine Schädeldecke sei regelrecht aufgeklappt, ich …«

»Fallen Sie um, Rosenberg!«

»Ich? Aber … hier ist alles nass, Herr Kommissar …«

Rosenbergs Augen flehten, auch wenn er wusste, dass Einspruch zwecklos war.

»Sie tragen doch einen Regenmantel! Außerdem haben Sie eben einen Schuss in den Kopf erhalten.«

Rosenberg brachte sich zögerlich in kauernde Stellung, schlang den Mantel um seine Beine, dann setzte er sich und versuchte dabei so wenig Fläche wie möglich einzunehmen. Seine Stimme bekam einen weinerlichen Ton. Wagner lachte still in sich hinein: Es gab Momente, da war es herrlich, nicht der Liebling vom Chef zu sein.

»Weiter, was mache ich?«

»Sie werfen die Pistole hin und flüchten Richtung Fasanenstraße.«

Eckart setzte sich in Bewegung, blieb dabei aber in Rufweite.

»Auf dem Bürgersteig gegenüber hat sich inzwischen eine Menschentraube gebildet. Einige beginnen mit der Verfolgung. Gestellt werden Sie von einem, dem Sie direkt in die Arme laufen.«

Eckarts Flucht war jäh beendet. Er blickte die Straße hinab, in das Gesicht eines Kriegsinvaliden auf Krücken, der beunruhigt zurückglotzte und seinen Bauchladen, in dem er Schnürsenkel, Knöpfe und Streichhölzer feilhielt, vor dem Polizisten zu verbergen suchte. Eckart salutierte, dann drehte er sich auf der Stelle und kehrte gemessenen Schritts zum Tatort zurück.

»Die Menschen haben begonnen, auf Sie einzuschlagen, auf den Kopf, immer wieder. Sie beteuern: ›Das ist ein Ausländer, ich bin auch Ausländer, das schadet nichts‹. Allerdings macht das die Menge nur noch wilder. Schließlich zieht Sie der, der Sie gestellt hat, mit sich und bringt Sie auf die Polizeiwache am Zoo. Sie bluten schwer, sind nicht vernehmungsfähig, Sie werden in eine Zelle gebracht.«

»Gut, Rosenberg, das genügt, danke.«

Eckart reichte seinem Assistenten die Hand, brachte ihn mit einem kräftigen Armzug zum Stehen. Dann ging er einige Schritte und kniete sich neben die Blutlache. Es war der Augenblick, in dem seine Assistenten darauf bedacht waren, Schupos und Spurensicherung von ihm fernzuhalten. Eckart konnte in solchen Momenten außer sich geraten. Wahrscheinlich war er das auch: außer sich, außerhalb seines Körpers. Außerhalb von allem und jedem.

Eckart blickte auf die »17« an der Häuserwand, dann wieder zu Boden. Als er den Kopf senkte, ergoss sich ein Wasserschwall aus seiner Hutkrempe. Er atmete tief ein, schob sein Kinn resolut vor. Seit drei Jahren war dieser Weltkrieg nun vorbei, aber er hörte einfach nicht auf. Jeder in dieser gottverdammten Stadt hatte heutzutage eine Schusswaffe. Wie hatte dieser österreichische Spötter geschrieben, dieser Kraus? Der Krieg soll einen seelischen Aufschwung bringen für die, die ihm ständig ins Auge blicken. Ich beneide den Tod jedenfalls nicht darum, dass er sich jetzt von so vielen armen Teufeln ins Auge blicken lassen muss. Ich erst recht nicht! Auch dieser Obsthändler ist wahrscheinlich ein Kriegstoter, aber in die Statistiken wird er’s nicht mehr bringen.

In der Luft lag der Geruch von Benzin. Eckart stand langsam wieder auf. Um zu signalisieren, dass er nun angesprochen werden durfte, zog er sein Zigarettenetui hervor, entnahm ihm eine türkische Spezialmischung und wartete, dass Rosenberg oder Wagner ihm Feuer gaben – was angesichts des Regens ein schwieriges Unterfangen war.

»War der Täter vermummt?«

Der Kommissar inhalierte rasch und tief.

»Nein, darin waren sich alle Zeugen bei der Erstbefragung einig.«

»Wohin wollte er? Hier haben die Wände Augen und Ohren. Er muss sich im Klaren darüber gewesen sein, dass er diesen ganzen Menschen am helllichten Tag nicht entfliehen konnte. Schon gar nicht ohne seine Waffe.«

»Vielleicht eine Spontantat. Er war kopflos«, sagte Wagner ohne Nachdruck.

»Dafür hat er erstaunlich gut geschossen. Nein, nein, viel wahrscheinlicher ist doch, dass er gar nicht ernsthaft fliehen wollte. Dieser Mord hat etwas Symbolträchtiges, als wollte der Täter mit ihm ein Zeichen setzen. Er begegnet seinem Opfer auf offener Straße, geht an ihm vorbei und schießt ihm in den Schädel. Nicht ins Herz, das viel leichter zu treffen gewesen wäre. In den Schädel! Er ist nicht interessiert an den Habseligkeiten seines Opfers. Und statt sich den Weg freizuschießen, wirft er die Waffe weg und kommt nicht einmal dreißig Meter weit.«

Eckarts und Rosenbergs Augen begegneten sich.

»Für mich sieht das aus wie eine Hinrichtung, Herr Kommissar.«

»Ja«, sagte der und blies einen langen Atemzug Rauch aus, »aber eine Hinrichtung an einem türkischen Obsthändler … finden Sie das nicht merkwürdig, Rosenberg?«

»Ich habe gelesen, dass es bei den Orientalen häufig Ehrenmorde gibt. Die töten sogar ihre eigenen Kinder, wenn sie glauben, dass sie ihnen Schande gebracht haben.«

»Soso, gelesen haben Sie das, Rosenberg.«

»Vielleicht auch Mord aus Leidenschaft? Die Ehefrau des Türken war dabei, als ihr Mann getötet wurde.«

»Und das sagen Sie mir erst jetzt? Hat man auch auf sie geschossen?«

»Jedenfalls ist sie unverletzt.«

»Und wo ist sie?«

»In ihrer Wohnung, Hardenbergstraße Nummer 4, gleich hier vorn. Sollen wir zu ihr?«

»Gleich hier vorn, soso. Nein, Rosenberg, erst gehen wir zum Täter, immer erst zum Täter …«

Mit schnellen Schritten näherte sich der Kommissar dem Dienstwagen.

»Sind Sie endlich fertig mit Ihrer Schuhpflege, Wagner? Sie fahren mit in die ›Fabrik‹. Ich brauche Sie für die Vernehmung.«

Eckart warf die Zigarette aufs Pflaster. Es zischte, als sie auf den nassen Boden traf.

 

2.

In der Fabrik, dem Polizeipräsidium auf dem Alexanderplatz, herrschte das übliche Mittagsgedränge. Bürodiener hasteten mit Aktenstapeln, die ihren Kopf überragten, durch die Gänge, die langen Röcke der Stenotypistinnen bauschten sich beim Versuch, den Halbblinden auszuweichen. Es roch nach Bohnerwachs, nach Kaffee, Zigaretten und nassen Lumpen. In den schlecht geheizten Räumen saßen Kripobeamte in ihren Wintermänteln. Über allem lag das Geräusch ratternder Schreibmaschinen.

Eckart schüttelte zwei sich ihm aufdrängende Kollegen ab und strebte seinem Büro zu. Noch im Auto hatte er Rosenberg angewiesen, die Spurensicherung in die Wohnung des Täters zu schicken, Papiere zu konfiszieren und alles zu versiegeln.

Vor der offenen Tür des Vernehmungsraumes blieb er abrupt stehen und spähte vorsichtig hinein, ohne selbst gesehen zu werden.

»Ist er das?«, fragte er Wagner, der einen Zusammenstoß mit seinem Vorgesetzten gerade noch verhindern konnte.

Auf dem Delinquentenstuhl saß ein gut aussehender junger Mann in Hemdsärmeln. Mittelgroß, mager. Seine linke Wange zeigte einen tiefen Kratzer, er hatte verkrustetes Blut auf der Stirn und auf dem Kragen. Das Gesicht eines französischen Aristokraten, dachte Eckart: ausdrucksstarke Lippen, fein geschwungene Nase, das Haar à la mode zurückgekämmt. Nur dass er auffallend bleich war und den Kopf einzog.

»Erkennungsdienstlich ist er behandelt. Ein …« Wagner stutzte und deutete auf einen maschinengeschriebenen Zettel: »Ich kann das nicht aussprechen. Hat einen persischen Pass.«

»Soghomon Tehlerian. Soghomon klingt wie ›Salomon‹. Gut, Sie fangen mit der Befragung an, ich stoße gleich zu Ihnen. Rosenberg: Sie knüpfen sich die Zeugen noch einmal vor. Vielleicht hat ja doch einer etwas gesehen, das uns weiterbringt.«

Eckart durchwanderte den Korridor. In der Telefonzentrale ließ er sich mit dem zuständigen Staatsanwalt verbinden. Wie immer brauchte es dazu wegen der Fehlschaltungen unzählige Anläufe, und wie immer war Staatsanwalt von Sand dann nicht an seinem Schreibtisch. Er verkörperte den Typus preußischer Junker, der in der Großstadt schnell vorankommen wollte – einer von denen, die sich jeder Regierung anzudienen wussten. Seine Karriere unter Kaiser Wilhelm hatte ihm in der Republik noch nicht geschadet, dafür hatte er gesorgt. Unter erfolgreicher Arbeit verstand er, bei allen wichtigen Diners des Berliner Justiz­apparats anwesend zu sein und seine Pariser Couture effektvoll aufzutragen. Den Rest überließ er meist seinen Referendaren.

Auf Eckarts Drängen hin erklärte einer dieser müden, unterbezahlten Handlanger, ein gewisser Ernst Jäckh, Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, habe die Schupos mit großem Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, dass der Tote auf dem Charlottenburger Gehsteig eine Art »türkischer Bismarck« sei, der unmöglich der Schaulust neugieriger Passanten ausgesetzt werden dürfe. Staatsanwalt von Sand habe daraufhin keine Minute gezögert und angeordnet, dass die Leiche in die Wohnung der Witwe zu bringen sei.

Eckart murmelte einige Worte, die sein Telefonpartner kaum verstanden haben dürfte, und verbiss seine Wut zwischen den Zähnen. Dann hängte er ein, atmete mit solcher Vehemenz aus, dass die Telefonistinnen einander Blicke zuwarfen, und ging zurück zum Vernehmungszimmer. Schon von Weitem hörte er Wagners Stimme.

»Benutzt. Be-nut-zen. Wie Sie die benutzt haben?«

Er hörte einen metallisch nachklingenden Schlag, dann wieder die Stimme Wagners.

»Parlehvu franzehs?«

»Oui.«

»Nu, ich aber nich, wo kämen wir denn da hin?«

Bei seinem Eintritt fasste Eckart die Szenerie ins Auge: ein Schreibtisch, Stühle, der seines Assistenten verwaist. Wagner war aufgesprungen, eine qualmende Zigarette im Mund, und fluchte vor sich hin. Die Stenotypistin sah abwechselnd mit scheuem Blick von Wagner zum Delinquenten, dann wieder zu Wagner. Tehlerian saß noch immer mit gesenktem Kopf. Seine Hände steckten in improvisierten Handfesseln – ein Wachmann hatte ein Seil genommen und es mit zwei Holzklötzen auf Schiffermanier verknotet –, er hielt sie zwischen den Oberschenkeln, die in leiser Nervosität wippten. Bei Eckarts Eintritt sah er zu ihm hin und sprach die Worte: »Ich Armenier, der Türke. Deutschland kein Schaden.«

Auf dem Tisch lag die Tatwaffe, daneben ein schwarzer Velourshut mit großem Blutfleck.

»Was ist los, Wagner?«

Eckart ließ den Hut nicht aus den Augen.

»›Ich Armenier, der Türke‹. Mehr sagt der nicht. Der kann kein Deutsch. Sprechen Sie Französisch?«

»Nein. Kümmern Sie sich um einen Dolmetscher.«

»Nu, und wie soll das gehen? Ich kenne keine Perser.«

»Mann, Wagner, Sie sind komplett unfähig! Außerdem ist er kein Perser.«

»Aber sein Pass …?«

»Ist so schlecht gefälscht, dass man es mit bloßem Auge sieht. Holen Sie mir jemanden, der Armenisch spricht.«

»Armenisch«, knurrte Wagner und stand auf, »Armenisch! Wenn sich diese Kaffern wegen ein paar Melonen gegenseitig totschießen, was geht das uns eigentlich an?«

Eckart legte Wagner drohend eine Hand auf die Schulter und zog ihn aus dem Zimmer.

»Was es uns angeht, Wagner? Was es uns angeht??? Haben Sie vergessen, dass Sie in einer Mordkommission arbeiten? Mord ist Mord, und mir ist gottverdammt egal, ob das Opfer Deutscher ist, Türke oder Chinese. Diesen chauvinistischen Mist können Sie Ihren Freikorpskameraden am Stammtisch erzählen, aber hier will ich ihn nicht mehr hören. Haben wir uns verstanden, Wagner?«

Die Augen des Kleineren irrlichterten, er murmelte einige unverständliche Worte.

»Unterfeldwebel Wagner?«, sagte Eckart mit scharfem Schnarrton in seiner Stimme. Sein Gegenüber klappte die Hacken zusammen, stand von einer Sekunde auf die andere militärisch stramm.

»Jawohl, Herr Leutnant. Verstanden, Herr Leutnant.«

 

Rosenberg kehrte zurück. Schon als er auf den Kommissar zusteuerte, öffnete er seine Kladde. Er blieb stehen und stutzte, blätterte kurz in dem Büchlein, dann kramte er in seinen Taschen, zog ein weiteres heraus, nickte und begann abzulesen.

»Das Opfer ist soeben in die Rechtsmedizin in der Charlottenburger Leichenhalle gebracht worden. Und jetzt raten Sie einmal …«

»Kein Obsthändler.«

»Nein, kein Obsthändler.«

Der Assistent strahlte über seine Kladde hinweg.

»Jetzt machen Sie schon, Rosenberg!«

»Mehmet Talât, 46 Jahre, seit November 1918 in Berlin – ehemaliger Innenminister und Großwesir des Osmanischen Reichs!«

Eckart pfiff durch die Vorderzähne.

»Wie ich vermutet habe: ganz schönes Früchtchen. Da werden wir noch viel Freude mit dem Auswärtigen Amt haben. Stellen Sie mir zusammen, was Sie über diesen Talât finden können.«

»Auch im Pressearchiv?«

»Vor allem dort.«

Talât. Eckart überlegte. Seine eigenen Erlebnisse an der Westfront hatten verdrängt, woran er sich bezüglich der Berichterstattung von fernen Kriegsschauplätzen überhaupt noch erinnern konnte. Irgendein Journalist hatte den türkischen Großwesir einmal den »stärksten Mann zwischen Berlin und der Hölle« genannt. Mehr wusste Eckart nicht. Und dann riss ihn Rosenberg aus seinen Gedanken.

»Herr Kommissar …?«

»Ja?«

»Brauchen Sie mich noch?«

»Die Zeugenvernehmung, Rosenberg?«

»Die Zeugenvernehmung, natürlich.«

Rosenberg blätterte hastig in seinem Büchlein.

»Also, ein Zeuge behauptet, die beiden Männer hätten eine Weile friedlich miteinander gesprochen, dann habe der eine plötzlich seine Waffe gezogen und das ganze Magazin verfeuert.«

Eckart rollte mit den Augen.

»Ein anderer – er ist übrigens einer von unseren Achtgroschenjungen – will gesehen haben, wie …«

»Rosenberg …?«

»Herr Kommissar?«

»Ich mag den Ausdruck nicht.«

»Ja, Herr Kommissar. Also einer unserer ›Zuträger‹ vom Bülowbogen will gesehen haben, dass der Armenier auch auf die Ehefrau des Ermordeten geschossen hat.«

»Hat er?«

»Nein.«

»Fabelhaft.« Eckart schnaufte mit sichtlichem Missvergnügen. »Diese Zeugenaussagen sind mal wieder überhaupt nichts wert. Die Roten im Wedding wissen grundsätzlich nüscht, und die Charlottenburger sehen Gespenster.«

Am anderen Ende des Korridors tauchten zwei Schatten auf. Sie wuchsen zu grotesk langen Formen und schrumpften wieder zusammen, wuchsen und schrumpften, als sie sich unter den kaltes Licht verbreitenden Deckenleuchten allmählich näherten. Schließlich erkannte Eckart Wagner, der vorneweg ging. Ihm folgte eine junge Frau in Wintermantel und einem Rock, der ihr nur knapp übers Knie reichte. Dem Aussehen nach konnte sie erst vor Kurzem großjährig geworden sein. Sie war klein und zierlich, die knabenhafte neue Frauenmode betonte ihre schmale Gestalt. Als sie herangekommen war, sah er, dass sie ihr Haar, das die Tönung von gebranntem Siena besaß, kurz trug. Er ertappte sich dabei, wie er viel zu lange in dieses Gesicht blickte. Dann hörte er Wagners näselnde Stimme:

»Die Dolmetscherin, Frau Tomasian.«

Die junge Frau wehrte ab.

»Fräulein, noch immer Fräulein.«

Rosenbergs Miene hellte sich merklich auf. Eckart warf ihm einen missbilligenden Blick zu.

»In Armenien wäre ich längst eine alte Jungfer, und hier nennt man mich immer noch ›Fräulein‹.«

Sie hatte keinen merklichen Akzent in ihrer etwas heiser klingenden Stimme. Nach der Begrüßung entstand zwischen den vieren ein längeres Schweigen, die Blicke der Dolmetscherin sprangen von Eckart zu Rosenberg und wieder zu Eckart. Ihre Pupillen weiteten sich.

»Ich habe gehört, dass ein Landsmann von mir in einen Mord verwickelt sein soll, und bin gleich hierhergekommen. Heute leben viele Armenier in Berlin, aber die wenigsten sprechen Deutsch.«

»Nu, der da auch nich«, schimpfte Wagner, »unterm Kaiser hätte es so was nich jejeben!«

Mit einer brüsken Bewegung drängte Eckart Wagner ab und bat die Dolmetscherin in sein Büro. Er half ihr aus dem Mantel und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

»Sie müssen entschuldigen, Fräulein Tomasian, das sind alles ehemalige Frontoffiziere. Ungehobelte Kerle.«

Eckart stand noch immer und betrachtete die hohen, geschwungenen Brauen der jungen Frau und ihren Teint, der trotz des regnerischen Märzwetters dunkelbronzen war. Schnitt und Farbe ihrer Augen verraten die Orientalin, dachte er. Gerade als er sich setzen wollte, zog sie eine Zigarettenspitze und ein goldenes Etui aus der Tasche, der Kommissar fuhr auf, kramte nach einer Schachtel Streichhölzer, kam um den Schreibtisch herum und beeilte sich, ihr Feuer zu geben. Die Dolmetscherin deutete eine kleine Verbeugung an.

»Warum sind so viele Soldaten bei der deutschen Polizei?«

»Der Kaiser hatte im Weltkrieg ein großes Heer«, sagte der Kommissar, zündete sich selbst eine Zigarette an und kehrte an seinen Platz zurück. »Aber der Friedensvertrag von Versailles erlaubt uns jetzt nur noch hunderttausend Soldaten. Und wo sollen unsere ganzen überflüssigen Offiziere hin, wenn nicht in den Staatsdienst?«

»Und Sie? Sie sind kein ehemaliger Offizier?«

»Doch.«

»Ihr Kollege sagte, Herr ›Doktor Eckart‹ suche einen Dolmetscher. Sie haben promoviert?«

»Ja. Aber das zählt in diesem Beruf nicht.«

Eckart sah ihr dabei zu, wie sie den Rauch inhalierte, lange im Mund behielt und ihn durch gespitzte Lippen langsam ausblies. Wieder ruhten ihre Augen einen Moment zu lange inei­nander, bis sie die zwei grün getuschten Lider schloss.

»Was haben Sie studiert?«

»Medizin.«

Eckart räusperte sich.

»Und italienische Sprache und Literatur.«

Ihr Blick kehrte zu seinem zurück, sie sah ihn fragend an.

»Meine Mutter war aus Rom.«

»Das tut mir leid.«

»Dass sie Italienerin war?«

»Dass sie tot ist.«

»Ich war erst sechs Jahre alt. Ich habe beinahe keine Erinnerung mehr an sie.«

Die Dolmetscherin richtete sich in ihrem Stuhl auf.

»Ich war schon vierzehn, als meine Mutter starb. Aber mein Vater hat das Osmanische Reich lange vor dem Krieg verlassen und ist mit mir nach Deutschland gekommen. Meine Mutter ist nicht mitgegangen. Sie ist dort gestorben. Ich habe sie kaum gekannt. Sie ist die Erinnerung an einen Geruch. Und nicht einmal den könnte ich in Worte fassen.«

Mit einem Handgriff zog sie die blakende Zigarette aus der Spitze und erstickte ihre Glut im Aschenbecher. Auch Eckart drückte seine Zigarette aus, aber er brauchte lange dafür. Seine rechte Hand hatte zu zittern begonnen. Im Aufstehen ballte er seine Linke über der anderen Hand zur Faust. Dann führte er die junge Frau zum Vernehmungszimmer, vor dem schon Rosenberg und Wagner warteten. Bevor sie eintraten, sagte Eckart: »Das ist Soghomon Tehlerian. Kennen Sie ihn?«

»Nein.«

»Umso besser. Erklären Sie ihm bitte, dass Sie seine Dolmetscherin sind. Wenn Sie möchten, können Sie auch ein paar Worte zu seiner Beruhigung sagen, in Armenisch. Ich glaube, das wäre wichtig, damit er die Vernehmung überhaupt durchsteht. Er hat ganz schön was abbekommen bei der Festnahme.«

Die Dolmetscherin trat ein und nahm neben dem mutmaßlichen Täter Platz, Eckart setzte sich beiden gegenüber. Bei den ersten Worten der Landsfrau hob Tehlerian den Kopf. Sein Gesicht hellte sich auf. Er erwiderte nichts, nickte nur hin und wieder, dann lächelte er. Ein feiner, nach oben zeigender Strich in seinen Mundwinkeln. Die junge Frau wandte sich schließlich mit einer aufmunternden Geste den drei Polizisten zu.

»Spricht er denn überhaupt kein Deutsch?«, fragte Rosenberg, der, wie immer bei Verhören, neben seinem Chef Aufstellung genommen hatte.

»Nein. Er spricht Armenisch, Türkisch, Serbisch …«

»Aber er lebt doch schon seit einiger Zeit in Berlin«, stellte Rosenberg fest.

»Er? Er lebt vermutlich nicht in Berlin, Herr Rosenberg. Er hat das Osmanische Reich nie verlassen. Und er wird es auch nie verlassen, egal, wo sein Körper sich aufhalten mag.«

Eckart sah zu der Dolmetscherin hin. Sie hatte engagiert gesprochen, ungewöhnlich engagiert für eine Zusammenkunft mit einem ihr bis vor Minuten noch unbekannten Menschen. Er gab Rosenberg ein Zeichen, ließ sich eine von dessen Kladden reichen und notierte rasch: »Können alle Armenier Serbisch?«

Dann gab der Kommissar auch Wagner einen Wink mit den Augen. Er sollte dem Delinquenten die Fessel abnehmen, selbst wenn das vorschriftswidrig war. Er wollte, dass Tehlerians Hände beim Sprechen frei waren. Zur Stenotypistin gewandt sagte Eckart:

»Soghomon Tehlerian, 23 Jahre, vorgeblicher Student.«

Seine Worte wurden unmittelbar von einem leisen Gemurmel der jungen Armenierin begleitet.

»Bitte, Fräulein Tomasian: Fragen Sie ihn, wie er Talât getötet hat.«

Während der Frage der Dolmetscherin, Tehlerians Antwort und der erneuten Übersetzung verging viel Zeit. Eckart musterte die Augen des jungen Mannes, den Mund, die Hände, schließlich die Beine, die rhythmisch zu wippen begonnen hatten.

»Auf dieselbe Weise, auf die er eine Million Menschen getötet hat, sagt er.«

»Eine Million?« Wagner fuhr auf. »Wovon redet der?«

»Alles der Reihe nach, Wagner. – Sie sind Perser?«

»Nein.«

»Und Ihr Pass?«

»Ich habe einen persischen Ausweis, aber ich bin türkischer Staatsbürger. Ich wurde im Dorf Pakariç geboren, das liegt im Distrikt Erzincan.«

Wagner schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Dieses Gegurgel, das ist doch keine Sprache!«

Eckart fuhr herum.

»Gottverdammt, Wagner! Haben Sie nichts Besseres zu tun?«

»Dieses ›Gegurgel‹, Herr Wagner«, sprach die Dolmetscherin den Namen scharf, mit übertriebenem Akzent, »hatte bereits eine große Dichtkunst, da haben Ihre Vorfahren noch Bäume angebetet.«

Der Kommissar wandte sich der Stenotypistin zu.

»Das schreiben Sie nicht mit, hören Sie?«

Die Dolmetscherin sah vorsichtig zu Eckart hin. Der nickte ihr zu, was sowohl als Aufforderung gedeutet werden konnte, im Gespräch fortzufahren, wie auch als Zustimmung zu ihrer Replik. Wie ein abgekanzelter Schuljunge stellte sich Wagner in eine hintere Ecke des Raums, in Tehlerians Rücken. Eckart schaute seinen Assistenten schmallippig an, atmete zweimal tief durch, dann setzte er die Vernehmung mit ruhiger Stimme fort:

»Warum laufen Sie mit falschem Pass herum?«

»Weil es nicht anders möglich ist. Seit den Massakern bekommt kein Armenier einen türkischen Pass.«

Seit den Massakern. Eckart sah, dass Rosenberg das Wort in Druckbuchstaben schrieb und zweimal unterstrich; dann setzte er ein Fragezeichen dahinter.

»Wissen Sie, wer Ali Sai Bey war? Der Mann, den Sie vor der Hardenbergstraße 17 getötet haben?«

»Ja. Er war Talât Pascha.«

»Was hat Sie veranlasst, zum Mörder zu werden?«

Tehlerian atmete in kurzen Stößen ein und aus. Er rieb mit schweißnassen Händen über seine Hose, hinterließ dunkle Flecken auf dem Stoff.

»Ich habe einen Menschen getötet, aber ein Mörder bin ich nicht. Talât war einer. Er hat unser Volk vernichtet. Ich kann Ihnen all die Grausamkeiten beschreiben, die er auf den Straßen zwischen Konstantinopel und Deir ez-Zor in Syrien begangen hat.«

Der junge Mann hatte zuletzt mit sanfter Stimme, fast gehaucht gesprochen. Hin und wieder verdrehte er die Augen, sodass man nur das Weiße in ihnen sah.

»Epileptiker?«, flüsterte Rosenberg, der seinen Mund Eckarts Ohr genähert hatte.

»Oder einer, der uns glauben machen will, dass er einer ist«, erwiderte Eckart laut. Die Dolmetscherin fasste den Kommissar ins Auge. Der lehnte sich ein wenig in seinem Stuhl zurück.

»Wann sind diese Grausamkeiten begangen worden?«

»1915. Und die Jahre darauf.«

»Im Krieg.«

»Es war Krieg. Aber das waren keine Kriegsmaßnahmen. Sie haben Frauen und Kinder getötet. Frauen und Kinder sind keine Soldaten. Selbst wenn man heilige Kriege erklärt, darf man das nicht.«

Die junge Frau hatte nicht übersetzt, es waren ihre Worte. Wieder sah sie vorsichtig zu Eckart hin, der überrascht war, aber nichts erwiderte.

»Während des Kriegs«, sagte er schließlich, »herrschte in Deutschland eine strenge Pressezensur. Können Sie uns etwas über diese Massaker erzählen, Fräulein Tomasian?«

Die Dolmetscherin begann nervös in den Taschen ihres Mantels zu fingern. Es roch nach altem Holz. Im Vernehmungszimmer, dessen einziges Fenster winzig klein war und das Tag und Nacht von blakenden Glühlampen erleuchtet wurde, begann das Licht zu flackern und ging für Sekundenbruchteile ganz aus. Das Schweigen wurde lastender, bis die junge Frau Zigaretten für ihren Landsmann und sich zutage förderte. Tehlerian ergriff sie hastig und begann ebenso hastig zu rauchen.

»In den Jahren zwischen 1876 und 1908«, sagte die Dolmetscherin zögernd und atmete Rauch durch die Nase aus, »herrschte im Osmanischen Reich ein Tyrann, Sultan Abdülhamid II. Seine Herrschaft war so grausam, und er war so verhasst, dass sich überall im Land die jungen Männer zu Geheimbünden zusammenschlossen, um ihn zu stürzen. Unter den Revolutionären waren auch Armenier. Abdülhamid wiegelte das Volk gegen sie auf, er behauptete, es werde zu einer armenischen Verschwörung gegen den Islam kommen; er behauptete, die Armenier wollten das Osmanische Reich vernichten und einen Christenstaat gründen. Er befahl Massaker an den Armeniern, und die Menschen folgten ihm.«

Wagner hatte sich dem Vernehmungstisch genähert und begann mit drei Fingern nervös auf die Tischplatte zu trommeln. Die Dolmetscherin räusperte sich, dann setzte sie wieder an.

»1908 wurde der Sultan endlich gestürzt, von seinen eigenen Offizieren. Die Mitglieder von ›İttihat ve Terakki‹, dem ›Komitee für Einheit und Fortschritt‹, übernahmen die Regierung. Wir Armenier haben große Hoffnungen in İttihat gesetzt. Wir sind Seite an Seite marschiert; wir dachten, endlich würden alle Völker Osmans gleich sein und an einem Strang ziehen. Als der Sultan ein Jahr später die Konterrevolution ausrief, haben armenische Politiker, die Daschnaken, Mitglieder von İttihat vor den Schächern von Abdülhamid versteckt. Auch Talât.«

Eckart beobachtete Tehlerian, der vor sich auf den Boden starrte und hin und wieder verstohlen mit den Schultern zuckte.

»Zu Beginn des Weltkriegs wollten sich viele unserer Daschnaken als besondere Freunde der osmanischen Sache hervortun und meldeten sich freiwillig. Aber Talât, Enver und Cemal sahen die Armenier immer nur als Feinde im eigenen Land; sie haben die Ausrottung des ganzen armenischen Volks befohlen. Mehr als eine Million Menschen haben sie in einem Jahr getötet.«

»Wie kann man so viele Menschen in so kurzer Zeit töten?«, fragte Eckart.

»Durch gezielte Massaker. Und auf Todesmärschen durch die Wüste, Hunderte von Kilometern. Man gab ihnen nichts zu trinken und nichts zu essen.«

Eckarts Augen wanderten unruhig zwischen Tehlerian und der Dolmetscherin hin und her.

»War er auch auf einem solchen Marsch?«

»Ja.«

»›Ja‹, sagen Sie. Sie haben ihn noch gar nicht gefragt. Er soll davon erzählen.«

»Es war Anfang Juni 1915«, übersetzte die junge Frau. »Man hatte den Armeniern befohlen, Erzincan zu verlassen. Wir sollten deportiert werden, aber wir wussten nicht, wohin. Geld und Wertsachen mussten wir bei den Behörden abgeben. Wir hatten kein Pferd und keinen Ochsen, durften in der Karawane nur mitnehmen, was wir selbst tragen konnten.«

Tehlerian bat um eine neue Zigarette. Seine Finger zitterten jetzt so stark, dass ihm die Dolmetscherin helfen musste, sie anzuzünden.

»Schon am ersten Tag, kurz nach dem Auszug aus der Stadt, wurden meine Eltern getötet. Die Gendarmen und Soldaten, die unsere Karawane begleiteten, fingen an, uns auszuplündern.«

»Sogar Gendarmen?«, fragte Rosenberg.

»Ja. Man kann der Welt kaum erklären, was damals geschehen ist.«

»Hatten Sie denn noch Wertsachen?«

»Einige der reicheren Armenier hatten Geld dabei. Zur Sicherheit. Als Bakschisch. Wir haben uns im Osmanischen Reich schon immer freikaufen müssen. Es ist gut, irgendwo am Leib Gold bei sich zu tragen. Man näht es in die Kleidung ein. Einige von uns hatten so viel Angst vor Leibesvisitationen, dass sie die Münzen geschluckt haben. Die Soldaten haben sie getötet und ihnen Magen und Darm aufgeschlitzt.«

Eckart schloss die Augen. Neben ihm hörte er ein kehliges Geräusch. Rosenberg schien seinen Brechreiz niederzukämpfen.

»Einer der Gendarmen hat meine Schwester weggeschleppt und sie vergewaltigt. Sie ist nicht wiedergekommen. Meine Mutter schrie: ›Ich will mit Blindheit geschlagen sein.‹«

Rosenberg hatte längst aufgehört mitzuschreiben. Er schüttelte den Kopf, konnte gar nicht mehr damit aufhören, den Kopf zu schütteln. Leise sagte er:

»Zum Glück ist so was hier nicht möglich.«

»Glauben Sie?«

Eckart sah Rosenberg nicht an, behielt weiterhin Tehlerian im Auge.

»Glauben Sie, so was wäre hier nicht möglich?«

»Na ja, solche Deportationen würden von unserer demokratischen Presse …«

Der Kommissar lachte scharf auf.

»Ich weiß nicht, wie viel Ihre demokratische Presse wert ist, Rosenberg. Was bedeuten schon Menschen gegenüber den Interessen von Militär oder Wirtschaft.«

Eckart forderte Tehlerian auf, weiterzusprechen.

»Ich kann mich an diesen Tag nicht mehr erinnern«, sagte der. Er schwieg lange. »Ich will an diesen Tag nicht erinnert werden. Ich will lieber jetzt sterben, als diesen schwarzen Tag noch länger zu schildern. Ich kann darüber nicht sprechen, weil ich alles noch einmal nachfühle, immer wieder.«

Eckarts Mundwinkel begannen zu zucken, er bemühte sich, sie zu kontrollieren. Nicht jetzt, dachte er, nur nicht jetzt! Wieder ballte er seine Linke über der anderen Hand zur Faust.

»Erzählen Sie weiter. Sie haben nur diese eine Gelegenheit«, sagte er. Seine Stimme klang mit einem Mal barsch.

»Sie hatten Erschießungskommandos gebildet. Sie feuerten mitten in die Kolonne. Meine Mutter ist hingefallen, eine Kugel hat sie getroffen. Mein Vater war weiter vorn, auch dort wurde geschossen. Ich habe ihn nicht wiedergesehen.«

»Und was ist Ihnen geschehen?«

»Ich sah, wie der Schädel meines jüngeren Bruders gespalten wurde. Dann spürte ich selbst einen Schlag auf dem Kopf. Ich bin hingefallen. Was nachher war, weiß ich nicht. Wie lange ich dort gelegen habe, weiß ich nicht. Vielleicht zwei Tage. Als ich wach wurde, sah ich in der Nähe viele Leichen. Die meiner Mutter mit dem Gesicht zur Erde. Die meines älteren Bruders lag auf mir.«

»Hatten Sie nicht gesagt, es war der Kopf Ihres jüngeren Bruders, der eingeschlagen wurde?«

»Es war mein älterer Bruder, der auf mir lag.«

»Wie lag er auf Ihnen?«

»Was meinen Sie damit?«

»Was ich damit meine? Lag er mit der Vorderseite seines Körpers auf der Ihres Körpers? Oder lag er mit dem Rücken auf Ihrem Rücken? Oder mit seiner Vorderseite auf Ihrem Rücken? Das meine ich.«

»Ich weiß es nicht.«

»Was heißt das, Sie wissen es nicht?«

Eckart wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Ich habe keine gute Erinnerung an diesen Moment.«

»Keine gute Erinnerung? An den Moment, in dem Sie aufgewacht sind, haben Sie keine gute Erinnerung?«

»Nein.«

»Was haben Sie gespürt in diesem Moment? Haben Sie seinen Kopf auf Ihrem gespürt, sein Bein an Ihrem Unterleib? Oder haben Sie sein Koppelschloss in Ihrem Gesicht gefühlt?«

»Koppel …? Das konnte ich nicht feststellen.«

»Das konnten Sie nicht feststellen

Eckart fuhr auf, begann im Zimmer umherzugehen, er gestikulierte wild, als gäbe er einen Shakespeare’schen Helden vor Theaterpublikum.

»In dem Moment, in dem Ihr Bewusstsein wiedergekehrt ist, in dem Sie dieses unmenschliche Grauen vollständig realisiert haben, konnten Sie das nicht feststellen? Nicht fest-stel-len???«

»Ich sah in der Nähe viele Leichen. Die meiner Mutter mit dem Gesicht zur Erde. Die meines älteren Bruders lag auf mir.«

»Tehlerian!«, schrie Eckart und schlug mit der Faust gegen die Wand. Die Dolmetscherin brach abrupt in ihrem schnellen Hin und Her ab. Jetzt dreht er total durch, schien der Blick aus Wagners Augen zu sagen. Auch die anderen im Raum starrten den Kommissar an.

»Was haben Sie gespürt in diesem gottverdammten Moment? Sie sind zwei Tage lang unter Leichen gelegen. Beschreiben Sie mir den Geruch, den Sie in der Nase hatten, als Sie wieder aufgewacht sind. Den Geruch fortschreitender Verwesung.«

Der Angeklagte hielt den Kopf gesenkt, als würde er Schläge erwarten. Seine Finger bebten, die Beine bebten, die Schultern bebten. Dann murmelte er einige Worte. Mit hörbarer Nervosität in der Stimme sagte die Dolmetscherin:

»Ich verstehe nicht, was der Kommissar von mir wissen will.«

»Die Wahrheit will ich wissen, die ganze gottverdammte Wahrheit!«, brüllte Eckart.

Es war so still im Zimmer, dass man das Sirren des elektrischen Lichts hören konnte. Eckarts Gesichtsmuskeln kontrahierten, er fasste sich hart an die Kehle, um den Binder zu lockern, der viel zu eng saß, ging raschen Schritts zur Tür und erklärte, der Verhörte brauche eine Pause und er selbst müsse dringend eine Information einholen. Dann schlug er die Tür hinter sich zu und begann zu laufen. Er riss an der Krawatte mit außer Kontrolle geratenen Fingern. Er lief schneller. Wischte sich den Schweiß aus seinem Gesicht. Und lief noch schneller. Nur mit größter Mühe konnten ihm die Bürodiener ausweichen. Endlich hatte er das WC erreicht. Im Spiegel sah er seine Pupillen als winzige Löcher, die sich pulsierend weiteten, bis sie von der Teerschwärze ganz ausgefüllt waren. Er steuerte eine Kabine an und verriegelte die Tür. Dann begann er zu fallen. Er fiel. Fiel. Und fiel.

 

3.

Mandeln. Süßliches Mandelfleisch. Er musste ein Würgen unterdrücken. Dann kam das Zittern wieder. Es durchlief seinen ganzen Leib. Die Hände hielten nichts, die Beine verloren den Kontakt zum Boden. Er stand kopfüber. Fiel kopfüber.

Bellende Maschinengewehre, das Pfeifen der Schrapnelle, die Schreie der Verwundeten sind um ihn. Novembermorgen. Man hat ihn aus der Sanitätsstation herausgerufen, weil Mangel an einfachen Rettungsleuten besteht. Wie immer, wenn die Mannschaften über die schlechte Verpflegung murren, lassen die Offiziere stürmen. Er kann nicht sagen, ob das Nebel ist, Gas oder Granatenrauch. Der Granatenrauch riecht nach Mandeln, nach dem Mandelfleisch, wenn die Frucht frisch aufgesprungen ist. Er kennt ihn aus seiner Kindheit, seine Mutter hat ihn in Italien mit den Früchten direkt vom Baum gefüttert.