Über das Buch:
Mit seinen 25 selbst erlebten, authentischen Geschichten wirft Christian Döring 25 Schlaglichter auf die ganz besonderen Umstände, die den Alltag eines DDR-Bürgers bestimmten. Er stellt sich den Fragen von Christian Heinritz, einem gleichaltrigen »Westler«, und gewährt tiefe Einblicke in sein Aufwachsen und Leben als Christ in der DDR.
Für die, die erlebt haben, was es heißt, als »politisch Unzuverlässiger« in einem sozialistischen Staat zu leben, holen die Schlaglichter das entsprechende Lebensgefühl aus der immer stärker hereinbrechenden Dämmerung des Vergessens und helfen ein kleines Stück weit, selbst Erlebtes zu verarbeiten.
Für die, die im Westen aufgewachsen sind, eröffnen die Geschichten ein Universum ebenso unbekannter wie spannender Erfahrungen, die helfen, die jüngste deutsche Geschichte besser zu verstehen.
Christian Döring nimmt uns alle mit auf eine faszinierende Reise in die Vergangenheit.

Über den Autoren:
Christian Döring wurde 1962 in Güstrow in der DDR geboren. Er ist verheiratet und hat fünf Kinder. Heute rezensiert er vor allem christliche Literatur für seinen Bücherblog „bücherändernleben“.

Über den Interviewer:
Christian Heinritz wurde 1963 in Weißenburg in Bayern geboren. Er ist gelernter Buchhändler und arbeitet im Verlag der Francke-Buchhandlung im Bereich Marketing.

7. Ein Gedicht entscheidet über mein Studium

Sie haben Beiträge für Zeitungen geschrieben? Lassen Sie uns noch einmal zurückspringen in die Anfänge Ihrer Tätigkeit als aufmerksamer, kritischer Begleiter des Geschehens im deutschen Arbeiter- und Bauernstaat. Wie kommt man dazu, sich journalistisch zu engagieren in einem Land, in dem es Meinungsfreiheit kaum gibt und die Pressearbeit weitgehend staatlich gelenkt wird? Was macht man da für Erfahrungen?

Mit der Presse- und Meinungsfreiheit ist das so eine Sache. Selbst im real existierenden Sozialismus gab es Nischen, in denen ich veröffentlichen durfte. Meine Ausgangssituation war ja, dass ich mich immer mehr zu einem aufmerksamen Beobachter entwickelt hatte, und natürlich wollte ich meine Beobachtungen auch anderen mitteilen. Aber wem sollte ich erzählen, dass ich mich beim Lesen der „Schweriner Volkszeitung“ – der SED-Tageszeitung des Bezirkes Schwerin – daran störte, dass sich Theorie und Praxis nur äußerst selten trafen? Eine wichtige Nische war meine Schublade. Gedichte, Kurzgeschichten – alles Mögliche wanderte dort hinein. Irgendwann aber kommt jeder Schubladenschreiber an den Punkt, an dem er mit seinen Werken an die Öffentlichkeit will. Die Gelegenheit dazu bot sich mir ganz unverhofft gegen Ende meines siebten Schuljahres. Ich durfte ein von der FDJ organisiertes sogenanntes Poetenseminar besuchen, das die staatlichen Kulturfunktionäre gerade für junge Leute wie mich eingerichtet hatten, die mit ihren geistigen Erzeugnissen ein breiteres Publikum ansprechen wollten als die eigene Familie.

Meine Teilnahme hatte jedoch ein Nachspiel von großer Tragweite.

Die Glocke läutete bereits zum Stundenbeginn, als eines Tages mein Deutschlehrer die Klasse betrat, direkt auf mich zusteuerte und mir zuraunte: „Christian, du sollst dich sofort beim Direktor melden!“

Es war ungewöhnlich, dass ein Schüler während des Unterrichts irgendwo hingeschickt wurde. Und ein Gespräch mit dem Genossen Direktor gab es auch nicht jeden Tag. Zunächst bekam ich einen Schreck, aber als artiger Einzelgänger hatte ich mir nichts vorzuwerfen. Ich hatte weder geraucht noch geschwänzt, also was wollte er von mir? Hatte es etwas mit dem Seminar zu tun?

Immerhin war es mein Deutschlehrer gewesen, der wusste, dass ich gern schrieb, und mich ermuntert hatte: „Fahr doch mal dahin, vielleicht ist es was für dich!“

Also gut, ich war mit meinen Gedichten und Geschichten nach Schwerin gefahren. Allerdings hatte ich nicht lange gebraucht, um zu erkennen, dass dort nur streng rote FDJler das Sagen hatten. Da war eher Zurücklehnen angesagt und Schweigen, um ja nichts falsch zu machen. An einem Vormittag dieses Wochenendes waren wir gebeten worden, drei unserer Werke auf einen großen Tisch zu legen und uns dann einen fremden Text auszusuchen, den wir lesen und anschließend im Forum kommentieren und bewerten sollten. Leider hatte sich niemand für eines meiner Gedichte entschieden und ich war auch nicht aufgefordert worden, den von mir ausgesuchten Text zu kommentieren. Schließlich war mir immer langweiliger geworden, weil sich alles nur um die Arbeiterklasse gedreht hatte, die damit beschäftigt war, den Sozialismus aufzubauen, oder um den Klassenfeind, der im Westen saß und dem wir mit unseren sozialistischen Leistungen beweisen mussten, dass wir die bessere Gesellschaft waren und einen guten Weg zum „Menschen neuen Typus“ eingeschlagen hatten.

Als ich nun am Sekretariat meiner Schule klopfte, schlug mein Herz schon etwas höher. Frau Brandt, die Sekretärin, bat mich herein. Ich mochte die ältere Dame. Sie war unsere Gartennachbarin und schimpfte daheim wie ein Rohrspatz über den Sozialismus, in der Schule aber spielte sie eine andere Rolle. Heute sah sie ernst aus. Sie meldete mich bei ihrem Chef an und schob mich, ohne ein Wort zu sagen, in sein Büro.

Ohne große Vorrede hielt mir der Schuldirektor einen Zettel vor die Nase, auf dem eins von den Gedichten stand, die ich beim Poetenseminar ausgelegt hatte. Heute kann ich nicht mehr sagen, was der Inhalt dieses Gedichtes war, aber es war garantiert weder christlich noch sozialistisch.

„Ist dieses Gedicht von dir, Christian?“, hörte ich den Direktor fragen.

Ich fühlte mich wie in einer dichten Nebelbank. Wie hatte dieses Gedicht auf dem Tisch meines Schuldirektors landen können? Abgesehen von dem sozialistischen Geschwafel waren wir in Schwerin doch eine ganz nette Truppe gewesen, niemand hatte mich zuvor gekannt und es war auch kein anderer aus Schwaan in Schwerin dabei gewesen. Wie war also dieses Blatt Papier zu meinem Direktor gekommen? Ich muss ziemlich belämmert dreingeschaut haben, denn er schob ungeduldig nach: „Nun sag schon, dass es dein Gedicht ist.“

„Ja, ich habe das Gedicht geschrieben.“

Der Direktor forderte mich auf, mich auf seinen Besucherstuhl zu setzen, warf sich in seinen Sessel und meinte: „Du kannst gut schreiben, Christian. Gefällt mir, was du so in der Freizeit machst. Was allerdings in deinen Gedichten nicht so gut rüberkommt, ist, dass du die führende Rolle unserer Arbeiterklasse und ihrer Partei nicht genug würdigst. Das muss sich ändern, Christian.“

Damit erhob er sich auch schon wieder, gab mir mein Blatt Papier mit dem Gedicht zurück und sagte noch: „Ändere das, Christian!“

Ich war perplex. Anscheinend hatte ich Spielregeln nicht beachtet, von denen ich nicht einmal etwas gewusst hatte. Hätte ich geschrieben, dass die sozialistische Arbeiterklasse der DDR unter Führung der SED unser sozialistisches Heimatland aufbaut und andere Schichten der Bevölkerung dabei mitzieht, wäre alles auf Linie und somit in Ordnung gewesen.

Als ich mit meinem Gedicht in der Hand auf dem Schulflur stand, brannte noch immer mein Gesicht vor Aufregung. Ich fragte mich: Was war das eben eigentlich? Im ganzen Schulhaus war es mucksmäuschenstill und ich ging erst mal aufs Klo. Kaltes Wasser in meinem Gesicht half mir, mich ein wenig abzukühlen. Da ich kein Handtuch zum Abtrocknen fand, muss ich wohl zurück im Deutschunterricht ausgesehen haben, als hätte ich gerade geheult. Mein Lehrer schaute mich besorgt an, sagte erst keinen Ton, fragte aber später, als wir über unsere Aufsätze gebeugt dasaßen: „Alles in Ordnung mit dir?“

Wenige Tage später war dieses Ereignis für mich schon wieder ganz weit weg. Es war nicht vergessen, aber längst verjährt und als nicht mehr aktuell abgehakt. Nicht so für meinen Schuldirektor. In einer Hofpause rief er mich zu sich heran und bat mich wiederum in sein Büro. Jetzt sofort wollte er das von mir überarbeitete Gedicht sehen. Ich hatte aber weder ein überarbeitetes Gedicht noch die alte Fassung, ich hatte nichts dabei und konnte ihm nichts zeigen, selbst wenn ich gewollt hätte.

Und nun fiel ein Satz, der Weichen stellte in meinem Leben: „Tja, Christian, wenn wir uns nicht auf dich verlassen können, dann wirst du auch nicht studieren können.“

Und damit war die Szene zu Ende. Von einer Sekunde zur anderen wurde aus dem guten Schüler einer, dem alles egal war. Mir war sofort klar, dass der Genosse Direktor tatsächlich die Macht hatte, derart willkürlich über einen Studienplatz zu entscheiden. Ich verlor jedes Interesse an der Schule. Innerhalb weniger Wochen war das auch an meinen Noten zu merken. Aber niemand kümmerte sich mehr um mich. Erst als ich begann, die Schule zu schwänzen, trafen mich wieder die Erziehungsmaßnahmen meiner sozialistischen Bildungsstätte.

Einmal machte ich gleich eine ganze Woche lang blau, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Immerhin nutzte ich die Zeit, um unsere nähere Umgebung auf dem Fahrrad zu erforschen. Von unserer Doberanerstraße war es nicht weit bis zum Friedhof und von dort ging es hinein in den Lindenbruch, einen herrlichen kleinen Laubwald. Gleich dahinter schlossen sich die Feuchtwiesen an der Beke an. 70 Jahre zuvor hatte hier Professor Bonke mit seinen Rostocker Kunststudenten gestanden und gemalt. Später nannte man diese Gruppe die „Schwaaner Künstlerkolonie“. Viele ihrer Gemälde hatte ich in der Wohnung unserer Kantorin Ida Loheit betrachtet und lieben gelernt.

Am Straßenrand neben einer dieser Feuchtwiesen, nicht weit vom Altersheim entfernt, stand eine Bank. Darauf saß Frau Kratkey. Noch vor wenigen Jahren war die alte Frau hin und wieder zu meiner Mutter zum Nachmittagskaffee gekommen. Sie war eine Siebenbürger Sächsin und fühlte sich nach dem Tod ihres Mannes und ihres Sohnes einsam. Inwieweit sie geistig noch auf der Höhe war, konnte ich nicht einschätzen. Auf alle Fälle bremste ich mein Fahrrad und sagte artig „Guten Tag!“, bekam aber keine Antwort. Etwas verwirrt über dieses ungewöhnliche Verhalten ließ ich mich deshalb neben ihr nieder und fragte: „Was ist denn los, Frau Kratkey?“

„Ich will zu meinem Mann“, antwortete sie leise und hielt ihre Augen unverrückt auf ein fernes Ziel gerichtet, als schaute sie durch den Lindenbruch hindurch bis auf den Friedhof. Als nun die Kirchenglocken mit dem Abendläuten einsetzten, wurde ich etwas nervös, denn ich wusste um den Ärger, den sich die Alten einhandelten, wenn sie nicht pünktlich um 18 Uhr im Altersheim eintrafen, wo das Abendessen gereicht wurde. Diesen Ärger wollte ich der Frau ersparen und so versprach ich ihr, sie zu ihrem Mann zu bringen, wenn sie nun zügig in ihre Unterkunft zurückkehrte. Sie war einverstanden und so radelte ich am nächsten Montagvormittag, während meine Klassenkameraden die Schulbank drückten, wieder zu der Bank, auf der ich tatsächlich Frau Kratkey antraf. Ich erfuhr, dass ihre Kräfte nicht mehr weiter reichten als bis zu dieser Bank, weshalb sie nie ihre verstorbenen Angehörigen auf dem Friedhof besuchen konnte. Also machten wir uns zusammen auf den Weg in Richtung Friedhof. Ich stützte mich auf den Fahrradlenker und die alte Frau stützte sich mit ihren beiden Händen auf meine Schultern. Sicher ein komischer Anblick. Aber so schafften wir den Weg. Eine gefühlte Ewigkeit später standen wir an den Gräbern von Ehemann und Sohn. Ich schleppte eine Bank herbei und Frau Kratkey setzte sich. Ihr starrer Blick verlor sich langsam und sie begann, zu ihren lieben Verstorbenen zu sprechen. Sie weinte über ihre Einsamkeit und die bedrückende Lage, in einem kleinen Zimmer mit einer wildfremden Frau zusammenleben zu müssen. Ich machte mir indes Gedanken, wie ich sie wieder ins Altersheim zurückschaffen könnte. Aber alles ging gut und wir machten eine Woche lang täglich einen solchen Ausflug, das heißt, von Montag bis Freitag schwänzte ich die Schule. Meine Mutter stand in ihrer Kindergartenküche und ahnte nichts. Doch es kam, wie es kommen musste. Die Aktion flog auf, das Donnerwetter meiner Mutter war gewaltig und ich bekam einen Schulverweis. Zum ersten Mal stand auf meinem Zeugnis wenige Wochen später im Fach „Betragen“ keine Eins. Das Traurigste an dieser Geschichte aber ist für mich noch heute, dass Lehrer, Direktor und auch meine Mutter schimpften: „Wie konntest du nur …?“ Aber nicht einer fragte: „Was hast du eigentlich während der Woche gemacht?“

Wenigstens konnte sich meine schulische Situation kaum noch verschlechtern. Wie gern hätte ich Geschichte oder Theologie studiert, aber aus die Maus! Keiner kann sich vorstellen, welche Genugtuung ich empfand, als ich kurze Zeit später erfuhr, dass der Genosse Direktor Krebs hatte und wenige Monate später tot war. Ein schlimmer Satz, ich weiß, aber Vergebung ist ein schwieriges Kapitel …

Doch es half ja alles nichts – ich musste mich im Bezug auf meinen Berufswunsch völlig neu orientieren, weil ich keine Zulassung für die EOS bekam und damit aus meinem Studium nichts werden konnte. EOS wurde die Erweiterte Oberschule genannt, die man durchlaufen musste, um studieren zu dürfen. Heute würde man Gymnasium sagen. Um einen Platz auf der EOS zu ergattern, musste man nicht immer nur gute schulische Leistungen bringen, da zählte auch die gesellschaftliche Einstellung. Es konnte also vorkommen, dass es einen Schüler gab, dessen Zensuren sich zwischen Drei und Fünf bewegten, der aber trotzdem zur EOS zugelassen wurde. Vielleicht hatte er ja das Zeug zu einem hervorragenden sozialistischen Nachwuchskader …

Bei mir aber biss die Maus keinen Faden ab und ich musste mich die folgenden drei Jahre ohne jede Motivation durch den Unterricht einer Schule quälen, die mich keineswegs optimal auf das Berufsleben vorbereitete, sondern ein Exempel an mir statuierte.

Immerhin gab es in unserer Straße einen privaten Tischlermeister, der auch ausbilden durfte. Er war wie ein großer Freund für mich, ich durfte ihn duzen und immer, wenn ich Lust hatte, in seiner Werkstatt besuchen. Der stellte mir wenigstens eine Lehrstelle in Aussicht, sodass meine Zukunft materiell gesichert schien. Aber nur für wenige Wochen. Eines Tages sah ich, wie aus seiner Werkstatt seine wichtigsten Maschinen herausgeholt wurden. Später erfuhr ich, dass er es mit den Steuern nicht so genau genommen hatte. Nun musste er sie zurückzahlen. Da es aber um seine Liquidität schlecht bestellt war, weil er sämtliche finanzielle Mittel in die Firma investiert hatte, wurden seine Maschinen gepfändet. Ohne die konnte er aber keine Lehrlinge mehr ausbilden oder Aufträge annehmen. Also wurden an diesem Tag gleich zwei Karrieren beendet.

Wieder musste ich mir etwas Neues suchen. Ich hörte von einem selbständigen Malermeister und ging zu ihm. Natürlich beichtete ich ihm gleich, dass meine Schulnoten drastisch in den Keller gegangen waren, doch er meinte nur: „Deine Noten interessieren mich nicht, arbeiten musst du können.“ Und so wurde ich nach der zehnten Klasse Malerlehrling.

Wochen später schrieb ich meine Erlebnisse mit Frau Kratkey auf. Ich wollte sie unbedingt veröffentlichen, nicht um mich als Held aufzuspielen, sondern um auf die Bedürfnisse alter Leute hinzuweisen. Von meiner „Mecklenburgischen Kirchenzeitung“ erfuhr ich in einem Vier-Augen-Gespräch, dass so ein Beitrag keinerlei Aussicht hatte, die Zensur zu passieren, weil er eine herbe Kritik am DDR-Gesundheitssystem beinhaltete. Dabei hielt doch gerade die DDR ihr Gesundheitssystem für weltweit führend. Kein Redakteur der MKZ wagte es, mir diese Begründung schriftlich mitzuteilen, das gehörte zum Selbstschutz. Meiner SED-Tageszeitung schickte ich den Beitrag ebenfalls, aber auch von den Genossen Redakteuren bekam ich nie eine Antwort.

Hätte ich auf dem FDJ-Poetenseminar in Schwerin ebenfalls den roten Wortkämpfer gespielt, hätte ich vielleicht auch mal zu den zentralen Poetenseminaren nach Berlin fahren dürfen. Mit viel Glück wäre ich vielleicht ein roter Autor geworden. Aber mit Sicherheit wäre ich selbst dann bald im Aus gelandet, schließlich wäre ein solches Engagement doch nur geheuchelt gewesen.

8. Krieg: Äthiopien – Somalia

Drei Jahre Schule ohne weiterführende, echte Perspektive? So wie man Sie bisher kennengelernt hat, kann man sich kaum vorstellen, dass Sie sich nach einer solchen Behandlung radikal angepasst oder in die innere Emigration zurückgezogen haben. Wie sind Sie mit der Situation umgegangen?

Es ist nicht leicht, die Anspannung, ja die Angst zu vermitteln, die immer dann aufkam, wenn man eine Meinung äußerte, die nicht offizielle Parteimeinung war. Wer sich heute mit diesem Thema beschäftigt, der muss sich ins Bewusstsein rufen, dass bis 1989 die Staatsmacht mit Hilfe der Stasi und nicht zuletzt mit Rückendeckung des großen sowjetischen Bruders fest im Sattel saß und niemand an eine Vereinigung beider deutscher Staaten glaubte. Der Durchbruch zur Freiheit lag so weit außerhalb des Vorstellbaren, dass man nicht einmal einen Gedanken daran verlor.

In der Schule bekamen wir beispielsweise vorgegaukelt, dass der real existierende Sozialismus weltweit auf dem Vormarsch sei. Besonders im Bereich Afrika färbte sich die Weltkarte, die im Klassenzimmer hing, immer mehr rot. Am Horn von Afrika wurde beispielsweise der Kaiser von Äthiopien vertrieben und sein Land verwandelte sich in einen unserer sozialistischen Bruderstaaten. Auch das Nachbarland Somalia mutierte zur Volksrepublik. Natürlich wurden solche Beispiele bis zum Erbrechen im Staatsbürgerkundeunterricht, aber auch in Geschichte oder Geografie durchgekaut. Immer wieder ging es um den weltweiten Wettlauf zwischen Sozialismus und Kapitalismus.

Vor einem Thema drückten sich die Lehrer allerdings sehr geschickt. Wer, wie ich, täglich Ost- und Westnachrichten verfolgte, dem war klar, dass sozialistische Staaten unterschiedliche Wege auf dem Weg zum Kommunismus einschlugen. So unterschied sich der Sozialismus in Ungarn z. B. stark von dem in China, der wiederum deutlich abwich vom Gesellschaftssystem in der Sowjetunion. Im Unterricht war diese Diskrepanz aber nie ein Thema. Dort bildeten wir die große, heldenhafte, sozialistische Völkergemeinschaft, in die kein imperialistischer Feind einen Keil treiben konnte.

Als ich allerdings über das Westfernsehen erfuhr, dass sich die roten Zwillinge Äthiopien und Somalia in einem blutigen Krieg gegenüberstanden, war für mich eine Grenze erreicht. Relativ spontan versuchte ich meine Mitschüler zu mobilisieren und mit ihnen gemeinsam unseren Stabülehrer mit der Frage zu konfrontieren, wie so etwas denn sein könne. Niemand brachte den Mut auf, mich zu unterstützen, doch ich hatte nichts mehr zu verlieren. Also hob ich meinen Finger. In der Klasse wurde es totenstill. Alle wussten ja, was nun kommen würde. Als meine Frage dann im Raum stand, knisterte die Luft. Spätestens jetzt schoss mir die Frage durch den Kopf, woher ich den Mut nahm, so ein Fass aufzumachen. Wahrscheinlich lastete einfach viel zu viel Druck auf dem Ventil meiner Leidensfähigkeit, und da schließlich ohnehin besiegelt war, dass ich nicht studieren durfte, traute ich mich eben.

Komischerweise blieb ein Donnerwetter aus. Der Lehrer war erstaunt über diese Frage und lobte mich, weil ich die internationale Lage so genau beobachtete. Restlos verblüfft hat er mich allerdings mit seiner Antwort: „Diese Frage kann ich dir jetzt nicht beantworten. Da muss ich erst beim Rat des Kreises in Bützow nachfragen.“

Beim Rat des Kreises in Bützow? Heißt das, Ihr Lehrer hatte nicht die Befugnis, zum aktuellen politischen Geschehen Stellung zu beziehen?

Die Stadtverwaltung war der kleinste Verwaltungsapparat und hieß bei uns „Rat der Stadt“. Dort gab es jede Menge Abteilungen. Eine für Volksbildung, eine für Gesundheit, eine für Wirtschaft und so weiter. Mehrere Städte bildeten zusammen einen Kreis und mehrere Kreise einen Bezirk. 14 Bezirke bzw. 15, wenn man Berlin mitrechnete, wiederum bildeten die DDR. Mein Heimatland Mecklenburg beispielsweise bestand aus den Bezirken Schwerin, Rostock und Neubrandenburg. Die Verwaltung – und Kontrolle – unseres Staatswesens war also bestens organisiert, und was für eine Interpretation des Krieges am Horn von Afrika der Rat des Kreises in Bützow abgeben würde, das konnte ich mir an fünf Fingern abzählen. Dennoch bekam ich von meinem Stabülehrer nie eine Antwort auf meine Frage. Dieses Beispiel macht deutlich, wie unsicher selbst die Amtsträger in vielen Fragen waren. Es zeigt, dass niemand vorher einschätzen konnte, wie ein Repräsentant unseres Staates mit kritischen Fragen umgehen würde. Er konnte so reagieren wie mein Lehrer, er hätte eine solche Frage aber auch als gezielte politische Provokation auffassen und an die Abteilung Inneres beim Rat des Kreises übergeben können. So lernte man schon als Schüler, dass es besser war, den Mund zu halten und dadurch ein ruhiges Leben zu führen.

Im Übrigen sah ich meiner Zukunft ganz entspannt entgegen. Mein Ausbildungsplatz bei einem privaten Handwerker war mir sicher und ich war froh, dass ich in einem privaten Handwerksbetrieb nicht jene überaus beliebten, jährlich wiederkehrenden sozialistischen Pflichtübungen zu absolvieren hatte, wie sie in Staatsbetrieben üblich waren. Egal, ob es die großen Republikfeiern am 7. Oktober waren oder die vielen verschiedenen Kundgebungen in allen sozialistischen Städten und Dörfern – überall musste man mitmarschieren und vor allem ein fröhliches Gesicht zeigen. Bei Schülern und Arbeitern wurde sehr darauf geachtet, dass sie anwesend waren und unter anderem bei der Maikundgebung mit Fähnchen und Spruchelementen durch die Stadt an der Warnow marschierten.