Cathy Marie Hake

Ärztin in Rot

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Kapitel 7

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Enoch stürmte dicht gefolgt von Taylor die Treppe hinauf. Im Stillen verwünschte sie die unpraktische Kleidung, die Frauen tragen mussten. Enoch blieb im Eingang zum Krankenzimmer stehen, und Taylor rannte gegen ihn.

„Zur Seite!“, befahl sie und versuchte, ihn nach links zu schieben. Schreckliche Szenarien entstanden in ihrem Kopf. Der Schmied lag vielleicht mit einer Gehirnerschütterung auf dem Boden … oder einem gebrochenen Bein … oder noch schlimmer, mit einem Blutsturz …

Enoch ging ihr endlich, vom Lachen geschüttelt, aus dem Weg. Von schwerer Arbeit abgenutzte Stiefel schauten unter dem zusammengebrochenen Bett hervor – jeder steckte an einem Fuß! Einen konnte sie ganz sehen, der andere war halb durch die Bettdecke verborgen. Fassungslos und mit strenger Stimme sagte sie: „Mr Van der Vort, gehen Sie sofort wieder ins Bett!“

„Einen Moment“, erklang die gedämpfte Stimme von irgendwo unter dem Bett.

„Ein Moment ist mehr, als ich Ihnen geben werde.“ Sie marschierte zum Bett und starrte auf die gestiefelten Beine. Wie hatte er es nur geschafft, die Schuhe anzuziehen? Und vor allem, wie war er überhaupt an die Stiefel gekommen? Und an die Jeans? „Ich habe Ihnen doch genau erklärt, was Ihnen alles Schlimmes passieren kann.“

„Und ich dachte, das Schlimmste, was mir passieren kann, sind Sie.“ Ein Kopf und Schultern tauchten an der anderen Seite des Bettes auf. Es war Mr Van der Vort, der sie zynisch ansah.

Taylors Blick blieb auf den Boden geheftet, wo die Beine sich definitiv nicht bewegt hatten. Physikalisch ist es unmöglich, sich so zu verdrehen. Wer ist nur unter dem Bett? „Enoch, hilf Mr Van der Vort bitte ins Bett zurück.“

„Mir geht es gut.“ Ein Fuß bewegte sich zum Klang der Stimme, die unter dem Bett hervorkam. „Also, so ein Mist. Das sind meine Lieblingshosenträger.“

Karl warf Enoch einen Blick zu. „Piet – mein Bruder – klemmt fest. Helfen Sie ihm. Ich komme alleine klar.“

Neugier stieg in Taylor auf. Sie wollte wissen, warum der Bruder ihres Patienten unter dem Bett feststeckte. Enoch hatte sich schon neben das Bett gekniet, um herauszufinden, wie Piet Van der Vort das angestellt hatte.

„Mr Van der Vort, Sie müssen im Bett bleiben. Das ist wichtig für die Heilung der Wunde.“ Taylor ging an den Füßen vorbei in Richtung Tür.

„Was machen Sie denn?“, fragte der andere Van der Vort aus seinem Gefängnis unter dem Bett heraus.

Taylor erstarrte, als sie sah, dass ihr Patient Karl anstatt des weißen Patientenhemdes ein blaues aus Flanell trug. „Sir, ich erwarte, dass Sie sich im Bett befinden, wenn ich in einer Minute diesen Raum wieder betrete.“

„Und wenn nicht?“

„Hey, ich will sehen, was passiert“, rief Piet. Das Bett erzitterte bei seinem Versuch, sich zu befreien.

Wilde Drohungen gingen Taylor im Kopf herum. „Wenn Sie nicht –“ Sie sah Karl fest in die Augen. „Ich bin in einer Minute zurück und Sie werden im Bett sein!“ Ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Und glauben Sie mir, keiner von uns will sich vorstellen, was passiert, wenn Sie immer noch da unten auf dem Boden liegen.“

„Du vielleicht nicht …“

„Enoch!“

Lautes Gelächter erfüllte den Raum.

Er hat mich hintergangen. Nur für ein paar billige Lacher. Sie hatte schon während ihres Studiums mit männlichen Anfeindungen, mit Hohn und spöttischen Bemerkungen leben müssen. Langsam zwang sie sich zu einem kühlen, überlegenen Lächeln und straffte ihre Schultern. Mit zusammengebissenen Zähnen verließ sie den Raum. Ich werde so zurückkommen, wie ich es angedroht habe. Diese Männer benahmen sich wie verzogene Bengel. Gut. Sie würden bald herausfinden, dass Taylor MacLay Bestman sich nicht so leicht einschüchtern ließ.

Aber Enochs Scherz versetzte ihr einen Stich. Gerade erst hatte er ihr erklärt, dass er sich verliebt und seine zukünftige Frau gefunden hatte. Und jetzt tat er sich mit ein paar Kerlen zusammen und zerstörte ihren Glauben an seine unerschütterbare Loyalität. Taylor ging in ihr Zimmer und ließ sich auf einen leeren Koffer fallen.

„Ich werde nach Texas gehen, mit dir oder ohne dich.“ Die Erinnerung an seine Worte ließen sie nun zweifeln. Hatte Enoch lieber alleine hierherkommen wollen? Hatte sie seine Freiheit eingeschränkt, als sie mit ihm gekommen war?

Wieder erscholl ein lautes Krachen aus dem Patientenzimmer. „Piet, wollen Sie sich alle Rippen brechen?“, fragte Enoch. „Ich habe doch gesagt, dass Sie warten sollen.“

Mein Bruder hat mich doch dazu überredet, mitzukommen. „Komm mit mir, Schwesterherz“, hatte er gesagt. „Ich habe meine Praxis verkauft. Du und ich, wir waren schon immer ein Team. Lass uns gemeinsam in die Zukunft gehen. Komm mit.“

Gut, ich bin mitgekommen. Er hat bekommen, was er wollte. Jetzt müssen wird das Beste daraus machen … Wenn Paulus es geschafft hat, im Gefängnis zufrieden zu sein, werde ich es hier auch schaffen. Ein gequältes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Bisher war ihr nie aufgefallen, dass Paulus geschrieben hatte, dass er erst hatte lernen müssen zufrieden zu sein. Dadurch ermutigt, wollte auch sie sich allem stellen, was auf sie zukommen würde.

Eine Minute – sie war schon längst vergangen. Taylor streckte ihre Schultern und strich ihr Haar glatt. Egal wie sie sich fühlte, sie musste ihre Arbeit professionell erledigen.

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Karl hörte sie zurückkommen – nicht aufgrund der knarrenden Dielenbretter, sondern wegen des resoluten Klapperns ihrer Absätze. Bisher war sie immer leise gegangen, deshalb war er sich sicher, dass sie diesen Lärm jetzt mit voller Absicht veranstaltete. Es war bisher geradezu erheiternd gewesen zu beobachten, wie die Ärztin um ihre Beherrschung gekämpft hatte. Doch das würde ihr gleich sicher nicht mehr gelingen. Nicht, wenn sie ihn hier so sah. Er saß in einem Stuhl in der Raummitte, zwischen einem kleinen Bücherregal und seinem Bett, und sollte Enoch Bücher reichen, damit der damit das Bett aufbocken konnte, um Piet zu befreien.

In seinem Nachthemd fühlte sich Karl lächerlich. Vor ein paar Monaten war Piet so glücklich darüber gewesen, dass er Nachthemden mit einem großen Halsausschnitt gefunden hatte, die sogar noch lang genug waren und ihnen bis zu den Waden reichten, dass er gleich zwei für jeden von ihnen besorgt hatte. Da sie durch die vielen Jahre in der Schmiede am ganzen Körper ungewöhnlich große Muskeln entwickelt hatten, war es nie leicht, Kleidung zu bekommen, die auch wirklich passte. Karl würde dieses Hemdchen hier noch ein oder zwei Tage ertragen müssen, da sein verbundenes Bein nicht in die Hose passte. Auf keinen Fall aber länger.

Sobald die Ärztin durch die Tür kam, heftete sie ihren Blick auf ihn. Ihre Augen weiteten sich ein wenig, was ihre Überraschung verriet. „Mr Van der Vort, Sie sind nicht, wo Sie hingehören.“

„Doc“, jammerte Piet unter dem Bett hervor, „wollen Sie etwa, dass ich hier zerquetscht werde?“

„Sie sollten mich einfach die Hosenträger durchschneiden lassen, die sich verheddert haben“, sagte Enoch und nahm Karl die letzten Bücher ab.

„Nee!“ Piet war einen Moment still, dann fuhr er fort: „Die hat mir meine Mutter geschenkt.“

„Natürlich werden wir sie nicht durchschneiden“, sagte Taylor sanft und beruhigend. „Mr Karl Van der Vort, bleiben Sie dort in dem Stuhl und legen Sie Ihr Bein hoch, während mein Bruder und ich versuchen, Ihren Bruder Piet zu befreien.“

Ihr resoluter Gesichtsausdruck ließ keine Diskussion zu. Ihr Befehl gefiel Karl gar nicht. Doch er hatte gesehen, wie ihr Blick weicher geworden war, als sie seinem Bruder versichert hatte, dass den Hosenträgern nichts geschehen würde. Das allein schon reichte aus, um Karl milde zu stimmen.

„Ich schaffe das.“ Enoch sprang auf. „Wir brauchen nur noch mehr Bücher, dann ist der Spalt groß genug und ich kann Piet entwirren.“

Als Enoch den Raum verlassen hatte, um die Bücher zu holen, stand die Ärztin schweigend da und betrachtete Piets Stiefel. Da Karl sich ein wenig schuldig fühlte, weil er sie geärgert hatte, wollte er die Stimmung etwas aufhellen. „Immerhin habe ich diesmal kein Pferd gerufen, um mich zu befreien.“

Die Ärztin warf einen letzten Blick auf Piets Stiefel, dann sah sie Karl an. „Wenn er nicht die Stiefel anhätte, könnte ich kaum einen Unterschied feststellen.“

War das etwa – nein, das konnte doch nicht etwa ein Lächeln sein? Oder doch? „Matteo hat die Stiefel gemacht. Er hat die Sattlerei hier in der Straße.“

Die Ärztin kniete sich neben seinen Bruder. „Dann kleidet Matteo also Menschen und Pferde ein?“

„Ja.“

„Dann muss ich wohl mal zu ihm gehen.“

Karl nutzte die Gelegenheit, um zu widersprechen. „Sie sind kein Mann. Matteo macht nur Sachen für Männer und Pferde. Sonst nichts. Nichts für Frauen.“

„Ich verstehe, dann muss ich wohl einen Schuster für die Stadt anwerben, der auch Schuhe für Frauen macht.“

„Das können Sie nicht tun!“

Sie zog eine Augenbraue hoch. „Sie gehören doch nicht auch zu der Sorte Männer, die die Frauen gerne barfuß und ewig schwanger sehen möchten?“

Nee. Aber das hier ist unsere Stadt. Sie können nicht einfach nach Lust und Laune Leute hierherholen.“

„Nicht aus Lust und Laune, sondern aus Bedarf heraus. Egal, wie attraktiv ein Schuh auch sein mag, sobald er unbequem ist, bringt er gar nichts. Frauen und Männer haben das Recht auf diese einfachsten Dinge.“

Die Frau hatte Mumm. Er konnte es nicht leugnen – sie war klug und hatte etwas überraschend Wildes an sich. Vielleicht nicht gerade wild. Sie war eher temperamentvoll. Aber aus ihrem Dickkopf und Temperament heraus hatte sie auch einen Männerberuf ergriffen. Er konnte ihren Charakter und ihre Fähigkeiten schätzen, ohne zu akzeptieren, auf welchem Gebiet sie beides einsetzte. Schade. Sie war wie der Schuh, von dem sie eben selbst gesprochen hatte – attraktiv, aber nicht passend zu ihrem eigenen Geschlecht.

Die Ärztin räusperte sich. „Mr Piet Van der Vort, das ist doch bestimmt unbequem.“

Nee. Es geht mir gut. Es ist nicht gerade gemütlich, aber auch nicht schlimm. Es wäre besser, wenn ich schmaler wäre.“

„Die rechte hintere Schulterseite seines Hosenträgers hängt fest, also kann er …“ Karl streckte seine Hand aus und drehte sie.

Taylor schloss die Augen. Ihre Schultern hoben sich und sanken wieder, als sie tief ein- und ausatmete. „Na gut, Ihre Hosenträger – sind sie, ich meine, treffen sie sich hinten in der Mitte?“

Nee. Die Mitte ist da, wo sie an meiner Hose festgemacht sind.“

„Gut. Gut. Ich greife jetzt unter das Bett und versuche, den hinteren Hosenträger zu lösen.“ Nach einer Minute fragte sie angespannt: „Können Sie nun den Hosenträger vorne lösen?“

Ein Krachen und Rascheln erklang. „Die rechte Seite hat funktioniert. Aber auf der Linken liege ich zu sehr drauf. Ich kann den Träger nicht selbst lösen, Doc.“ Einen Augenblick lang war es still. „Doktor, ich … was tun Sie …“

„Also, entschuldigen Sie mal. Ich versuche doch nur, Sie zu befreien.“ Immer noch halb unter dem Bett, hatte die Ärztin wieder ihre Hand ausgestreckt. Anscheinend versuchte sie jetzt, den Hosenträger vorne zu lösen. Als sie es geschafft hatte, atmete sie erleichtert aus und vergewisserte sich, dass ihr Kleid nicht ungebührlich verrutscht war.

Endlich wieder frei, fing Piet an, sich unter dem Bett hervorzuwinden.

„Warten Sie!“ Enoch ließ vor Schreck einen großen Bücherstapel fallen. „Sie ziehen das ganze Bett mit sich und werden noch meine Schwester verletzen.“

„Kommen Sie heraus, Piet Van der Vort“, sagte die Ärztin ermutigend und stand auf. „Sie sind zwar stark genug, um so ziemlich alles mit sich zu ziehen, aber ich bin nicht gerade aus Zucker gemacht.“

Enoch warf den auf dem Boden verstreuten Büchern einen finsteren Blick zu und sammelte sie wieder ein. „Piet, wie sind Sie überhaupt unters Bett gekommen?“

„Ich wollte meinen Bruder besuchen. Sie waren beschäftigt, also wollte ich Sie nicht stören. Ich bin einfach die Treppe heraufgegangen.“

„Und unter das Bett gekrochen?“ Die Ärztin und ihr Bruder tauschten einen ungläubigen Blick aus.

„Der Nachttopf – er stand hier nicht.“ Endlich hatte Piet sich vollends befreit und streckte sich. „Ich dachte, dass er vielleicht irgendwo ganz weit unter dem Bett steht …“

„Das war sehr nett von Ihnen, dass Sie Ihrem Bruder helfen wollten. Aber wir haben ein Badezimmer nebenan und ich gebe Ihrem Bruder gerne Krücken.“ Noch während sie redete, brachte die Ärztin Piet zu einem Stuhl. Er setzte sich, und an seinem bewundernden Blick erkannte Karl, dass sein Bruder alles für diese Frau getan hätte. „Tut Ihnen irgendetwas weh? Schmerzt es beim Atmen?“ Die Ärztin untersuchte Piet. „Es ist offenbar noch mal alles gut gegangen. Sie hätten sich auch ein paar Rippen prellen können, als das Bett über Ihnen zusammenbrach. Oder sich eine Gehirnerschütterung zuziehen können.“

„Aber Sie würden mich wieder gesund pflegen.“ Piet nickte überzeugt. Enoch reichte ihm seine Hosenträger und die Welt war wieder in Ordnung. „Ich glaube, weil Sie zwei Bestmans sind und wir zwei Van der Vorts, war es am Anfang sehr verwirrend. Es war alles verwirrend heute.“ Piet gluckste. „Aber jetzt sind wir alle Freunde. Ihr nennt uns einfach Piet und Karl.“

Übertreibe es nicht, mein Bruder. Piet hätte sich der Ärztin auch gleich vor die Füße werfen können. In weniger als einem Tag hatte sie seine Loyalität und Bewunderung gewonnen. Verbitterung machte sich in Karl breit. Er hatte sich darauf verlassen, dass Piet ihn bald hier herausholen würde. Doch diese Frau hatte es mit ihrem Charme geschafft, seinen Bruder zu einem ihrer Verbündeten zu machen. Jetzt würde Piet ihn im Notfall auch einen Monat lang hier liegen lassen, nur um einen Grund zu haben, regelmäßig hierherzukommen. Und genau das war wieder einmal Wasser auf Karls Mühlen: Eine hübsche, junge Frau und Medizin passten einfach nicht zusammen.

Kapitel 8

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„Das reicht mir. Ein Mann muss doch seinen Stolz haben dürfen.“ Karl knirschte mit den Zähnen und stieß sich von dem neuen Tisch ab, den sie ihm in die Schmiede gestellt hatten. Er hatte sich darauf gefreut, endlich wieder an die Arbeit zu gehen, aber nicht so. „Das repariere ich nicht.“

Piet sah durch die weit geöffnete Tür auf den hässlichen neumodischen Apparat. „Ich weiß nicht. Es hat doch irgendwie auch Charme, meinst du nicht?“

Karl schnaubte. „Charme?“

„Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters.“ Piet hörte sich jetzt nicht mehr so überzeugt an, nachdem er näher herangekommen war und den seltsamen schwanenförmigen silbernen Wandleuchter nun aus der Nähe betrachtete. Die Tatsache, dass er das Ding nicht einmal anfasste, sprach Bände.

„Der Betrachter ist in dem Fall Mrs Cutter.“

„Ja, jetzt ergibt das einen Sinn.“ Piet zuckte mit den Schultern. „Aber sie bezahlt dich, was willst du mehr?“

Während er den Wandleuchter mit einem Stift antippte, murmelte Karl: „Ich bezahle sie, damit sie es wieder mitnimmt.“

„Du hast einen Deal mit dem Doc gemacht, dass du zwar eigentlich noch nicht wieder arbeiten darfst, dass dir aber Silberschmiedearbeiten zumutbar wären.“

„Zumutbar? Diese Frau weiß doch noch nicht einmal, was das Wort überhaupt bedeutet.“

„Wenn dir die Abmachung nicht passt, kannst du auch gerne wieder verschwinden und dich ins Bett legen.“

„Natürlich passt sie mir nicht.“ Karl blickte finster drein. „Aber ich würde alles tun, um den Händen dieser Frau zu entkommen.“

Grinsend sah Piet den Wandleuchter an. „Wirklich alles?“

„Das war doch dein Vorschlag“, grummelte Karl. „Ich wollte es ja gar nicht.“

„Du bist ein Mann, der sein Wort hält, und du hast gesagt –“

„Erinnere mich einfach nicht, in Ordnung? Dieser Schrott hier ist Erinnerung genug.“ Karl sah sich die Ansammlung von Gegenständen an, mit denen alle aus der Stadt hierhergekommen waren, nachdem sie gehört hatten, dass er diese Arbeiten erledigen würde. Silberschmiedearbeiten, das konnte er machen. Aber Gold? Am besten hätte man manche der Dinge zu einem Goldschmied gegeben, aber hier gab es keinen. Dellen ausbessern, Ketten reparieren, und Gravuren säubern – dass alles würde er schon irgendwie schaffen, wenn er nur immer in Erinnerung behielt, dass Gold so viel weicher war als Silber.

Aber dieser Wandleuchter? Der Schnabel des Schwanes war abgefallen – wahrscheinlich aus Protest, dass er an etwas so Hässlichem befestig war. Karl schob das Projekt erst einmal beiseite. „Das mache ich nicht. Ich lehne ab.“

„Du hast immer zu deinem Wort gestanden, deshalb gibt es keinen Zweifel daran, dass du deinen Verpflichtungen nachkommen wirst.“

„Ja, ja – falsches Lob ist sicherer Spott!“ Karl griff wieder nach dem Schwan. Er ging jeden Schritt in Gedanken durch, bevor er anfing. Er feilte die Kanten ab, bis sie sich gut zusammenfügen ließen, und säuberte sie mit der Beizlösung, dann setzte er sie vorsichtig mit Schweißmittel zusammen und fügte den Lötzinn dazu. Es erforderte seine volle Aufmerksamkeit, mit der Lötlampe im Inneren des Schwanenhalses zu arbeiten. Am Ende polierte er das Silber, damit es wieder schön aussah – jedenfalls so schön, wie etwas so Hässliches überhaupt werden konnte.

Die nächste Arbeit war ein hübsches kleines Werkstück. Es verdiente seine volle Aufmerksamkeit und er wollte es sofort bearbeiten. Doc Enoch hatte es ihm gegeben. Es war der kleine dekorative Anhänger, den die Ärztin ständig am Bund ihres Kleides trug. Ob etwas daran hing oder nicht, schien ihr egal zu sein. Sie trug es immer dort. Die meisten Anhänger waren einfach aus gebogenem Metall, das sich in das Taillenband einhaken ließ, doch dieser hatte eine filigrane Schließe.

Karl studierte jetzt den Mechanismus. Wenn der kleine Riegel nach unten geklappt wurde, schloss sich der Anhänger fest um das Taillenband, aber im Moment war er kaputt. Karl würde sich Gedanken darüber machen müssen, wie er den Schließmechanismus reparieren könnte. Wenn er eine halbrunde Spannfeder anbringen würde, könnte das das Problem beheben, aber er würde eine herstellen müssen … eine besonders kleine, aus sehr starkem Draht. Die Herausforderung stachelte ihn an. Er freute sich über alles, was die Zeit schneller verstreichen ließ. Er hatte der Ärztin versprochen, dass er für die nächsten drei Tage keine schweren Schmiedearbeiten machen würde, wenn sie ihn nur endlich entließ. Da Doc Enoch und Piet an ihrer Seite gestanden hatten, als sie ihm diese Worte abgerungen hatte, war aus einem vagen Zugeständnis ein feierliches Versprechen geworden.

Der Ruß in der Schmiede war nicht gut für Schmuckstücke, deshalb hatten einige Männer Zeltstoff genommen und für ihn eine kleine Kabine gebaut, die weit genug von der Esse entfernt stand. Noch zwei Tage mit diesem Silberkram, dann würde er endlich die verlorene Zeit wieder einholen und von früh morgens bis in die Nacht hinein an der Esse arbeiten.

Zähneknirschend musste er zugeben, dass das Silberschmieden jedoch ein guter Zeitvertreib war, bis er endlich wieder zu Kräften gelangte. Sein Bein heilte gut und jeden Tag spürte er, wie es stärker wurde. Tief in seinem Inneren war er der Ärztin dankbar, dass sie das alles für ihn getan hatte. Dankbar zwar – aber bei Weitem nicht davon überzeugt, dass Frauen Ärztinnen werden sollten. Nach all den Befehlen, die sie ihm erteilt hatte, hätte diese Frau besser zum Militär gehen und dort zum General aufsteigen können.

Doch immerhin hatte sein Bruder seit Tagen keinen einzigen Schluck Alkohol mehr angerührt. Piet schien sich verändert zu haben. Er war … nun, eben anders. Karl hatte ihn nicht darauf angesprochen – er wollte es auch gar nicht – aber er betete und wartete. Piet war kein Mann, den man zu etwas zwingen konnte. Im Gegenteil, wenn Karl etwas gesagt hätte, hätte das Piet vielleicht direkt zurück in den Saloon getrieben.

Während er den Draht für die Feder wand, dachte Karl über die mentalen und körperlichen Probleme nach, die Trunksucht mit sich brachte. Wenn die Verletzung an meinem Bein meinem Bruder dieses Schicksal erspart hat, war es das wert. Karl lehnte sich nach vorne und beobachtete seinen Bruder. Auch wenn die Ärztin mein Bein hätte amputieren müssen, wäre ich damit einverstanden gewesen, wenn es Piets Leben eine andere Wendung gegeben hätte.

Knack! Das Ende der Feder, die er gerade gedreht hatte, brach ab. Tief in Gedanken versunken hatte er zu viele Umdrehungen gebogen, obwohl nur drei oder vier nötig gewesen wären. Er legte die Zange zur Seite und griff nach einem weiteren Draht.

„Ich bringe das rüber.“ Piet lud Querstreben, Scharniere, Pfosten zum Anbinden der Tiere und andere Dinge, die für die Errichtung der Tierarztscheune benötig wurden, in eine Schubkarre.

Mit einem Blick auf die fast kahlen Bäume nickte Karl. „Es gibt gutes Wetter.“

Piet klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Die Ärztin muss diese Woche ein paar Hausbesuche machen. Ich habe ihr gesagt, dass du sie fahren wirst.“

„Wir haben ihr einen Einspänner versprochen, keinen Fahrer.“

Piet runzelte die Stirn. „Wir wissen doch gar nicht, ob sie richtig fahren kann, außerdem weiß sie nicht, wo sie hinmuss. Und selbst wenn das alles nicht der Fall wäre, haben viele etwas gegen eine Frau als Arzt.“

„Ich werde mich da nicht einmischen.“

Piet starrte ihn mit offenem Mund an. „Dein Leben – sie hat es gerettet!“ Er schüttelte den Kopf. „Das Mindeste, was du im Gegenzug für sie tun kannst, ist, sie zu beschützen.“

Was bin ich nur für ein Idiot? Obwohl ich sie für die Operation bezahlt habe, gibt es Schulden, die man nicht mit Geld aufwiegen kann. Es ist wahr. Ich verdanke ihr mein Leben.

Während Karl nachdachte, fuhr Piet mit seiner Tirade fort: „Wenn sie ein Mann wäre und dir das Leben gerettet hätte, würdest du ohne zu zögern mitfahren. Auch wenn du Ärztinnen nicht schätzt, heißt das nicht, dass du undankbar sein musst.“

Karl hielt beschwichtigend seine Hand hoch. „Ist schon gut. Du hast deinen Standpunkt klargemacht. Du hast recht. Ich fahre sie. Aber ich werde sie weder akzeptieren noch ablehnen.“

„Du solltest dich schämen.“ Piet drehte sich um und ging davon.

Karl wandte sich wieder dem Anhänger der Ärztin zu. Es ist nichts Falsches daran, sich einem bestimmten Thema gegenüber neutral zu verhalten. So geht es mir mit der Ärztin. Ich muss mich für mein Verhalten nicht schämen. Ich bin dankbar für das, was sie an mir getan hat – aber sie dürfte diesen Beruf eigentlich nicht haben. Wenn sie sich nur darauf beschränken würde, Frauen zu behandeln, wäre das eine andere Sache.

Er machte sich erneut an die Arbeit, und als er fertig war, war der Schließmechanismus wieder in Ordnung. Jetzt würde die Ärztin da-ranhängen können, was auch immer sie mit sich herumtrug. Die alte Schließe war wahrscheinlich einfach abgenutzt gewesen. Manche dieser Stücke wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Nach der Patina zu urteilen, die sich schon auf dem Silber gebildet hatte, war das hier ein wahrer Schatz.

Die gewölbte ovale Form des Anhängers war nichts Außergewöhnliches, dafür aber die keltischen Ornamente am Rand. In der Mitte war eine Gravur angebracht. Am Fuß eines Kreuzes lag ein Herz.

Mein Herz zu Füßen des Kreuzes legen? Karl wünschte sich, dass das für ihn so einfach wäre, wie die Gravur zu polieren.

Die grobkörnige Paste quoll durch das Tuch, als er sich darauf vorbereitete, das Silber zu polieren. Kein Werkstück verließ die Schmiede, bevor es nicht perfekt war. Zuerst kam die Innenseite. Dort fand er einen Haken, an dem an Markttagen eine kleine Geldbörse für die Münzen befestigt werden konnte. Zum Kirchgang kannte man auch ein mit Rüschen besetztes Taschentuch oder Handschuhe dort befestigen. Seine Mutter und seine Schwester Annika hatten auch solche Anhänger getragen und so immer noch ein kleines Büchlein und einen Stift bei sich gehabt. Das schien ihm auch eine gute Idee für die Ärztin zu sein, deshalb befestigte er noch einen zweiten Haken an dem Anhänger. Er hoffte, dass es ihr gefiel. Immerhin hatte sie sein Leben gerettet.

Ich gebe es ihrem Bruder zurück. Ich will nicht, dass sie denkt, ich hätte Gefühle für sie – vor allem, nachdem sie für mich gesungen hat. Wertschätzung und Zuneigung sind zwei völlig unterschiedliche Dinge.

„Autsch!“ Karl zog seine Hand zurück. Einer der Haken hatte sich unter seinen Fingernagel geschoben. Obwohl fast die gesamte Politurpaste mittlerweile verrieben war, hatte sich ein wenig der Flüssigkeit in die kleine Verletzung unter seinem Nagel verirrt. Jetzt brannte es wie ein Wespenstich. Diese Ärztin wird mir auch einen Stich versetzen, wenn ich nicht wachsam bleibe.

„Was hast du denn jetzt schon wieder gemacht?“, rief Piet hinter ihm.

„Etwas Dummes. Meine Hände sind einfach zu groß für diese kleinen Teile. Das Silberschmieden ist für mich wie damals dieser Clown im Circus, der auf einem winzigen Schaukelpferd geritten ist.“

Das Zischen des Blasebalges verstärkte Piets dröhnendes Lachen. Nachdem er das Feuer angeheizt hatte, kam er zu Karl hinüber und begutachtete die Silberware genau. „Du kannst dich beschweren, wie du willst, aber das Silberschmieden scheint ein Bedürfnis der Leute hier zu sein, das wir vorher noch nicht erkannt haben. Ich glaube, es wäre eine goed idee, wenn wir so was hier öfter machen würden.“

„Hast du dir mit dem Schmiedehammer auf den Kopf geschlagen?“

Mit vor der Brust verschränkten Armen zog Piet finster die Augenbrauen zusammen. „Opa war bekannt für seine Silberarbeiten. Nur weil du unbedingt etwas anderes machen willst, benimmst du dich wie ein beleidigtes Kind. Es ist eine Schande, dass du das Handwerk unseres Opas kritisierst.“

Erstaunt über die harte Reaktion seines Bruders, erhob sich Karl und humpelte auf ihn zu. Der Schmerz in seinem Oberschenkel störte ihn nicht mehr. „Ich wollte doch Opas Fähigkeiten nicht in Frage stellen. Ich habe nur von meiner eigenen Inkompetenz gesprochen. Und wenn es darum geht, die normalen Aufträge zu unterbrechen, um Silberschmiedearbeiten anzunehmen“ – er streckte seine Hand aus und tippte auf einen zentimeterdicken Stapel mit Vorbestellungen –, „kann ich mir einfach nicht vorstellen, wie das gehen soll. Neulich hatten wir einen Streit darüber, an wem die ganze Arbeit hier hängen bleibt. Im Moment lastet alles auf deinen Schultern und –“

„Als älterer Bruder ist es meine Pflicht, mich um dich zu kümmern.“ Plötzlich umarmte Piet ihn so fest, dass Karl fast die Luft wegblieb. „Du bist mein broeder. Du bist alles, was ich habe. Nichts anderes zählt. Wenn ich dich in dieser Nacht verloren hätte, wäre ich mit dir gestorben. Einmal war schlimm genug. Diese Erfahrung will ich nie wieder machen.“

Karl erwiderte die Umarmung jetzt seinerseits. „Es gibt kein Gefühl in mir, das so tief ist wie die Liebe zu dir, broeder.“ Vor Jahren hatte der gewaltsame Tod ihres kleinen Bruders sie beide bis ins Mark erschüttert. Die Trauer fiel nach und nach immer mehr von Karl ab. Wenn es Piet doch auch so gehen würde. „Keiner liebt dich mehr“, – er machte einen Herzschlag lang Pause –, „außer Gott dem Vater.“

Piet erstarrte und ließ seine Arme sinken.

Schnell schloss Karl seine Hände um Piets Schultern, trat einen Schritt zurück und sah seinen Bruder fest an. „Du solltest wissen, dass ich zu störrisch bin, um zu sterben.“

Piet schob seine Hände weg. „Genug geredet. Wir haben beide eine Menge Arbeit.“ Als Karl sich abwandte, um weiterzuarbeiten, fuhr Piet fort. „Opa hat immer bis mittags gewartet und erst dann alles poliert, was er morgens bearbeitet hatte.“

„Dann werde ich das auch so machen.“ Karl hasste es, zuzugeben, wie sehr er den Stuhl vor seiner Werkbank noch brauchte, doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich wieder darauf sinken zu lassen. Die Ärztin hatte ihm ja schon gesagt, dass sein Bein schwach sein würde, aber er fand seinen Zustand immer noch alarmierend.

Ein Ausgleich dafür, dass er Silberarbeiten erledigen musste, war Skylers Nähe. Er saß den ganzen Tag dicht neben Karls neuer Werkbank. Nur wenn Karl mit Chemikalien arbeitete, zog sich der Collie lieber zurück. Es war seltsam für Karl, wie sehr er die Gesellschaft des Hundes schätzen lernte.

Nicht viel später erhob sich Skyler und jaulte auf, um Besuch anzukündigen. Herein kam niemand anderes als die Ärztin. Karl stand sofort auf. „Dr. Bestman, was machen Sie hier?“

„Ich sollte Sie das Gleiche fragen, Mr Van der Vort“, sagte sie, „doch wir haben ja eine Abmachung.“

„Keine gute, aber ich kann damit leben.“

„Ich stimme Ihnen zu. Es war keine gute Abmachung. Es wäre mir lieber, wenn Sie noch nicht arbeiten würden. Da wir nebenan wohnen, dachte ich mir, ich schaue mal vorbei und frage, ob ich etwas für Sie tun kann. Ich dachte, vielleicht könnten wir nach oben gehen und ich schaue mir –“

„Meinem Bein geht es gut. Sie müssen sich nicht länger um mich kümmern.“

Sie warf ihm einen fragenden Blick zu und Verständnis zeigte sich in ihrem Gesicht. „Ich verstehe. Ich bin froh, dass Sie Fortschritte machen.“

„Ja, ich kann schon wieder sehr gut stehen.“

„Ich weiß nicht, wie Sie diese Heldentat vollbringen.“ Humor schwang in ihrer Stimme mit und ihre Augen funkelten. Skyler umkreiste sie und stupste fortwährend gegen ihre Beine.

„Skyler! Nee!“

„Er kann nicht anders. Er ist doch ein Hütehund. Ich verstehe das.“ Sie kam näher an Karl heran und Skyler war offensichtlich stolz auf seinen Erfolg. Die Ärztin lobte den Hund. „Wenn Sie sich vielleicht auf diesen Stuhl setzen würden, kann ich Ihnen ein paar Übungen zeigen, die Ihre verletzten Muskeln stärken werden.“

„Gut.“ Karl setzte sich.

Aus dem Nichts heraus brach sie plötzlich in Gelächter aus. Es war keine von diesen Kicherattacken, die Frauen so oft hatten, sondern ein wundervolles Lachen aus vollem Hals. Er konnte nicht anders, als zu lächeln, und hätte fast mit eingestimmt. Diese Frau hat wirklich Humor, aber was ist so witzig? Die Ärztin hatte Mühe, sich wieder unter Kontrolle zu bringen, und zeigte dann auf den Schwanenwandleuchter. „Ich hätte nicht gelacht, wenn es auch nur die entfernteste Möglichkeit gegeben hätte, dass Sie dieses Ding selbst gemacht haben. Wie konnte sich jemand etwas so Scheußliches einfallen lassen?“

„Es ist ein Alptraum und ich habe meine Zeit damit verplempert, es zu reparieren.“

Mit zur Seite geneigtem Kopf sagte sie nachdenklich. „Vielleicht ist heute der Tag aus dem Märchen, wo das hässliche Entlein zum Schwan wird.“

„Die Ente hätte wenigstens eine leckere Mahlzeit ergeben.“

„Ich kann gar nicht erkennen, wo Sie es repariert haben.“ Sie studierte den Schwan genau.

„Hier am Schnabel.“

Mit geschlossenen Augen ließ sie ihren Finger über das Metall gleiten. „Ich kann nicht einmal etwas spüren.“

„Hm.“ Das war ein guter Trick. Er sollte ihn sich merken. Mit geschlossenen Augen könnte er sich auf jede noch so kleine Erhebung konzentrieren.

Die Ärztin legte ihre Hände auf sein Knie und seinen Oberschenkel. Karl starrte sie an. Im Nullkommanichts war sie von der freundlichen Nachbarin zur professionellen Ärztin geworden. Es war einfach falsch. Er hielt ihre Handgelenke mit seinen Händen fest. „Ihr Bruder – er sollte das tun.“

„Mein Bruder hilft Mrs Orien in der Pension. Es scheint so, als müssten dort ein paar Dinge repariert werden.“

„Lebensmittel – Mrs Orion hat Doc Enoch geholfen, welche einzukaufen.“ Karl nickte knapp. „Ein Tausch. Wir tauschen hier ständig, und jeder versucht, der Witwe entgegenzukommen. Ich kann warten, bis Ihr Bruder da fertig ist.“

Die Ärztin sah ihn streng an. „Mein Bruder behandelt Tiere. Er assistiert mir, wenn es nicht anders geht. Ihnen ist das unangenehm, aber ich bin Ärztin. Deshalb ist es nicht ungebührlich, was ich hier tue, Karl. Sie müssen mir gestatten, das zu tun, damit ich Sie behandeln kann. Noch einmal, der Muskel wurde schwer verletzt und wir wollen doch beide, dass er sich wieder vollständig erholt.“

„Gut.“ Wieder nickte er knapp.

„Konzentrieren Sie sich auf die Stellen, wo meine Hände liegen. Was ich von Ihnen möchte, ist, dass Sie diese Muskeln ganz langsam anspannen, und während Sie das tun, beobachten Sie, wie Ihr Bein gerade wird und Ihr Fuß sich nach oben hebt. Sehen Sie es?“

„Ja.“

„Jetzt will ich, dass Sie das Gleiche noch einmal tun, nur dass dieses Mal Ihre Zehen zur Decke zeigen sollen. Karl, das ist kein Wettrennen. Machen Sie es langsam.“

„Ich will aber, dass es meinem Bein schnell wieder gut geht.“

„Das ist gefährlich. Wenn Sie die Muskeln überanstrengen, weil Sie die Übungen zu schnell machen, könnten sie reißen. Der Quadrizeps ist einer der stärksten Muskeln und Sie sind ein kräftiger Mann. Ich habe die Verletzung mit großer Vorsicht repariert, aber die feinen seidenen Nähte halten keine großen Belastungen aus. Das Muskelgewebe wird wieder heilen, aber nur mit regelmäßigen Übungen werden Sie auch in Zukunft normal laufen können.“ Sie sah ihm in die Augen. „Langsam.“

Er nickte verstehend. Als sie ihm bedeutete, seinen Fuß zu heben, tat er es.

„Halten Sie nicht an, wenn Ihr Fuß in dieser Höhe ist.“ Sie hielt ihre Hand weiter nach oben. „Ich will, dass Sie bis zu diesem Punkt kommen.“

„Mein Bein – ich kann es nicht ganz durchstrecken.“

„Nein, das können Sie nicht. Es scheut sich noch, wie immer zu funktionieren. Aber irgendwann werden Sie es wieder können.“ Plötzlich trat ein schelmisches Funkeln in ihre Augen. Sie beugte sich vor und murmelte: „Jedes Mal, wenn Sie diese Übung machen, sollten Sie sich vorstellen, dass Sie den abscheulichen Schwanenleuchter wegtreten.

„Dann werde ich mich schnell erholen.“

„Das hatte ich gehofft.“

„Gibt es noch andere Übungen, die ich machen sollte?“

Sie zeigte ihm ein paar weitere, dann erstarrte sie plötzlich. „Was machen Sie mit meinem Anhänger?“

„Ihr Bruder hat ihn mir zugesteckt. Vielleicht wollte er nicht, dass Sie sich unnötige Hoffnungen machen, falls ich ihn doch nicht hätte reparieren können.“ Stolz erfüllte ihn, als er das Stück in die Hand nahm. „Aber ich habe es geschafft. Der Anhänger ist wieder so gut wie neu.“

Sie nahm ihn ehrfürchtig entgegen und rieb mit dem Daumen über das keltische Knotenmuster, als müsste sie sich wieder mit einem längst vergessenen Freund bekannt machen. Sie probierte die Schließe aus und betrachtete den Anhänger von allen Seiten. Ein sanfter Blick der Verwunderung lag auf ihrem Gesicht. „Sie haben noch etwas damit gemacht. Die Schließe scheint viel stärker zu sein als vorher.“

„Was auch immer vorher die Spannung aufgebaut hat, war weg, aber es musste ja wieder etwas eingesetzt werden. Also habe ich mir überlegt, was es sein könnte. Ich hoffe, Sie sind zufrieden.“

„Das ist beeindruckend. Der Anhänger ist noch nie so stabil und kräftig gewesen, um all das zu halten, was ich daran befestigen wollte.“

„Wenn Sie wollen, dass die Schließe noch stärker wird, könnte ich sie verformen.“ Er nahm einen Stift und malte etwas auf seinen Tisch. „Sehen Sie? Durch eine andere Form könnte ich mehr Stabilität erzeugen.“ Er zeigte ihr, wie er die Schließe bearbeiten würde.

„Wie ein Blütenblatt.“

„Ja, ja, genau so.“

Sie sah ihn an. „Aber nicht wie der Schnabel eines Schwans.“

„Nein, nein, nicht wie der Schnabel dieses dummen Schwans.“

„Ich würde es sehr schätzen, wenn Sie das für mich tun könnten.“ Ihre Finger wollten den Anhänger nicht hergeben. Die Ärztin zögerte.

„Ich mache es jetzt sofort.“

Dr. Bestman sah sich all die anderen Dinge an, die er noch zu reparieren hatte. „Das wäre nicht richtig. Andere Leute warten auch auf ihre Stücke.“

„Ach, Ihres hatte ich doch noch gar nicht fertig. Keine Arbeit ist fertig, bis sie nicht poliert ist. Ich hatte Ihren Anhänger noch nicht poliert, also war er auch noch nicht fertig.“

Ihr Mund klappte auf. „Sie polieren Silber?“

„Ich poliere alles, was ich mache. Piet!“, rief er. „Piet, polieren wir nicht immer unsere Werkstücke, bevor wir sie als fertig betrachten?“

„Natürlich. Es wäre nicht richtig, sie einfach im rohen Zustand rauszugeben. Wir sind nicht nur Arbeiter, wir sind Handwerker.“

„Ein Handwerksmeister, in der Tat.“ Die Ärztin gab Karl den Anhänger zurück. „Und danke, dass Sie das für mich tun. Ich komme später wieder und hole ihn ab.“

„Das brauchen Sie nicht, Doc.“ Ihre Wärme war auf dem Metall zurückgeblieben und Karl spürte sie nun zwischen seinen Händen. „Ich bringe es Ihnen in die Praxis.“

In diesem Moment stürmte der Bürgermeister in die Schmiede. „Ich bin gekommen, um dich um einen Gefallen zu bitten, Karl.“

„Was denn?“

Der Bürgermeister bemerkte die Ärztin und murmelte etwas über Mediziner und Schweigepflicht. Er verzog das Gesicht und beugte sich zu Karl. „Ich wollte fragen, ob du bitte, ähm …“ Seine Stimme erstarb, als er sich mit der Hand die Augen bedeckte und den Kopf schüttelte, als wollte er einen schrecklichen Gedanken loswerden. Wieder sah er Karl an. „Du hast doch nicht, oder?“, fragte er, und Hoffnung schwang in seiner Stimme mit. „Noch nicht?“

„Was habe ich nicht?“

„Es repariert – meine Frau hat doch die-die-dieses –“

„Reden Sie von dem Schwan?“ Die Ärztin stellte sich jetzt dicht neben Karl.

Der Bürgermeister seufzte und nickte.

Karl erwiderte knapp: „Ja, er ist repariert.“

„Dann kann ich ihn genauso gut mitnehmen.“ Mit starrem Blick betrachtete er den Wandleuchter, dann sagte er, während er die Augen schloss und den Kopf schüttelte: „Ein Geringerer hätte bei dieser Arbeit erblinden können.“

„Bitte entschuldigen Sie, wenn ich das sagen muss, Gentleman. Ein Geringerer hat schon an diesem Stück gearbeitet. Deshalb existiert dieses hässliche Ding überhaupt.“

Obwohl er stolz über ihr Lob war, ließ sich Karl nichts anmerken, nannte seinen Preis und der Bürgermeister bezahlte ihn.

„Ich hoffe, ihr beiden werdet niemandem erzählen, was als Nächstes passiert. Ich bin ein sehr ungeschickter Mann, das weißt du, Karl.“ Der Bürgermeister ging zwei Schritte, ließ den Wandleuchter fallen und sprang darauf herum. Als er ihn wieder aufhob, war er komplett verbogen. Das gesamte Metall war zerquetscht, bis auf den Schnabel des Schwans, der immer noch perfekt in Form war. Bürgermeister Cutter sah zufrieden aus. „Das einzige Problem wird sein, vor meiner Frau einen betrübten Blick aufzusetzen.“

Die Ärztin musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. „Warum haben Sie so etwas überhaupt in Ihrem Haus, wenn Sie es nicht mögen?“

„Edna Mae liebt diese Wandleuchter.“

„Es gibt davon also mehr als einen“, sagte die Ärztin leise.

Karl bewunderte ihre Selbstbeherrschung. Er hätte dieselben Worte fast auch gesagt, aber laut und ungläubig.

Glücklich darüber, ein mitfühlendes Publikum zu haben, nickte der Bürgermeister. „Meine Frau hat zwei von diesen Lampen als Mitgift in die Ehe gebracht. Und sie kann sich aus sentimentalen Gründen einfach nicht davon trennen.“ Er hielt die zerquetschte Lampe wieder hoch. „Jetzt, wo die eine kaputt ist, muss sie die andere von der Wand nehmen.“

Karl und die Ärztin schwiegen. Sie teilten seine Meinung über den Wandleuchter, aber ein Mann, der seine Frau hinterging, war nicht nach ihrem Geschmack.

„Meine Frau mag Symmetrie, und nur ein Wandleuchter wird für sie nicht mehr gut aussehen. Karl, zeig mir etwas Männlicheres, etwas, was du fertigen kannst, solange du noch diese Arbeit machst.“

„Nein. Ich mache das nur noch bis zum Ende der Woche, und bis dahin habe ich viel zu viel zu tun.“

„Ich bin sicher, dass du etwas Einfaches findest … irgendetwas!“ Der Bürgermeister ging zu einem Katalog und blätterte ihn durch. Bei jeder zweiten Seite nickte er und sagte: „Mhm. Oh, das, ja, sehr schön. Sehr schön.“

Die Ärztin warf Karl einen strengen Blick zu. „Sie dürfen sich nicht übernehmen, andernfalls könnte Ihre Wunde wieder aufbrechen und anfangen zu bluten. Die Arbeit, die Sie vor sich haben, ist alles, was Sie im Moment tun sollten.“

Karl wollte sich nicht von einer Frau herumkommandieren lassen. Gefangen zwischen dieser herrischen Frau und dem intriganten Ehemann starrte er beide finster an. „Solange ich hier aufgehalten werde, komme ich überhaupt nicht voran.“

„Kommen Sie, Bürgermeister Cutter. Wenn wir hier nicht verschwinden, wird er seine Arbeit nicht machen können.“ Dr. Bestman klappte das Buch zu, indem der Bürgermeister immer noch blätterte, und drückte ihm den Schwanenwandleuchter in die Hand. Ihre Stimme wurde leiser. „Mit den Schmerzen, die er aushalten muss, ist es ein Wunder, dass er nicht brüllt wie ein wilder Bär.“

Karls Bein schmerzte, aber das würde er nie öffentlich zugeben wollen. Ich werde das nachher mit ihr klären. Ärzte sind doch eigentlich zur Verschwiegenheit verpflichtet.

„Schmerzen?“ Cutter warf Karl einen abschätzenden Blick zu. „Das sind doch nur Vermutungen, junge Frau. Ihm geht es gut. Das zeigt doch nur, wie wenig Ahnung Sie von Medizin haben.“

„Herr Bürgermeister, stellen Sie die Wahrheit meiner Zeugnisse in Frage oder den Wert meiner Erfahrungen?“

„Diplome können gefälscht sein. Genauso wie Empfehlungsschreiben. Und da sich nur so wenig Einwohner von Ihnen behandeln lassen wollen, können Sie noch gar keine Erfahrungen gesammelt haben.“

Die Ärztin schnappte sich ein Blatt Papier von Karls Werkbank und sah aus, als hätte sie den Bürgermeister am liebsten in der nächsten Quelle ertränkt. Sie nahm einen Stift und schrieb mit sicherer Hand nicht weniger als acht Referenzen auf. Dann reichte sie Cutter das Blatt. „Da Sie vor Zeugen meine Integrität, Professionalität und Erfahrung in Frage gestellt haben, verlange ich hiermit von Ihnen, dass Sie sich mit diesen Menschen auseinandersetzen. Bis Sie nicht die Fakten kennen, Mr Cutter, achten Sie auf Ihre Worte. Ich werde für den Moment darüber hinwegsehen, aber wenn sich eine solche Situation wiederholen sollte, werden Sie Probleme bekommen. Als Politiker dürfte Ihnen durchaus bekannt sein, wie mächtig Worte sein können. Ich hoffe, dass wir in Zukunft zum Wohl der Gemeinschaft zusammenarbeiten können.“

Karl musste ihr Respekt zollen. Sie war nicht laut geworden und hatte ihren Tonfall professionell gehalten, und gab dem Bürgermeister sogar noch die Chance, sein Verhalten zu bessern, nachdem er sie eine Lügnerin genannt hatte. Jeder Mann hätte ihn herausgefordert, doch sie hatte ihm ruhig die Tatsachen erläutert und die Stirn geboten, bevor er sie mit Füßen treten konnte.

„Sie könnten mir hier doch sonst was für Namen aufgeschrieben haben.“ Der Bürgermeister ließ den Zettel fallen.

„Unter ihnen zum Beispiel der Dekan der medizinischen Universität von Chicago?“ Die Ärztin zog eine Braue hoch. „Oder die Chefärzte zweier anerkannter Krankenhäuser? Und –“

„Halten Sie den Mund. Einen Mann zu Tode quatschen – das können Frauen. Das ist ein Grund mehr, warum sie niemals Ärzte werden dürfen.“

Während Skyler knurrte, schob Karl die Ärztin schützend hinter sich. „Untersteh dich, deine Stimme gegen diese Dame zu erheben.“

Der Bürgermeister schnaufte. „Gegen Damen erhebe ich meine Stimme auch nicht.“

Jeder Muskel in Karls Körper spannte sich an, um die Ehre dieser Frau zu verteidigen. Da spürte er auf seiner Schulter eine Hand und eine leise Stimme flüsterte: „Ich vergebe ihm.“

„Sie vergeben ihm vielleicht, aber ich nicht.“ Er starrte Cutter weiterhin an. „Raus hier. Sofort!“

„Ich brauche Ihre Vergebung nicht.“ Mit einem letzten Blick auf die Ärztin und an die Brust gepresstem Schwanenwandleuchter verließ Cutter die Schmiede.

Unfähig, sich umzudrehen, ohne seinem Bein zu schaden, zog Karl die Ärztin vor sich. Bevor er auch nur seinen Mund öffnen konnte, stieß sie ihm ihren Finger gegen die Brust. „Ich vergebe diesem aufgeblasenen alten Mann, Karl Van der Vort, aber Ihnen vergebe ich nicht!“