Über das Buch:
Miranda DeSpain ist eine richtige Weltenbummlerin. Spanien, Italien, Frankreich – diese Länder lassen ihr Herz höherschlagen. Doch was niemand weiß: Ihre permanente Sehnsucht nach dem Neuen wurzelt in einer furchtbaren Tragödie. Mit 16 schwanger geworden, hatte ihre Mutter sie gezwungen, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Nicht einmal sein Geschlecht durfte sie erfahren. Noch heute, Jahre später, treibt dieser Verlust Miranda um und lässt sie nirgendwo langfristig Fuß fassen.
Als Miranda unverhofft auf einen Hinweis stößt, der sie zu ihrem Kind bringen könnte, gibt es für sie kein Halten mehr. Ihre Spur führt sie direkt in das kleine Städtchen Abingdon. Die schrulligen Einwohner und die quirlige kleine Eden machen es ihr leicht, sich dort heimisch zu fühlen. Doch mit ihrer Suche kommt sie nur mühsam voran. Außerdem hat es der örtliche Polizeichef auf sie abgesehen. Er macht ihr das Leben schwer und verfolgt sie auf Schritt und Tritt.
Trotzdem gibt Miranda nicht auf. Sie weiß: Dies ist ihre letzte Chance. Dies ist ihre Gelegenheit, die Puzzleteile ihres Lebens zu einem vollständigen Bild zusammenzufügen und endlich nach Hause zu kommen.
Eine zu Herzen gehende Geschichte über Liebe und Gnade, Vergebung und die immerwährende Chance auf einen Neuanfang.

Über die Autorin:
Mit ihren Romanen berührt Linda Nichols auf einzigartige Weise die Herzen
ihrer Leser. Bereits ihr christliches Romandebüt war für den Christy-Award nominiert. Zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern lebt sie in Tacoma, Washington.

7

Joseph fühlte sich seltsam berührt, als er das Haus seines Bruders David zum ersten Mal betrat. Er hatte den Schlüssel bei einem Nachbarn abgeholt, wie er es mit Sarah vereinbart hatte. Doch als er nun die Tür aufschloss, fühlte er sich wie ein Fremder, wie ein Eindringling, dessen Anwesenheit eigentlich nicht erwünscht war. Für einen Moment hatte er sogar ein schlechtes Gewissen. In den vergangen zwölf Jahren war er noch nie hier gewesen und auch jetzt hatte sein Besuch etwas Unwirkliches an sich. Wie ein Zuschauer in einem Theaterstück sah er sich im Haus um, während er auf Eden wartete. Sie hatte die letzte Nacht bei Freunden der Familie übernachtet, aber nun würde er sie mit nach Abingdon nehmen.

Während seines Rundgangs hatte er plötzlich das Gefühl, in seine Polizistenrolle zu schlüpfen – als sammelte er Indizien, um sich ein genaueres Bild davon zu machen, was aus David und seiner Frau im Lauf der Jahre geworden war. Hatten sie sich in ihrem Wesen verändert?

Im Haus war offensichtlich ein künstlerisch begabter Mensch am Werk – er wusste, das konnte nur Sarah sein. Sie hatte schon immer einen Sinn für das Schöne gehabt. Die Wände waren in kräftigen Farben gestrichen – das Wohnzimmer rot, die Küche in Goldtönen. Er selbst hatte wenig Ahnung von Wohnraumgestaltung, aber alles hier schien sehr wertvoll und mit viel Geschmack zusammengestellt worden zu sein. Die gesamte Einrichtung hatte für ihn etwas edles, ja fast königliches an sich.

Sie hatten bereits für Weihnachten dekoriert, allerdings mit fast unerträglicher Sorgfalt. Der künstliche Baum war perfekt abgestimmt von oben bis unten in Lila und Gold geschmückt. Selbst die Geschenke darunter waren in die passende Goldfolie mit violetten Schleifen gewickelt. Unwillkürlich musste er an den Weihnachtsbaum denken, den seine Mutter immer aufgestellt und geschmückt hatte – eine große Tanne aus dem Wald mit Baumschmuck, bei dem bis heute nicht ein Stück zum anderen passte. Jeder Gegenstand eine Erinnerung an dreißig Jahre Vorschulunterricht und zwanzig Jahre Campingplatz in den Sommermonaten. Unter dem Baum hatte stets ein selbstgemachter Quilt gelegen, der von kunterbunt eingepackten Geschenken bedeckt gewesen war.

Er wandte sich ab und ging in die Küche. An einer Stelle lag etwas auf dem Boden verstreut. Er beugte sich vor, um besser erkennen zu können, was es war. Schalen von aufgeknackten Körnern und Samen. Er blickte nach oben. An der Decke darüber befand sich ein Haken, offenbar für einen Vogelkäfig. Vermutlich kümmerten sich die Nachbarn um das Tier. Sarah war in aller Eile aufgebrochen und der Boden war darüber einfach in Vergessenheit geraten.

Er ging zu der Fotowand im Flur – einer Mischung aus Familienschnappschüssen und professionellen Aufnahmen vom Fotografen. Alle Bilder waren geschmackvoll gerahmt, mit Sicherheit ebenfalls Sarahs Werk. Neugierig betrachtete er die Bilder. Eden als Baby. Große Augen, Stupsnase, ein kleiner rosafarbener Mund und die Spur von einem dunklen Haarschopf. Daneben ein Bild von Sarah mit Eden im Arm, blond, sonnengebräunt und überglücklich. Etwas darunter eine ganze Serie von „Mutter-Tochter-Bildern“, anscheinend immer im Abstand von etwa einem Jahr. Wie die Zeit verging, war vor allem an Eden abzulesen, die sich im Lauf der Bilder vom Säugling zum Krabbelkind bis hin zur Schülerin weiterentwickelte. Unvermittelt überwältigten ihn die Erinnerungen an jenen Tag, an dem sein Bruder zusammen mit Sarah weggegangen war. Neun Monate später, vielleicht noch ein paar Wochen dazugerechnet, war Eden geboren worden. Er spürte, wie er sich innerlich verkrampfte, doch sobald er seinen Blick auf die Kinderfotos von Eden lenkte, wurde es ein wenig besser. Sie hatte ihn von klein auf um den Finger gewickelt. Seit sie fünf Jahre alt war, hatte er sie immer Annie Oakley genannt – nach der berühmten Wild-West-Kunstschützin. Sie telefonierten jede Woche miteinander. Anfangs hatte Eden jeden Sonntagabend bei seiner Mutter angerufen, und er war häufig zur gleichen Zeit dort gewesen. Mittlerweile schickten sie sich auch noch mehrmals in der Woche E-Mails. Eden verfasste mit Leidenschaft Kriminalgeschichten und holte ab und zu seinen fachmännischen Rat ein. Wann immer ein neuer Teil ihrer aktuellen Geschichte fertig war, schickte sie ihn an seine Mailadresse. Erst gestern war wieder etwas angekommen. Eine temporeiche Kurzgeschichte, übersät mit Ausrufezeichen und eingestreuten Hinweisen. Am Ende hatte Eden ihm noch die Frage gestellt: Klickt es, wenn man den Hahn am Revolver zurückzieht?

Er hatte ihr gleich gestern noch geantwortet, ohne zu wissen, dass er sie bereits heute wiedersehen würde:

Liebe Annie: Dein Gangster würde bestimmt keinen Revolver, sondern eine automatische Waffe benutzen, bei der man keinen Hahn zu spannen braucht. Dein mutiger Zeitungsreporter würde aber vermutlich das Klicken beim Entsichern der Pistole hören. Hilft dir das weiter? Halt mich auf dem Laufenden. Onkel Joe

Sie war der Lichtblick in seinem Leben – erstaunlicherweise. Obwohl er doch anfangs so fest entschlossen gewesen war, sie nicht zu mögen, hatte er sie im Laufe der Zeit doch immer mehr ins Herz geschlossen.

Von klein auf hatten Sarah und David sie jedes Jahr für einen längeren Besuch im Sommer zu seiner Mutter gebracht. In den ersten fünf Jahren ihres Lebens war es ihm noch gelungen, ihr aus dem Weg zu gehen – von einem gelegentlichem Kopftätscheln und flüchtigen Begegnungen einmal abgesehen. Doch dann, eines Tages, war alles anders geworden. Joseph erinnerte sich noch sehr gut daran. Damals hatte seine Mutter die fünfjährige Eden in sein Büro geführt. „Pass mal eine Weile auf sie auf“, hatte sie gesagt. „Ich habe einen Friseurtermin, den ich nicht verschieben kann. Und frag mich jetzt nicht, ob das wirklich sein muss.“ Dann hatte sie sich entschlossen umgedreht und den Raum verlassen.

Joseph hatte geseufzt und seine Kontrahentin gemustert. Kaum einen Meter groß, weder tätowiert noch mit anderen besonderen Merkmalen ausgestattet, wie er sie aus seinem Umfeld gewohnt war – wenn man die mit Sommersprossen übersäte Nase einmal ignorierte –, stand sie vor ihm. Glaubte man den Berichten über Eden, die er von Zeit zu Zeit zu hören bekam, dann war sie ein kleiner, dunkelhaariger Wildfang – mit einem schräg abgeschnittenen Pony. „Sie ist einfach nicht zu bändigen. Als würde man mit einem Alligator kämpfen“, hatte sich einmal eine Freundin seiner Mutter beschwert. Sie war klein und schnell und hatte eine große Vorliebe fürs Ausreißen. Und nun blickte ihn diese halbe Portion mit in die Hüften gestemmten Händen an, die kleinen Fingernägel knallrot lackiert. Um ihre Taille hatte sie einen Westerngürtel mit zwei Revolvern geschnallt, und auf dem Kopf trug sie einen Cowboyhut.

Diese blöden Schuhe passen einfach nicht dazu“, hatte sie gesagt und auf ihre rosa Tennisschuhe gedeutet.

„Stimmt, das muss ich auch sagen“, hatte er erwidert.

Am Ende hatte er ihre kleine Hand genommen und war mit ihr zu Larrys Westernshop gegangen. Dort hatten sie ein paar passende Cowboystiefel gefunden, schwarz mit weißen Steppnähten, die genauso aussahen wie seine. Seitdem waren sie die besten Freunde.

Jeden der darauffolgenden Tage war sie zu ihm ins Büro gekommen. Sie trank Brause aus einer angeschlagenen weißen Kaffeetasse, auf die er ihren Namen schrieb. Um sie zu beschäftigen, gab er ihr den Auftrag, die neusten Steckbriefe auseinanderzufalten und aufzuhängen, auch wenn seine Mutter voller Entrüstung dagegen protestiert hatte.

„Sie kann das schreckliche Zeug doch gar nicht lesen“, hatte er gesagt. „Und so hat sie wenigstens etwas zu tun.“

Jeden Tag waren sie zusammen zur Mittagspause hinüber zum Hasty Taste gegangen. Elna wusste schon immer im Voraus, was sie Eden bringen sollte: ein überbackenes Käsesandwich und eine Schokoladenmilch. Den Nachmittag hatte Eden dann wieder bei ihm im Büro verbracht und zum Abendessen fuhr er sie zurück zu seiner Mutter. Sechs Jahre lang hatten sie es so gehalten, wenn Eden im Sommer bei ihnen gewesen war, wobei ihre Besuche von Mal zu Mal länger geworden waren – aus anfänglichen einzelnen Wochen wurden schließlich fast immer ein bis zwei Monate.

Die Zeiten mit ihr waren wie ein Lebenselixier für ihn gewesen.

Inzwischen war Eden elf Jahre alt, so lustig und aufgeweckt wie eh und je und hatte vor nichts und niemandem Angst. Noch immer war sie eine kleine Kratzbürste mit Sommersprossen, schrägem Pony und einem Haarwirbel, der sich nicht bändigen lassen wollte. Ihr Drang, sich für die Eltern unsichtbar zu machen, bestand unverändert.

Ihre Kriminalgeschichten schickte sie an die Zeitschriften True Crime und Ellery Queen’s Mystery Magazine. Zwar bekam sie stets einen vorgedruckten Absagebrief zugeschickt, aber den riss sie mit einem Lächeln in kleine Stücke und warf ihn in den Müll. Sie schien immun gegen Entmutigung.

Manchmal vergaß er fast, wer ihre Eltern waren, und wenn es ihm wieder einfiel, schob er den Gedanken beiseite. Sie war seine kleine Kameradin, sein Kumpel. Das war alles, was zählte. Außerdem konnte man schließlich nicht das Kind für die Verfehlungen seines Vater verantwortlich machen – oder die seiner Mutter.

In diesem Moment klingelte es an der Haustür. Joseph schreckte aus seinen Gedanken auf und öffnete. Es war Eden, die davor stand, begleitet von einer Frau und einem Mädchen in ihrem Alter. Mit großen Schritten stürmte seine Nichte herein und schlang ihre Arme um seine Taille. Er strich ihr beruhigend übers Haar und wurde sich wieder einmal bewusst, wie klein sie doch eigentlich noch war. Seine Hand bedeckte fast ihren ganzen Kopf. Die Unterhaltung mit der Mutter des Mädchens war kurz, doch selbst so fiel es Joseph noch schwer, sich überhaupt auf das Gespräch zu konzentrieren. Sie drückte ihr Bedauern über Davids Unfall aus, er bedankte sich, dann wandten sie sich glücklicherweise bereits zum Gehen.

Kaum dass die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, rückte Eden von ihrem Onkel ab und warf ihm einen trotzigen Blick zu, der die Angst in ihren Augen dennoch nicht vollständig verbergen konnte.

„Was ist denn überhaupt los?“, fragte sie. „Keiner sagt mir was!“

Er runzelte die Stirn und sah sie verwundert an. „Wovon sprichst du?“

„Na ja, Mom ist einfach Hals über Kopf losgefahren und meinte, sie würde sobald wie möglich zurückkommen. Sie müsste sich mit Dad treffen, und du würdest hierher kommen und mich abholen. Ich weiß ganz genau, da ist doch was faul! Bestimmt ist was Schlimmes passiert und alle außer mir wissen Bescheid.“

Joseph spürte, wie eine Mischung aus Zorn und Bitterkeit in ihm zu brodeln begann. Das war wieder mal typisch Sarah. Sie hatte schon immer schlecht mit emotionalen Situationen umgehen können. Sobald es kompliziert wurde, zog sie sich zurück, daran hatte sich scheinbar bis heute nichts geändert. Er beugte sich zu Eden hinunter und nahm ihre Hand. Sie war größer geworden, seitdem er vor vielen Jahren ihre Hand zum ersten Mal gehalten hatte. Heute trug sie keinen leuchtend roten Nagellack, doch ihre Haare standen noch genauso störrisch wie früher in alle Himmelsrichtungen. Weil sie so blass war, traten ihre Sommersprossen heute besonders deutlich hervor. Sorgenvoll blickte sie ihn aus ihren hübschen blauen Augen an.

„Was ist los? Jetzt sag schon!“, forderte sie ihn auf.

„Es geht um deinen Dad“, antwortete er sanft. „Er hatte einen Unfall.“

Sie begann zu weinen. Er kniete sich hin und hielt sie eine Weile im Arm. Dann, nach einiger Zeit, trocknete sie ihre Tränen, ging in ihr Zimmer und begann ihre Sachen zu packen. Mit einem Rucksack, einem kleinen Koffer und ihrem Notizbuch kam sie wieder heraus. Joseph musste ein Schmunzeln unterdrücken. Ohne ihre Schreibsachen ging sie offenbar nirgendwohin.

„Onkel Joseph“, sagte sie, „ich möchte Dad besuchen. Bringst du mich hin?“

Er zögerte. Seine Instruktionen waren eindeutig: Er sollte sie mit nach Abingdon nehmen. Sarah wollte dann bis zum Ende der Weihnachtsferien entscheiden, wie es weitergehen sollte. Plötzlich spürte Joseph erneut den alten Groll in sich. Wieder einmal war es Sarah gelungen, ihn mit den Scherben zurückzulassen und nun musste er sehen, wie er klarkam. Er seufzte. „Ich soll dich aber direkt nach Abingdon bringen.“

Sie schob ihre Unterlippe vor und Joseph spürte, wie er weich wurde.

„In Ordnung, aber wenn wir fahren, dann nur für ein oder zwei Tage. Ist das klar?“, fragte er.

Edens Miene hellte sich auf. Diese Schlacht hatte sie gewonnen. „Ja klar. Mehr will ich gar nicht. Ich werd auch nicht quengeln, versprochen!“

Immerhin hatte sie ein Recht darauf, ihren Vater zu sehen, sagte er sich, nachdem er die zwei Flugtickets gebucht hatte und sie auf dem Weg zum Flughafen waren. Sarah informierte er erst, als sie bereits unterwegs waren und kein Widerspruch mehr möglich war. Zunächst reagierte sie aufgebracht, doch dann gab sie ihren Protest auf und fügte sich in ihr Schicksal. Er kannte dieses Verhalten von ihr, diesen Hang, sich zu schnell anzupassen und aufzugeben.

„Wie geht es ihm?“, erkundigte sich Joseph.

„Er lebt“, war ihre kurze Antwort.

Sie landeten um kurz nach Acht auf dem Flughafen von Minneapolis und nahmen von dort ein Taxi zum Krankenhaus. Die Unfallstation war schnell gefunden, wobei Joseph seine Nichte zunächst allein in den Warteraum der Abteilung vorausgehen ließ, nachdem er dort Sarah zusammen mit seiner Mutter entdeckt hatte. Er selbst wollte in ein paar Minuten nachkommen.

Er fühlte sich schuldig. Wie konnte er sich nur so sehr von alten Geschichten, solchen Banalitäten beeinflussen lassen, wo doch gleich nebenan ein Menschenleben am seidenen Faden hing! Dennoch war er zu keinem anderen Verhalten in der Lage. Er konnte sich einfach nicht dazu überwinden, die Station zu betreten – zumindest nicht so unvorbereitet, ohne Sarah erst einmal in Ruhe aus der Distanz betrachtet zu haben. Er musste sich erst einen groben Eindruck davon verschaffen, was aus ihr geworden war.

Eden begrüßte ihre Mutter mit einer flüchtigen Umarmung und warf sich dann ihrer Großmutter in die Arme. Anschließend deutete sie in Richtung Flur. Er sah, wie seine Mutter nickte und zu ihm hinüber blickte. Offenbar hatte sie Eden nach ihm gefragt. Nun schien auch Sarah auf ihn aufmerksam geworden zu sein und wandte den Kopf in sein Richtung. Jetzt musste er wohl oder übel hineingehen.

Langsam bewegte er sich auf sie zu. Sie war kleiner, als er sie in Erinnerung hatte. Vielleicht entstand dieser Eindruck aber auch durch den viel zu großen Pullover, den sie trug – vermutlich einer von Davids. Sie hatte ihre Arme eng um den eigenen Körper geschlungen, als sei ihr kalt. Die blonden Haare trug sie nur noch kinnlang, viel kürzer als früher. Ihr Gesicht war so schmal, dass ihre Wangenknochen deutlich hervortraten. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, und plötzlich schämte er sich für sich selbst. Was fiel ihm eigentlich ein, sich wie ein verliebter Schuljunge aufzuführen, während sein Bruder und Sarah so sehr litten? Sein zögerliches Verhalten war ganz sicher nicht richtig und half keinem von ihnen. Bevor er es sich anders überlegen konnte, überwand er zügig die restlichen Meter, die noch zwischen ihnen lagen.

Er erwartete eine prüfende Begutachtung von ihr, aber sie begrüßte ihn lediglich mit einer kurzen Umarmung. Dann ging sie schnell wieder einen Schritt zurück und legte ihren Arm um Eden, die klein und elend aussah. Seine Mutter trat neben ihn und griff nach seiner Hand. Joseph wusste nicht recht, ob sie es tat, um ihn zu stärken und oder ob sie selbst Unterstützung benötigte.

„Seit wir miteinander gesprochen haben, gibt es nichts Neues von David“, informierte Sarah ihn.

„Ich will zu Dad“, meldete sich Eden, und Joseph sah, wie Sarah bei ihren Worten zusammenzuckte.

„Ach weißt du, Kind, er sieht ganz anders aus als sonst“, wandte seine Mutter ein. „Überhaupt nicht wie er selbst. Warte doch lieber noch ein, zwei Tage.“

„Ich will ihn aber trotzdem sehen!“ Edens Stimme klang angespannt und ihre Augen begannen verräterisch zu schimmern.

„Lasst sie doch zu ihm“, sagte Joseph und überraschte sowohl sich selbst als auch alle anderen mit seiner spontanen Äußerung. Eden sah ihn zutiefst dankbar an und auch Sarah schien erleichtert, weil jemand ihr die Entscheidung abgenommen hatte .

„Kommst du mit mir, Onkel Joseph?“

Fragend blickte er zu Sarah, die zustimmend nickte. Zu dritt gingen sie zum Schwesternzimmer der Intensivstation, wo Joseph und Eden nach kurzer Zeit die Erlaubnis erhielten, David für fünf Minuten zu besuchen. „Zimmer 910“, sagte Sarah, die wieder ihre Arme um sich gelegt hatte.

Joseph drückte den Öffner an der Wand. Langsam bewegten sich die Flügel der gläsernen Tür zu Seite. Während sie den Flur entlang gingen, suchte Joseph nach der richtigen Zimmernummer. Sie kamen an unzähligen Türen vorbei und Joseph warf unwillkürlich einen Blick in die einzelnen Krankenzimmer. Dies war die Intensivstation. Die leblos wirkenden Körper in den Betten waren hinter den vielen Apparaten, Monitoren und Schläuchen fast nicht mehr zu erkennen. War es womöglich doch keine so gute Idee gewesen, Eden ihren Vater in diesem Zustand zu zeigen? Vielleicht hatten Sarah und seine Mutter doch recht gehabt. Falls David wirklich sterben sollte, wäre es ganz sicher besser, wenn seine Tochter einen anderen Anblick von ihm in Erinnerung behielt. Er warf einen Blick in ihr Gesicht. Sie hielt sich tapfer, doch ihre Augen verrieten ihre Angst. Voller Mitgefühl zog sich sein Herz zusammen. Sie tat ihm so leid!

Er selbst hatte in seinem Leben schon viel Leid und Elend gesehen – sei es im Krieg oder bei seiner Arbeit als Polizist – aber nichts von alledem hatte ihn auf diesen Schock vorbereiten können. Der Anblick traf ihn mit voller Wucht. Zunächst blieben sie einfach nur stumm vor der Tür auf dem Flur stehen, unfähig, das Zimmer zu betreten. Erst nach einiger Zeit wagten sie einige zögernde Schritte hinein. Im Inneren des Raumes waren drei Schwestern beschäftigt. Davids Körper war fast auf die doppelte Größe angeschwollen, sein Kopf so groß wie ein Basketball. Für einen Moment fragte sich Joseph, wie seine Haut diese Spannung überhaupt aushalten konnte, ohne zu reißen. Er trat einen Schritt näher an das Bett heran und betrachtete das Gesicht auf dem Kissen. Krampfhaft versuchte er irgendetwas Vertrautes, irgendeine Ähnlichkeit zu entdecken. Zwölf Jahre war es nun her. Niemals hätte er damit gerechnet, dass ihr erstes Wiedersehen so aussehen würde.

„Sie können gerne mit ihm sprechen“, sagte eine der Schwestern. „Es ist durchaus möglich, dass er sie hören kann.“

Doch Joseph schwieg. Gerade seine Stimme war dem Bruder wahrscheinlich alles andere als willkommen und würde ihn möglicherweise unnötig verwirren oder aufregen. Er sah zu Eden. Vorsichtig kam sie näher und stellte sich neben ihren Onkel an die Bettkante. Dann streckte sie ihre Hand aus und berührte behutsam den Arm ihres Vaters. Da er nur mit einem Leinentuch zugedeckt war, lagen seine Arme frei. Unter dem Tuch zeichnete sich eine seltsame, unförmige Struktur ab, vermutlich die externe Beckenfixierung, die Sarah erwähnt hatte.

„Hi Dad“, flüsterte Eden mit zitternder Stimme. Zärtlich streichelte sie mit einem Finger über Davids Arm. „Ich hab dich lieb“, sagte sie, aber es kam keine Antwort. Nur das regelmäßige Piepen der Monitore und die Geräusche des Beatmungsgeräts und der anderen Apparate erfüllten den Raum. Eden zog ihre Hand zurück. Sie sah plötzlich so klein und verletzlich aus, dass Joseph sich hinunterbeugte und ihre Hand in seine nahm. Dann schloss er sie in die Arme. Eden schmiegte sich furchtsam an ihn, ein kleines, verängstigtes Mädchen.

* * *

Auch nach drei Tagen war Davids Zustand nach wie vor kritisch. Sie konnten nichts anderes tun als zu warten, und mit der Zeit wurden alle Anwesenden immer angespannter und nervöser. Seit dem Unglückstag hatte keiner von ihnen besonders viel geschlafen. Davids Körper hatte zwar die ersten Operationen ziemlich gut überstanden, aber nun war er einer neuen Gefahr ausgesetzt: Die Nieren drohten zu versagen, weil die Abbauprodukte der zerstörten Muskulatur sie überforderten.

„Möglicherweise müssen wir ihn noch einmal operieren, um die beschädigten Muskelpartien zu entfernen“, hatte einer der zahllosen Ärzte gesagt.

Sarah hatte hilflos mit dem Kopf geschüttelt und noch zerbrechlicher gewirkt, als an all den Tagen zuvor.

Doch schließlich operierten sie ihn, und David überlebte.

Nun hieß es wieder warten. Wenn alles gut lief, nähmen die Nieren ihre Arbeit wieder von alleine auf, sodass eine dauerhafte Dialyse nicht notwendig würde. Die Tage schlichen dahin – zwischen Krankenbett und Snack-Bar, Kaffeeautomat und Fernseher. Man hielt einen Plausch mit den Angehörigen der anderen Patienten und wurde im Lauf der Zeit immer vertrauter miteinander. Irgendwann gewöhnte man sich sogar an die vielen Ärzte.

Dann, endlich, klangen die Nachrichten etwas erfreulicher. Die Nieren hatten ihre Tätigkeit wieder aufgenommen und nach weiteren zwei Tagen erwachte David endlich aus seinem Dämmerschlaf.

Besorgt beobachtete Joseph die maßlose Freude der drei Frauen, die sich immer und immer wieder überglücklich in die Arme fielen. „Das Schlimmste ist noch nicht überstanden“, sagte der junge Arzt neben ihm leise. „Bisher haben nur Sie als Angehörige gelitten. Nun wird auch der Kranke selbst sich seines Zustands bewusst werden und leiden.“

Joseph ging nicht mit den anderen ins Krankenzimmer. David war noch immer benommen, wurde nach wie vor beatmet und litt große Schmerzen. Ihr Wiedersehen würde belastend genug werden und konnte in dieser Situation auf jeden Fall noch warten. Jetzt sollte sein Bruder erst einmal in Gesichter blicken, die ihn trösteten und ihm neuen Mut gaben.

Die nachfolgenden Tage im Krankenhaus verschwammen zu einer unscharfen Aneinanderreihung von weiteren Operationen, der täglichen Versorgung von Davids Verletzungen und nicht enden wollender Untersuchungen. Als Joseph sah, dass die nächsten Wochen von David keine absehbare Veränderung dieser Routine bringen würden, wusste er, dass es für ihn endgültig an der Zeit war, wieder nach Abingdon und an seine Arbeit zurückzukehren. Dennoch zögerte er seinen Aufbruch hinaus.

Davids Erwachen schien Sarah eher zu belasten als von Sorgen zu befreien. Joseph konnte sie nur zu gut verstehen. Auch für ihn war es fast unerträglich, seinen Bruder so sehr leiden zu sehen. Wie musste sich da erst Sarah fühlen!

„Ich weiß nicht, was ich tun soll“, sagte Sarah, während sie im Türrahmen zum Aufenthaltsraum stand und mit zitternder Hand ihren Kaffeebecher zum Mund führte.

„In Bezug auf was?“

„Eden.“

„Was ist mit ihr?“

„Sie kann nicht hier bleiben.“

Joseph schwieg.

Aus Sarah begannen die Worte nur so herauszusprudeln: „Ich kann mich nicht um sie und David gleichzeitig kümmern. Das wird mir alles zu viel. Und David kann ich jetzt nicht im Stich lassen.“

„Nein, natürlich nicht“, sagte Joseph. „Aber welche Möglichkeiten hast du?“

Sie nahm noch einen hastigen Schluck aus dem Becher. „Ihre Schule hat auch Internatsschüler. Da könnte ich sie anmelden. Oder sie wohnt in der Zwischenzeit bei einer Freundin, sodass sie Tagesschülerin bleiben kann. Meine Eltern würden sie auch nehmen, wenn ich sie darum bitten würde, aber sie sind inzwischen Rentner und nach Gatlingburg gezogen. Dort wäre Eden also genauso aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen. Die Ärzte sagen, David wird noch mindestens sechs bis neun Monate in der Klinik bleiben müssen.“

„Du könntest dir für die Zeit doch hier in der Gegend eine Wohnung suchen. Dann geht Eden eben hier zur Schule, und ihr könnt alle zusammen sein.“

Sarah schüttelte den Kopf. „Das schaffe ich im Augenblick nicht, Joseph. Das wächst mir alles über den Kopf.“

„Hast du sie denn schon gefragt, was sie selbst am liebsten möchte?“

Sarah schüttelte erneut den Kopf. „Ich weiß ja, was sie sagen würde.“

Joseph hob die Augenbauen.

„Sie will auf jeden Fall hier bei David bleiben.“ Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Er ist ihr Ein und Alles.“

Er nickte. „Wenn sie wirklich nicht hier bei euch bleiben kann, dann nehmen wir sie mit nach Abingdon.“

Sarah wirkte über seinen Vorschlag nur wenig überrascht. Vermutlich hatte sie auf ein derartiges Angebot gehofft. „Allerdings müsste sie dann ebenfalls die Schule wechseln“, gab sie zu bedenken.

„Dafür wäre sie bei Menschen, die sie kennen und lieben.“

„Sie hängt auch sehr an dir“, sagte Sarah. „Sie bewundert dich.“

Klang es ein wenig gekränkt? Es musste eine bittere Pille sein, wenn das Kind des eigenen Betrugs und Vertrauensbruchs den Betrogenen liebte. Und er schämte sich dafür, dass er den Gedanken genoss. „Ich nehme sie mit nach Abingdon“, sagte er schließlich schlicht.

Sarah seufzte und nickte dann müde. „In Ordnung.“

Joseph sah die Erschöpfung in ihrem Gesicht.

„Ich kann mich hier nicht genug um sie kümmern. Schon im ganz normalen Alltag fordert sie mich bis ins Letzte. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie ich all das hier bewältigen und dann auch noch sie nebenbei im Auge behalten soll.“

„Sie ist keine Belastung“, meinte Joseph. „Wir freuen uns, wenn sie zu uns kommt.“

Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als er bemerkte, dass Eden ganz in ihrer Nähe stand. Sarah folgte seinem Blick und zuckte zusammen, als sie ihre Tochter sah. Er fragte sich, wie viel von ihrer Unterhaltung Eden wohl mitbekommen haben mochte. Hatte sie gehört, was für eine Last sie für ihre Mutter war?

„Hallo Schatz“, sagte Sarah mit einem schuldbewussten Lächeln, nachdem sie ihren ersten Schreck überwunden hatte. Wie gut er sich an dieses Lächeln erinnerte.

Eden schwieg und würdigte ihre Mutter keines Blickes. Offensichtlich hatte sie genug mit angehört!

Joseph wollte die beiden lieber allein lassen und wandte sich zum Gehen. Als er an ihr vorbeiging, warf Sarah ihm einen panischen Blick zu.

„Ich falle niemandem zur Last“, hörte er Eden noch sagen, während er auf den Flur trat. Vor lauter Mitgefühl für seine Nichte zog sich sein Herz zusammen. Sarahs Antwort konnte er nicht mehr hören, doch bereits am nächsten Tag saßen Joseph und Eden im Flugzeug auf dem Weg nach Hause.

„Es ist ihr ganz egal, dass ich wegfliege. Hauptsache, ich bin ihr nicht mehr im Weg“, sagte Eden bitter.

„So ist das nun auch wieder nicht“, wandte Joseph ein, aber Eden drehte ihr Gesicht zur Seite und blickte schweigend zum Fenster hinaus. Was sollte er da noch sagen?

Nach der Landung in Washington fuhren sie zunächst nach Fairfax und übernachteten in Davids Haus, bevor sie am nächsten Morgen Edens Sachen packten und sie auf dem Rücksitz von Josephs Wagen verstauten. Auf der Fahrt nach Abingdon sprachen beide kaum ein Wort miteinander. Eden starrte die meiste Zeit aus dem Fenster.

Das weihnachtlich geschmückte Abingdon wirkte fast unnatürlich heiter und ausgelassen. Zahlreiche größere und kleinere Gruppen von Touristen und Sternsingern bevölkerten die Innenstadt. Der letzte Sturm hatte mindestens zwanzig Zentimeter Neuschnee gebracht, der nun die Landschaft wie mit einer feinen Schicht aus weißem Puderzucker bedeckte. Joseph hielt beim Hasty Taste und holte für Eden einen Cheeseburger und ein Schokoladen-Shake.

„Zu mir oder zu Grandma?“, fragte er. Sie zuckte die Achseln, sodass er sich für das Haus seiner Mutter entschied. Die Kleine würde dort ohnehin besser untergebracht sein, da seine Mutter immer auf Gäste vorbereitet war.

Nachdem sie alles aus dem Auto ausgepackt hatten und die Sachen nach oben in Edens altes Kinderzimmer gebracht hatten, ging Joseph nach unten, um sich einen Kaffee zu kochen. Als er wenig später wieder nach oben kam, um nach ihr zu sehen, fand er sie schlafend auf dem Bett vor. Sie hatte sich zu einer kleinen Kugel zusammengerollt, ihren Kuschelhund fest im Arm. Ihr Gesicht sah so unglaublich jung und verletzlich aus. Sanft breitete er einen Quilt über dem Fußende des Bettes aus und deckte sie vorsichtig zu. Dann löschte er das Licht und ging hinaus, ließ aber eine kleine Lampe im Zimmer brennen. Er wusste, Eden mochte die Dunkelheit nicht.

8

Wenn Sie bisher noch keine Mäuse und Ratten im Haus hatten, dann lauern sie nur darauf, bei Ihnen einzuziehen.‘ Wer denkt sich denn so ein Zeug aus?“, fragte Dorrie kopfschüttelnd.

Janelle, ihre Kollegin, grinste. „Don. So etwas macht ihm einen Riesenspaß.“

Don war der Chefkammerjäger ihrer Firma, ein freundlicher Hüne, der Dorrie ein wenig an den gemütlichen Hoss aus der Fernsehserie Bonanza erinnerte.

Mit einem Seufzer wandte sie sich erneut ihrem Computer zu, an dem sie die handschriftlichen Texte ihres Chefs ordentlich abtippte.

„Das ist ja ekelhaft“, entfuhr es ihr gleich darauf. Sie lehnte sich zurück und las ihrer Kollegin vor: „,Mäuse haben keine Harnblase und verlieren deshalb ständig Urin. Sobald also eine Maus über Ihren Teppich läuft, hinterlässt sie eine Urinspur, die wiederum andere Mäuse einlädt, ihr zu folgen.‘“

Janelle zuckte die Achseln und zog an ihrer Zigarette. „Kindchen, so läuft das Geschäft nun mal. Das ist unser Job. Wie sollen wir denn sonst an das Geld für unsere Rechnungen kommen?“

„Es ist unser Job, Leute anzuwidern?“

Janelle grinste. „Wir wollen doch nur, dass sie bei uns den Jahresvertrag für den Rundum-Versicherungsschutz unterschreiben, nicht wahr?“

Sie drückte ihre Zigarette auf ihrer Coladose aus und warf den Stummel in die Öffnung. „Irgendwann gewöhnt man sich an all die Ratten und Mäuse. Es ist auf jeden Fall immer noch besser, sich mit ihnen zu beschäftigen, als für die Kanalreinigung zu arbeiten. Das wäre echt nichts für mich. Mein Schwager reinigt Abwasserrohre. Den solltest du mal erzählen hören, was er bei den Leuten so alles rausholt.“

„Nein danke“, sagte Dorrie und begann wieder zu tippen. Während sie den Abschnitt über die Fortpflanzung der Ratten übertrug, musste sie plötzlich sehnsüchtig an die Kinder in der Vorschule denken. Das war eine schöne Arbeit gewesen. Eigentlich hatte sie ihre ehemaligen Schützlinge ja die ganze Zeit noch einmal besuchen wollen, aber dann war sie doch nicht hingegangen.

Das hier war der unerträglichste Job, den sie jemals angenommen hatte, aber die Arbeitsvermittlung hatte so schnell nichts Besseres gefunden. Der schlimmste Arbeitsplatz ihres ganzen Lebens – schlimmer als bei der Chemischen Reinigung in Santa Fe mit all den giftigen Dämpfen, schlimmer als der Hundesalon in Chicago mit dem nervtötenden Gekläffe rund um die Uhr. Damals hatte sie Hundehaare auf jedem Zentimeter ihrer Kleidung gehabt. Doch ihr jetziger Job bei der Schädlingsbekämpfung war definitiv das Ende der Fahnenstange. Tiefer konnte sie nicht sinken.

Da war wieder dieses Gefühl der Unruhe, das nach ihr griff. Sie fühlte sich so mutlos. Irgendwie wuchs ihr alles über den Kopf. An diesem Morgen war sie aufgewacht, und was sie sah, hatte sie nur noch angewidert – diese kleine, muffige Wohnung! So schnell wie möglich hatte sie ihre Augen wieder geschlossen und hatte dennoch bereits alles vor sich sehen können, was sie im Lauf des restlichen Tages erwarten würde: Da war der halbmondförmige braune Fleck an der Decke von dem übergelaufenen Waschbecken in der Wohnung über ihr, der billige dunkelgrüne Teppichboden und die dänische Sitzgruppe drüben in der Ecke. Sie wusste, wie an jedem Morgen würde sie gleich eine unfreundliche Katze begrüßen, dann käme die Busfahrt zur Arbeit, gefolgt von einem neuen endlosen Arbeitstag mit dem Tippen von ekelhaften Texten über Mäuse und Ratten – bis zur Heimfahrt am Abend. Wie sie sich langweilte! Sie war das alles so leid. Sie war einfach nur noch müde und enttäuscht.

Ja, das war es. Sie war enttäuscht. Jetzt, in diesem Moment wurde es ihr klar. Die Stadt, die im ersten Moment so schillernd, lebendig und verheißungsvoll auf sie gewirkt hatte, war jetzt nur noch eintönig und gewöhnlich. Sie konnte kein Glitzern mehr in ihr erkennen. Für ihre Augen sah alles hier inzwischen schäbig und armselig aus. Sie hatte diese Erfahrung schon häufiger gemacht: Je länger man eine Sache betrachtete, desto schwächer wurde ihr Reiz. Was hielt sie also noch hier? Die Antwort auf diese Frage war klar: Nichts, rein gar nichts.

Neben dem Gefühl der Leere, dass sich mit dieser Erkenntnis zwangsläufig einstellte, war sie auch ein klein wenig aufgeregt. Sie konnte sich neu auf den Weg machen! Wer weiß, wem sie dabei begegnen würde! Was sie tun würde! Endlose Möglichkeiten lagen vor ihr. Doch wohin sollte sie gehen?

Worauf hätte sie Lust? Auf weite, endlose Landschaften? Vielleicht Montana oder Wyoming? Sie schüttelte den Kopf. Lieber nicht. Hier in Minneapolis hatte sie Einsamkeit genug. Sie sehnte sich viel eher nach Menschenmassen und Gedränge. Eine freundliche Großstadt musste es sein. Little Italy in New York? Nein, das kam im Winter nicht in Frage. Viel zu kalt und zu viel Schnee. Los Angeles? Zu viel Smog. Vielleicht San Francisco? San Francisco! Das war eine Idee. Für einen Moment dachte sie an Sonnenschein, Cablecars und Nudeln und einen Roman, den sie vor kurzem gelesen hatte. Er spielte in San Francisco und handelte von einer alleinstehenden Frau, die in dieser ganz besonderen Stadt in einem Schreiner ihre große Liebe gefunden hatte. Also los, auf nach San Francisco! Dorrie schloss die Augen und machte sich schon einmal tagträumend auf den Weg. Sie würde in einer Wohnung in einem dieser hübschen viktorianischen Reihenhäuser leben, die dort die hügeligen Straßen säumten. Unwillkürlich wurde sie an einen Werbespot erinnert, den sie neulich gesehen hatte. Darin nippte ein Mann an einem Glas Wein vor der lieblichen Landschaft von San Francisco, im Hintergrund der Yachthafen und die scheinbar endlosen Weinberge. Dieses heitere Spiel von Licht und Schatten unter den grünen Bäumen, die allgegenwärtige wärmende Sonne! Abends zusammen mit Freunden draußen sitzen und italienische Pasta genießen ...

* * *

Ihr Apartment war still und leer, als sie nach Hause kam. Für einen Moment hatte Dorrie die Hoffnung, dass es Frodo vielleicht gelungen war, davonzulaufen. Sie hatte das Badfenster am Morgen extra einen Spalt offengelassen. Doch Dorrie hatte kein Glück. Schon im nächsten Moment wurden ihre Erwartungen enttäuscht, denn wie an jedem anderen Tag auch sprang Frodo ihr mit einem Satz vor die Füße – und wie an jedem anderen Tag zuckte Dorrie heftig zusammen. Nachdem sie ihn gefüttert hatte, stellte sie ihr Tiefkühlessen zum Auftauen in die Mikrowelle.

Anschließend schaltete sie ihr Handy ein. Anscheinend hatte ihre Mutter schon zweimal versucht sie anzurufen, aber keine Nachricht für sie hinterlassen. Sehr merkwürdig. Dorrie runzelte die Stirn und versuchte sich daran zu erinnern, wann ihre Mutter sie zuletzt angerufen hatte. Es war im März gewesen, an ihrem Geburtstag, und Dorrie hatte noch immer ganz genau ihre Worte im Ohr. Ich wollte nur kurz anrufen und hören, wie es dir geht, aber wahrscheinlich bist du mit deinen Freunden unterwegs. Lautes Aufseufzen. Du wirst heute 26 Jahre alt. Ich war in deinem Alter bereits verheiratet, hatte ein Kind und zwei Jobs. Wir sprechen uns später. Darauf waren keine Worte des Abschieds gefolgt, sondern lediglich das alles entscheidende Klicken in der Leitung. Ihre Mutter hatte aufgelegt.

Zumindest war ihre Mutter beständig. An jenem Tag hatte Dorrie einen Scheck über 25 Dollar in ihrer Post vorgefunden – wie an jedem Geburtstag und an jedem Weihnachtsfest –, zusammen mit einer neutralen Postkarte, unterschrieben in der gradlinigen, schnörkellosen Handschrift ihrer Mutter.

Für einen Moment dachte sie darüber nach, ihre Mutter zurückzurufen, doch dann entschied sie sich dafür, zuerst zu Abend zu essen. Anschließend räumte sie noch ein wenig in ihrer Wohnung herum, doch irgendwann konnte sie den Anruf nicht mehr länger hinauszuzögern und griff nach ihrem Telefon. In diesem Moment begann der Apparat zu klingeln.

Mit einem plötzlichen Gefühl der Vorahnung nahm Dorrie ab.

Es war ihre Mutter und sie redete wie immer nicht lange um den heißen Brei herum. Nach einer flüchtigen Begrüßung überbrachte sie ihre Botschaft.

„Ich habe Krebs“, sagte sie. „Brustkrebs, um genau zu sein, und er breitet sich aus wie Unkraut.“

* * *

Drei Tage später war Dorries Wohnung leergeräumt. Ihre wenigen Habseligkeiten hatte sie hier und dort verteilt. Frodo war bei der alten Dame einen Stock höher untergekommen, die bereits vier Katzen besaß und Dorrie hoffte, dass der Kater sich bei ihr wohlfühlen würde. Die Kündigung bei ihrer Firma war ihr nicht schwergefallen, lediglich Janelle würde sie vermissen. Sie plante den Bus nach Nashville um 17 Uhr 50 zu nehmen, aber vorher wollte sie noch etwas erledigen.

Auch wenn ihre Kündigung in der Schule erst drei Wochen zurücklag, erschien Dorrie ihr alter Arbeitsplatz seltsam fremd. Es war gerade Unterrichtsschluss, und Horden von Kindern strömten aus allen Ausgängen auf die Straße. Dorrie fühlte sich seltsam unsicher und befangen, als sie das Schulgebäude betrat. Sie kam sich fast ein wenig wie entwurzelt vor – wie eine kleine Pflanze, die aus dem Boden gerissen worden war, bevor sie überhaupt eine Chance auf eine Blüte oder Frucht gehabt hatte.

Sie atmete tief durch und überlegte für einen Moment, ob sie wirklich weitergehen sollte, doch dann wurde ihr die Entscheidung abgenommen. Den Flur hinunter, direkt vor ihrem alten Klassenzimmer, stand Roger, ihr kleiner blinzelnder Freund, die Bastelarbeit des heutigen Tages in seinen Händen. Hinter ihm stand eine abgespannt wirkende Frau mittleren Alters, die vermutlich Dorries Nachfolgerin war.

Rogers Gesicht leuchtete auf, als er sie entdeckte und Dorrie spürte, wie ihr Herz zu hüpfen begann. Mit ausgebreiteten Armen kam er strahlend vor Freude auf sie zugerannt, und bevor sie überhaupt darüber nachdenken konnte, war sie bereits in die Hocke gegangen und spürte seine Arme um ihren Hals und die tröstliche Wärme, die von ihm ausging.

„Wo waren Sie denn?“, fragte er sie eindringlich, nachdem er sie wieder losgelassen hatte. Der Anblick seiner runden Wangen und sein ernster Gesichtsausdruck machten sie unaussprechlich traurig.

„Ich hatte einfach woanders zu tun, Roger“, sagte sie und versteckte sich damit hinter einer jener nichtssagenden Erklärungen, die selbst Kinder problemlos durchschauen.

„Kommen Sie denn morgen wieder her?“, fragte er.

Sie schwieg, und ihr Herz fühlte sich an wie ein schwerer Stein in ihrer Brust. Wie gern, wie unendlich gern hätte sie gelogen!

„Nein“, sagte sie mühsam, während die Wahrheit sie selbst mit voller Wucht traf. „Ich bin gekommen, um mich von dir zu verabschieden. Ich muss nach Hause fahren und meiner Mutter helfen.“ Für einen Moment fragte sie sich, ob sie nur deshalb in der Lage gewesen war, heute hierher zu kommen, weil sie diesmal einen wirklichen Grund für ihren Aufbruch hatte – und nicht wie sonst nur eine ihrer üblichen Launen.

„Kommen Sie wieder, wenn Sie ihr zu Ende geholfen haben?“

„Das hoffe ich“, sagte sie. „Vielleicht klappt es ja.“ Eine faustdicke Lüge, aber Dorrie konnte nicht anders. Sie musste sich selbst und Roger zuliebe zumindest an der Möglichkeit ihrer Rückkehr festhalten, auch wenn sie die ganze Zeit über wusste, dass sie nicht mehr wiederkommen würde. Und dass es so war, wusste sie ganz genau. Sie wusste es, weil der stechende Schmerz, den sie in diesem Moment empfand, einfach nicht zu ertragen war.

Roger runzelte die Stirn und sah sie traurig an. Anschließend warf er einen Blick zu seiner neuen Lehrerin hinüber, der Dorrie mit Sicherheit zum Lachen gebracht hätte, wenn sie sich nicht so entsetzlich leer gefühlt hätte. Er ist nicht mein Kind!, erinnerte sie sich selbst erneut. Er ist nicht mein Kind!

Dann kam seine Mutter hereingestürmt, wie immer in Lederjacke, enger Jeans, die Tasche lose über der Schulter und das Handy in der Hand. Bei ihrem Anblick erhellte sich Rogers Gesicht wieder ein wenig. Er lächelte zaghaft und Dorrie schwankte zwischen Erleichterung und Enttäuschung.

„Komm, Schatz, wir müssen nach Hause“, sagte seine Mutter. „Carl wartet schon auf uns.“

Wer war Carl?, dachte Dorrie verwundert. Doch Roger schien über die Worte seiner Mutter nicht im geringsten irritiert zu sein. Er griff nach ihrer Hand und folgte ihr zum Ausgang. Kurz bevor sie das Gebäude verließen, drehte er sich noch einmal zu Dorrie um.

„Auf Wiedersehen!“, rief er ihr zu.

Dorrie hielt ihre Hand in die Höhe und winkte stumm. Sie brachte kein Wort hervor. Genau das ist der Grund, dachte sie und hielt nur mit Mühe ihre Tränen zurück, warum man sich niemals verabschieden sollte.