Cover

titel.jpg
Über den Autor
Peter Härtling, geboren 1933 in Chemnitz, lebt als freier Schriftsteller in Walldorf bei Frankfurt am Main. Er veröffentlichte Lyrik, Erzählungen, Romane und Kinderbücher, wofür er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. U. a. erhielt er den Deutschen Bücherpreis und für sein kinderliterarisches Gesamtwerk den Sonderpreis zum Deutschen Jugendliteraturpreis.
Peter Härtlings Kinderbücher wurden in viele Sprachen übersetzt und sind längst zu Klassikern der Kinderliteratur geworden. Bei Beltz & Gelberg erschienen unter anderem Das war der Hirbel, Oma, Theo haut ab, Ben liebt Anna, Sofie macht Geschichten, Alter John, Jakob hinter der blauen Tür, Krücke, Fränze, Mit Clara sind wir sechs, Lena auf dem Dach, Jette, Tante Tilli macht Theater, Reise gegen den Wind, Paul, das Hauskind, Hallo Opa – Liebe Mirjam und Djadi, Flüchtlingsjunge.
Mehr zum Autor und seinen Büchern unter www.haertling.de
Impressum
Dieses Buch ist auch erhältlich als:
ISBN 978-3-407-78101-7 Print
ISBN 978-3-407-74549-1 E-Book (EPUB)
© 1991 Gulliver
In der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
Neue Rechtschreibung
© 1975 Beltz & Gelberg
Einbandtypografie: Max Bartholl
Einbandbild: Peter Knorr
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de

Inhalt

Wie Kalle zu Oma kam
Was an Oma anders ist
Mit Oma auf dem Amt
Wenn Oma erzählt
Oma sorgt für Gerechtigkeit und Kalle schämt sich für sie
Mit Oma in den Ferien
Die Fürsorgerin besucht Oma und Kalle
Omas Ängste
Oma findet Fußballspielen gut
Warum Kalle mit Oma manchmal streitet
Oma gewinnt einen Freiflugschein
Oma besucht mit Kalle eine Freundin im Altersheim
Oma diskutiert mit dem Fernsehapparat
Oma wird krank
Kalle wird zehn
s_2.jpg

Wie Kalle zu Oma kam

Mit siebenundsechzig Jahren ist man alt, behaupten die Leute. Oma bestreitet das. Sie sagt immer – und das sagen eine Menge alter Leute –, man ist so jung, wie man sich fühlt.
Oma fühlte sich ziemlich jung. Sie sagte auch, ich bin außen ein altes Weib und innen drin ein Mädchen. Wer sie gut kannte, glaubte ihr das. Oma hatte nicht viel Geld, schimpfte manchmal über die kleine Rente und über ihren verstorbenen Mann, der auch keine Größe gewesen sei, doch sie lachte lieber, als dass sie schimpfte. Und sie verstand sich einzurichten. Ihre Wohnung in München war klein und fast so alt wie sie. Die Couch war schon ein paar Mal unter zu schweren Gästen zusammengekracht. Der Ölofen war der einzige neue Gegenstand und mit ihm kam sie nicht zurecht. Sie fürchtete, eines Tages mit ihm in die Luft zu fliegen. Wenn er anfing zu blubbern, redete sie auf ihn ein, als wäre er ein störrischer Esel. Sie redete überhaupt gern mit sich selbst und mit den Sachen, die um sie herum waren. Daran mussten sich Leute, die sie nicht gut kannten, erst gewöhnen. Denn selbst in Unterhaltungen fing sie manchmal an, mit sich selber zu reden, und wenn der andere sie dann erstaunt ansah, schüttelte sie bloß den Kopf, ihn hatte sie ja gar nicht gemeint.
Oma wurde Oma gerufen, auch von den Nachbarn im Haus, von dem Bäcker an der Ecke, auch von den Jungen im Hof, die sie manchmal hänselten, aber im Grunde gern hatten, ihr sogar manchmal die Tasche in den fünften Stock trugen. In dem Haus, in dem Oma wohnte, gab es nämlich keinen Aufzug. Fürsten sind wir keine, pflegte sie zu sagen, wenn ihr der Atem im dritten Stock ausging und sie eine Pause machen musste. »Frau Erna Bittel« stand in Zierschrift auf dem Schild an der Wohnungstür. Ihr Sohn hatte sie gefragt, weshalb sie »Frau« vor ihren Namen geschrieben habe. Sie hatte ihm geantwortet: Du bist dumm. So will ich angeredet werden. Schließlich könnten die Leute nach Ottos Tod glauben, ich bin eine alte Jungfer. Das bin ich aber nicht.
Omas Sohn hatte wiederum einen Sohn. Von ihm und Oma wird die Geschichte erzählen. Er heißt Karl-Ernst oder genauer: Er hieß so, denn er wurde von Anfang an Kalle gerufen.
Kalle wuchs in einer kleinen Stadt in der Nähe von Düsseldorf auf. Sein Vater arbeitete im Büro einer Fabrik. Er rechnet immer zusammen, was die anderen dann in die Lohntüten kriegen – so erklärte Kalle den Beruf seines Vaters.
Manchmal ging Kalles Vater in die Kneipe, meistens am Freitagabend, und dann kam er betrunken nach Hause und beweinte die Welt. Kalles Mutter schimpfte: Immer am Wochenende das heulende Elend!
Kalle konnte diese Ausbrüche nicht verstehen, denn eigentlich war sein Vater ein fröhlicher Mann. Er kam gut mit ihm aus. Besser als mit der Mutter, die immerfort über den Dreck klagte, den die beiden Männer ihr hinterließen und den sie wegputzen musste. So putzte sie den ganzen Tag. Ganz normal ist das nicht, fand Kalles Vater.
Kalles Eltern kamen bei einem Autounfall um, als Kalle fünf Jahre alt war. Sie hatten gar kein eigenes Auto, sondern waren mit Bekannten fort gewesen, hatten Kalle zu der Nachbarin gebracht. Dorthin kam auch der Polizist, der der Frau sagte: Beide sind tot.
Kalle begriff das erst gar nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, lange nicht, dass er die Eltern nicht wiedersehen würde. Dass sie für immer weg sein sollten.
Das geht gar nicht, sagte er oft.
Die Nachbarin legte ihn ins Bett, ein Arzt steckte ihm ein Zäpfchen in den Po, was ihn zum Lachen brachte.
Jetzt wirst du schlafen können. Schlaf erst mal, kleiner Mann, sagte der Arzt.
Kalle fand die Bezeichnung »kleiner Mann« idiotisch und den Arzt blöd. Er fand in diesen Tagen alle blöd, weil sie ihm dauernd über den Kopf strichen oder ihn an sich zogen, weil sie ganz anders waren als sonst.
Nur die Oma nicht. Die war gekommen, hatte wohl auch geheult, aber dann alle angeherrscht: Es muss ja weitergehen, irgendwie geht es weiter! Und hatte in einer Runde von lauter fremden Onkeln und Tanten in Kalles Anwesenheit beschlossen: Den Kalle nehme ich mit. Der bleibt bei mir.
Einer der Onkel sagte: Aber in deinem Alter, Erna!
Darauf lachte die Oma und schrie ihn an: Willst du ihn haben? Quatsch doch nicht rum!
Kalle hatte Oma vorher nur wenige Male gesehen. Gefallen hatte sie ihm immer. Sie sprach ein wenig lauter, als er es sonst gewohnt war, sagte Worte, die nicht immer anständig waren, und behandelte den Vater so, als wäre er so alt wie Kalle. Die Mutter nannte sie Heulsuse, den Vater manchmal Waschlappen. Kalle nannte sie Kalle. Niemals kleiner Mann, Süßer oder Jüngelchen.
Sie nahm ihn ernst.
Es wunderte ihn, wie schnell man eine Wohnung aufräumen konnte und wie schnell die aufgeräumte Wohnung dann leer war. Oma verteilte die Möbel. Das brauche ich alles nicht, sagte sie. Am Schluss hatte Kalle einen Koffer mit seinen Sachen, sonst nichts. Und mit dem Koffer, den Oma schleppte, fuhr er fort aus der Stadt, in der er mit seinen Eltern gelebt hatte. Zur Oma nach München.
s_11.jpg
Jetzt hab ich den Jungen. Ich bin verrückt, ein altes Weib und ein Kind, das mindestens noch zwölf oder dreizehn Jahre braucht, um selbst durchzukommen. Soll ich wegen Kalle hundert werden? Aber wer von der Verwandtschaft hätte ihn denn genommen? Die hätten ihn am Ende in ein Heim gesteckt. Und das geht nicht, nein! Sicher werden ihm die Eltern lange fehlen. Vor allem sein Vater. Aber das ist auch so ein Geschwätz. Manche Kinder haben Väter, von denen sie gar nicht merken, dass sie Väter sind. – Ich werde mich zusammenreißen und nicht daran denken, dass ich alt bin. Ich und der Kalle werden es schon schaffen.

Was an Oma anders ist

Kalle gewöhnt sich rasch an Oma, wenn er auch ihre Wohnung komisch findet. Aber schließlich hat die Oma alle diese Möbel schon viele Jahre und kann sich seinetwegen nicht neu einrichten. Er hat fast ein eigenes Zimmer. Tagsüber näht Oma darin. Abends muss er dann immer Nadeln auflesen, damit er sich nicht in die Füße sticht.
Vieles an Oma ist anders als bei anderen Leuten. An einem der ersten Abende ging Kalle, weil er nicht einschlafen konnte, noch einmal ins Bad, das neben seinem Zimmer liegt. Er erschrak fürchterlich, als er in einem Wasserglas Omas Zähne sah. Er traute sich nicht, sie anzufassen, weil er fürchtete, sie könnten auch ohne Oma zuschnappen.
Am Morgen fragte er: Seit wann kann man Zähne aus dem Mund nehmen? Ich kann das nicht.
Die Oma erklärte ihm: Das sind gar nicht meine Zähne. Meine Zähne sind alle weg, die habe ich verloren. So wie du deine Milchzähne. Nur wachsen zum dritten Mal keine nach. Also kriegt man welche gemacht.
Musst du die auch putzen?, fragte Kalle.
Die Oma wollte nicht weiter über ihre dritten Zähne reden und sagte: Das ist doch alles nicht so wichtig, Kalle.