Über die Autorin:

Die erfahrene Krankenschwester Cathy Marie Hake hat sich – auch auf der Krebsstation – eine gesunde Portion Humor bewahrt. Der schimmert immer wieder in den 25 Büchern durch, die sie geschrieben hat. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Anaheim/Kalifornien.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86827-986-3

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2008 by Cathy Marie Hake

Originally published in English under the title

Whirlwind

by Bethany House Publishers

a division of Baker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan, 49516, USA

All rights reserved.

German edition © 2012 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH

35037 Marburg an der Lahn

Deutsch von Agentur Weißenborn

Umschlaggestaltung: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH /

Christian Heinritz

Satz und Datenkonvertierung E-Book: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH

www.francke-buch.de

Kapitel 1

London im Frühling 1892

„Ich habe eine Entscheidung getroffen.“

Millicent Fairweather faltete die Hände vor ihrer Taille und wartete schweigend auf das, was ihr Boss ihr zu sagen hatte. Die Standuhr in der Ecke des nur schwach beleuchteten Arbeitszimmers tickte laut.

„Meine Töchter sind jetzt alt genug, um ihren Horizont zu erweitern. Eine Veränderung wird ihnen guttun. Deshalb habe ich einen neuen Platz für sie gefunden.“

„Einen neuen Platz?“ Fassungslos wiederholte Millicent seine letzten Worte. Ein kalter Angstschauer lief ihr über den Rücken. Mit acht und sechs Jahren waren Audrey und Fiona immer noch kleine Mädchen. Er meinte doch nicht etwa ...

„Ein Internat für junge Damen.“ Langsam ging er vor dem Bücherregal auf und ab. Edle chinesische Seidenteppiche verschluckten das Geräusch seiner Schritte, und ein großer mit Edelsteinen besetzter Globus zeugte von dem Reichtum, den Mr Eberhardt auf seinen vielen Reisen angehäuft hatte. Doch seine häufigen und langen Reisen machten ihn zu einem Fremden in seinem eigenen Haus. Er nickte bekräftigend. „Erziehung, Benehmen – für meine Töchter nur das Beste.“

Die Luft gefror Millicent in der Lunge. „Mr Eberhardt, Ihre Töchter sind immer noch sehr jung. Wenn sie vielleicht erst einmal ein bisschen Zeit mit ihnen verbringen könnten ...“

„Nein!“ Er wirbelte herum. „Meine Entscheidung steht fest. Ich habe Mrs Witherspoon angewiesen, ihre Sachen zu packen. Um fünf Uhr kommt die Kutsche.“

Um fünf? Millicent schaute auf ihre Uhr – es war viertel nach zwölf. Verzweifelt versuchte sie, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich räusperte sie sich und sagte leise: „Wir werden rechtzeitig fertig sein.“

Er winkte ab. „Ich habe jemanden engagiert, der die Mädchen begleiten wird. Ich werde Ihre Dienste dann nicht mehr benötigen. Ich habe ein Empfehlungsschreiben für Sie aufgesetzt. Alastair wird sich darum kümmern, dass Ihnen das Gehalt für zwei weitere Monate ausgezahlt wird. Bis dahin haben Sie bestimmt eine neue Stelle gefunden.“

Millicent atmete tief ein. Eine Gouvernante musste sich nach den Launen ihres Arbeitgebers richten. Sie hatte kein Recht, sich zu beschweren, aber wie konnte er das nur seinen Töchtern antun? „Fiona und Audrey wollen Sie sicher noch einmal sehen. Das Mittagessen –“

„Ich habe viel zu tun.“ Er zog ein Buch aus dem Regal und studierte das Buchcover.

„Vielleicht zum Tee?“

Ärgerlich schob er das Buch wieder ins Regal. „Nein. Bis um fünf können Sie mit den Mädchen machen, was Sie wollen. Das ist alles.“

Zitternd verließ Millicent das Arbeitszimmer.

Mrs Witherspoon stand mit rot geweinten Augen oben an der Treppe inmitten von unzähligen Koffern und Kisten. „So dürfen mich die Mädchen auf keinen Fall sehen.“

Millicent zog die Haushälterin in ihr eigenes Zimmer. „Es wird so hart für die beiden werden.“

Mrs Witherspoon drückte sich ein durchnässtes Taschentuch vors Gesicht. „Für die Mädchen sind wir doch die einzige Familie, die sie kennen. An ihre Mama können sie sich nicht mehr erinnern, und ich kann die Tage an einer Hand abzählen, die ihr Vater in den letzten fünf Jahren hier verbracht hat.“

So gern Millicent ihrem eigenen Ärger auch Luft gemacht hätte, widerstand sie diesem Drang. Stattdessen nahm sie das Bild in die Hand, das immer auf ihrem Nachttisch stand. Es war einen Tag vor dem Tod ihrer Eltern gemacht worden, und jedes Mal, wenn sie es betrachtete, kam die Erinnerung an einen unvergesslich schönen Tag zurück, so als wäre es erst gestern gewesen. Entschlossen richtete sich auf. Mr Eberhardt würde sie zwar trennen, aber trotzdem konnte Millicent den beiden Mädchen ihren letzten gemeinsamen Tag so schön wie möglich gestalten.

„Mrs Witherspoon, ich werde die beiden Mädchen nach dem Mittagessen mit auf einen Spaziergang nehmen, damit Sie in Ruhe packen können. Wären Sie so nett und sagen der Köchin Bescheid, dass sie mit dem Essen noch zehn Minuten warten soll?“ Als die Haushälterin nickte, stellte sie das Foto wieder ab. „Könnten Sie auch Alastair fragen, ob Billy für mich in die Stadt gehen kann? Ich hätte gerne, dass Mr Braston heute Nachmittag ein paar Fotos von uns macht. Er soll alles Nötige mitbringen, damit die Mädchen die Fotos schon heute haben können.“

„Oh, das ist eine wundervolle Idee.“

Bevor sie die Tür zum Kinderzimmer öffnete, atmete Millicent noch einmal tief ein. Herr, ich weiß nicht, wie ich die beiden Mädchen loslassen soll. All die Jahre hier waren sie fast wie eigene Kinder für mich. Bitte beschütze sie und lass sie immer jemanden finden, der sie liebt.

Sie hatte die Tür erst einen Spalt geöffnet, da waren das Dienstmädchen und die beiden Kinder schon bei ihr. „Was ist passiert?“, fragte das Dienstmädchen.

Millicent straffte die Schultern und lächelte. Die Muskeln in ihrem Gesicht fühlten sich seltsam steif an, aber sie kümmerte sich nicht weiter darum. Aber sie wollte auch nichts von ihrem Gespräch mit Mr Eberhardt erzählen. Er wollte seine Töchter nicht sehen, deshalb wollte sie ihnen auch nicht sagen, dass er zu Hause war. „Danke, dass Sie den Mädchen Gesellschaft geleistet haben. Jetzt gibt es gleich Mittagessen, deshalb sollten wir uns jetzt besser die Hände waschen gehen.“

Mit schmollender Miene verließ Jenny das Zimmer. Vom ersten Tag an hatte Millicent beobachtet, dass das Dienstmädchen gerne tratschte, und das wollte sie auf keinen Fall unterstützen.

Als die Tür ins Schloss fiel, wusste Millicent, dass sie jetzt jeden einzelnen Moment nutzen musste, um „ihre“ Mädchen vorzubereiten. Langsam ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und sagt: „Ich muss euch etwas erzählen. Ihr werdet nie erraten, was es ist.“

Fiona rannte zu ihr. „Wirklich? Was ist es denn?“

Audrey folgte ihr etwas langsamer. „Jenny hat gesagt, dass sie einen Hasen im Gemüsegarten gesehen hat. Wollten Sie uns das erzählen?“

Millicent legte ihren Arm um Audrey und zog sie näher zu sich heran. „Nein, aber das war schon ein guter Gedanke.“

„Dürfen wir raten?“ Fionas Gesicht leuchtete auf. „Ist es ein Pony? Ich will ein Pony. Ein weißes.“

„Nein, mein Liebling.“

Während Fiona noch traurig seufzte, rief Audrey: „Gehen wir in die Stadt? Und essen Eis?“

„Ihr fahrt noch viel weiter als in die Stadt. Ihr, meine beiden Lieblinge, macht eine richtige Reise. Ein netter Freund eures Vaters wird euch begleiten, und ihr werdet schon heute Abend losfahren!“

„Heute?! Wohin?“

„Ihr zwei seid so wunderbare Mädchen, dass euer Vater beschlossen hat, dass ihr auf eine ganz besondere Schule gehen dürft – eine Schule, auf der man lernt, wie man eine elegante junge Dame wird.“

Audrey runzelte die Stirn. „Aber das bringen Sie uns doch schon bei.“

„Ich habe gerade erst damit angefangen. Auf dieser Schule gibt es viele Lehrerinnen, aber das ist noch nicht alles. Dort gibt es auch ganz viele andere kleine Mädchen, mit denen ihr spielen könnt. Ihr habt euch doch immer Freundinnen gewünscht?! Dort werdet ihr sie finden.“

„Sie werden dann auch viele neue Freundinnen haben!“ Fiona grinste Millicent mit ihren großen Zahnlücken an.

„Das glaube ich schon“, erwiderte Millicent und versuchte fröhlich zu klingen, obwohl ihr Herz so schwer war wie ein Stein. „Ich werde dann auch viele neue Freundinnen finden. Aber ...“

Audreys kleine Hand klammerte sich plötzlich an Millicents Ärmel. „Sie kommen doch mit uns, oder? Sie müssen mitkommen! Ohne Sie will ich nicht weggehen.“

„Ich will auch, dass Sie mitkommen!“, stimmte Fiona mit ein.

Mit angstverzerrtem Gesicht plapperte Audrey immer weiter: „Wir werden viel Spaß zusammen haben. Das haben wir doch immer. Und Sie können unseren neuen Freundinnen auch beibringen, wie man eine elegante junge Dame wird, oder etwa nicht, Fiona?“

Fiona nickte heftig mit dem Kopf.

Millicent zog die beiden zitternden Mädchen in ihre Arme und drückte sie fest an sich. Dann schloss sie die Augen. Herr, es ist so schwer. Wie soll ich ihnen denn nur antworten, wenn mir selbst die Worte fehlen?

Audrey kuschelte sich an sie, sodass die Spitze an ihrem Kragen völlig zerknitterte. „Bitte, Miss Fairweather, schicken Sie mich nicht weg. Ich werde auch immer ganz brav sein. Ich verspreche es. Ich werde sogar noch braver sein als brav. Ich werde nie wieder meine Ellenbogen beim Essen auf den Tisch stützen. Ich werde nie wieder –“

Millicent riss erschrocken die Augen auf. „Ihr habt überhaupt nichts falsch gemacht, meine Süßen. Das ist doch keine Strafe – es ist ein ganz besonderes Geschenk!“

„Ein Geschenk?“ Fionas Gesicht hellte sich wieder auf.

„Ganz genau!“ Millicent legte ihre Stirn an Audreys. „Ich bin so stolz auf dich. Du bist ein wunderbares Mädchen.“ Audreys blaue Augen waren voller Tränen, und Millicent kämpfte hart gegen ihre eigenen an. Mit etwas unsicherer Stimme fügte sie hinzu: „In meinem Herzen werdet ihr mir immer ganz nahe sein, und ich werde an euch denken und für euch beten.“

„Sie weinen ja.“ Audreys Unterlippe zitterte.

„Das sind Freudentränen.“ Fiona versuchte Millicent und Audrey gleichzeitig zu umarmen, doch ihre Arme waren zu kurz. Deshalb drückte sie ihr weiches Gesicht an Millicents Schulter. „Wie damals, als wir die Karte für sie gemalt haben.“

Sofort versuchte Millicent das Gespräch weiter in diese Richtung zu lenken. „Oh, wie ich diese Karte liebe! Sie ist einer meiner größten Schätze. Denkt doch nur, wie glücklich ich sein werde, wenn ihr mir schreibt und erzählt, wie es euch in der Schule gefällt und wie viele Freundinnen ihr schon habt!“ Sie lächelte die beiden aufmunternd an.

Audrey verbarg ihr Gesicht an Millicents Schulter. „Schreiben Sie mir auch zurück?“

„Mir auch?“

„Natürlich schreibe ich euch auch!“ Jetzt klang Millicents Stimme wieder fest und zuversichtlich. Fiona war sichtlich aufgeregt und erwartungsvoll.

Audrey hob ihr Gesicht nur ein kleines bisschen. „Aber ich mache immer so hässliche Flecken auf dem Papier.“

„Das passiert mir auch manchmal. Wenn du nur etwas mehr übst, dann schreibst du bald ohne Flecken und mit vielen Schnörkeln wie eine elegante Dame. Außerdem werde ich so glücklich über jeden Brief von dir sein, dass ich die Flecken wahrscheinlich gar nicht bemerke.“

Schließlich musste auch Audrey lächeln.

„Doch bevor ihr fahrt, wollen wir den Nachmittag heute mal ganz anders als sonst verbringen. Heute soll ein ganz besonderer Tag werden. Würde euch das gefallen?“

„Was werden wir denn tun?“, fragte Fiona.

Eine schöne Erinnerung tauchte vor Millicents innerem Auge auf, und sie musste lächeln. „Zuallererst essen wir heute anders zu Mittag als sonst – ein ganz besonderes Mittagessen. Kommt mit zum Tisch, damit wir fertig sind, wenn das Essen kommt.“ Als die Köchin das Essen auftrug, saßen beide Kinder am Tisch – aber anstatt auf dem Stuhl zu sitzen wie es sich gehörte, hatten sie die Stühle herumgedreht und sich rittlings daraufgesetzt. Millicent versuchte erst gar nicht, sich so hinzusetzen. Stattdessen saß sie seitlich auf dem Stuhl. Die Mädchen schienen damit zufrieden zu sein. Flehend schaute Millicent die Köchin an. Sie wollte auf keinen Fall, dass die Stimmung traurig wurde. Deshalb verkündete sie jetzt: „Heute essen wir unser Mittagessen rückwärts. Wären Sie so nett – wir fangen mit dem Nachtisch an.“

Überrascht rissen die Mädchen die Augen auf.

Die Köchin brachte ein etwas schiefes, aber verständnisvolles Lächeln zustande. „Was für eine interessante Idee.“

Millicent lächelte Audrey zu. „Dann sind wir auch noch nicht zu satt, und der Nachtisch schmeckt noch besser als sonst.“

„Beten wir dann auch nicht?“, fragte Fiona.

„Natürlich werden wir beten.“ Millicent freute sich immer wieder darüber, wie gern die Mädchen beteten. „Aber da wir heute alles rückwärts machen, beten wir nach dem Essen.“

So verging das Essen, bis am Ende alle satt waren. Dann faltete Fiona ihre kleinen Hände und betete: „Alle guten Gaben, alles, was wir haben, kommt, oh Gott, von dir. Wir danken dir dafür. Amen.“

Danach betete Audrey: „Jesus, hilf mir, auf meiner neuen Schule mutig und stark zu sein. Amen.“

Schließlich war Millicent an der Reihe. „Und bitte lass die Kinder gut und sicher ankommen. Amen.“

Fiona fügte noch hinzu: „Und danke für die vielen neuen Freundinnen! Amen.“

Als sie vom Tisch aufstanden, wirbelten Millicents Gedanken durcheinander. Sicher würden die Kinder in ihrer neuen Schule die Gebete aus dem Gebetsbuch der anglikanischen Kirche lernen. Sie hatte den Kindern das Abendgebet beigebracht, das ihre Mutter schon mit ihr gebetet hatte. Außerdem gab es immer ein festes Gebet vor den Mahlzeiten, doch danach durften die Mädchen immer noch etwas frei hinzufügen. Vater, ich wollte immer, dass die Mädchen nicht nur Worte auswendig lernen, sondern mit dir reden. Alles wird sich für die Kinder jetzt ändern und ich habe Angst, dass ich sie nicht genug vorbereitet habe.

Es klopfte, und die Kinderzimmertür öffnete sich. Überrascht sah Millicent, dass der Butler im Türrahmen stand. „Miss Fairweather, Billy ist wieder zurück. Der Fotograf wird bald hier sein.“

„Vielen Dank, Alastair.“

Er räusperte sich. „Wenn es nicht zu viel Mühe macht, dann hätte ich selbst auch gerne ein Bild von den beiden Mädchen.“

„Natürlich.“

Zwanzig Minuten später standen die Kinder in der Mitte der versammelten Dienerschaft. Jeder stand da, frisch gekämmt und gewaschen, und blickte ernst in die Kamera. Poff! Der Blitz leuchtete auf, und Millicent musste kurz die Augen schließen. Als sie wieder etwas sehen konnte, schlich Mr Eberhardt gerade an der offenen Wohnzimmertür vorbei. Sie machte den Mund auf, um ihn zurückzurufen, doch dann brachte sie keinen Laut über die Lippen. Eine Dame erhebt nie ihre Stimme, und eine Angestellte ruft niemals ihren Vorgesetzen zu sich. Und schließlich hatte er selbst angeordnet, dass die Mädchen nicht erfahren sollten, dass er zu Hause war. Sie tröstete sich damit, dass die Kinder dann auch seine Ablehnung nicht zu spüren bekommen würden.

„Miss Fairweather?“

Sie drehte sich zu dem Fotografen um. „Ja, bitte?“

„Ich würde vorschlagen, dass Sie sich auf den Stuhl setzen, und ich stelle dann die Mädchen in einem guten Winkel neben Sie. Ich kann gerne zwei Abzüge von dem Bild machen. Dann können Sie das eine behalten, und die Mädchen bekommen das andere.“

„Vielen Dank, aber ich hätte gerne drei Abzüge davon, damit jedes der Mädchen sein eigenes Foto haben kann.“ Millicent setzte sich auf den Stuhl und wartete, bis der Fotograf Fionas Locken gezähmt und Audreys Schleife gerichtet hatte.

„Kinder, jetzt müsst ihr ganz stillstehen.“ Der Fotograf spähte durch die Linse und schaute Fiona ermahnend an. Dann fügte er noch hinzu. „Und nicht lächeln!“

Fiona und nicht lächeln? Undenkbar. Millicent liebte ihr sonniges Gemüt. „Fee, du musst ganz stillstehen“, flüsterte sie, „aber du darfst gerne lächeln.“

Audrey sah sie mit ihren ernsthaften Augen an. „Werden Sie lächeln, Miss Fairweather?“

„Lasst uns alle lächeln. Schließlich tun wir das fast immer. Dann sind wir immer froh und glücklich, wenn wir das Bild anschauen, denn es erinnert uns an die schöne Zeit, die wir zusammen verbracht haben.“

Während sich der Fotograf im oberen Bad einschloss, um die Bilder zu entwickeln, ging Millicent mit den beiden Mädchen spazieren. Ein kleiner Bach floss durch einen Teil des Gartens, und heute erlaubte Millicent den beiden Mädchen, darin zu waten. Sie versuchte sich die Bilder einzuprägen, um ja nichts von diesem wunderbaren Nachmittag zu vergessen – die glücklichen Gesichter der Mädchen und ihr Gekicher. Da sie kein Handtuch dabeihatten, sah sie sich kurz um, ob sie auch keiner beobachtete, und trocknete die Füße der Mädchen mit ihrem Unterrock ab.

Während Audrey zuschaute, wie Millicent die Schuhe ihrer Schwester wieder zuschnürte, fragte sie: „Was machen wir jetzt?“

„Warum pflücken wir nicht einen hübschen Blumenstrauß für Mrs Witherspoon?“

Fiona klatschte in die Hände. „Ich mache einen für Alastair!“

„Du bist ja dumm, Männer mögen doch keine Blumensträuße.“

Millicent richtete sich auf. „Aber warum denn? Es wäre doch nett, wenn wir für alle einen kleinen Strauß pflücken.“ Was machte es schon, wenn sie den ganzen Garten plünderten? Mr Eberhardt blieb bestimmt nicht lange genug, um den Garten zu genießen oder mit einer Dame darin einen Spaziergang zu machen.

Als sie endlich um jeden Strauß eine kleine Schleife gebunden und sie den Dienstboten ausgehändigt hatten, wies Mrs Witherspoon die Kutscherjungen auch schon an, die Kleiderkoffer der Kinder nach unten zu tragen.

Trauer traf Millicent bei diesem Anblick wie ein Schlag.

„Wo ist Flora?“ Fionas Stimme klang schrill vor Angst. Sie liebte die Stoffpuppe, die Millicent ihr gemacht hatte.

„Sie ist im Koffer.“ Mrs Witherspoons Fröhlichkeit klang etwas zu überschwänglich.

„Im Koffer!“ Fiona brach in Tränen aus.

„Mach dir keine Sorgen, Fiona.“ Millicent kniete sich neben das weinende Mädchen und nahm ihre kleinen Hände in ihre. „Flora hat bestimmt viel Spaß, wenn sie so die Treppen hinunterhoppelt.“

„Kann ich auch die Treppe hinunterfahren?“

Bevor sie recht wusste, was sie tat, sagte Millicent ja. Ein paar Minuten später stand Millicent am Fuß der Treppe. „Ganz langsam.“

„Nein, ganz schnell!“ Fiona hüpfte in die mit Decken ausgelegte hölzerne Box, die oben an der Treppe direkt vor der ersten Stufe stand. Die Kutscherjungen hoben die Kiste auf ein großes Stück Pappe, und Alastair hielt sie mit einer langen Wäscheleine, die sie an die Kiste geknotet hatten, fest, damit die Kiste nicht sofort die Treppe hinunterschoss.

„Whiiiieeee!“, schrie Fiona, als die Kiste die Treppe hinunterrutschte.

„Jetzt bin ich dran!“, rief Audrey oben über das Treppengeländer.

„Ich will aber noch mal!“ Fiona kletterte aus der Kiste und rannte die Treppe hoch.

„Millicent, Sie haben es geschafft, die Mädchen völlig von dem Abschied abzulenken.“ Mrs Witherspoon tupfte sich die Tränen aus den Augen. „Ich hätte es nicht gedacht, aber –“

„Die Pappe ist ziemlich hinüber“, sagte einer der Jungen und hielt wie zum Beweis das durchlöcherte Pappstück hoch.

„Ich bin sicher, dass es trotzdem noch für ein Mal hält.“ Millicent wollte auf keinen Fall, dass Audrey nicht mehr fahren durfte. Audrey war immer so ernst und sensibel, bat nie um irgendetwas und nahm sich alles sehr zu Herzen. Doch diesmal hatte sie gesagt, dass sie auch in der Kiste die Treppe hinuntersausen wollte.

Alastair warf einen prüfenden Blick auf die Pappe und schüttelte den Kopf. „Das geht nicht mehr. Nein, ich bin mir ganz sicher.“ Er schaute die Haushälterin am Fuß der Treppe an. „Mrs Witherspoon, ich glaube unsere großen Tabletts müssen mal wieder ordentlich poliert werden.“

Millicent traute ihren Ohren kaum. Trotz der Entfernung sah sie, wie sich der immer so ernste und nüchterne Mund des Butlers zu einem feinen Lächeln verzog.

„Welche meinen Sie denn?“, rief Mrs Witherspoon zurück.

Der Butler richtete sich zu seiner vollen Größe auf und erwiderte mit seiner würdevollsten Stimme: „Jedes einzelne, denke ich, Mrs Witherspoon.“

Während der nächsten halben Stunde sausten Audrey und Fiona auf runden, eckigen und ovalen Tabletts die Treppe hinunter. Da die Haushälterin Bedenken hatte, dass die Kiste Spuren auf den Tabletts hinterlassen könnte, band Alastair stattdessen einen Gürtel um die Taille der Mädchen und knotete die Wäscheleine daran fest. Alle anderen Dienstboten ließen ihre Arbeit Arbeit sein und kamen an die Treppe, um die Mädchen anzufeuern.

Millicent beobachtete, wie sich der Butler neben die Kinder kniete und ihnen etwas zuflüsterte. Schon vom ersten Tag an hatte Millicent den würdevollen, alten Mann gemocht. Er besaß eine natürliche innere Autorität und leitete das Haus mit Wärme, Feingefühl und Stärke. Als Millicent jetzt sah, dass er seine würdevolle Haltung den Mädchen gegenüber für kurze Zeit vergaß, sich neben sie hockte und sie angrinste, traten Millicent die Tränen in die Augen.

„Miss Fairweather.“ Er stand wieder auf und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Ich würde gerne mit Ihnen reden.“

Millicent hob ihre Röcke ein kleines Stück und stieg langsam die Treppe hoch. „Ja?“

Audrey reichte dem Butler ein Tablett. Jedenfalls versuchte sie das. Es war fast einen Meter lang. „Das hier?“

„Ich denke, damit wird es gehen, Miss Audrey.“ Alastair hob das Tablett etwas an, dann hob er die Nase und sagte in einem übertrieben diensteifrigen Ton: „Miss Fairweather, Miss Audrey und Miss Fiona haben festgestellt, dass Sie Ihren Teil der Arbeit noch nicht erledigt haben. Dieses silberne Tablett muss noch poliert werden.“

Ungläubig sah Millicent den Butler an, doch das Funkeln in den Augen des alten Mannes sagte ihr, dass sie ebenso hochtrabend antworten sollte, um das Spiel fortzuführen. „Die Mädchen haben recht, Alastair. Aber Gouvernanten ... nun, sie polieren nun mal kein Silber.“

„Ja, das gilt vielleicht für die durchschnittlichen Gouvernanten. Aber Sie sind eine ganz besondere Gouvernante.“

„Vielen Dank. Wie –“

„Ganz einfach“, unterbrach er sie, bevor sie ihren Satz beenden konnte. „Dieses Tablett hier ist lang genug für Sie und die Mädchen, um ... ähem ... zusammenzuarbeiten.“

Sofort wollte Millicent widersprechen, aber dann sah sie das stille Bitten in Audreys Kinderaugen. Entschlossen schob Millicent ihre Ärmel ein Stück höher und nickte. „Es soll niemand sagen können, dass ich mich vor der Arbeit drücke.“

Kurze Zeit später zog Alastair prüfend an dem Strick, den er um ihre Taille gebunden hatte. „Sitzt sicher und fest, Miss Fairweather. Ich bin sicher, das wird ein durchschlagender Erfolg.“

„Das ist ja nicht wirklich beruhigend“, murmelte sie vor sich hin. Erleichtert stellte sie fest, dass Alastair und die anderen Männer unter den Bediensteten sich umdrehten, als sie sich auf das Tablett setzte. Es gab nur eine Möglichkeit, wie sie ihr Kleid ordnen konnte, ohne dass es ihr völlig undamenhaft ins Gesicht flog. Sie musste ihren Reifrock eng an sich ziehen und die Beine spreizen. Mit den beiden Mädchen auf dem Schoß würde das wenigstens ... einigermaßen annehmbar aussehen. „Audrey ...“ Als sich das ältere Mädchen zwischen ihre Beine gesetzt hatte, winkte Millicent. „Fee.“

Mit den Kindern auf dem Schoß blickte Millicent auf ihre Stiefel, die vorne überstanden und nicht mehr auf das Tablett passten. „Ich glaube, das geht einfach nicht.“

„Ah doch, das schaffen wir schon.“ Alastair schob ein kleines silbernes Tablett unter ihre Absätze.

„Jetzt geht’s los!“ Einer der jungen Diener schob Millicent von hinten an. Millicent merkte, dass sie viel zu schnell waren. Alastair hält den Strick nicht mehr fest!

Bumpbumpbumpbump. Wie konnte etwas nur so holpern und rutschen und trotzdem so unglaublich schnell sein? Oh Gott, lass den Mädchen nichts geschehen. Vor lauter Panik verschlug es ihr den Atem, sodass sie nicht einmal schreien konnte. Doch in den wenigen Sekunden, die sie die Treppe hinunterflogen, betete Millicent ununterbrochen. Alles verschwamm vor ihren Augen, dann flogen auf einmal Rittersporn, Rosen und Farnblätter in alle Richtungen und das Tablett kam mitten in dem marmorverkleideten Foyer zum Stehen – direkt unter dem gewaltigen, ovalen Tisch im Zentrum.

„Kinder! Habt ihr euch wehgetan?“ Aus Millicents trockenem Mund hörten sich die Worte mehr wie ein Krächzen an.

Lachend schüttelte Fiona den Kopf, und Audrey konnte gar nicht mehr aufhören zu kichern. Da die Mädchen auf ihrem Kleid saßen, konnte Millicent sich nicht bewegen. Sie tastete sie ab und versuchte verzweifelt festzustellen, ob sie sich nicht doch irgendwo verletzt hatten.

Von der Wohnzimmertür her ertönte plötzlich eine drohende Stimme: „Was ist denn hier los?“

Kapitel 2

Fiona kletterte von Millicents Schoß und spähte unter dem Tisch hervor. „Wer war das?“

Audrey schrie auf. „Vater?“

„Vater!“ Fiona kroch schnell unter dem Tisch hervor, und Audrey folgte ihr.

„Miss Fairweather.“ Millicent spürte Alastairs Hand auf ihrer Schulter, „Darf ich Ihnen behilflich sein?“

Sie nickte schweigend. Als der Butler sie unter dem Tisch hervorzog, kratzte das Tablett unter ihr über den Marmorboden. Dann half ihr Alastair wieder auf die Füße. Nein, auf den Fuß, denn der andere hatte sich irgendwie in dem kleinen silbernen Tablett verhakt.

Selbst durch ein dezentes Schütteln könnte Millicent ihren Schuh nicht von dem Tablett befreien, stattdessen saß es noch fester als vorher. Ihr Rock war leider nicht lang genug, um dieses Missgeschick zu verdecken.

„Miss Fairweather.“ Mr Eberhardt deutete mit dem Kinn auf sein Arbeitszimmer. In einem Ton, der sich fast wie ein Kanonenschuss anhörte, fügte er hinzu: „Sofort.“

Die Kämme und Haarnadeln in ihrem Haarknoten versagten ausgerechnet in diesem Moment, wo sie sie so dringend brauchte. Audrey schob ihre Hand in Millicents. Millicent drückte sie beruhigend. „Mädchen, macht vor eurem Vater einen Knicks. Dann dürft ihr zu Mrs Witherspoon gehen.“

Während die Mädchen ihren Vater etwas förmlich begrüßten, versuchte Millicent, ihre Gedanken zu ordnen und ihre äußere Erscheinung, so gut es ging, wieder in Ordnung zu bringen. Wenn sie das Arbeitszimmer betrat, wollte sie wieder einigermaßen präsentabel aussehen. Sie wusste nicht, wie sie das schaffen sollte, aber sie konnte es versuchen.

Alastair flüsterte ihr von hinten zu: „Es tut mir schrecklich leid, Miss Fairweather, aber ich kann das Tablett nicht von ihrem Schuh lösen.“

Millicent unterdrückte ein verzweifeltes Stöhnen. Dann machte sie einen etwas unsicheren Schritt auf die Arbeitszimmertür zu. Das metallische Geräusch des Tabletts auf dem Marmorboden war laut und deutlich zu hören. Millicent beschloss so zu tun, als hätte sie kein Tablett unter dem Fuß und keine Wäscheleine um die Taille geknotet, sondern nahm erleichtert den Arm, den der Butler ihr anbot.

Mr Eberhardt trat nur einen Schritt zur Seite und lehnte sich gegen den Türrahmen. Mit versteinertem Gesicht beobachtete er, wie sie sich verzweifelt an Alastairs Arm festhielt, während sie an ihrem Arbeitgeber vorbei ins Arbeitszimmer ging. Bei jedem zweiten Schritt versuchte sie dezent, das ziemlich schwere Tablett doch noch abzuschütteln. Doch es ließ sich nicht beirren und blieb hartnäckig, wo es war. Stattdessen klang das metallische Geräusch weiter scharf durch das ganze Haus.

Fiona hob schnell ein paar Ritterspornzweige vor ihren Füßen auf und rannte zu ihrem Vater. Völlig unbeeindruckt von den Zornesfalten auf seiner Stirn und seinen zusammengekniffenen Lippen, hielt sie ihm den verdrückten Strauß hin. „Der ist für dich!“

Etwas steif beugte sich Mr Eberhardt zu seiner Tochter hinunter und nahm den Strauß an. „Vielen Dank.“

Auch Audrey wollte ihren Teil seiner Aufmerksamkeit haben und sammelte schnell alle Blumen in ihrer Reichweite ein, dann ging sie langsam auf ihn zu. Etwas unsicher biss sie sich auf die Unterlippe und schaute ihn mit großen, blauen Kinderaugen an.

„Hier, nimm die Blumen und stell sie ins Wasser“, sagte Mr Eberhardt in einem erstaunlich freundlichen Ton zu seiner Tochter. Er reichte ihr seinen Rittersporn und ging dann in sein Arbeitszimmer.

In dem Moment, als sein Dienstherr ihm den Rücken zuwandte, bückte sich der Butler und zerrte an dem Tablett an Millicents Fuß. Es löste sich – aber auch der Stiefel, und nun stand Millicent barfuß da.

„Vielen Dank“, flüsterte sie. Alles war besser als dieses laute Dröhnen. Schnell schob sie noch ein paar Haarnadeln zurück auf ihren Platz und straffte die Schultern.

Mr Eberhardt hatte ihnen immer noch den Rücken zugedreht. Jetzt befahl er: „Lassen Sie uns allein, Alastair. Und schließen Sie die Tür.“

Selbst ihr Kleid raschelte nicht, als sie leise bis in die Mitte des Zimmers ging. Überrascht sah Millicent, dass die Fotografien, die sie bestellt hatte, ausgebreitet auf dem Schreibtisch lagen.

„Ich warte.“

„Ich bitte um Entschuldigung, Mr Eberhardt.“

Er wirbelte herum. „Ich brauche keine Entschuldigung. Ich will eine Erklärung. Könnten Sie mir bitte sagen, was in aller Welt da draußen vor sich ging?“

Ich habe mich zum Trottel gemacht. „Ich wollte mit den Mädchen gerne einen besonderen Tag verbringen, an den sie sich noch lange erinnern können.“

Er zog die Augenbrauen bis zum Haaransatz hoch. „Das haben Sie ja wohl auch geschafft.“

Sie biss sich auf die Zunge und faltete die Hände vor sich.

Langsam ging er zum Schreibtisch und hob eins der Bilder von ihr mit den Mädchen hoch. „Es scheint, dass Anstand nicht Ihre größte Stärke ist.“

Millicent schwieg.

„Kein Kommentar, Miss Fairweather?“

„Das war eine Feststellung von Ihnen. Jeder Mann hat das Recht auf eine eigene Meinung – besonders in seinem eigenen Haus und in Bezug auf seine eigene Familie.“ Ungläubig sah sie zu, wie er das Foto in seine Tasche steckte.

„Stimmt etwas nicht?“

„Ich bin sicher, als die beiden Mädchen Ihnen die Blumen überreicht haben, haben Sie gesehen, wie jung sie noch sind. Natürlich weiß ich, dass die Entscheidung bei Ihnen liegt, dennoch glaube ich, dass die Kinder auch weiterhin von einer Gouvernante profitieren –“

„Sie haben recht. Ich treffe hier die Entscheidungen und die gehen Sie gar nichts an.“

Millicent starrte ihn erstaunt an. „Sie haben mich gefragt, ob etwas nicht stimmt.“

„Meine Frage“, erklärte er, „war keine Einladung, mir Ihre Meinung bezüglich meiner Entscheidung mitzuteilen. Sie sahen aus, als gäbe es noch ein anderes Problem.“

„Das Foto.“ Sie schluckte. „Ich habe drei Abzüge davon bestellt, damit die Mädchen und ich jede ein eigenes zur Erinnerung haben können.“

„Damit bleibt das dritte übrig.“ Einen Moment lang streichelte er über die Tasche, in der das Foto steckte – eine zärtliche Geste, die so ganz anders war als sein kaltes, distanziertes Verhalten den Mädchen gegenüber.

„In den Internaten werden die Mädchen meistens nach ihrem Alter getrennt.“

„Und woher wissen Sie das?“

Millicent sah ihm direkt in die Augen und hielt seinem Blick stand. Er musste wissen, wie schlimm es wirklich war, seine kleinen Mädchen auf ein Internat zu schicken.

„Eigene Erfahrung.“

Etwas leuchtete kurz in seinen Augen auf. „Meine Mädchen werden zusammenbleiben.“

„Sie sind wirklich ganz liebe Kinder. Intelligent und gutherzig und –“

„Ich habe Ihre monatlichen Berichte gelesen.“

Wirklich? Nicht einmal hatte er auf ihre Briefe reagiert.

„Fiona hat im letzten Monat einige Zähne verloren.“ Er hob ein anderes Bild hoch und betrachtete es.

„Ja.“ Millicent kämpfte gegen den Drang, ihm die Fotos einfach wegzunehmen. Sie hatte viel Geld dafür bezahlt – ein ganzes Monatsgehalt.

„Haben Sie ihr auch erzählt, dass eine Fee kommt und die Zähne holt – so wie das in Amerika üblich ist?“

„Ja.“

Er brummte etwas vor sich hin und betrachtete weiter die Fotos. Immer wieder schob er sie auf dem Tisch herum. Beide schwiegen. Er hatte ihr noch nicht erlaubt, das Zimmer zu verlassen. Doch solange ihr Arbeitgeber mit den Bildern beschäftigt war, versuchte sie, den unglaublich dicken Knoten der Wäscheleine auf ihrem Rücken zu lösen. Ihre Nerven wurden mit jeder Minute angespannter. Warum feuerte er sie nicht einfach, verbrannte sein Empfehlungsschreiben und ließ sie gehen?

Plötzlich hörte sie ein Geräusch, und Mr Eberhardt fuhr herum.

Oh nein. Die Kinder kannten den Gang vom Dienstbotenzimmer ins Arbeitszimmer.

„Wir haben sie ins Wasser gestellt, Vater.“ Audrey trug die Blumenvase so ehrfürchtig vor sich her, wie sonst nur die Königin einen Kranz für die gefallenen Soldaten trug.

Millicent konnte nicht erkennen, ob Mr Eberhardt aus Zorn oder Unsicherheit schwieg, deshalb brach sie das Schweigen als Erste. „Komm, Audrey, wir stellen die Blumen hier ans andere Ende des Tisches. Du hast die Blumen sehr schön zusammengestellt.“

„Das stimmt.“ Mr Eberhardt schob die Fotos zur Seite.

Fiona zog ihren Vater am Hosenbein. „Ich habe auch geholfen!“

Audrey flüsterte fast unhörbar: „Darf ich die Fotos sehen?“

Mr Eberhardt zog einen Stuhl heran und setzte sich. Zu Millicents Überraschung hob er seine beiden Töchter auf seinen Schoß. Fiona zupfte ihn am Revers. „Sind wir jetzt wieder richtig herum?“

„Richtig herum?“

Audrey nickte. „Das Mittagessen war rückwärts.“ Mutig fuhr sie fort: „Fiona und ich saßen falsch herum, Miss Fairweather hat ihren Stuhl nur seitwärts gestellt.“

Als ob das nicht schon genug war, fuhr Fiona fort: „Und wir haben unseren Nachtisch zuerst gegessen.“

Jetzt zieht er bestimmt nicht nur sein Empfehlungsschreiben zurück und schmeißt mich sofort raus, sondern behält auch das Gehalt, das er mir versprochen hat.

„Was habt ihr denn sonst noch gemacht?“

Millicent war sich nicht sicher, ob die Frage an sie oder an die Kinder gerichtet war. Doch egal wer antwortete, würde er jetzt auch erfahren, dass sie mit nackten Füßen im Bach gewesen waren – und dass sie die Füße der Kinder mit ihrem Unterrock abgetrocknet hatte. Wenn er das erfährt, muss ich wahrscheinlich zu Fuß in die Stadt laufen und meinen Koffer hinter mir herziehen.

„Wir haben Blumen gepflückt.“ Fiona badete in seiner Aufmerksamkeit, ohne sein angespanntes Gesicht zu bemerken. „Wir haben alle, alle, alle Blumen im Garten gepflückt.“

„Aber wir haben sie alle verschenkt.“ Audrey sah kurz zu ihrem Vater hoch, bevor sie nachdenklich auf das vor ihr liegende Bild schaute. „Das ist MrsWitherspoon. Sie hat geweint, als ich ihr den Strauß gegeben habe.“

Eine Gouvernante sollte nicht reden, bevor sie nicht dazu aufgefordert wurde. Doch mittlerweile war Millicent davon überzeugt, dass sich Mr Eberhardt sowieso schon fragte, ob sie während der letzten vier Jahre wirklich eine gute Gouvernante für seine beiden Töchter gewesen war. „Das waren Freudentränen, Audrey. Sie hat sich über den Strauß sehr gefreut. Ich bin sicher, dass sie sich auch freuen wird, wenn du ihr das Bild schenkst.“

Fiona zupfte ihren Vater wieder am Revers. „Darf ich auch ein Bild verschenken?“

In den nächsten Minuten entschieden die Mädchen, wer welches Bild bekommen sollte. Ihr Vater sah dabei immer wieder auf die Uhr.

Schließlich seufzte Audrey tief. „Wir haben einfach nicht genug Fotos.“

Dann klopfte es, und Alastair öffnete die Tür. „Eine Mrs Brown ist hier, Sir.“

Als ob die Situation nicht schon peinlich genug war! Millicent beschloss, zusammen mit den Mädchen die Flucht durch die Dienstbotentür anzutreten.

„Ja. Führen Sie sie herein.“

Mrs Brown wartete gar nicht erst, bis sie hereingebeten wurde, sondern stand schon in der Tür, als Mr Eberhardt seinen Satz beendete. In ihrem schwarzen Reisekostüm sah sie unglaublich seriös aus. Doch statt den Kopf zu senken und eine freundliche Begrüßung zu murmeln, schaute sie Mr Eberhardt ungeduldig an. „Die Koffer der Mädchen werden schon verladen. Wir müssen sofort los.“

Die Uhr schlug vier. Er hatte doch gesagt, dass die Mädchen erst um fünf Uhr abgeholt werden sollten.

„Vater, wir haben nicht genug Fotos“, wiederholte Audrey. „Miss Fairweather bekommt keines.“

Millicent wusste sehr genau, dass Audrey nicht nur wegen den fehlenden Fotos so beunruhigt war. Sie wollte den Abschied von ihrem Zuhause und den Menschen, die sie liebte, so lange wie möglich hinauszögern.

„Euer Vater hat ein ganz besonderes Geschenk, das ihr Miss Fairweather geben könnt.“ Mrs Brown schnappte sich ein Armband, das neben der Blumenvase lag. Dann sah sie Mr Eberhardt völlig undamenhaft direkt in die Augen und fragte gereizt: „Ist es nicht so, Ernst?“

„Ja.“ Er nahm das silberne Armband und hielt es Millicent hin. „Tragen Sie es immer bei sich, als eine Erinnerung an die Mädchen, Miss Fairweather.“

Bevor Mrs Brown das Armband geschnappt hatte, war es Millicent noch gar nicht aufgefallen. Jedenfalls war sie davon überzeugt, dass es sicher nicht für sie bestimmt war. Sie konnte es nicht annehmen.

„Oh ja!“ Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf Audreys besorgtem kleinen Gesicht aus.

„Ist es auch von mir, Vater?“

Er nickte kurz. „Ja, es ist von euch beiden. Miss Fairweather wird es nie ausziehen.“ Er starrte sie mit kalten Augen an, die die Kälte in seiner Stimme nur unterstrichen. „Versprechen Sie das?“

„Ziehen Sie es an, ziehen Sie es an“, drängte Mrs Brown.

In diesem Moment stand Mr Eberhardt auf und hob seine Töchter mit sich hoch. „Miss Fairweather, bitte nehmen Sie die Bilder für meine Töchter. Sie haben recht – sie sollten jede ein eigenes Bild bekommen. Sie können Ihre neue Adresse bei Alastair hinterlegen, dann veranlasse ich, dass der Fotograf noch einen Abzug macht und Ihnen schickt.“

Fiona schlang die Beine um ihren Vater, doch Audrey hing hilflos an seinem Arm. Millicent schob sich das Armband über die Hand und streckte die Arme nach ihr aus. Sofort ließ sich Audrey in ihre Arme fallen. „Ich will nicht weggehen!“

Verzweifelt kämpfte Millicent gegen ihre eigenen Tränen an und küsste das Mädchen auf die Stirn. Sie war so überwältigt von ihren Gefühlen, dass sie kein Wort herausbrachte.

„Flora ist schon in der Kutsche“, verkündete Alastair.

„Wir müssen gehen!“ Fiona umarmte ihren Vater.

„Alastair, tragen Sie Fiona. Ich übernehme Audrey.“ Mr Eberhardt drückte dem Butler seine jüngere Tochter in den Arm und zog Audrey aus Millicents Umarmung. Doch Audrey wollte nicht loslassen. „Komm schon.“

Millicent drückte Audrey einen letzten Kuss auf die Wange. „Ich liebe dich. Bitte schreib mir, sooft du kannst.“

Dann küsste sie auch Fiona. „Ich werde dir schöne Bilder malen.“

Im Foyer hielt Mrs Brown Millicent zurück. „Es wäre besser, wenn Sie hier im Haus blieben.“ Sie nahm Millicent die Fotos aus der Hand und verschwand.

Am Fenster neben der Haustür beobachtete Millicent, wie die Mädchen in der Kutsche verschwanden. Die Kälte des Marmorbodens kroch langsam durch ihren unbeschuhten Fuß – und ihr Herz drohte an der eisigen Leere, die sich in ihr ausbreitete, zu zerbrechen. Mrs Brown stieg hinter den Mädchen in die Kutsche und zog sofort die Vorhänge zu. So konnte Millicent nicht einmal mehr einen letzten Blick auf die Mädchen werfen.

Mr Eberhardt wartete gar nicht erst so lange, um ihnen noch nachzuwinken. Er kam wieder ins Haus, und als er sie neben dem Fenster bemerkte, blickte er sie ungeduldig an. „Alastair wird sich darum kümmern, dass Sie in die Stadt gebracht werden. Es gibt keinen Grund für Sie, noch länger hierzubleiben.“

Mit zitternden Händen zog Millicent sich ärgerlich das ungeliebte Armband aus. „Das hier –“

„Ist ein Geschenk, und Sie haben meinen Töchtern gesagt, dass Sie es tragen werden. Bedeutet Ihnen ein Versprechen so wenig, Miss Fairweather?“

„Ich habe nichts versprochen, Mr Eberhardt.“

Er drehte sich abrupt um und ging zurück in sein Arbeitszimmer. „Ich habe keine Zeit für dieses Affentheater. Werden Sie endlich diese lächerliche Wäscheleine los und gehen Sie.“

* * *

„Boot, Papa! Boot!“

„Ja, mein Sohn. Das ist unser Boot – unser Schiff.“ Daniel Clark sah von den leuchtenden braunen Augen seines Sohnes auf seinem Arm zu dem Kindermädchen neben ihm. Sie zögerte noch und Daniel versuchte, sie zu bewegen, sich über die Landungsbrücke auf das Schiff zu begeben.

Ihre ängstlichen Augen waren noch größer als die seines Sohnes und sie stammelte: „Das Boot ist ja noch nicht einmal groß genug, um die Themse zu überqueren.“

„Unsinn, Miss Jenkin. Die Opportunity hat schon mehrfach bewiesen, dass sie seetüchtig ist. Das Schiff hat den Atlantik schon viele Male überquert.“ Auf dem Schiff wartete er einen Augenblick, bis das Kindermädchen sicher stand, bevor er ihr seinen Sohn wieder übergab.

„Dann ist es umso wahrscheinlicher, dass diesmal ein Unglück passiert“, murmelte sie.

Ein Mann mit einem weißen Jackett begrüßte sie und führte sie einen holzgetäfelten Flur entlang. Durch große Flügeltüren konnte man in das Wohnzimmer der Damen, den Ballsaal und den eleganten Speisesaal schauen. Der Schiffssteward deutete auf einen mit Büchern gefüllten Raum. „Der Tradition nach genießt ein Gentleman seine Überfahrt in der Bibliothek, Sir.“ Obwohl die Opportunity ursprünglich als Segelschiff den Ozean überquert hatte, war sie vor einiger Zeit umgerüstet worden und verließ sich jetzt auf die Kraft ihrer Schiffsschrauben. Trotzdem waren auf dem Schiff noch das alte luxuriöse Flair und die Gemütlichkeit eines Segelschiffs zu spüren, das auf den neuen Schiffen meist nicht mehr zu finden war. Daniel war sehr zufrieden mit dem Schiff.

„Das ist Ihre Suite. Suite sechs.“ Das glänzende Messingschild mit der Zahl sechs bestätigte die Ankündigung des Stewards. Er öffnete die Tür.

Daniel betrat ein kleines Wohnzimmer, das in der Mitte der Suite lag. Zwei sich gegenüberliegende Türen gingen vom Wohnzimmer ab – die eine führte in sein Schlafzimmer, die andere ins Kinderzimmer. Er nickte dem Steward zu. „Das ist alles sehr schön.“

Misstrauisch schaute sich Miss Jenkin um und setzte Arthur auf ihre ausladende Hüfte. „Wie lange wird es dauern, bis unsere Koffer hier sind? Ich bräuchte ein paar Sachen.“

Ein zweiter Mann erschien. Er hatte ein mit Pockennarben übersätes Gesicht und lächelte sie freundlich an. „Sir, ich bin Tibbs, ihr persönlicher Steward. Wenn Sie irgendetwas brauchen – was auch immer es ist – ich bin für Sie da und kümmere mich darum. Ihr Gepäck wird sofort hier sein. Wenn Sie wünschen, packe ich es gleich aus.“

Mit einem erleichterten Seufzer setzte Miss Jenkin Arthur auf den Boden. „Da ist mein Koffer, und mein Nähbeutel. Und da sind auch Arthurs Windeln. Die brauche ich ganz dringend!“ Sie dirigierte einige Koffer gleich ins Kinderzimmer. „Um die kümmere ich mich selbst. Tibbs, Sie kümmern sich um Mr Clarks Sachen. Wie lange dauert es noch, bevor wir ablegen?“

Daniel sah auf seine Taschenuhr, doch ehe er noch antworten konnte, sagte Tibbs: „Der erste Offizier hat schon mit den Vorbereitungen begonnen. Wir stechen mit der nächsten Flut in See – also in gut einer Stunde.“

Miss Jenkin ließ vor Schreck ihre Tasche wieder fallen. „So bald schon?“ Sie schnappte sich Arthur und schob sich an den Stewards vorbei ins Kinderzimmer.

„Die Zeit und die Gezeiten nehmen keine Rücksicht auf uns Menschen.“ Tibbs straffte die Ärmel seiner Uniform. „Sir, möchten Sie Ihren Sohn bei den Mahlzeiten mit in den Speisesaal nehmen oder soll er sein Essen lieber hier in der Suite serviert bekommen?“

„Hier in der Suite.“

Times

„Daniel Clark. Ich habe mein Importgeschäft verkauft und bin auf dem Weg nach Texas.“

„Texas.“ Bivney hob fragend die Augenbrauen.

„Ich habe Familie dort.“ Daniel wollte nicht mehr erzählen. Wegen seines Geschäfts war Daniel in der Vergangenheit immer viel auf Reisen gewesen. Seine Frau, Henrietta, hatte sich um ihren gemeinsamen Sohn gekümmert und sich in seiner Abwesenheit damit beschäftigt, im Gartenklub mitzumachen, Museen zu besichtigen und sich für wohltätige Zwecke zu engagieren. Doch immer wenn er nach Hause kam, hatte sie alles andere abgesagt, um jede Minute mit ihm zu verbringen. Das Leben war wirklich schön gewesen – bis vor acht Monaten. Während er auf einer Reise war, fiel Henrietta die Treppe hinunter. Er hatte das Telegramm erhalten und war sofort nach Hause gereist – aber er kam nicht mehr rechtzeitig. Noch bevor er an ihrem Bett war, starben sie und das Kind in ihrem Bauch. Obwohl Arthur immer noch Miss Jenkin hatte, konnte es Daniel nicht mehr vor sich verantworten, so viel auf Reisen zu sein. Arthur brauchte ihn jetzt. Ein Kind brauchte die Zeit, Aufmerksamkeit und Liebe seiner Eltern.

Deshalb beschloss Daniel, für seinen Sohn ein großes Opfer zu bringen. Im letzten Jahrzehnt hatte Daniel ein blühendes Import-Export-Geschäft aufgebaut. Jetzt verkaufte er alles. Doch wenn er in England bleiben würde, wäre die Versuchung zu groß, doch wieder in lukrative Geschäfte einzusteigen. Deshalb hatte er ein gut gehendes Geschäft in einer noch jungen, aufstrebenden Stadt in Texas gekauft und war jetzt auf dem Weg dorthin. Da konnte er Zeit mit seinem Sohn verbringen, ihn aufwachsen sehen und gleichzeitig genug Geld verdienen.

Die Opportunity stach in See. Daniel wusste, dass sein Sohn die Ruhe dringend brauchte, deshalb hielt er sich für ein paar Stunden von der Suite fern, bis die kleinen Wellen in der Nähe des Hafens in die größeren, sanft schaukelnden Wogen des offenen Ozeans übergegangen waren.

In Erinnerung an Arthurs Begeisterung über das „Boot“ musste Daniel lächeln. Er beschloss, dass das Kindermädchen Arthur nach seinem Mittagsschlaf warm anziehen sollte, damit er ihn mit auf Deck nehmen konnte.

Arthurs Weinen hallte durch die Suite, als Daniel die Tür öffnete. Er wartete darauf, dass das Kindermädchen Arthur beruhigte ... aber er wartete vergeblich. Als sein Sohn nach ein paar Minuten immer noch weinte, runzelte Daniel die Stirn. War sein Sohn seekrank? Unmöglich – dann könnte er bestimmt nicht so laut schreien. Mit wenigen Schritten war er vor der Kinderzimmertür und rief laut: „Miss Jenkin, ist etwas –“

„Papa! Papa!“ Arthur stand in seinem Babybett und streckte ihm die Ärmchen entgegen, als Daniel die Tür zum Kinderzimmer öffnete.

„Alles ist gut!“ Daniel zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte Arthurs Gesicht ab. „Miss Jenkin!“, rief er.

Doch er bekam keine Antwort.

Daniel hob seinen Sohn hoch und bemerkte die durchnässte Windel. Angewidert rümpfte er die Nase. „Miss Jenkin!“ Immer noch keine Antwort. „Ich hoffe, sie ist nicht seekrank!“

Doch im selben Augenblick fiel sein Blick auf einen gefalteten Zettel auf dem Bett.