Über das Buch:
Nach der Hochzeit von Katy und Dayne liegt die Zukunft wie ein strahlender Sommertag vor ihnen und der ganzen Baxter-Familie. Doch schon bald ziehen neue dunkle Wolken am Horizont auf: Die Ehe von Dayne und Katy sieht sich heftigen Stürmen ausgesetzt. Kann ihre Liebe dem trotzen? Ashley und Landon erhalten eine niederschmetternde Diagnose für ihr Baby, die die Familie zu spalten droht. Wird ihr Glaube sie durch diese unglaublichen Herausforderungen hindurchtragen?
Und nicht nur für die Baxters ist es ein stürmischer Sommer, sondern auch für das christliche Kindertheater und die Familie Flanigan. Bald fragen sich alle: Wie lange wird es noch dauern, bis das Sturmtief vorübergezogen ist? Und werden sie alle es heil überstehen?

Über die Autorin:
Karen Kingsbury war Journalistin bei der Los Angeles Times. Seit einiger Zeit widmet sie sich ganz dem Schreiben christlicher Romane. Sie lebt mit ihrem Mann, 3 eigenen und 3 adoptierten Kindern in Washington.

Kapitel 8

Das Gebetstreffen sollte gleich beginnen, doch egal wie optimistisch Ashley und Landon zu sein versuchten, war die Stimmung ernst und gedrückt. Ashleys Anruf am vorigen Abend hatte John veranlasst, seine Kinder anzurufen und sie um ihre Gebete zu bitten. Das Gebetstreffen war Karis Idee gewesen. Sie und Ashley hatten bisher noch nicht miteinander gesprochen, doch Kari war zutiefst erschüttert. Genau wie Ashley wollte sie glauben, dass die Diagnose falsch war oder dass, wenn sie doch stimmte, Gott an Ashleys Baby eine wunderbare Heilung vollziehen würde.

Jetzt waren sie im Wohnzimmer des Baxter-Hauses versammelt. Schon so viele Mal zuvor hatten sie sich hier getroffen. Dayne und Katy saßen in einer Ecke neben Kari und Ryan. Brooke und Peter saßen auf dem Sofa ihnen gegenüber und Ashley und Landon setzten sich Seite an Seite auf zwei Stühle aus dem Esszimmer. John saß in seinem Sessel und schaute auf seine Familie. Der Schock fühlte sich so an, wie damals nach dem 11. September oder als sie nach Elizabeths Beerdigung nach Hause gekommen waren.

John erhob sich und ging ein paar Schritte in Richtung Fernsehzimmer. „Ich sehe mal nach den Kindern.“

Ryan und Peter nickten, doch ansonsten reagierte niemand.

John ging durch die Küche in den angrenzenden Raum. Die Kinder sahen einen Zeichentrickfilm und die Lautstärke war so weit heruntergedreht, dass es sie im Wohnzimmer nicht stören würde. Es war acht Uhr abends in einer Schulwoche. Sogar die Kleinen waren ruhig und hatten sich zwischen ihre älteren Cousins und Cousinen in Decken eingekuschelt.

„Alles in Ordnung?“

Cole sah auf und zog die Augenbrauen zusammen. „Warum sind alle so traurig?“

„Wir sind nicht traurig.“ Johns Antwort kam schnell. „Wir wollen nur für deine kleine Schwester beten.“

„Warum nur für sie?“ Cole legte seinen Arm auf die Rückenlehne des Sofas und drehte sich so weit herum, dass er Johns Gesicht genau sehen konnte. „Warum nicht auch für Tante Karis Baby?“

John zögerte. Ashley und Landon hatten Cole nichts weiter gesagt, als dass sie ganz besonders für seine Schwester beten müssten. Doch jetzt hatte Cole ins Schwarze getroffen. „Wir werden auch für Tante Karis Baby beten.“

„Gut.“ Erleichterung füllte Coles Blick. „Für jedes Baby sollte gebetet werden.“ Er wandte sich wieder dem Zeichentrickfilm zu und machte es sich auf dem Sofa gemütlich.

John trat noch ein paar Schritte weiter in das Zimmer hinein. „Ihr Kinder bleibt hier, in Ordnung? Wir brauchen nicht lange.“

Eifriges Kopfnicken im ganzen Zimmer.

Er lächelte den Kindern zu und ging zurück zu den anderen. Wieder überkam ihn diese abgrundtiefe Trauer. Er wusste alles über Anenzephalie. Ja, Gott konnte auf wunderbare, geheimnisvolle Weise Ashleys und Landons Baby heilen, doch so viel wusste er von Neuralrohrfehlbildungen: Die Diagnosen waren so gut wie nie falsch. Und er hatte noch nie von einem einzigen Fall gehört, bei dem ein Baby spontan geheilt worden war.

Er blieb kurz im Flur stehen, um seine Kräfte zu sammeln. Ashley erwartete von ihm, dass er stark war, dass seine Haltung ihre Einstellung widerspiegelte oder noch besser bestätigte. Ihr Anruf am gestrigen Abend war kurz und eindeutig gewesen.

Er konnte immer noch ihre Stimme hören, die keinen Raum ließ für Diskussionen, als sie kurz wiederholte, was sie wusste. „Landon und ich verlassen uns nicht auf diese Diagnose. Wir wollen, dass alle mit uns beten, dass die Ergebnisse falsch sind oder dass das Baby geheilt wird.“ Ihre Worte klangen erstickt und er war sich sicher, dass sie weinte.

Wenn sie seine Unterstützung wollte, dann würde sie sie bekommen. Er musste ihr jetzt noch nicht die klaren Fakten über diese Art von Geburtsdefekt erzählen. Das Problem heute Abend lag nicht so sehr bei Ashley und Landon, sondern bei Brooke.

Brooke hatte bereits versucht, ihn zur Seite zu nehmen, als Ashley damit beschäftigt war, die Kinder ins Fernsehzimmer zu bringen. „Papa, sie muss das nicht durchziehen. Du und ich, wir wissen beide, dass …“

John hatte seine Hände gehoben. Wollte seine älteste Tochter eine Abtreibung vorschlagen? Wenn das so war, dann mussten sie darüber zu einem späteren Zeitpunkt sehr viel ausführlicher reden. „Nicht jetzt. Ashley hat uns gebeten zu kommen, damit wir für ihr Baby beten.“ Sein Tonfall ließ keinen Raum für Diskussionen. „Du und ich können uns später unterhalten.“

Seitdem war Brooke ungewöhnlich ruhig geblieben und flüsterte nur ab und zu mit ihrem Mann Peter, der ebenfalls Arzt war.

John ballte seine Hände zu Fäusten und schloss seine Augen. Hier sind wir wieder, Herr … mit den dunklen, drohenden Wolken der Unsicherheit, die am Horizont auf uns warten. Die Fakten schreien mir ins Gesicht, bitte sei lauter, Gott. Lass mich heute Abend deine Stimme hören, nur deine Stimme.

Er öffnete seine Augen wieder und zwang sich vorzugeben, dass er stark war – stärker, als er sich fühlte. Elaine war heute Abend nicht hier, doch sie betete zu Hause. Sie hatten am frühen Abend telefoniert und er wusste, dass er sich auf ihre Unterstützung verlassen konnte.

Er ging gerade zurück ins Wohnzimmer, als sich die Haustür öffnete und Luke, Reagan und ihre Kinder eintraten. Lukes Augen begegneten Johns Blick, woraufhin sie beide für einen Moment erstarrten. Luke und Ashley hatten als Kinder ein besonders enges Verhältnis gehabt. Obwohl sie sich in den Jahren entfremdet hatten, nachdem Ashley aus Paris zurückgekommen war, war ihre Beziehung in den letzten Jahren wieder sehr eng gewesen.

„Wo sollen die Kinder hin?“

„Ins Fernsehzimmer.“ John nickte über seine Schulter. „Sie schauen sich einen Film an.“

Reagan kümmerte sich um Tommy und Malin, zog ihnen ihre Jacken aus und brachte sie leise in den Raum zu den anderen Cousins und Cousinen.

„Papa …“ Luke kam ein paar Schritte näher. „Ist das wirklich möglich?“

„Ashley denkt, dass es nicht möglich ist.“ John wollte nichts mehr als Ashley von den skeptischen Fragen schützen, die unweigerlich von den anderen gestellt werden würden. Jeder, der sich ein bisschen mit Anenzephalie auskannte, würde vermutlich denken, dass es besser für Ashley und Landon wäre, sich der Wahrheit zu stellen, während sie für ein Wunder beteten.

„Doch was ist mit dir?“ Luke sah aus wie ein gebrochener Mann, als ob er jeden Moment in Tränen ausbrechen würde. „Was denkst du?“

„Dieser Geburtsdefekt ist immer tödlich.“ John hielt seine Stimme gesenkt. „Und die Untersuchungen sind praktisch nie fehlerhaft.“

Luke stemmte seine Hand gegen die Wand vor sich und ließ den Kopf hängen. „Nein.“ Seine Stimme brach. „Wie kann so etwas geschehen?“

Ein paar Sekunden lang antwortete John nichts. Er legte seinen Arm um Lukes Schultern. „Gott hält jedes Leben, jede Seele in seiner Hand. Heute Abend … ist das alles, woran wir uns erinnern müssen.“

Luke seufzte und hob den Kopf. Dann, als ob ihn eine Kraft überkäme, die einen Moment vorher noch nicht da gewesen war, straffte er die Schultern. „Wo ist sie?“

„Im Wohnzimmer mit den anderen.“

Luke ging voraus. John beobachtete, wie er an der Zimmertür stehen blieb und Ashley ansah. Dann, ohne ein Wort zu den anderen zu sagen, eilte er durch den Raum und streckte seine Arme nach ihr aus. „Ash …“

Sie stand auf und ließ sich in seine Umarmung fallen.

Diese Szene erinnerte John an tausend Momente, in denen sich diese beiden gegenseitig in schweren Zeiten unterstützt hatten. Er blinzelte seine Tränen zurück und räusperte sich. „Die Kinder sind versorgt. Lasst uns anfangen.“

Luke setzte sich auf den Fußboden neben Ashley und Landon.
Reagan gesellte sich zu ihm.

John kämpfte gegen den Klumpen in seinem Hals an. „Wir haben so etwas schon früher getan, und ich bin mir sicher, dass wir es auch wieder tun werden. Denn es ist wichtig und macht uns zu einer Familie.“ Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er vermutlich einen Bibelvers aus Johannes 16 ausgewählt, in dem Jesus sagte: „In der Welt habt ihr Angst, aber lasst euch nicht entmutigen: Ich habe die Welt besiegt.“ Doch Landon hatte ihn gebeten, einen Vers aus Lukas vorzulesen.

John griff nach seiner schwarzen Bibel, die immer auf dem Tisch neben seinem Sessel lag. Er blätterte durch die abgegriffenen Seiten, bis er den Vers fand. „Lukas 1,37 sagt uns einfach nur das: ‚Was Gott sagt, das geschieht.‘“ Er starrte noch einen Moment länger auf diese Worte, dann schlug er die Bibel zu und legte sie auf den Tisch zurück.

Landon hielt Ashleys Hand. Er schien entschlossen zu sein, die ganze Last allein zu tragen. „Wir möchten gerne, dass ihr alle euch an diesen Vers erinnert, wenn ihr für uns betet.“ Er nickte energisch, doch die Angst, die in seinen Augen lauerte, war nicht zu übersehen. „Wir haben euch alle hierhergebeten, damit wir gemeinsam laut beten können.“ Er schaute nacheinander in die Gesichter um ihn herum. „Wenn es für euch in Ordnung ist.“

„Ich würde gerne anfangen.“ Luke hatte seinen Arm um Reagan gelegt, doch jetzt wandte er sich ein wenig um und legte seine Hand auf Ashleys Knie.

Die anderen nickten. Im ganzen Raum verbanden sich die Hände zu einem großen Kreis.

Als alle so weit waren, begann Luke. „Lieber Vater, du bist immer bei uns gewesen, ganz egal, in welchen Situationen wir uns befunden haben.“ Seine Stimme klang erstickt und er machte eine kurze Pause. „Bevor Devin geboren wurde, saßen wir alle um Ashley herum und warteten darauf, dass ein Tornado vorüberziehen würde. Du hast uns damals durchgetragen und ich weiß … ich glaube mit meinem ganzen Sein, dass du uns auch jetzt hindurchtragen wirst. Es kommt vor, dass Diagnosen falsch sind, und ich bete, dass das bei dieser Untersuchung der Fall ist. Heute in einem Jahr …“ Seine Stimme brach erneut.

John öffnete die Augen und sah, wie sein Sohn um Fassung rang.

Luke rieb sich die Nase und schüttelte kräftig den Kopf. „Entschuldigung.“ Er räusperte sich zweimal und versuchte weiterzumachen. „Ich bete dafür, dass wir uns heute in einem Jahr wieder in diesem Raum versammeln, um Ashleys und Landons gesundes kleines Mädchen zu bewundern. Danke.“

In der nächsten halben Stunde beteten sie abwechselnd. Dayne betete, dass Gott Ashleys ungeborenes kleines Mädchen heilen würde. Katy wiederholte diese Bitte in ihren eigenen Worten.

Kari war die Nächste, die betete. Sie erklärte, dass sie fest an ein Wunder glaubte und dass sie sich schon auf den Tag freute, an dem ihre und Ashleys ungeborene Tochter miteinander spielen würden. Während sie betete, brach sie in Tränen aus. Doch sie sprach unbeirrt weiter. „Herr, diese beiden kleinen Cousinen hast du von Anbeginn der Welt geplant; davon sind wir überzeugt. Bitte schenke ihnen das Leben, das wir uns für sie erträumen.“

Nur Brookes Gebet enthielt einen leisen Anklang von Akzeptanz und Unvermeidbarkeit. „Herr, wir verstehen deine Wege nicht immer. Danke, dass du uns Möglichkeiten schenkst, wenn wir vor unüberwindbaren Hindernissen stehen.“

Bevor die Gebetsrunde endete, erinnerte sich John an Coles Bitte. „Herr, wir beten auch für Karis und Ryans kleines Mädchen, dass es sich zu einem gesunden Kind entwickelt und wohlbehalten zur Welt kommt.“

Als sie geendet hatten, öffnete John seine Augen und bemerkte, dass Cole und Maddie in den Raum gekommen waren. Sie saßen neben ihren Müttern, ihre Köpfe gesenkt. Manchmal glaubten John und die anderen Erwachsenen, dass die Kinder es nicht bemerkten, wenn sie eine ernste Situation vor ihnen geheim halten wollten. Dass sie es nicht gemerkt hatten, als Elizabeth an Krebs erkrankt oder wie ernst die Situation bei Hayleys Badeunfall gewesen war. Doch als Cole nun den Kopf hob, hatte John keinen Zweifel daran, dass das Kind die Lage erfasst hatte. Ob man es ihm gesagt hatte oder nicht, war egal – er spürte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, dass seine Eltern sich erneut einem furchtbaren Sturm stellen mussten, wenn seine Mutter das Baby zur Welt brachte. Der Beweis war für alle deutlich zu erkennen. Denn Coles Augen waren nicht länger mit der Zuversicht erfüllt, die John vorhin darin gesehen hatte. Sie standen voller Tränen.

Die Erwachsenen erhoben sich, streckten sich und gingen zu Ashley und Landon. Luke und Reagan, Kari und Ryan bemühten sich, sich fröhlich und optimistisch zu geben – wie ihre Gebete.

Doch Brooke ging unauffällig an Ashley vorbei und direkt auf John zu. „Papa, wir müssen reden.“ Sie sah mehr als nur besorgt aus. Sie wirkte beinahe panisch.

Peter warf den beiden einen wissenden Blick zu, als er vorüberging. „Ich hole die Mädchen.“

„Danke.“ Sie lächelte ihn an, doch im gleichen Moment drehte sie sich zu John herum. „Bitte, Papa. Lass uns in die Küche gehen.“

Da Ashley sich gerade noch mit den anderen unterhielt, nickte John. Er folgte seiner ältesten Tochter in die Küche bis in die Ecke neben dem Backofen, wo niemand ihre Unterhaltung hören konnte.

Brooke verschwendete keine Zeit. „Was ich dir vorhin versucht habe zu sagen, ist Folgendes: Ashley hat nicht recht. Die Diagnose ist nicht falsch. Jeder Arzt kann Anenzephalie bei einem einfachen Ultraschall erkennen.“ Sie zitterte, als ob diese Neuigkeiten sie durchschütteln würden. „Das weißt du.“

„Ja.“ Er hielt seine Stimme ruhig und leise. „Doch für jede idiotensichere Diagnose gibt es eine Ausnahme. Manchmal hat der Arzt etwas für eine Fehlbildung gehalten, was in Wirklichkeit eine Reflexion auf dem Bild war oder die Hand des Babys, die den Kopf verdeckte. Du musst zugeben, dass so etwas möglich sein könnte.“

Brooke presste sich ihre Hand auf die Brust. „Es ist möglich, dass die Sonne nicht aufgehen wird, doch es ist nicht sehr wahrscheinlich. Die meisten Menschen planen den morgigen Tag in der Annahme, dass die Sonne aufgeht.“

„Was willst du damit sagen?“ Ärger und Wut stiegen in Johns Seele auf. „Dass wir nicht beten sollten? Dass es für Ashley und Landon falsch ist, um ein Wunder zu bitten?“ Er musterte sie. „Du vor allen anderen, Brooke! Jedes Mal, wenn du Hayley anschaust, solltest du doch eigentlich wissen, dass Wunder geschehen.“

„Natürlich gibt es Wunder. Doch wenn Ashleys Baby Anenzephalie hat, dann entwickelt sich das Gehirn außerhalb des Schädels. Ich habe gestern recherchiert, Papa, und es hat noch nie einen Fall von Anenzephalie gegeben, der spontan geheilt wurde. Noch nie.“

„Ich kenne mich mit Geburtsdefekten aus. Ich war schon Arzt, bevor du geboren wurdest, erinnerst du dich?“

„Natürlich, doch warum sagt ihr niemand, dass sie jetzt – bevor es zu spät ist – eine Abtreibung in Erwägung ziehen sollte?“

„Brooke, hör dich selbst reden! Du hast kein Recht zu …“ Bevor er seinen Satz beenden konnte, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und wandte sich um.

Ashley stand in der Tür. Ihr Mund war weit aufgerissen. „Machst du Witze, Brooke?“ Ihre Augen loderten. Sie ging drei Schritte auf sie zu. Schock und Wut kämpften in ihrer Stimme um die Vorherrschaft. „Du glaubst, dass wir unser Baby jetzt abtreiben sollten, bevor es zu spät ist?“

„Das war nicht für deine Ohren gedacht.“ Die Farbe schwand aus Brookes Gesicht, doch sie wich nicht zurück. „Egal, was du glauben willst, musst du deine Möglichkeiten abwägen, Ash. Das ist alles, was ich sagen will.“

Ein Geräusch, das wie ein freudloses Lachen klang, drang aus Ashleys Mund. „Du glaubst, ich würde eine Abtreibung in Erwägung ziehen? Das glaubst du wirklich?“

Brooke seufzte und versuchte versöhnlich zu klingen. „Menschen, die die Diagnose Anenzephalie erhalten, machen das durchaus. Das ist keine moralische Frage. Babys mit einem solchen Geburtsdefekt werden ohnehin in jedem Fall sterben.“

Ashley sah aus, als würde sie im nächsten Moment ihre Ärmel hochkrempeln und ihre Schwester zu Boden stoßen. „Jeder stirbt ohnehin irgendwann. Stimmt das nicht auch?“ Tränen sprangen aus ihren Augen. „Ich kann mir nichts … nichts Herzloseres als das vorstellen.“

John wollte gerade eingreifen, als Landon eintrat und sich neben Ashley stellte. „Was ist denn hier los?“

„Meine Schwester möchte, dass ich abtreibe.“ Ashley fuchtelte in Brookes Richtung. „Mal eben in der Klinik vorbeischauen und einen kurzen Eingriff vornehmen lassen. Einfach so. Keine weiteren Probleme.“

Brooke warf Landon einen resignierten Blick zu. „Ein hoher Prozentsatz von Frauen lässt Babys mit Anenzephalie abtreiben, um den tiefen Schmerz zu vermeiden. Es ist eine außerordentlich große emotionale Belastung, ein Baby auszutragen, das einen unheilbaren Geburtsdefekt hat. Das ist alles, was ich sagen will.“

Kari und Ryan spähten in die Küche, winkten ihnen kurz zum Abschied und schoben ihre Kinder in Richtung Haustür. Dayne und Katy verabschiedeten sich ebenfalls und Reagan ging ins Fernsehzimmer zu ihren Kindern.

„Was ist passiert?“ Luke kam in die Küche und schaute in die wütenden, verletzten Gesichter.

„Brooke möchte, dass ich abtreibe.“

Bevor Luke antworten konnte, erschienen Peter und die Mädchen in der Tür. Brookes Mann sah aus, als hätte er eine Menge von der Unterhaltung mitbekommen, und warf ihr einen Blick zu. „Wir müssen gehen. Die Mädchen sind müde.“

„Das hast du nicht wirklich gesagt, oder?“ Luke verschränkte die Arme. „Ich meine, wir haben gerade noch für ein Wunder gebetet und dann sagst du Ashley, sie sollte abtreiben lassen?“ Aus dem Blick, den er auf Brooke richtete, sprach Abscheu. „Das ist das Grausamste, was ich je gehört habe.“

„So ist das nicht.“ Peter stand immer noch mit den Mädchen in der Tür, doch offenbar konnte er nicht länger schweigen. „Es ist eine medizinische Abwägung, keine moralische.“

„Das ist nicht wahr.“ Ashley sah aus, als stehe sie kurz vor einem Zusammenbruch.

„Hört zu …“ John hob seine Hände. „Es ist spät und ich denke, wir sind alle sehr ausgelaugt von heute Abend.“ Er legte eine Hand auf Ashleys Schulter und die andere auf Brookes. „Niemand will den anderen verletzen. So läuft das in dieser Familie nicht.“

„Dann sollte Brooke jetzt besser gehen.“ Ashley lehnte sich an Landon. „Ich hatte um Unterstützung für uns gebeten.“

„Gut.“ Brooke drehte sich zu Peter um und machte eine energische Handbewegung. „Wir werden also einfach herumsitzen und auf ein Wunder hoffen.“ Sie hielt inne und sah Ashley noch einmal an. Sie zwang sich, ruhiger zu werden. „Und während ich dabei bin, werde ich für dich und Landon beten. Denn der Weg, der vor euch liegt, wird nicht leicht, Ashley. Wirklich nicht.“

„Danke, Brooke.“ Landon trat dazwischen. Seine Worte trieften vor Sarkasmus. „Für heute Abend haben wir genügend medizinische Ratschläge bekommen.“

Brookes Gesicht fiel bei dieser Antwort in sich zusammen. Ohne ein weiteres Wort ging sie an Peter und den Mädchen vorbei und eilte zur Haustür.

„Brooke, geh nicht so.“ John folgte ihr. „Morgen früh sieht das alles schon ganz anders aus.“ Er wandte seine Aufmerksamkeit den anderen zu. „Wir haben uns getroffen, um zu beten, nicht um zu streiten.“

„Es tut mir leid.“ Peter seufzte und sah Ashley und Landon an. „Brooke hat es nur gut gemeint.“

Ohne sich noch einmal umzudrehen, verabschiedete sich Brooke und ging hinaus, an jeder Seite eine ihrer Töchter. Peter folgte ihnen. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, legte sich ein unbehagliches Schweigen über die Küche.

John war dankbar, dass Cole und Devin wieder zu Reagan, Tommy und Malin ins Fernsehzimmer gegangen waren. Er schob seine Hände in seine Hosentaschen und lehnte sich an die Küchentheke. Er war sich nicht sicher, was er sagen wollte.

„Hast du das gewusst, Papa? Dass Brooke Abtreibung befürwortet?“

John fühlte sich völlig erschöpft. „Ich glaube nicht, dass sie es befürwortet. Ihr wurde beigebracht, dass eine Abtreibung manchmal die beste Lösung ist, wenn ein Geburtsdefekt feststeht.“

Ashley sah schockiert aus. „Du glaubst das aber nicht, oder?“

„Definitiv nicht.“ Er lächelte seine Tochter traurig an. „Ich habe erlebt, welcher Segen ein so kurzes Leben von Babys mit Anenzephalie bewirken kann. Jeder Fall, an den ich mich erinnere, bestätigt die Wahrheit. Dass Gott über unser Leben bestimmt.“

„Gut.“ Luke kam näher und umarmte zuerst Landon, dann Ashley. Als er zurücktrat, legte er seine Hände auf ihre Schultern. „Ich stimme Papa zu. Brooke war taktlos, doch so ist Brooke manchmal. Sie sieht die kalten, harten Fakten.“ Er küsste sie auf die Wange. „Halte dich an deiner Hoffnung fest, Ash. Gott ist größer als das alles.“

„Ich weiß.“

„Vielen Dank.“ Landon nickte Luke zu. Nach wenigen Minuten verabschiedeten sich auch Luke, Reagan und ihre Kinder.

Ashley, Landon und ihre Söhne folgten ihnen kurz darauf. Doch obwohl John Ashley noch einmal bat, nicht wütend auf Brooke zu sein, hatte er das Gefühl, dass die Beziehung zwischen seinen beiden Mädchen beschädigt worden war.

Als alle gegangen waren, rief er Elaine an und berichtete ihr von dem Abend.

Die wichtigste Erkenntnis, die sie gewonnen hatten, war, dass ihnen harte Zeiten bevorstanden, egal wie sehr sie beteten. Ashley hatte in zwei Wochen eine weitere Ultraschalluntersuchung, und wenn damit die Diagnose Anenzephalie bestätigt würde, könnte nur noch ein Wunder das Baby retten. Zugleich gab es aber noch ein anderes, größeres Problem, von dem John vor dem heutigen Tag nicht gewusst hatte, dass es überhaupt existierte. Das Problem lag bei seiner ältesten Tochter, einer intelligenten und gebildeten jungen Frau, die ihr Leben zwar unter die Herrschaft von Jesus Christus gestellt hatte, deren Wertvorstellungen aber nicht mit der Wahrheit übereinstimmten. Eine Veränderung ihres Denkens würde höchstens allmählich vor sich gehen, besonders in Anbetracht der Dinge, die Brooke während ihres Studiums gelernt hatte. Dieser Konflikt könnte Ashley und Brooke für eine lange Zeit entzweien. Vielleicht sogar für immer. John erklärte Elaine dies alles und sie musste ihm recht geben. In den Wochen und Monaten, die vor ihm lagen, würde John nicht nur für ein Wunder beten, sondern für zwei.

Kapitel 9

Sie waren sich alle einig, dass sie die Neuigkeiten über Ashleys Baby vorerst für sich behalten wollten. Also war Katy an diesem Freitag, als das Vorsingen für das christliche Kindertheater stattfand, gezwungen, sich so zu verhalten, als ob alles in Ordnung sei. Doch in Wahrheit fühlte sie sich unbehaglich. Und das aus mehr als einem Grund. Sie und Dayne würden sich das Vorsingen anschauen, doch zum ersten Mal, seit sie in Bloomington war, würde sie nicht in der Jury sitzen. Die Entscheidungen würden von Rhonda, Chad und Bethany getroffen. Bailey Flanigan würde dabei helfen, die Aufführung zu choreografieren, doch da sie selbst vorsingen wollte, konnte sie nicht Mitglied der Jury sein.

Katy saß in der ersten Bank mit Dayne an ihrer Seite. Vielleicht war es gar nicht so sehr Unbehagen, was sie verspürte, sondern vielmehr das Gefühl, dass sie die Kontrolle verlor. Ihre Schwägerin stand vor einer unglaublich harten Zeit, während sie einfach nach Los Angeles und Mexiko verschwinden würde, ohne sich darum zu kümmern. Und das alles, während das Kindertheater seine letzte Aufführung in Angriff nahm. Womöglich die letzte Aufführung für immer.

„Denkst du gerade an Ashley?“ Dayne beugte sich dicht zu ihr. Die Kinder waren großartig und belästigten ihn nicht wegen Autogrammen. Sie hatten sich inzwischen an ihn gewöhnt und verhielten sich ihm gegenüber so wie bei allen anderen Erwachsenen. Diese ganz normale Atmosphäre war für Katy an diesem Nachmittag das Einzige, was sie ein wenig entspannen ließ.

„Ich versuche, es nicht zu tun.“ Katy kuschelte sich enger an ihn. Ashley hatte bereits erklärt, dass sie dieses Mal nicht für die Bühnenbilder zur Verfügung stehen würde. Außerdem hatten sie noch niemanden, der die Verantwortung für die Musik übernehmen würde, da Al und Nancy Helmes bereits weggezogen waren. Das alles gemeinsam mit den Komplikationen in Bezug auf Ashleys Schwangerschaft und dem drohenden Verlust des Theaters war genug, um Katy schwindelig zu machen. Sie runzelte die Stirn. „Wenn ich nicht an Ashley denke, dann denke ich hierüber nach. Wie alles auf einmal zu Ende geht.“

„Wenn ich mit meinem Filmvertrag fertig bin, dann kommen wir zurück.“ Er sprach leise und dicht an ihrem Gesicht. „Wir könnten uns ein Grundstück kaufen und darauf unser eigenes Theater bauen und nie wieder aus Bloomington weggehen.“

Sie lachte, doch sie hörte selbst die Enttäuschung, die darin mitschwang. „Du würdest damit nicht glücklich werden.“ Sie wandte sich um und sah ihm direkt ins Gesicht. „Selbst wenn du aufhörst, in Filmen mitzuspielen, möchtest du gerne Regie führen. Das hast du mir schon gesagt.“

„Ich habe aber auch gesagt, dass ich das Ganze hinter mir lassen und mich aus dem Rest des Vertrages freikaufen würde.“ Er rieb seine Nase an ihrer. „Ich meine es ernst, Katy. Glaube nicht, dass das hier das Ende des christlichen Kindertheaters bedeutet. Du weißt nie, was Gott für die Zukunft plant.“

Trauer legte sich über ihre Schultern wie ein nasses Handtuch. „Doch die Wahrheit ist, dass es jetzt zu Ende ist. Für fünf Jahre oder für immer.“

Sein Gesichtsausdruck machte deutlich, dass er dem nicht widersprechen konnte, doch er holte tief Luft und lächelte. „Dann lass uns dieses Vorsingen genießen.“ Er stupste sie mit dem Ellbogen in die Seite. „Ich kann immer noch nicht fassen, dass sie mich nicht vorsingen lassen. Ich sehe keinen Tag älter als achtzehn aus.“

Katy kicherte und ein Teil ihrer Trauer verschwand. Das Leben mit Dayne würde immer ein Abenteuer sein, doch sie würde nie an seiner Liebe zu ihr zweifeln. Sie liebte es, wie es ihm gelang, einen traurigen Augenblick in etwas zu verwandeln, das sie gemeinsam schaffen würden.

Der Geräuschpegel um sie herum wurde immer lauter, als die Kinder in die Sakristei strömten. Sie versammelten sich in Grüppchen. Einige von ihnen sangen Passagen aus ihren einminütigen Vortragsliedern, andere gingen noch einmal die Liedtexte durch. In der letzten halben Stunde war fast jeder bei Katy und Dayne stehen geblieben, um sich ein bisschen Aufmunterung abzuholen oder sie kurz zu begrüßen. Der letzte Infobrief des Kindertheaters hatte die Neuigkeit enthalten, dass Katy nach Hollywood gehen würde, um mit Dayne einen Film zu drehen, also gratulierten ihr viele der Kinder.

„Ich kann nicht glauben, dass du ein Filmstar wirst!“ Bailey Flanigans Umarmung dauerte länger als die der anderen. Neben ihr stand Cody Coleman, der Footballspieler, der bei den Flanigans wohnte. Er hatte Bailey hergefahren, um bei ihrem Vorsingen dabei zu sein. Er lächelte, doch er überließ Bailey das Reden. Sie erzählte etwas davon, wie sehr sie Katy vermissen würde und dass sie besser nicht zu lange wegbleiben sollte. „Und lass nicht zu, dass es dich verändert!“ Bailey drohte Katy mit dem Finger und grinste.

Diese Ermahnung war scherzhaft gemeint, denn keiner aus der Flanigan-Familie machte sich ernsthaft Sorgen, dass Katy sich von der gesteigerten Aufmerksamkeit oder Popularität verändern lassen würde. Katy hatte ihnen versichert, dass Bloomington ihr Zuhause war und bleiben würde, ganz egal, wie lange das Abenteuer, Filme zu drehen, dauern oder wie weit es sie wegführen würde.

Bailey ging weiter. Katy sah zu Rhonda hinüber, die sich ein paar Meter entfernt neben Chad Jennings an den Tisch der Jury setzte. Wieder sahen sie so vertraut miteinander aus, wenn ihre Blicke sich trafen.

Katy sprang auf. „Ich bin gleich wieder zurück.“ Sie rannte zu Rhonda. „Hast du alles im Griff?“

„Ich glaube schon. Bist du dir sicher, dass du nicht doch die Begrüßung machen willst?“

„Du leitest diese Aufführung.“ Sie umarmte ihre Freundin kurz. „Ich bin hier, wenn du irgendetwas brauchst.“

„Ich glaube, du wirst begeistert sein von dem, was Rhonda sich überlegt hat.“ Chad tippte auf das Notizbuch auf dem Tisch. „Sie ist brillant.“

Rhonda gab ihm einen spielerischen Schubs. „Die Hälfte der Ideen kommt von dir.“

„Nun …“ Er grinste sie an. „Man könnte auch sagen, dass wir ein gutes Team sind.“

Plötzlich fragte sich Katy, wie die Zukunft des christlichen Kindertheaters tatsächlich aussehen würde. Selbst wenn sie irgendwie ein Grundstück kaufen und ein neues Theater bauen könnten, würden es vermutlich nicht sie und Dayne sein, die die Leitung übernahmen. Sondern diese beiden. Ihre Begeisterung für das Kindertheater stand außer Frage und sie würden mehr Zeit für die Kinder investieren können, als Katy und Dayne es könnten.

Das Gefühl, überflüssig zu sein, breitete sich in Katy aus, das Bewusstsein, dass sie hier nicht länger gebraucht wurde. Dieses Gefühl sollte eigentlich eine Bestätigung für sie sein, dass sie das Richtige tat, indem sie Dayne nach Hollywood folgte und mit ihm einen Film drehte. Doch stattdessen kehrte die Traurigkeit wieder zurück. Tapfer lächelte sie Rhonda und Chad an. Als sich Bethany ebenfalls an den Tisch setzte, kehrte sie zu Dayne zurück.

Rhonda bat um Aufmerksamkeit und begann ihre Begrüßung, indem sie Katy und Dayne erwähnte. „Die meisten von euch wissen bereits, dass unsere Katy Matthews gemeinsam mit ihrem Mann Dayne in seinem neuesten Film mitwirken wird!“

Lauter Jubel brach aus. Die Kinder und ihre Familien im ganzen Raum applaudierten begeistert. Einige riefen: „Prima, Katy!“ und „Du schaffst das!“

Rhonda lächelte Katy zu und wartete, bis der Applaus allmählich verstummte. „Katy wird bei den meisten Aufführungen nicht dabei sein können, doch zum Abschlusswochenende wollen sie beide hier sein.“ Sie hob ihre Augenbrauen und sah Katy und Dayne fragend an. „Stimmt doch, oder?“

„Auf jeden Fall.“ Katy wandte sich um, sodass sie die Menge hinter sich sehen konnte, und hob ihre Stimme. „Ihr strengt euch besser an!“

Erneut lauter Jubel, doch dann wurde Rhonda ernst. Das war immer das Schwierigste bei einem Vorsingen des christlichen Kindertheaters – die Konzentration der Kinder zu fordern, wenn sie so aufgeregt waren, dass sie kaum stillsitzen konnten. Sie bat alle darum, höflich und zuvorkommend zu sein und während des Vorsingens nicht zu reden oder den Raum zu verlassen, außer in den kurzen Pausen zwischen zehn Kindern.

Katy starrte auf den Boden vor sich und hörte kaum etwas von Rhondas Worten. Stattdessen sah sie vor ihrem inneren Auge hundert andere Vorsingen, die hier im Laufe der Jahre stattgefunden hatten. Die atemberaubende Vorstellung von Sarah Jo Stryker, die ihr die Rolle als Becky in Tom Sawyer eingebracht hatte, oder das Lied, das sie für die Rolle in Annie vorgesungen hatte – an dem Abend, an dem sie und Ben, ein anderer Junge aus dem Kindertheater, bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, weil ein betrunkener Autofahrer frontal in das Auto gerast war, in dem sie saßen.

Katy dachte an die Lieder, die die Flanigan-Kinder und Dutzende andere vorgesungen hatten, zum Beispiel der Junge, der eine Schwimmmaske getragen und „Rubber Duckies“ gesungen hatte. Sie dachte an die Augenblicke, in denen jemand seinen Text vergessen hatte und mitten im Lied hatte abbrechen müssen, nur um dann von den anderen Kindern getröstet zu werden, die deutlich machten: Um beim christlichen Kindertheater geliebt und akzeptiert zu werden, kommt es nicht darauf an, wie gut man vorsingen kann.

Es hatte dieses eine Vorsingen von einem Mädchen gegeben, das ein Meerjungfrauen-Kostüm getragen hatte und beim Betreten der Bühne die letzte Stufe verfehlt und gestolpert war. Das Kostüm hatte es ihr unmöglich gemacht, allein wieder auf die Füße zu kommen. Doch so schrecklich dieser Moment für das Mädchen auch gewesen war, hatte es sich doch durchgekämpft und war eine der besten Sängerinnen geworden. Sie, die vorher so schüchtern gewesen war, konnte jetzt über den Vorfall lachen, denn nichts, was ihr noch auf der Bühne passieren konnte, würde jemals so peinlich sein wie jener Auftritt.

Katy sah das alles vor sich. Jeder einzelne Vortrag lief noch einmal vor ihrem inneren Auge ab.

Rhonda klatschte. „Okay, jetzt kommen bitte die ersten zehn zu den Stühlen, die hier vorne stehen.“

Tim Reed – immer einer der Ersten, die bei den Vorsingen auftraten – war bei der Gruppe der Kinder, die sich ihren Weg nach vorne bahnten. Er war siebzehn, hatte also nur noch ein Jahr, um im Kindertheater mitzumachen, selbst wenn das Theater nicht verkauft werden sollte.

Dayne musste spüren, wie Katy sich gerade fühlte, denn er nahm ihre Hand und lehnte sich ein wenig dichter an sie.

Das erste Kind, das auf die Bühne trat, war ein achtjähriges Mädchen, das keinen Tag älter als fünf aussah. Sie trug ein schwarzes Samtkleid und ihre blonden Haare waren zu einer hübschen Frisur aufgesteckt.

Sobald sie an den Rand der Bühne trat, ließen die Kinder im Publikum ein lautes „Ahhh“ hören.

„Hallo.“ Sie grinste. „Mein Name ist Tatum Selby.“

Rhonda lächelte und hob ihre Hand, um die Kinder im Publikum zum Schweigen zu bringen. „Okay, Tatum, was willst du singen?“

„,Jesus liebt mich.‘“ Auf das Gesicht des Mädchens trat ein engelsgleiches Lächeln.

Ihre Stimme war klar und wunderschön. Alles, was Katy denken konnte, war: Wo würde ein Kind wie dieses einen Platz finden, um zu singen und Theater zu spielen, wenn es das christliche Kindertheater nicht mehr gab? Tränen traten in ihre Augen, doch sie drängte sie zurück. Sie hatte sich fest vorgenommen, heute nicht zu weinen, sondern sich auf die schönen und spannenden Momente zu konzentrieren.

Doch die Frage blieb.

Als Tatum fertig war, betrat Tim Reed die Bühne. Er warf Katy ein trauriges Lächeln zu, ein Lächeln, das ihr bedeutete, dass er sich genauso fühlte wie sie. Nicht weil er wusste, dass das Theater verkauft werden sollte, sondern weil er nur noch wenige Aufführungen vor sich hatte, bevor er zu alt für das Kindertheater war. Tim war beim Kindertheater dabei gewesen, seitdem Katy die Gruppe begonnen hatte. Dies würde seine erste Aufführung ohne Katy.

Sie erwiderte das Lächeln, während sich immer mehr Tränen in ihren Augen sammelten. Sie nickte ihm zu und bedeutete ihm, dass sie an ihn glaubte. Er konnte das ganze Theater mit seinen Liedern füllen und würde die Gruppe in die richtige Richtung lenken, ob sie nun hier war oder nicht.

Tim sang eine Ballade aus Les Misérables. Vom ersten Wort an war der ganze Raum elektrisiert von seiner Präsenz. Er hatte im vergangenen Jahr Gesangsunterricht genommen. Die Anweisungen seiner Gesangslehrerin, was die Aussprache der Worte oder die täglichen Übungen betraf, hatte er offensichtlich sehr ernst genommen.

Doch es war nicht nur seine Stimme, die Katys Atem zum Stocken brachte. Es war noch mehr. Da war eine Tiefe in seinen Augen, die man nicht vortäuschen konnte. Bailey hatte sich beschwert, dass Tim ihr in letzter Zeit nicht viel Aufmerksamkeit schenkte. Doch Katy hatte sich vor dem Vorsingen mit seiner Mutter unterhalten.

„Tim nimmt seinen Glauben jetzt noch ernster“, hatte sie gesagt.

Das musste der Unterschied sein. Als Tim mit seinem Lied fertig war und die Bühne verließ, hatte Katy keine Zweifel daran. Es konnte niemanden geben, der besser für die Rolle des Jesus in Godspell geeignet war als Tim Reed.

Rhonda warf Katy über ihre Schulter einen Blick zu und hob ihre Augenbrauen. Sicherlich empfanden sie und die anderen Juroren genau das Gleiche.

Dayne beugte seinen Kopf dicht zu Katy. „Jesus?“, flüsterte er.

„Definitiv.“

Sie tauschten ein Lächeln und Katy zwang sich, den Augenblick zu genießen. Die Zukunft sah für das christliche Kindertheater sehr düster aus, doch was die nächsten zehn Wochen betraf, so hatte sie das untrügliche Gefühl, dass etwas ganz Besonderes passieren würde für Rhonda und Chad und alle, die an der Aufführung von Godspell beteiligt waren.

Sie wünschte sich nur, dass sie dabei sein und es miterleben könnte.

* * *

Bailey hatte Gänsehaut an den Armen, als Tim Reed sein Lied beendet hatte. Sie und einige andere Mädchen im Teenageralter sprangen auf und applaudierten lautstark, als er fertig war und sich wieder setzte.

Ihr ging heute eine Menge durch den Kopf. Ihre Freundin Marissa schlief immer noch mit ihrem Freund, außerdem hatte es den Anschein, als sei mit Ashley Blakes Baby etwas nicht in Ordnung. Und außerdem war sie sich nicht sicher, was sie mit ihren Gefühlen für Cody tun sollte. Er war freundlicher denn je, besuchte immer noch seine Therapiegruppe und konzentrierte sich auf die Schule. Und er hatte vor, am Ende des Sommers in ein Ausbildungslager der Armee zu gehen. Doch irgendetwas geschah zwischen ihnen, eine Annäherung, die keiner von ihnen geplant hatte.

Während diese Gedanken um ihre Aufmerksamkeit kämpften und der Konzentration auf ihr eigenes Vortragslied wenig Platz ließen, half ihr Tims Lied, sich zu sammeln. Er würde mit Sicherheit die Rolle des Jesus erhalten. Und das passte auch, da er Gott mittlerweile offenbar viel näher gekommen war als früher.

Als sie sich setzte, fing sie Codys Blick auf. Er hatte seine Arme verschränkt und wirkte irgendwie abwesend.

Bailey stupste ihn an und hielt ihre Stimme so leise, dass nur er sie hören konnte. „Stimmt was nicht?“

„Alles okay.“ Er hielt seine Aufmerksamkeit nach vorne gerichtet, wo ein weiteres Mädchen die Bühne betrat.

„Irgendetwas ist doch.“ Sie sah sich verstohlen um. Wenn Rhonda oder Bethany ihr Flüstern hörten, würde sie rausgeworfen. „Warum hast du die Arme verschränkt?“

Ein langer Seufzer kam von Cody, als er ihr endlich in die Augen schaute. Sein Frust schien wegzuschmelzen. „Ich wünschte nur, ich könnte auch singen; das ist alles.“

Bailey zögerte. „Oh.“ Sie setzte sich gerade hin und verfolgte das nächste Vortragslied. Cody wünschte, er könnte singen? War das nicht wieder ein Hinweis darauf, dass er sie mochte, so wie sie ihn auch mochte? Er musste eifersüchtig sein auf ihre Reaktion auf Tims Lied. Dieser Gedanke blieb hängen. Sie machte sich innerlich eine Notiz, später mit Cody über seine Gefühle zu sprechen.

In letzter Zeit kreisten ihre Gedanken und ihr Interesse ausschließlich um Cody, doch sie hatte es geschafft, ihre Gefühle zu verbergen. Ihre Eltern wollten immer noch nicht, dass sie mit Cody ausging – besonders nicht, da er bei ihnen wohnte. Und außerdem wollte er bald zur Armee. Auf Tim musste er nun wirklich nicht eifersüchtig sein. Tim war nie an ihr interessiert gewesen. Nicht wirklich.

Die nächste Stunde verging rasch, während zahlreiche außergewöhnlich gute Vortragslieder dargeboten wurden. Mindestens vier der älteren Mädchen hatten gute Aussichten, die Rolle der Frau zu bekommen, die beim Ehebruch erwischt worden war – eine Rolle, die zwei Solos beinhaltete. Bailey warf einen letzten Blick auf ihre Noten. Sie wollte „Once Upon a Time“ aus dem Musical Brooklyn singen.

Bevor sie mit den anderen Kindern, die in ihrer Gruppe waren, nach vorne ging, drückte Cody ihre Hand. „Du wirst das großartig machen.“

„Danke.“ Sie grinste ihn an. Plötzlich fühlte es sich an, als suchte ein Vogelschwarm gerade einen Ausweg aus ihrem Magen. Ihre Knie schlotterten, als sie einen Schritt von ihm wegging.

„Hey.“

Bailey blieb stehen.

„Ich bete für dich.“

Seine Worte wärmten ihr Herz. „Danke.“ Sie ging nach vorne. Als sie sich setzte, bemerkte sie, dass ihre Eltern und ihre Brüder sich ebenfalls weiter nach vorne setzten. Ihre Mutter winkte ihr kurz zu und sie winkte zurück.

Als Bailey mit dem Vorsingen an der Reihe war, war in ihrem Kopf kein Platz mehr für andere Gedanken. Das Lied war wie für sie geschrieben – es handelte von dem Traum, dass irgendwo ein märchenhaftes Leben auf sie wartete. Dass sich eines Tages alle Dinge, die sie jetzt noch verwirrten, klären würden und sie ein Leben führen würde, wie ihre Eltern es hatten. Oder wie Ashley und Landon Blake oder Katy und Dayne.

Während sie sang, spürte Bailey, dass dieses Vorsingen eines ihrer besten war. Als sie fertig war, jubelten ihre Freunde ihr zu. Die vertrauten Gesichter vor ihr gehörten zu den Kindern, die auf der sicheren Seite waren, um die sie sich keine Sorgen machen musste. Sie gingen nicht zu ausschweifenden Partys und hatten dieselben Glaubensgrundsätze verinnerlicht wie sie – bei ihnen war es nicht etwas, worüber sie nur sprachen und dann ihr Leben nach ganz anderen Werten lebten.

Für einen Augenblick fragte sie sich, wo sie alle wären, wenn es das christliche Kindertheater nicht gäbe. Die Theatergruppe gab ihnen die Möglichkeit, ihre Beziehungen zu pflegen und sich zu versichern, dass sie nicht allein waren in ihrem Bemühen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Danke, Gott, betete sie im Stillen, als sie Rhonda und Katy anlächelte und zu ihrem Platz zurückging. Danke für das Kindertheater. Wir brauchen es hier so dringend.

Bevor sie ihre Reihe erreichte, trafen ihre Augen Tims. Sein Lächeln verriet ihr, dass er stolz auf sie war. Sie war froh. Egal, was in den kommenden Monaten zwischen ihr und Cody passieren würde, war ihr Tims Freundschaft wichtig. Sie bewunderte ihn in so vielen Dingen.

Als sie sich auf ihrem Platz niederließ, lehnte sich Cody zu ihr herüber und legte einen Arm um ihre Schultern. „Gut gemacht.“

„Danke.“

Bailey war immer noch erleichtert, dass ihr Vorsingen so gut gelaufen war, dankbar, dass sie weder die Worte vergessen hatte noch ihre Stimme unsicher gewesen war, als sie ein leises Vibrieren in ihrer Hosentasche spürte. Sie griff hinein und zog ihr Handy heraus.

Es war eine SMS von Marissa. Ich habe einen Test gemacht. Positiv. Bete für mich. Ich weiß nicht, was ich tun soll.

Bailey schnappte nach Luft. Einen Test? Sie las die Nachricht noch einmal und dann noch einmal. Einen Schwangerschaftstest? Redete Marissa davon? Baileys Magen drehte sich um, als sie ihr Telefon zuklappte. Marissa Young, ihre Freundin aus dem Kindergottesdienst, war schwanger? Mit siebzehn?

Cody warf ihr einen neugierigen Blick zu und nickte in Richtung ihres Handys.

Sie schüttelte den Kopf und bedeutete ihm mit ihrem Blick, dass sie später mit ihm darüber reden würde. Doch im gleichen Moment fühlte sie, wie ihr Herz brach. Wenn es wirklich das war, was Marissa ihr sagen wollte, dann würde sich das Leben ihrer Freundin für immer ändern. Marissas Eltern wären mit Sicherheit am Boden zerstört.