Über das Buch:
Amy Ireland verschwand vor zwanzig Jahren spurlos, ein ungelöster Fall mehr in den Polizeiakten. Doch US-Marshal Quinn Diamond will sich damit nicht abfinden, sieht er doch einen Zusammenhang mit dem Mord an seinem Vater. Ganz nebenbei bieten ihm seine Nachforschungen die angenehme Gelegenheit, mit Lisa O´Malley zusammenzuarbeiten. Der messerscharfe Verstand der Gerichtsmedizinerin stellt prompt Zusammenhänge zu anderen Verbrechen her. Ihr Herz aber scheint gefangen in den Schattenwelten ihres Berufes. Weder die Liebe ihres Schöpfers noch die Zuneigung Quinns scheinen zu ihr durchzudringen. Wird dieser Panzer brechen, bevor es zu spät ist für Lisa, die dem Tod zu oft ins Angesicht gesehen hat? Ihre Zeit wird knapp, der Killer zeigt, dass er sein Geheimnis mit allen Mitteln hüten wird - im Dunkel der Vergangenheit ...

Über die Autorin:
Seit 1996 hat sich Dee Henderson mit nur zwei Romanserien in die Spitze der christlichen Schriftsteller in den USA geschrieben. Dem Erfolg entsprechend hat die Tochter eines Pfarrers ihren Beruf als Finanzbeamtin an den Nagel gehängt und lebt als Schriftstellerin bei Chicago.

7

Lisa liebte ihr Haus, aber an diesem Abend wurde ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt. Ihr schnurloses Telefon ans Ohr gedrückt, lief sie über den Teppich, der mit Wasser vollgesogen war. „Jack, wann hast du dienstfrei?“ Sie hatte ihn in der Feuerwache erreicht und war erleichtert gewesen, dass er nicht im Einsatz war. Sie ging zur hinteren Seite ihres Hauses und sah sich die Dachrinne an.

„Um acht. Brauchst du etwas?“

„Meine Dachrinne ist anscheinend verstopft. Dieser kurze Regenguss war zwar wunderbar, aber jetzt habe ich gar nicht genügend Handtücher. Bei mir steht alles unter Wasser, und dieses Mal ist es unter der Hintertür hindurchgelaufen.“

„Dein Sumpfmonster ist wieder da? Du meinst, es hat einfach die Tür aufgeschlossen und ist durch das Haus marschiert? Sei ehrlich, du hast ein Lebewesen in deinem Garten. Das stirbt niemals.“

„Jack.“ Als Nächstes würde er ihr von diesen dummen Monstern aus den Filmen erzählen, die er so liebte.

Er wurde ernst. „Ich komme vorbei und sehe es mir einmal an.“

„Dafür wäre ich dir dankbar.“ Sie hatte ihn angerufen, weil sie wusste, dass er ihr helfen würde, egal, wie ungelegen ihre Bitte auch kam.

Sie ging zur Garage, um nachzusehen, wie viel weggeräumt werden musste, um an die Leiter zu kommen. Das würde Jack übernehmen müssen. Allerdings nahm sie den Ventilator mit hinein, um den Teppich zu trocknen.

Wenigstens hatte sich das Wasser auf dem Teppichboden nur etwa vierzig Zentimeter weit ausgebreitet, bevor sie das Problem erkannt und die Flut gestoppt hatte. Wenn der Ventilator den Abend über lief, sollte der Teppich eigentlich bald trocken sein. Allerdings könnte die Unterseite bei dieser Hitze selbst in kürzester Zeit schimmeln.

Sie würde Jack fragen, ob der Teppichboden hochgehoben und gelüftet werden musste. Die Vorstellung, ihm dabei zur Hand gehen zu müssen, ließ sie zusammenzucken. Wenn sie es genau überlegte, würde sie vielleicht doch nicht fragen. Sie brachte die nassen Handtücher zur Waschmaschine und holte eine neue Ladung.

Nachdem sie nach Hause gekommen war, hatte sie am Nachmittag drei Stunden geschlafen. Das hatte ihr sehr gut getan. Das Gewitter hatte sie aufgeweckt. Es hatte ihr Spaß gemacht, dem Rauschen des Regens zuzuhören, bis sie aufgestanden und durch den Flur gegangen war.

Sie würde eine Fuhre Mutterboden anfahren lassen, um diesen Teil des Gartens anzuheben, damit das Wasser vom Haus fortfloss, nicht ins Haus hinein. Die Abflussrohre sorgten dafür, dass das Wasser vom Dach abfließen konnte, doch wenn sie verstopft waren, hatte sie ein Problem.

Erstaunt darüber, wie hungrig sie war, ging Lisa in die Küche. Sie wünschte, sie wäre vorher noch einkaufen gegangen. Sie nahm ein Stück Käse, schnitt das vertrocknete Ende ab und warf es in den Abfalleimer. Schließlich bereitete sie sich ein getoastetes Käsesandwich.

Sie steckte gerade den letzten Bissen des Brotes in den Mund und verfütterte die Kruste an Sidney, als es an der Tür läutete. Schnell warf sie den Pappteller weg, setzte Sidney in seinen Käfig und machte Jack die Tür auf.

Er trug ein blaues T-Shirt mit dem kleinen weißen Emblem der Feuerwehr. Es war oberhalb der Tasche aufgestickt. Auf dieses T-Shirt hatte ein kreatives Kind beim Tag der offenen Tür in der Feuerwache mit Stofffarbe ein rotes Feuerwehrauto gemalt, das aussah, als hätte es einen Platten. Jack liebte dieses Shirt. Es war mittlerweile eingelaufen, weil er es zu heiß gewaschen hatte, und auch die Farbe blätterte langsam ab. Aber Jack hing an diesem T-Shirt und wollte es auf keinen Fall weggeben.

„Was ist das?“ Lisa nahm den Becher, den er ihr in die Hand drückte.

„Ein Fruchtsaft. Traube. Das schien mir irgendwie passend.“

„Jack – musste das sein?“ Sein Sinn für Humor war unmöglich.

Er riss die Verpackung eines Hamburgers ab. „Es musste.“ Er gestikulierte mit seinem Abendessen. „Zeig mir den Schaden. Dein Bruder ist hier, um deinen Tag zu retten.“

„Du kannst es versuchen“, stimmte Lisa zu. „Ob es dir gelingt –“ Sie bekam Kopfschmerzen von dem Getränk, weil es zu kalt war. „Komm mit.“

Jack folgte ihr ins Haus. „Wo ist Sidney?“

„Du kannst später mit ihm spielen.“

„Lizzy.“

„Später.“

„Ich habe ihm ein neues Spielzeug mitgebracht.“

„Macht das Lärm?“, fragte Lizzy.

„Natürlich.“

„Weißt du, es gibt auch Spielzeug, das keinen Lärm macht.“

„Es gibt auch Ohrstöpsel.“ Jack rannte gegen sie, als sie abrupt stehen blieb. „Was für eine Sauerei.“

„Allerdings.“

Vorsichtig überquerte er den nassen Teppich, um die Hintertür zu öffnen und sich die Ursache des Problems anzusehen. „Wenn es noch mehr regnet, wird ein ganzer Fluss durch dein Haus fließen.“

„Du solltest dir die Dachrinne ansehen.“

„Dachrinne, Dachspinne. Ich brauche eine Schaufel, um dir einen Swimmingpool zu graben. Du bräuchtest nicht einmal die Wasserkosten zu zahlen.“

„Jack, seit drei Jahren löcherst du mich schon mit dem Pool. Ich werde es nicht tun.“

„Du hast mich aber die Veranda bauen lassen.“

Lisa machte sich nicht die Mühe, ihn darauf hinzuweisen, dass er sie unter der Oberaufsicht ihres Bruders Stephen gebaut hatte. „Holz ist nicht dasselbe wie Beton.“

„Beton macht mehr Spaß.“

„Du willst nur darin deinen Handabdruck für die Nachwelt verewigen.“

„Ein Mann braucht ein Ziel im Leben.“

Sie lachte und deutete zur Garage. „Raus mit dir.“

Zwanzig Minuten später stand Jack auf der Leiter und machte sich an der Dachrinne zu schaffen. „Hier oben ist ein ganzer Wald angepflanzt.“ Er drehte sich um und warf eine Hand voll Blätter zu ihr hinüber.

Sein Grinsen war ansteckend. „Du brauchst Handschuhe.“

„Sie würden nur nass werden.“

Er beugte sich vor und begutachtete die ganze Länge der Dachrinne. „Hast du einen Besen?“

„Irgendwo schon. Einen Augenblick.“

Sie fand ihn an der Garagenwand, wo er auch tatsächlich hingehörte. Schnell reichte sie ihn Jack nach oben. „Hier.“

Er kletterte auf das Dach und lief leichtfüßig darüber. Die Höhe machte ihm nichts aus. „Dein Problem ist Folgendes: Die Abdeckklappe der Verkabelung hat sich gelockert und die Dachrinne verstopft.“ Er nahm sie heraus und säuberte das Abflussrohr. „Willst du es versuchen und nächstes Wochenende was im Garten tun? Ich schleppe dir gern die Säcke mit Mutterboden an.“

„So gern ich auch für einen Tag dein Boss wäre, aber ich glaube, wir werden mehr Erde brauchen, als wir im Baumarkt kriegen können. Ich denke, ich werde Walter – von der Baumschule Hampton – anrufen. Er arbeitet gerade in der Nachbarschaft. Vielleicht kann er uns eine Wagenladung bringen und einfach hierher kippen.“

„Das würde das Problem bestimmt lösen.“ Jack säuberte die andere Seite der Dachrinne. „Und wie geht es Quinn?“

„Wie bitte?“

„Ich habe gehört, ihr zwei wärt zum Abendessen ausgegangen.“

Wo kam das jetzt her? „Die Gerüchteküche hat sich geirrt.“ Das erstaunte Lisa selbst, weil über den Nachrichtendienst innerhalb der Familie nur selten Falschmeldungen verbreitet wurden. „Er hat mich nur von der Arbeit abgeholt. Das ist alles.“

„Ich dachte … ach, ist schon egal.“

Ihre Augen zogen sich zusammen. „Was hat Kate gesagt?“

„Nichts.“

Sie lehnte sich gegen die Leiter und wackelte daran, bis das Metall klapperte. „Jack … bring mich nicht dazu, die Leiter umzukippen. Sie wieder aufzuheben, würde mir bestimmt viele Schmerzen bereiten.“

„Das würdest du wirklich tun.“ Er seufzte. „Quinn hat sich die Adresse vom Casa Rio geben lassen.“

Sie blinzelte. Das nächste Mal würde sie besser nachdenken, bevor sie ein Abendessen ablehnte.

Jack warf noch mehr Blätter hinunter. „Ich könnte mich überreden lassen, mit dir hinzugehen, wenn du dann diesen traurigen Hundeblick verlieren würdest.“

„Ich bin seit meinem Geburtstag nicht mehr im Casa Rio gewesen.“

Jack hockte sich auf die Fersen und legte die Arme um seine Knie. „Quinn hat sich daran erinnert, dass es zu deinen Lieblingslokalen gehört. Der Mann hat ein gutes Gedächtnis für Details.“

„Das merke ich.“

„Warum hast du nicht ja gesagt?“

„Jack –“

„Hey, ich bin dein Bruder.“

„Ich wollte ihm keinen falschen Eindruck vermitteln.“

Er wirkte verblüfft. „Quinn? Er ist anders als diese Ratte Kevin.“

„Da wir gerade davon sprechen – du hättest Kevin nicht die Nase brechen müssen.“

„Natürlich musste ich das. Er hat dich unglücklich gemacht.“

„Jennifer hat übertrieben.“ Lisa runzelte die Stirn. „Wie hat er mich genannt?“

„Lisa –“

„Ich kenne dich. Kevin hat irgendetwas gesagt, und du hast daraufhin zugeschlagen.“

„Er hat es kommen sehen. Und du hättest den Typen schon lange vorher aufgeben sollen.“

Sie trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. „Vermutlich.“

Sein Gesicht wurde weicher. „Eines Tages musst du mir mal erzählen, warum du es nicht getan hast.“

Sie hasste es, wenn er sie durchschaute. „Vielleicht.“

„Bei Quinn besteht keine Gefahr.“

„Irgendwie ist das ein komischer Ort für eine solche Unterhaltung.“

Er grinste. „Mir gefällt das. Du musst zu mir hochsehen.“

„Würdest du jetzt bitte fertig machen und herunterkommen?“

Er stand auf. „Ich habe noch Zeit für einen Spaziergang im Park, wenn du möchtest.“

In dem ganz in der Nähe liegenden Park gab es einen kleinen Teich und einen Spazierweg. Das war ein netter Abschluss des Abends. „Ja, gerne.“

* * *

Quinn quetschte den Wagen in eine kleine Parklücke einen Block westlich von Dearborn und Grand und griff nach seinem Jackett. Lincolns Nachricht war dringend gewesen. Er sah nach, ob seine Waffe in der Tasche steckte, schloss den Wagen ab, steckte seine Schlüssel ein und behielt die Menschen in seiner Nähe im Auge, während er zu der Galerie lief, wo er sich mit Lincoln verabredet hatte.

Die Innenstadt von Chicago um 21 Uhr abends war stark bevölkert, denn die Anwohner kamen aus ihren Wohnungen heraus, um den Herbstabend zu genießen, und mischten sich unter die Touristen, die sich in das Nachtleben stürzen wollten. Quinn stellte fest, dass er den Verkehr nach einem dunkelgrünen Plymouth absuchte. Er hasste Rätsel, doch dieser Verfolger würde nicht einfach verschwinden und verschwunden bleiben.

Dara war eine kleine Galerie, die sich in der Kunstwelt Chicagos einen Namen gemacht hatte. Sie unterschied sich kaum von Dutzenden anderen, die er im Laufe der Jahre besucht hatte, doch dieser Galerie war es gelungen, ihr Prestige zu bewahren. Das dunkelrote Baldachin über dem Eingang und die Lage, nur vier Blocks von der Haupteinkaufsstraße entfernt, hatten sicherlich mit dazu beigetragen, auch wenn in der Galerie zunehmend moderne Kunst ausgestellt wurde. Der Grund für die festliche Kleidung wurde deutlich, als er sich der Galerie näherte und das aufgebaute Podium und die Bedienungen entdeckte. An diesem Abend wurde eine neue Ausstellung eröffnet.

Da er davon ausging, dass Lincoln die Einladung arrangiert hatte, gab er seinen Namen beim Empfang am Podium an. Er bemerkte den stummen Austausch zwischen dem Gastgeber und dem Türsteher. Das Wort Käufer hatte eine interessante Wirkung, auch wenn er eigentlich aus einem anderen Grund da war.

Bei der Eröffnung, die mit Champagner gefeiert wurde, waren ein paar Kunstkritiker zugegen, die er kannte, und eine Besuchermenge, die das Herz des Besitzers wärmen musste. Die Leute blieben stehen und diskutierten über die verschiedenen Gemälde; es herrschte reger Betrieb in der Galerie.

Quinn suchte nach Lincoln, gleichzeitig glitt sein Blick über die Gemälde. Alles Ölgemälde, so weit er sehen konnte. Die Malerin arbeitete … sehr ausdrucksstark. Die Gemälde waren angenehm für das Auge, da dunkle Farben die Arbeiten dominierten, aber die Themen – vorwiegend Szenen aus der Stadt bei Nacht – würden nur eine ausgesuchte Besuchergruppe ansprechen. Er ließ sich von der Menschenmenge durch die Ausstellung schieben.

Ein anderer Künstler hätte den vom Mond beschienenen Chicago River vielleicht romantisch dargestellt; doch bei dieser Künstlerin dominierten schwarze Schatten im Wasser das Werk. Er zog die Augenbrauen in die Höhe. Dieses Bild strahlte viel Gewalt aus. Um einen solchen Eindruck zu schaffen, war großes Talent erforderlich.

„Danke, dass du gekommen bist.“

Er blickte nach links. Lincoln hatte sich zu ihm gesellt. „Interessante Bitte. Ich wusste gar nicht, dass du dich für Kunst interessierst.“

„Das tue ich auch nicht“, erwiderte Lincoln trocken. Quinn musste leise lachen. „Ganz rechts von dir unterhält sich ein Ehepaar um die fünfzig mit einer sehr lebendigen Dame in Rot, die ein Glas Weißwein balanciert.“

Quinn drehte sich unauffällig auf dem Absatz seines linken Stiefels um und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, ohne bei den drei von Lincoln beschriebenen Personen hängen zu bleiben. Die Dame in Rot schien ebenfalls um die fünfzig zu sein, aber sie wirkte jünger. Sie war fotogen, offensichtlich im Gespräch sehr engagiert, lebhaft, faszinierend.

„Die Dame in Rot – Valerie Beck.“

„Die Künstlerin der heutigen Ausstellung.“

„Ja.“

„Ihr Name, ihr Werk – sagt mir alles nichts.“

„Das braucht es auch nicht“, erwiderte Lincoln. „Geh weiter nach hinten; da ist etwas, das du sehen solltest.“

„Willst du mir einen Hinweis geben?“

„Ich möchte dich nicht beeinflussen. Sieh es dir einfach an.“

Was Lincoln nicht sagte, war genauso wichtig wie das, was er aussprach. Quinn warf einen letzten Blick auf die Dame in Rot und nickte.

Was hatte Lincoln entdeckt?

Er brauchte eine Weile, bis er den Bogengang in den nächsten Raum erreichte. Es war die Mitte der Galerie, ein zweiter Bogengang führte in einen weiteren Raum. Sein Weg wurde von einer Gruppe von Gästen blockiert; der Kritiker der Zeitschrift Chicago Fine Arts and Sculpture hatte die Besucher um sich geschart und hielt Hof. Er versperrte den Durchgang. Sehr ausführlich tat er seine Meinung über ein retrospektives Gemälde der Chicagoer Weltausstellung kund.

Quinn schob sich etwas widerstrebend an der Menge vorbei. Der Mann brauchte eine Lektion in Geschichte, wenn nicht sogar eine in Kunstgeschichte, und er war beinahe geneigt, stehen zu bleiben und sie ihm zu geben. Eigentlich hoffte er sogar, der Mann würde diesen Blödsinn in seiner Kritik schreiben, damit ganz Chicago seinen Mangel an Sachverstand mitbekam. Das Gemälde war sehr interessant, nicht so düster wie einige der anderen Werke. Wenn sich die Gruppe zerstreut hatte, würde er noch einmal zurückkommen und es sich etwas genauer ansehen – es könnte ins Esszimmer seiner Ranch passen, für das er noch etwas Geeignetes suchte.

Er betrat den zweiten Raum.

Fotografien, keine Gemälde. Unschlüssig blieb er in dem Bogengang stehen und nahm die Veränderung in der Stimmung der Kunstwerke in sich auf. Die ausgewählten Werke waren von fotojournalistischer Qualität: Menschen dominierten, Ereignisse. Allerdings waren die Fotos technisch nicht so ausgefeilt, wie er es von einer Künstlerin von Valerie Becks Kaliber erwartet hätte.

Nur zwei andere Gäste hielten sich in diesem Raum auf, die sich für die ausgestellten Werke interessierten.

Dies war die Arbeit eines anderen Künstlers. Er suchte nach einem Titel und dem Namen des Künstlers, die seine Annahme bestätigten.

„Das hier hat sie Ausdauer genannt.“

Valerie Beck hatte sich neben ihn gestellt. Von nahem wirkte sie genauso lebendig wie von weitem. Mit großer Hingabe betrachtete sie das Foto, vor dem er stehen geblieben war. Darauf zu sehen war der Start des Chicago-Marathon. Allerdings war das Jahr dieses Ereignisses schwer zu bestimmen.

„Die Arbeit meiner Tochter.“

Quinn unterdrückte sein Unbehagen. Er fragte sich, wo Lincoln steckte. Noch immer wusste er nicht, wonach er suchen sollte, aber offensichtlich befand es sich in diesem Raum. „Die Fotos zeigen ein großes Talent. Sie haben Grund, stolz auf sie zu sein, Mrs Beck.“

„Etwas Besseres wird sie nicht mehr machen, fürchte ich. Meine Tochter wurde vor elf Jahren ermordet. Sie wollte ihre Arbeiten immer einmal ausstellen.“

Gewalt und noch etwas anderes hatte Lincolns Aufmerksamkeit erregt … Quinn spürte, wie die Fäden zusammenliefen. „Eine Tragödie. Aber das hier“, er blickte sich in dem Raum um, „ist ein Akt der Liebe.“

Seine Worte wurden mit einem dankbaren Lächeln belohnt. „Mir hat die Zusammenstellung dieser Werke mehr Freude gemacht als die meiner eigenen Werke.“

Er nahm das zur Kenntnis, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Quinn deutete zu einem Foto links von ihm. „Das gefällt mir.“

„Pferde. Rita hat diese Tiere geliebt.“

„Dieses Pferd war aber auch ein großartiges Modell. Es scheint ein gutes Springpferd gewesen zu sein.“

„Ich glaube schon. Sammeln Sie Kunstwerke, Mr –?“

„Diamond. Quinn Diamond. Und ja, ich bin dafür bekannt, dass ich ein Kunstwerk kaufe, wenn es mir gefällt.“

„Diamond – so wie Marilyn Monroes ,Diamonds are a girl’s best friend‘?“ Sie lächelte ihn an und berührte den Ärmel seiner Jacke. „Wenn Sie einen Augenblick Zeit haben, Mr Diamond, erzähle ich Ihnen etwas über die wundervollen Fotografien einer viel versprechenden jungen Fotografin.“

Er gab ihr Lächeln zurück und entspannte sich. Irgendwie war sie ihm sympathisch. „Das würde mir Freude machen.“

Und in den folgenden zwanzig Minuten hörte er von einer Mutter etwas über ihre Tochter, die sie liebte, offensichtlich vermisste und auf die sie nach wie vor sehr stolz war. Das Wort ermordet war ein hartes, misstönendes Ende der Geschichte, aber sie schien sich mittlerweile damit abgefunden zu haben und sich auf die guten Erinnerungen zu konzentrieren.

Sie hatten den Raum beinahe abgeschritten, als Quinn abrupt stehen blieb.

„Meine Tochter. Als dieses Foto gemacht wurde, war sie sechzehn.“

Es war ein kleiner Schnappschuss, ein nicht gestelltes Foto, und es hing an der Wand unter einer Reihe von Auszeichnungen. Rita sah ihrer Mutter sehr ähnlich, selbst mit sechzehn. Sie hatte ihren Arm um die Schultern eines anderen Teenagers gelegt. Beide Mädchen hielten eine Kamera in den Händen. Das andere Mädchen auf dem Foto war das Mädchen, das er schon so lange suchte: die lächelnde Amy Ireland.

* * *

„Ich liebe diesen Mann.“ Lisa kuschelte sich auf die Couch und griff nach der Fernbedienung, um die Lautstärke anzupassen. Tom Hanks und Meg Ryan würden sich gleich zum ersten Mal küssen. Sie drückte den Telefonhörer fester an ihr Ohr. „Jennifer, küsst Tom auch so gut?“

„Besser“, erwiderte Jennifer selbstzufrieden.

Es war Viertel vor elf; Jennifer hatte um kurz nach zehn Uhr angerufen, um ihr zu erzählen, dass ein schöner Film im Fernsehen lief. Es war nicht das erste Mal, dass sie zusammen über die Entfernung hinweg einen Film anschauten. Lisa fühlte sich ganz entspannt. Ein paar Tabletten hatten ihr die Schmerzen genommen, und eine Tüte Chips lag offen auf dem Tisch.

„Wer war der letzte Mann, den du geküsst hast?“, fragte Jennifer.

Lisa grinste über die indiskrete Frage. „Jack. Er hat heute Abend meine Dachrinne gesäubert.“

„Brüder zählen nicht.“

„Nun, es war auf jeden Fall nicht Kevin“, erwiderte Lisa. Das war die Wahrheit. Bei Kevin hatte sie zwar viele Fehler begangen, aber diesen glücklicherweise nicht. In der Regel war sie ziemlich wählerisch, wen sie küsste.

„Gut. Ich habe diesen Typen nie gemocht.“ Der Film wurde durch eine Werbepause unterbrochen. „Quinn kann gut küssen, aber da ist leider dieser unangenehme Größenunterschied.“

„Was? Du gibst zu, dass er einen Fehler hat?“, neckte Lisa.

„Für dich wäre er gerade richtig.“

Lisa drückte sich in die Kissen. Sie erinnerte sich an die Augenblicke, wo er sie in den Armen gehalten hatte, als er ihr aus dem Wagen half. Jen hatte Recht … sein Kinn hatte ihr Haar gestreift. Ein Schauer durchlief sie. Wenn er sie küssen würde … „Ich habe nicht die Absicht, das herauszufinden.“

„Warum nicht? Er ist an dir interessiert.“

Jennifer sah alles so, wie sie es sehen wollte. Quinn war vielleicht an einer Freundschaft interessiert, aber nicht an mehr. „Nein, das stimmt nicht.“

„Wollen wir wetten?“

Nachdem sie an diesem Abend dank Jack und seinem letzten Abenteuer bereits in eine Familienwette gestolpert war, würde sie sich hierauf nicht einlassen. „Nein, will ich nicht. Außerdem – selbst wenn er interessiert wäre, ich bin es nicht.“

Sie war klug genug zu erkennen, dass sie unmöglich eine oberflächliche Beziehung zu Quinn unterhalten könnte. Sie hatte die Angewohnheit, übervorsichtig zu sein und dann von heute auf morgen ihr Herz einfach auszuliefern. Es gab keinen sicheren Mittelweg, und leider hatte sie in der Vergangenheit häufig nicht sehr klug entschieden. Bei ihr ging es wie in ihrer Kindheit immer noch um alles oder nichts.

„So alt ist Quinn doch noch nicht“, bemerkte Jennifer.

Vierundvierzig. Er war neun Jahre älter als sie, doch sein Alter war für Lisa wirklich kein Problem. Es stand ihm gut. Aber das, was sein Alter über ihn aussagte, war das Problem. Der Mann hätte schon vor langer Zeit heiraten sollen. Wenn sie das jedoch aussprach, klang das abwertend, und sie wollte nicht zu kritisch sein. Da sie Quinn kannte, gab es vermutlich einen stichhaltigen Grund für seine mangelnde Bereitschaft, eine Familie zu gründen.

„Ich möchte nicht in Montana leben“, erwiderte sie. Es war eine Lüge, und sie gestattete sich, ein wenig zu träumen.

„Es würde dir gefallen, und das weißt du auch.“

„Kannst du dir vorstellen, dass ich eine brave Hausfrau bin?“ Meilenweit von einer größeren Stadt entfernt zu leben, nur mit Quinn und den Angestellten als Gesellschaft … das klang wirklich wundervoll. Sie mochte die Stadt, aber wann immer sie konnte, ergriff sie die Flucht.

„Deinen Pilotenschein hättest du innerhalb kürzester Zeit gemacht“, erwiderte Jen. „Und es würde ein paar Jahre dauern, bis du alle wilden Tiere kennen würdest, die vorbeikommen. Wie ich hörte, hat Quinn im vergangenen Winter einen Puma gesehen.“

Bei dieser Neuigkeit fuhr Lisa hoch. Sie hatte noch nie einen Puma gesehen, höchstens Pumaspuren im Schnee bei ihren Bergwanderungen. „Tatsächlich?“

„Er ist wohl bis hinunter zum Stall gekommen.“

„Ich hoffe, er hat ihn nicht getötet.“

„So wie ich Quinn kenne, hat er ihn vermutlich freundlich überredet, weiterzuziehen. Außerdem, denk doch an das weite Land, das du erforschen könntest. Gibt es nicht sogar Höhlen auf seinem Besitz?“

„Wohl mehrere in den Bergen.“

Die Werbung war zu Ende, und der Film ging weiter. Lisa war erleichtert. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihre Schwester das Gespräch auf das Thema Religion bringen würde. Jen war darin nur wenig feinfühliger als Kate. Religion und Quinn waren die liebsten Gesprächsthemen ihrer Schwestern. Mit einer ihrer Schwestern über einen Mann zu sprechen, war immer schwierig für Lisa. Sie behielten genau in Erinnerung, was sie sagte … und was sie nicht sagte.

„Oh, ich werde gleich heulen. Das ist so traurig“, seufzte Jennifer, als Tom und Meg Abschied voneinander nahmen, möglicherweise für immer. Lisa hielt den Hörer vom Ohr ab, als Jen sich geräuschvoll die Nase putzte. Sie persönlich fand den Film ein wenig zu kitschig. Im realen Leben war niemand so romantisch, obwohl Marcus und Shari dem sehr nahe kamen. Aber es konnte ja nicht schaden, zu träumen.

* * *

„Lincoln, was geht hier vor?“ Das italienische Restaurant einen Straßenzug östlich der Galerie hatte sich angesichts der späten Stunde teilweise geleert. Quinn bestellte Kaffee und einen Teller mit Anti-Pasti, damit sie einen Grund hatten, noch länger zu bleiben, während sie miteinander redeten.

„Das ist also Amy Ireland?“

Quinn hatte die erstaunliche Entdeckung, die Lincoln gemacht hatte, noch immer nicht richtig verarbeitet. „Ja. Mit sechzehn hat sie ein zweiwöchiges Camp mitgemacht, das vom Museum of Art in Chicago veranstaltet wurde. Dort scheint sie Rita Beck kennen gelernt zu haben. Und da ich mich nicht erinnere, Rita auf der Teilnehmerliste dieses Camps gesehen zu haben, erklärt das, warum ich die Verbindung nicht gefunden habe.“

„Ich dachte mir schon, dass das Amy ist, aber ich kann ja schlecht Mrs Beck danach fragen.“

„Warum nicht?“

„Ich versuche zu beweisen, dass Grant Danford ihre Tochter nicht ermordet hat.“

Quinn zuckte zusammen. „Der Fall, an dem du in den vergangenen zwei Monaten gearbeitet hast, der Mann, der eine lebenslängliche Freiheitsstrafe absitzt.“

„Rita war fünfundzwanzig, als sie verschwand. Ihre Leiche wurde acht Jahre später auf Grant Danfords Besitz gefunden. Ein Zeuge will Grant und Rita an ihrem letzten Tag zusammen gesehen haben. Das widerspricht seiner Aussage vor der Polizei. Die Geschworenen haben ihn des Mordes für schuldig befunden.“

„Und du hältst ihn für unschuldig?“

„Seine Schwester tut das; sie hat mich engagiert. Nach zwei Monaten, in denen ich mich mit dem Fall beschäftigt habe, glaube ich, dass viel mehr dahintersteckt als das, was bei der Gerichtsverhandlung herausgekommen ist. Nicht dass Grant mir eine große Hilfe wäre. Mit dem Mann kann man einfach nicht arbeiten. Er stellt Fragen, anstatt mir Antworten zu geben. Ich habe mit allen an diesem Fall Beteiligten gesprochen, die ich auftreiben konnte.“

Quinn betrachtete seinen Freund und dachte über seine Worte nach. Lincoln suchte sich neuerdings die Fälle aus, die er bearbeitete. Er hätte diesen nicht übernommen und so lange daran gearbeitet, wenn ihm sein Gefühl nicht gesagt hätte, dass etwas dabei herauskommen würde. Die Schwester schien fest von Grants Unschuld überzeugt zu sein – und einer Dame hatte Lincoln noch nie eine Bitte abschlagen können. Quinn wünschte ihm Glück. Einen Mann zu entlasten, der bereits im Gefängnis saß, war ein schwieriges Unterfangen. „Warum warst du heute Abend in der Galerie?“

„Ich wollte mich mit dem Hintergrund beschäftigen, suchte Leute, die Rita kannten.“

„Du wolltest sehen, wer sich ihre Fotos anschaut.“ Falls Grant tatsächlich unschuldig war – Mörder neigten dazu, zu ihren Opfern zurückzukehren, sogar noch Jahre später.

Lincoln nickte. „Laufarbeit. Nun, da ich pensioniert bin, bin ich viel öfter unterwegs als früher.“

Und ich liebe die Arbeit immer noch, das lag in seiner Stimme.

„Ich werde mich einmal ausführlich mit Mrs Beck über die Freundschaft ihrer Tochter mit Amy unterhalten müssen. Sobald Mrs Beck erfährt, dass Amy Ireland seit zwanzig Jahren vermisst wird, wird dies eine Menge schmerzlicher Erinnerungen in ihr wachrufen; es könnte durchaus sein, dass sie nicht mehr mit mir reden will. Und ganz bestimmt wird sie mir nicht helfen wollen, wenn sie erfährt, dass wir beide alte Freunde sind und dass du es warst, der die Verbindung zwischen den Mädchen entdeckt hat.“

„Die Tatsache, dass Rita acht Jahre vermisst wurde, bevor sie gefunden wurde, könnte dir tatsächlich helfen – Mrs Beck wird sich mit einer Mutter identifizieren, die gern Gewissheit haben möchte.“ Lincoln betrachtete Quinn und schob die Rechnung zu ihm hinüber. „Und ich würde es nicht persönlich nehmen, wenn du dich in der Öffentlichkeit von mir distanzieren würdest, solange du die Rechnung übernimmst, wenn wir zusammensitzen und unsere Ergebnisse vergleichen.“

Quinn nahm die Rechnung. „Du bist ein harter Verhandlungspartner.“

Lincoln lächelte. „Ich habe von den Besten gelernt. Emily könnte dir ebenfalls bei der Hintergrundarbeit helfen. Sie wollte nicht an dem Fall von Grant Danford arbeiten; sie hält ihn für schuldig. Sie wird einige Nachforschungen für dich anstellen können, ohne dass die Leute sie mit meinem Fall in Verbindung bringen.“

„Das weiß ich zu schätzen. Ich muss alles über diesen Sommer erfahren, in dem die Mädchen sich kennen gelernt haben, bevor ich mit Mrs Beck rede.“

„Du wirst erstaunt sein über Emilys Findigkeit.“

„Kann ich auch die Danford-Akten einsehen? Ich muss vorbereitet sein, bevor ich in ein Minenfeld trete. Ich muss wissen, wie Rita gestorben ist.“

„Komm morgen herüber, dann zeige ich dir, was ich habe.“ Lincoln drehte das Glas zwischen seinen Fingern. „Lisa hat den Fall bearbeitet.“

Quinn stellte seinen Kaffee ab, ohne davon zu trinken. „Tatsächlich?“

„Sie hat das Grab ausgehoben.“