Umweg nach Hause

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Inhaltsverzeichnis

Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die Unterstützung.

Für Case, Genie und Inspiration

Als ich beschloss, mich um Menschen zu kümmern, die weniger Glück im Leben haben als ich, war ich pleite, also bin ich vielleicht nicht gerade Florence Nightingale. Und wenn man bedenkt, was mit Piper und Jodi passiert ist, bin ich vielleicht nicht mal besonders gut dafür geeignet, mich um Menschen zu kümmern. Tatsache ist, dass ich mit neununddreißig und einer Lücke im Lebenslauf, die den Großteil der technologischen Revolution umspannt, überhaupt nicht mehr für viel geeignet bin.

Aber glauben Sie nicht, jeder könnte einen Pflegeberuf ausüben. Man braucht schon Geduld und psychische Stabilität, und man muss sich erst mal komplett durchleuchten lassen. Ganz zu schweigen von der Pflegelizenz und den permanenten Fortbildungen; ich habe inzwischen Zertifikate über Besondere Bedürfnisse bei Demenz 1, Positives Krisenmanagement und Nonverbale Kommunikationsstrategien. Aber den Großteil

Fragen

Antwort abwarten

Respektieren

Behilflich sein

Erneut fragen

Mit solchen Eselsbrücken im Kopf und einem nagelneuen Zertifikat in der Tasche habe ich, auf Vermittlung des Department of Social and Human Services, drei Tage nach Kursende ein Bewerbungsgespräch bei meinem ersten potenziellen Patienten, Trevor Conklin, der auf einem kleinen Hof am Ende einer langen, ausgefahrenen Zufahrt zwischen Poulsbo und

Ich habe noch einen kleinen Barvorschuss auf der alten Visakarte der Providian Bank, danach muss ich meine Rentenversicherung auflösen, und das würde nach Abzug der Gebühren auch nur tausendfünfhundert bringen. In den anderthalb Jahren seit der Katastrophe habe ich nicht mal versucht, Arbeit zu finden. Alles in allem könnte ich noch einen Monat hinkommen, bis ich komplett am Ende bin. Ich brauche diesen Job. Das letzte Bewerbungsgespräch hatte ich vor elf Jahren, vor Pipers Geburt, beim Viking Herald, einem Wochenblatt, das sich vor allem mit skandinavischer Kultur, Haustieradoptionen und Polizeimeldungen befasst. Der Herald suchte einen Anzeigenverkäufer, im Wesentlichen wäre das ein Job im Telefonmarketing gewesen. Ich traf den Verkaufsleiter in seinem Büro am hintersten Ende eines Gewerbegebiets am Stadtrand. Und vergaß seinen Namen sofort wieder. Wayne. Warren. Walter. Eigentlich weniger ein Verkäufer als ein fehlbesetzter Folksänger, er wirkte wie jemand, der im Schatten eines Zuckerwattestandes irgendwo auf einer Promenade »Tom Dooley« schraddelt.

»Haben Sie schon mal etwas verkauft?«, fragte er.

»Muffins«, sagte ich.

Ich bekam den Job nicht.

An diesem Morgen trage ich eins der Button-down-Hemden, die Janet, von der ich getrennt lebe, mir vor fünf Jahren gekauft hat, als es aussah, als würde ich bald wieder in Lohn und Brot stehen. Was nicht passierte. Stattdessen waren wir mit Jodi schwanger.

Ich komme neun Minuten zu früh bei der Farm an und sehe gerade noch eine Mitbewerberin, vermute ich jedenfalls, in

Der Gehweg ist matschig, die Rampe so lang wie der Weg zum Schafott. An der Tür begrüßt mich eine grauäugige Frau, die grob in meinem Alter ist, vielleicht ein paar Jahre älter. Sie steht da, groß und aufrecht wie ein Ausrufezeichen, in einer ausgestellten Jeans und einem eng anliegenden Baumwollhemd. Das flachsfarbene Haar hat sie zu einem strengen Knoten zurückgebunden.

»Sie sind sicher Benjamin«, sagt sie. »Ich bin Elsa. Trevor putzt sich noch die Zähne.«

Sie führt mich durch das abgedunkelte Esszimmer ins Wohnzimmer, das von einem Servierwagen und einem großen Fernseher beherrscht wird. Sie bietet mir einen einfachen Stuhl an und setzt sich selbst gegenüber aufs Sofa neben eine riesige, braune Katze, die dort liegt und kein Lebenszeichen von sich gibt.

»Das ist aber eine große Katze«, sage ich.

»Sie ist ein bisschen reizbar, aber ein guter Rattenfänger.« Sie tätschelt die Katze, die sofort das Fell sträubt. Dann streichelt sie sie, bis sie faucht. Und macht unbeirrt weiter, bis das Tier schnurrt. Ich mag die Frau. Sie ist tough. Sie verzeiht. Sie hält durch, wenn es hart auf hart kommt.

»Meine Nachbarin hat auch eine Katze«, versuche ich.

»Na, so ein Zufall«, sagt sie. »Also, haben Sie noch andere Patienten?«

»Im Moment nicht.«

»Aber Sie haben Pflegeerfahrung, oder?«

Sie kann einen Seufzer nicht unterdrücken. Die Arme. Erst die Frau in der Jogginghose und jetzt ich.

»Aber ich habe viel mit Kindern gearbeitet«, sage ich.

»Beruflich?«

»Kann man so nicht sagen.«

»Haben Sie Kinder?«

»Kann man so nicht sagen.«

Sie sieht auf die Uhr an der Wand. »Darf ich fragen, warum Sie in den Pflegebereich gegangen sind?«

»Wahrscheinlich dachte ich, das liegt mir.«

»Weil …?«

»Weil ich jemand bin, der sich kümmert. Ich verstehe anderer Leuts Bedürfnisse.«

»Wissen Sie irgendetwas über Muskeldystrophien?«

»Ein bisschen.«

»Wie fanden sie den Kurs?«

»Ehrlich?«

»Ehrlich.«

»Ich fand ihn … ach, ganz informativ.«

»Hm«, macht sie.

»Ich meine, vieles sagt einem auch einfach der gesunde Menschenverstand, aber manches hat mir auch die Augen geöffnet, in Bezug auf, also … halt unterschiedliche Methoden und Ansätze …« Sie hört schon gar nicht mehr zu.

»Benjamin, ich habe den Kurs auch gemacht«, sagt sie.

Schließlich kommt Trevor ins Zimmer gerollt, ein gut aussehender Junge, trotz fettiger Haut und zerzaustem Haar. Er trägt eine sandfarbene Cargohose, ein schwarzes T-Shirt und Reeboks. Die Krankheit hat ihn spindeldürr und knorrig gemacht, er hat einen leichten Buckel und wirkt sonderbar verdreht in seinem schwarzen Rollstuhl.

»Trevor, das ist Benjamin.«

Er rutscht in seinem Stuhl herum und legt den Kopf leicht zurück. »Was geht?«, sagt er.

»Nicht viel«, sage ich, »und selbst?«

Er zuckt mit den Achseln.

»Trevor möchte von jemandem versorgt werden, mit dem er sich auch versteht«, erklärt Elsa. »Jemandem mit ähnlichen Interessen.«

»Was interessiert dich denn so?«, frage ich.

Seine Hände liegen übereinander auf seinem Schoß, er hat den Kopf gesenkt.

»Computerspiele«, sagt Elsa.

»Was für welche?«, frage ich.

»Hauptsächlich Shooter«, murmelt er.

»Ach, verstehe, wie, hier, wie heißt das? Mortal Kombat?«

Er strafft die Schultern und hebt den Kopf, er bewegt sich wie eine Marionette. »Spielst du auch?«

»Nein. Aber einer aus meinem Softball-Team erzählt dauernd davon.«

Er lässt den Kopf wieder hängen.

»Erzähl Ben doch, wofür du dich sonst noch interessierst«, sagt Elsa.

Als sie mich Ben nennt, habe ich das Gefühl, schon ein bisschen was erreicht zu haben.

»Ja, worauf stehst du denn sonst so?«

Wieder zuckt Trev mit den Schultern. »Keine Ahnung, nicht viel.«

»Auf Mädchen«, sagt Elsa.

»Halt die Klappe, Mom«, sagt er. Aber sie hat ihn aus der Reserve gelockt. Zum ersten Mal sieht er mir ins Gesicht.

Elsa steht auf. »Ich lasse euch zwei mal alleine.« Und dann geht sie ohne weiteren Kommentar durchs Wohnzimmer ins Esszimmer.

»So«, sage ich. »Mädchen, hm?«

Er senkt schüchtern den Blick, und ich wünschte, ich könnte das zurücknehmen. Schlimm genug, dass er an allen Ecken und Enden so verwachsen ist – aber dann wird er auch noch andauernd in Verlegenheit gebracht, aus seiner Komfortzone gerissen, weil die Leute immer so tun, als wäre alles normal, als könnte er einfach rausgehen und sich eine Freundin suchen, mit ihr Riesenrad fahren und auf dem Autorücksitz fummeln. Wie er schon da sitzt, die Hände auf dem Schoß, und sich wünscht, er könnte verschwinden, sich wünscht, sie würden nicht alle so tun als ob. Aber dann stellt sich heraus, dass das alles nur Show ist. Denn dann hebt er den Kopf, dreht seinen Rollstuhl im Uhrzeigersinn und sieht kurz zur Tür. Dann dreht er sich wieder zurück, lächelt und sieht mir direkt ins Gesicht. Da ist ein Glanz in seinen Augen, ein bösartiges Blitzen, und ich ahne zum ersten Mal, dass er es faustdick hinter den Ohren hat.

»Ich bin ein Krüppel, nicht schwul«, sagt er. »Natürlich stehe ich auf Mädchen.«

Ich sehe zur Tür. »Auf was für welche denn?«

»Alle«, sagt er. »Die was mit mir anfangen würden.«

»Du meinst, weil … wegen dem Rollstuhl?«

»Ich meine, weil ich geil bin. Aber ja, auch deswegen. Bist du verheiratet?«

»Nicht wirklich. Also, theoretisch schon, aber … lange Geschichte.«

»Ist sie heiß?«

»Ist sie.«

Er beugt sich vertraulich vor. »Würde sie was mit mir anfangen? Was meinst du?«

»Ähm, also, …«

»Ich bin pleite.«

»Wenn du für das DSHS arbeitest, bleibst du das auch.«

»Heißt das, ich hab den Job?«

»Sorry«, sagt er, »aber ich habe noch nicht alle Bewerber gesehen. Aber dich finde ich schon mal besser als die Fette vorhin.«

Ich steige ins Auto und bekomme Oberwasser, als ich einen verbeulten, weißen Malibu die Auffahrt herunterkommen sehe, in dem der nächste Kandidat des DSHS sitzt. Die vordere Stoßstange kann jeden Moment abfallen. Die Nummernschilder sind abgelaufen. Der Typ am Steuer hat ein Spinnennetz in den Nacken tätowiert.

Jetzt, vier Monate nach dem Bewerbungsgespräch, verbringe ich vierzig bis sechzig Stunden pro Woche mit Trev. Die anfänglichen Peinlichkeiten bei Toilettengängen haben wir lange hinter uns. Die Flitterwochen auch. Ich habe die FARBE-Schritte mehrfach durchlaufen, habe sechzehn Wochen lang gefragt, Antworten abgewartet, respektiert, geholfen und noch mal gefragt, habe eine Trillion Waffeln gegessen, war viermal im Schuhgeschäft und habe endlose Stunden Wetterbericht geguckt. Das Erschöpfungs-Stadium habe ich schon vor drei Monaten hinter mir gelassen. Das soll nicht heißen, dass ich Trev nicht mögen würde – das tue ich, tyrannische Veranlagung hin oder her. Ich fühle mit ihm.

Sein Vater ist abgehauen, als Trevor drei Jahre alt war, zwei Monate nach seiner Diagnose. Komisch, wie so was wirkt. Trev geht im Moment nur auf die Schule des Lebens, aber seine Mutter ermuntert ihn, ein paar Kurse am Community

Er hat weder MS noch ALS; es ist eine Muskeldystrophie vom Typ Duchenne, die Trev so knotig macht, die seine Wirbelsäule verdreht und seine Gelenke versteift, sodass seine Rippen quasi schon auf dem Becken aufliegen. Seine Beine sind nach oben zum Bauch gebogen, seine Füße zeigen nach unten, und die Zehen rollen sich darunter zusammen. Seine Ellbogen sind wie an seiner Seite festgetackert. Er ist die reinste Brezel mit einer vollkommen intakten Fantasie. Aber ich werde Trev auch nicht verklären, bloß weil er dem Tod ins Auge sieht. Ehrlich, was bleibt ihm schon übrig? Wir alle sterben, nur Trev halt ein bisschen schneller als die meisten. Aber ich habe auch schon welche noch schneller sterben sehen. Viel schneller. Die Wahrheit ist, dass ich seit einem Monat oder so mindestens die Hälfte der Zeit genervt bin, dass Trev nichts mehr riskiert, sondern sich willentlich hinter seinen Gewohnheiten verschanzt und das Leben nur teelöffelweise zu sich nimmt. Aber wofür? Um noch ein paar Jahre länger drei Stunden am Tag den Wetterbericht zu gucken und noch ein paar Hundert Leinsamenwaffeln mehr zu essen? Das Glück hätte Piper mal haben sollen. Die Möglichkeit hätte Jodi haben sollen. Manchmal würde ich Trev das gern um die Ohren hauen.

Nervt es dich nicht selbst, immer und immer wieder dieselben zehn Sachen zu machen?, würde ich ihn gern fragen. Waffeln, Wetterbericht, Einkaufszentrum und die Matinee am Donnerstag? Willst du nicht einmal irgendetwas anderes machen als deine Zwangshandlungen und Gewohnheiten, irgendwas Spektakuläres? Oder

Aber natürlich tue ich das alles nie und sage es nie. Denn trotz des Burn-outs halte ich mich an meinen professionellen Grundsatz:

Professionell

Redlich

Objektiv

Den Grundlagen der häuslichen Pflege zufolge braucht Trevor nicht zu wissen, was mit meiner Tochter und meinem Sohn passiert ist, warum meine Frau mich verlassen hat oder wie ich mein Haus verloren habe. Oder wie ich erst letzte Woche darüber nachgedacht habe, mir das Leben zu nehmen, mich aber nicht getraut habe. Meine Schuldgefühle, mein Selbsthass, meine Aversionen gegenüber anderer Leuts Kindern, das braucht Trev alles gar nicht zu wissen. Trev muss nur wissen, dass ich hier bin, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Versuchen Sie mal, unter diesen Bedingungen sechzig Stunden in der Woche mit einer Person zu verbringen. Alles an demjenigen wird Ihnen ruck, zuck auf die Nerven gehen. Sobald Sie seine Macken und Marotten kennen, sobald sie seine Handlungen und Reaktionen vorhersagen können (oder es zumindest glauben), wird er Sie wahnsinnig machen. Sobald Sie gezwungen sind, seine Gewohnheiten wieder und wieder zu ertragen, werden Sie ihn erwürgen wollen. Trev zum Beispiel ist sehr pingelig mit seinen Schuhen. Alle seine Hosen sind sandfarbene Cargohosen, und alle seine Shirts sind identische schwarze T-Shirts mit einer Brusttasche links (was auch schon nervt). Selbst seine Boxershorts sind identisch dunkelblau, als könnte er dadurch, dass er jeden Tag das Gleiche trägt, die Zeit anhalten oder wenigstens noch ein paar Tage mehr reinschmuggeln.

»Welche nehmen wir heute?«, frage ich.

»Weiß nicht.«

Das ist mein Stichwort, dass ich Fragen, die Antwort abwarten, sie Respektieren und ihm Behilflich sein muss. »Vielleicht die weißen Chucks?«, sage ich dann.

»Nee.«

»Schwarze Chucks?«

»Oarr, nee.«

»Docs?«

»Nee.«

»All Stars?«

»Ich glaub nicht.«

Und so geht das immer weiter. Ich gehe sie durch. Er lehnt sie ab. Das ist unsere tägliche Übung in Entscheidungsfreiheit, so etwas habe ich mit Piper gemacht, als sie vielleicht vier war. Die Donnerstage sind kleine Highlights, vor allem die Stunde vor der Matinee, wenn wir in den Restaurantbereich des Einkaufszentrums gehen und Frauen angucken. Es gibt kaum Auffälligeres und Peinlicheres als Männer in der Krise. Trev hat immerhin noch seine Jugend als Ausrede. Ich bin wahrscheinlich nur noch peinlich. An unserem liebsten Aussichtspunkt gegenüber dem Cinnabon machen wir das schöne

»Guck mal, die da«, sagt er und zeigt auf eine Blondine mit Pudellöckchen und knallenger Jeans. »Geiler Fickarsch, oder?«

»Aber hallo«, sage ich.

Er legt den Kopf auf die Seite und sieht mich an. »Ich würde ihr eine Gorillamaske aufsetzen.«

»Ich eine arabische Brille«, kontere ich.

»Die würde ich fisten.«

»Das ist ekelhaft«, sage ich.

»Danke«, sagt er. »Soll ich sie auf eine Pizza und einen Fick einladen?«

»Einen Fick und ’ne Pizza.«

»Was geht mit nur dem Fick?«

»Nein, glaub mir, die Pizza hat Stil.«

Die mit den Pudelhaaren weht vorbei, in der Hand zwei Cajun Corn Dogs und geriffelte Pommes, und sie hat ih ren Freund im parfümierten Kielwasser. Sie setzen sich an einen Tisch vor dem Quiznos und essen schweigend zusammen, als würden sie schon ihr ganzes Leben lang zusammen essen.

»Was will sie denn mit dem Schwanz?«, sagt Trev.

Ich winke ab. »Wahrscheinlich hat sie sie nicht alle.«

»Ja, haben sie doch alle nicht.«

Wir versinken in Schweigen, und ich würde gern eine rauchen. Ohne seine Gewohnheiten ist man ja nicht mehr man selbst. Letzten Monat habe ich Trev in ebendiesem Food Court gefragt, was er tun würde, wenn er eines Morgens plötzlich mit voll funktionsfähigen Muskeln aufwachen würde. Noch hypothetischer geht’s nicht, denn seine Krankheit ist progressiv und unheilbar. Ich dachte: Auf einen Berg steigen,

Die mit den Pudelhaaren und ich wechseln einen Blick. Oder vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Als ich einen zweiten Blick erhaschen will, weicht sie mir aus. Sie wird von Sekunde zu Sekunde süßer. Sie sieht gut aus, mit dem Corn Dog in der Hand. Ich bin inzwischen überzeugt, dass ich den Rest meines Lebens an ihrer Seite verbringen könnte. Dann sehen wir uns richtig in die Augen. Und für einen köstlichen Moment ist da der Funke einer Möglichkeit. Was für eine Möglichkeit? Von einem neunzig Kilo schweren gehörnten Ehemann einen Arschtritt zu bekommen? Oder noch schlimmer: die Möglichkeit, irgendwann wieder von irgendjemandem geliebt zu werden?

Jetzt flüstert die mit den Pudelhaaren ihrem Freund etwas ins Ohr, und er lässt seinen Corn Dog mitten im Bissen sinken. Ich habe mich verschätzt: es sind mindestens hundert Kilo. Er durchbohrt mich mit Blicken. Ich kann nur Trevs karierte Vans angucken und spüren, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt.

»Was ist?«, fragt Trev.

»Showtime«, sage ich.

Und ohne weitere Verzögerung stehen wir auf – also jedenfalls ich stehe auf und spüre die Blicke des Mannes wie Dolche in meinem Rücken.

Trev krümmt die Schultern, um das Gewicht seines Kopfes besser halten zu können, umklammert den Joystick mit seiner knorrigen Hand und dreht sich um hundertachtzig Grad in Richtung des Ausgangs.

»Regal oder Cineplex?«

»Regal«, sagt er.

Wir gehen immer ins Regal.

Mit Trev irgendetwas zu machen, geht immer langsam, egal, wie oft wir es schon gemacht haben. Da ist die Rampe, dazu das ganze Anschnallen und wieder Abschnallen, dann dass er so langsam isst und dass er mich gerne warten lässt. Aber wenigstens bekommen wir immer einen guten Parkplatz. Donnerstags ist mein Zeitplan immer ganz schön eng. Bis die Matinee vorbei ist, Trev seine Fish and Chips gegessen hat und ich den Van abgegeben habe, ist normalerweise so gerade noch Zeit, mir die blaue Jogginghose mit dem Kordelzug und den elastischen Bündchen, Trikot, Knieschoner und Stollenschuhe anzuziehen und meine Kappe aufzusetzen.

Mein Softball-Team hat schon die dritte Saison in Folge kein Spiel verloren. Dabei hilft es natürlich, dass wir immer nur gegen dieselben beiden Mannschaften spielen – also, uns hilft das. Wenn man uns so ansieht, sehen wir natürlich genauso aus wie jede andere bucklige, dickbauchige, humpelnde Herrenmannschaft

Heutzutage habe ich nach einer Woche häuslicher Pflege überhaupt keine Lust, mir die Knieschoner anzuziehen und mich vor meinen Freunden (und noch schlimmer: ihren Frauen und Kindern) zum Affen zu machen, indem ich mir von einem Typen, der sich neulich beim Rühreimachen den Rücken verrenkt hat, drei satte Strikes reinballern lasse. Aber dem Team zuliebe mache ich weiter. Mit demselben Pflichtbewusstsein begleite ich Forest und ein paar von den Jungs auch nach dem Spiel noch zum Grill, um unseren Sieg zu feiern.

Forest ist mein bester Freund. Wir haben im ersten Unijahr zusammengewohnt. Schon damals hat er mir immer wieder vorsichtig den richtigen Weg gezeigt. Jahre später war er mein Trauzeuge, als Janet und ich geheiratet haben.

Forest ist ungefähr eins fünfundachtzig groß, wiegt hundert Kilo, hat breite Schultern und in den letzten Jahren einen Bauch bekommen. Der Schritt seiner roten Jogginghose rutscht langsam in eine unangenehme Höhe – unangenehm für alle Beteiligten. Wir nennen ihn den Traubenschmuggler, weil, nun ja, aus naheliegenden Gründen. Forest ist das Rückgrat der O-fers. Er pitcht, fegt die Bases leer, sammelt die Beiträge ein, ruft vor dem Spiel noch mal alle an, schreibt das Lineup auf und ist der unbestrittene (wenn auch unausgesprochene) Mannschaftskapitän. Es gibt nur wenig inspirierendere

»Lauf, Forest, lauf!«, rufen wir von der Spielerbank. Der Witz wird nie alt.

Heute Abend im Grill spielen wir Cricket Darts. Forest und ich gegen Max und Teo. Max hat einen Schnäuzer der Sorte Biker / Lederschwuler. Wir nennen ihn Werkzeugkiste, weil er immer seine ganze Arbeit dabeihat. Er mag auf den ersten Blick nicht aussehen wie ein Sportler, mit seinen widerspenstigen Locken und den röhrenförmigen Beinen, aber er schlägt knallharte Linedrives, und auch wenn er rennt, als wäre er wütend auf den Boden, bringt er die Mannschaft doch voran. Ziemlich guter Darts-Spieler auch. Er und Teo machen uns gerade ganz schön nass. Und ich reiße uns auch nicht gerade raus.

»Gut gespielt«, sagt Forest und klopft mir auf die Schulter.

Das ist natürlich gelogen. Ich habe nur eine einzige 20 geworfen, und die 17 gar nicht. Triple 17 war eigentlich mein Paradewurf. Auf der 20 war ich Geld wert. Aber ich habe nicht mehr so eine ruhige Hand. Teo zieht uns auf der 17 die Hosen aus, und ich lasse Forest mal wieder im Stich. Aber in Wahrheit gräme ich mich deswegen nicht lange. Die Welt fließt durch mich hindurch wie durch eine menschliche Sanduhr.

Ich weiß, dass ich mich glücklich schätzen sollte. Ich habe Forest. Ein Fels in der Brandung. Und ich kann jeden Donnerstag kostenlos die Matinee sehen – wer kann das schon? Ich sollte meine Arbeit machen. Ich sollte die Löcher in meinem Leben stopfen, heil werden, mich wieder auffüllen wie einen Krug. Es ist mehr als zwei Jahre her. Aber ich stecke immer noch auf dieser Auffahrt fest, die Arme voller Einkäufe,

»Yo, Benjamin«, sagt Forest und reicht mir die Dartpfeile. »Konzentrier dich doch vielleicht am besten auf das Bullseye, und ich kümmer mich dann um die siebzehn?«

»Ich bin dran«, sage ich.

Max hat gerade einen Double-Bull geworfen und grinst wie ein Schimpanse. Ich weiß, ich bin ein Loser, weil ich mich immer für den Gegner mitfreue.

»Respekt«, sage ich.

Forest haut mir auf die Schulter. »Sieh zu«, sagt er.

Und das tue ich. Ich begradige eine nicht ganz gerade Steuerfeder, drehe die Spitze noch einmal fest, stelle mich mit den Zehenspitzen an die Linie und konzentriere mich mit zusammengekniffenen Augen auf das Bullseye. Es sieht heute eigentlich ziemlich groß aus. Ich sehe es immer noch, wenn ich die Augen schließe. Ich sage mir, dass ich es treffen kann. Forest sagt sich bestimmt auch, dass ich es treffen kann, aber er wird davon ebenso wenig überzeugt sein wie ich. Schließlich beuge ich mich auf dem rechten Fuß nach vorne und werfe, angespannt wie ein Scharfschütze, den ersten Pfeil.

Na ja, der Rest ist wahrscheinlich klar.

Auf dem Heimweg vom Grill tue ich etwas, was ich schon seit Monaten nicht mehr getan habe: ich fahre auf einem Umweg nach Hause. Keine Ahnung, warum ich ausgerechnet heute beschließe, diesen Schritt zurück zu machen. Vielleicht, weil Pipers Geburtstag näher rückt. Vielleicht, weil ich mein Apartment heute Nacht nicht ertragen kann – oder mein Abteil, wie ich es nenne. Egal, wie viele Nächte ich schon dort verbracht habe, es fühlt sich nicht an wie »wohnen«. Es riecht nach Seife und neuem Teppichboden. Ich esse von Papptellern. Es kommt nichts Neues hinein, nichts von außerhalb, was das Abteilgefühl verringern würde. Ich habe für ein paar Hundert Dollar Plastikkisten in allen möglichen Formen und Größen gekauft, um meinen Krempel darin zu verstauen, bevor er sich ausbreitet. Die sind im großen Einbauschrank gestapelt, immer drei oder vier aufeinander. Unter einem der eisblauen Deckel liegen, umhüllt wie eine Matroschka, in einem Umschlag

Hätte ich mich heute im Grill besoffen, hätte ich mit Max Bier um Bier und Schnaps um Schnaps getrunken, dann hätte ich wahrscheinlich nicht den Umweg genommen. Aber auch das wäre ein Schritt zurück gewesen. Egal, wohin ich gehe, es scheint immer ein Schritt zurück zu sein.

Der Heimweg nach Agatewood ist mir so vertraut, dass meine Muskeln immer noch jede Kurve im Wald kennen. Ich könnte die Strecke auch ohne Scheinwerfer fahren. Tatsächlich war ich in den Horrormonaten nach der Katastrophe, nachdem Janet weggelaufen war (oder eher: weggegangen), auf dem Heimweg vom Grill oft so besoffen, dass ich mich auch hätte einnässen können, ohne es zu merken. Das waren die Abende ohne Forest, und die Abende, bevor die Arbeit mit Trev meinem Leben wieder eine Struktur gab. An den übrigen Abenden hat Forest sich um mich gekümmert, und ich war zu selbstsüchtig und zu kurzsichtig, um zu merken, dass ich ihn seiner eigenen Familie vorenthielt. Ein Jahr lang hat er versucht, mich zum Abendessen zu sich nach Hause einzuladen. Aber ich habe immer darauf bestanden auszugehen. Die Nächte, in denen ich mit Forest zusammen unterwegs war, waren im Vergleich noch gemäßigt – ein paar Bier zur Ablenkung, Sport gucken, eine Pizza, aber dennoch liegen auch diese Abende in meiner Erinnerung im selben Nebel. Nach meiner Zählung habe ich anderthalb Jahre in diesem Nebel verbracht. Anderthalb Jahre, in denen ich mich nicht dazu aufraffen konnte, mir Arbeit zu suchen, selbst als mein kleiner Notgroschen langsam schwand. Anderthalb Jahre, in denen mein Körper von jemand anderem hätte bewohnt sein können, oder von niemandem. Ich habe mich an Hunderten von Gesprächen beteiligt und erinnere mich an nichts. Ich habe meinen Geburtstag vergessen. Anderthalb Jahre lang bin ich

Jetzt wohnt dort endlich wieder jemand. Über ein Jahr nach der Zwangsvollstreckung stand das Haus leer, und das passiert hier normalerweise nicht, nicht mal in Wirtschaftskrisenzeiten. Man hätte monatelang glauben können, dass es dort spukt. Aber jetzt nicht mehr. Es ist wieder ein Zuhause, das sieht man. Im Garten neben dem Haus kann ich in dem gespenstischen Licht, das aus dem oberen Schlafzimmer fällt, gerade so ein Kletterhaus erkennen. Das alte Gewächshaus ist weg. Pipers Flaschenbaum ist weg. Die jetzigen Bewohner haben einen Zedernholzzaun hinter der Einfahrt errichtet, ein stabiles, massives Ding, und Buchsbäume davorgepflanzt, um ihn zu verdecken. Ich komme nicht dagegen an, mir vorzustellen, wie anders alles sein könnte, wenn ich so einen Zaun aufgestellt hätte. Aber die Wahrheit ist, ich war in so vielen Dingen nachlässig, dass der Zaun auch keine Rolle mehr spielt.

Was habe ich eigentlich in dem Moment gedacht, bevor die Welt schwarz wurde, als ich gereizt mit den ganzen Einkäufen im Arm zur Haustür ging? Dass das Eis schmilzt? Dass ich mich beeilen muss, wenn ich vor Iron Chef noch die Einkäufe wegräumen, duschen und den Ofen vorheizen will? Oder habe ich bloß gehofft, die Kinder würden früh ins Bett gehen, damit ich zwanzig Minuten Zeit für mich und ein Bier hätte,

Das Auto steht immer noch da. Im Flur ist ein Licht angegangen, und jetzt sieht ein Gesicht aus dem Fenster zu mir herüber. Ich fahre los und zwinge mich, nicht zurückzuschauen.

Freitags arbeiten Trev und ich anderthalb Stunden lang an der Landkarte. Die Karte war meine Idee. Ich bin darauf gekommen, nachdem wir eine dieser Dokus über das amerikanische Hinterland gesehen hatten, bei denen ein Moderator in irgendein heruntergekommenes Städtchen am Meer fährt und dort lernt, wie Salzwasser-Toffees gemacht werden, oder in eine finstere Höhle in den Appalachen, wo die Maiskuchen erfunden wurden. Außer dass sie in dieser speziellen Sendung an Orte wie das zweistöckige Plumpsklo in Gays, Illinois (Spitzname »Doppelkacker«) fahren oder ins Spam-Museum für Dosenfleisch in Austin, Minnesota, oder zum Wonder Tower in Genoa, Colorado. Der Moderator hatte hyperaktive Augenbrauen und eine hochtoupierte Frisur und nervte tierisch, aber wegen der tollen Ausflugsziele war die Sendung trotzdem sehenswert. Kaum zu glauben, was es da draußen alles gibt. In Wyoming haben sie im Ernst eine ausgestopfte

Wir haben zu Beginn des Frühjahrs mit der Karte angefangen, um uns einen Überblick über die Sehenswürdigkeiten entlang der Straßen der USA zu verschaffen, von zweistöckigen Plumpsklos (von denen wir insgesamt sechzehn eingetragen haben) bis zu Hitlers Briefmarkensammlung, die sich angeblich in Redmond, Oregon befindet. Ich nehme an, dass dieses Projekt Trev aus demselben Grund Spaß macht, aus dem ihm auch der Wetterbericht Spaß macht; es ist eine Möglichkeit, Dinge zu registrieren, die er nie selbst erleben wird. Der Großteil einer Wohnzimmerwand wird jetzt von unserer Landkarte eingenommen, die Rick von Kitsap Reprographics uns freundlicherweise auf 400 Prozent vergrößert hat, obwohl das urheberrechtlich bedenklich ist – und dann auch noch zum Freundschaftspreis. Für einen Rollstuhlfahrer tun die Leute fast alles, solange er keine Essensreste im Bart hat. An der Karte zu arbeiten, bedeutet jede Menge Googeln und Stecknadeln. Natürlich übernehme ich das Googeln und Anpinnen, denn ich erfreue mich bester digitaler Gesundheit. Trev erteilt aus seinem Rollstuhl heraus Befehle wie ein Feldmarschall. Seit Neustem konzentrieren wir uns auf Muffler Men; wir haben schon über vierhundert von diesen überdimensionierten Kunststoff-Werbemännern von einer Küste zur anderen markiert. Sie reichen von Holzfällern über Wikinger, Cowboys, Indianer bis zu einem ehemaligen Big Boy in Malibu, der zum Mexikaner umgestaltet wurde, inklusive Poncho und einem Teller mit Burritos.

Um nicht den Überblick zu verlieren, benutzen wir unterschiedliche Farben. Muffler Men sind rot. Museen blau. Spukhäuser, Feenringe, Kornkreise und andere unerklärliche

Wenn wir für den betreffenden Tag mit der Karte fertig sind, rollt Trev ins Bad und pinkelt unfassbar ausdauernd in seine Plastikflasche, und ich kippe seine Pisse (die mir unweigerlich zu gelb vorkommt) in die Toilette, spüle die Flasche durch und stelle sie wieder weg. Dabei bin ich effizient und respektvoll, wie eine Kellnerin, und halte mich strikt an das, was ich im Sensibilitätstraining gelernt habe. Ich stehe nicht daneben und tappe mit dem Fuß auf den Boden, während er noch versucht, sein Ding aus der Hose zu kriegen, die ich ihm gerade aufgemacht habe. Ich sage nicht so was wie Himmel, du musstest aber wirklich pissen, oder wieso tröpfelt das denn nur so langsam da raus? oder versuch doch wenigstens, nicht auf den Rand zu pinkeln. Ich ziehe keine Grimasse, wenn ich die Flasche auswasche, ich ziehe die Nase nicht kraus, wenn er seinen Darm entleert hat und ich ihn mit Feuchttüchern abwischen muss, indem er sich hilflos vorbeugt und das Gesicht für besseren Halt zwischen meine Oberschenkel steckt. Das ist mein Job. Ich bin Profi.

Vom Badezimmer aus geht es direkt zum Wetterbericht, wo die Moderatorin, eine pausbäckige Blondine mit Stufenschnitt und riesigen Brüsten, uns darüber in Kenntnis setzt,

»Die würde ich auch flachlegen«, bemerkt Trevor trocken.

Trev steht total auf Mollige, genau wie ich, bis Janet andere Wege ging. Vielleicht liegt es daran, dass er selbst immer weniger wird – beim letzten Check-up wog er noch gut 45 kg. Wie auch immer, er hat Frauen gern üppig.

Trev grinst böse. »Sie wird dermaßen auf mein Big-Mac-Parfum stehen.«

 

So vergehen die Stunden. Als ich anfing, bei Trev zu arbeiten, vertrödelte er diese Nachmittagsstunden vor dem Computer und spielte online. Ego-Shooter, auf voller Lautstärke. Ich saß auf dem Sofa, die Katze auf dem Schoß, sah ihm zu und staunte über die Blutbäder. Oder versuchte, trotz des Lärms Edith Wharton zu lesen. Manchmal nickte ich kurz weg. Aber vor ein paar Monaten schwanden Trevs digitale Fähigkeiten plötzlich rasant. Stellen Sie sich vor, jemand würde Schrauben in all Ihre Fingergelenke drehen und sie nach und nach immer fester anziehen, bis Sie Ihre Finger nicht mehr bewegen können. Das Spielen wurde für Trevor immer frustrierender. Je mehr er spielte, desto weniger gut war er darin. Also hängte er den Joystick an den Nagel (beziehungsweise warf ihn weg) und wandte seine Aufmerksamkeit dem Wetter zu. Inzwischen hat er sogar schon mit der Fernbedienung Schwierigkeiten. Um den Sender zu wechseln, muss er sich in seinem Rollstuhl verrenken, wobei sein Kopf schwer zur Seite kippt und seine Unterarme vor ihm hinunterhängen wie bei einem Tyrannosaurus. Die Fernbedienung wirkt, als wöge sie fünf Kilo.

»Wollen wir zu Quiznos fahren und ein Sandwich essen?«

»Heute nicht.«

»Oder ins IHOP? Die haben Waffeln.«

»Nee.«

»Mitzel’s?«

»Nein.«

»Mickey D’s?«

Er schweigt. Es nervt ihn, wenn ich ihn so bedränge. Da fühlt er sich unwohl. Das sehe ich ihm an, weil er ein bisschen rot wird, als er seinen großen Kopf wieder dem Wetterbericht zuwendet, wo er ihn lässt, bis er nicht mehr wackelt. Er starrt geradeaus, und die Farbe weicht langsam wieder aus seinem Gesicht.

Am liebsten würde ich auch noch KFC sagen. Himmel, am liebsten würde ich echt noch KFC sagen.

Aber das tue ich nicht. Vermutlich wird er sich auf irgendeine primitive Weise rächen und meinem Wunsch trotzen, ihn zu irgendetwas zu bringen. Vielleicht, indem er unsere Welt noch weiter verkleinert. Vielleicht fahren wir nächsten Donnerstag nicht zur Matinee, gehen nicht im Food Court Mädels angucken, gehen nicht Fish and Chips essen. Vielleicht sitzen wir nächsten Donnerstag genau an dieser Stelle im Wohnzimmer und schauen zu, wie sich an der Golfküste Stürme zusammenbrauen, und Trev isst dazu Waffeln. Belästige ich ihn womöglich deswegen so, weil wir beide wissen, dass er auf mich angewiesen ist, und dass ein guter Pfleger für neun Dollar die Stunde schwer zu kriegen ist? Gebe ich mir deswegen so eine Mühe, ihn zu irgendetwas zu bringen, weil er mir so wichtig

Der 12. Juni 2007 fängt ziemlich genauso an wie jeder andere Tag im Hause Benjamin. Toilettenspülung, Schritte auf der Treppe, Buster kratzt an der Tür und will raus.

Janet ist spät dran, sie muss in die Praxis. Sie würde auch ohne Frühstück gehen, wenn ich sie ließe.

»Hast du die Schlüssel vom Jetta gesehen?«, ruft sie.

»Guck mal in deiner Manteltasche!«

Piper kommt in Pantoffeln in die Küche geschlurft, der Saum ihres knallroten Umhangs schleift auf dem Boden. Ja, meine Tochter trägt einen Umhang, das ist nicht ungewöhnlich. Ihr Haar ist noch vom Schlaf verstrubbelt, aber sie hat morgens um Viertel vor acht schon hellwache Augen. Während des Schuljahrs habe ich sie morgens schon um zehn nach sechs geweckt, und sie hat das total super mitgemacht.

»Jodi läuft die Nase«, verkündet sie.

Wie aufs Stichwort kommt Jodi barfuß in die Küche getapst,

»Quietsch-quietsch-quietschedi-quietsch«, sagt er.

»Er will Müsli«, erklärt Piper.

»Zu spät«, sage ich, die Pfanne schon in der Hand. »Wir haben auch gar keins mehr.«

»Du hattest recht«, sagt Janet, als sie wieder in die Küche kommt, und lässt den Schlüsselbund in ihre Handtasche fallen.

Ich scheuche sie alle an den Frühstückstisch und stelle ihnen genau in dem Moment ihre Teller hin, als der Toaster das Toast auswirft. Piper weigert sich prompt, ihr Ei zu essen, weil es ihr zu weich ist, und Jodi verfüttert seinen Bacon an Buster.

»Jodi, lass das«, sage ich.

»Buxuxer«, sagt er und grinst unter seinen üppigen Locken hervor.

Ich lege die Toasts auf einen Teller und stelle ihn auf den Tisch.

»Ganz schönes Mistwetter für Sommer«, sagt Piper.

»Das wird bald besser«, sage ich.

»Sagst du immer.«

Janet nippt an ihrem Grapefruitsaft, knabbert an ihrem ungebutterten Toast und blättert durch die Times.

»Daddy, kann ich lieber Joghurt haben?«, sagt Piper.

»Gut«, sage ich. »Stell deinen Teller einfach in die Spüle. Und gib Buster nicht deinen Bacon, sonst kackt er uns noch in die Wohnung.«

Jodi lacht, und dabei läuft ihm Schnodder aus der Nase. »Kack, kack«, sagt er, und dann etwas Unverständliches. Ab wann sollte man mal über Logopädie nachdenken?

»Musst du beim Frühstück schon lesen?«, frage ich Janet.

»Du hast ja recht«, sagt Janet und schiebt die Zeitung zur Seite, liest den Absatz aber noch zu Ende.

»Danke«, sage ich.

Sie sieht auf die Uhr und isst höflicherweise noch ein bisschen Ei. »Was hast du heute so vor?«, fragt sie, obwohl ich ziemlich sicher bin, dass wir das gestern Abend im Bett noch durchgesprochen haben. Ich nehme an, dass sie nur ein bisschen Konversation macht, damit es nicht aussieht, als hätte sie es allzu eilig.

»Ich fahre mit den Kindern zu deinen Eltern.«

»Und lässt sie da?«

»Nein, nur zu Besuch.«

»Gehst du einkaufen?«

»Ja, danach.«

»Bring Kleenex mit.«

»Klar.«

»Und sonst so?«

»Wahrscheinlich nicht viel. Wenn wir noch Zeit haben, könnten wir ja noch in den Park gehen.«

»Klingt super«, sagt sie.

»Was soll das denn heißen?«

»Das soll gar nichts heißen, außer dass es super klingt.«

»Weißt du, du kannst auch zu Hause bleiben, Janet. Ich bin ja nicht unvermittelbar. Zumindest nicht vollkommen.«

»Ich habe doch gar nichts gesagt.«

»Na ja, ich mag halt die Unterstellung nicht, dass ich es so leicht hätte, bloß weil ich nicht irgendeinem Shih Tzu den Enddarm operiere.«

»Es ist ein Labrador, und es ist der Dickdarm.«

»Das ist alles nicht so einfach, wie es aussieht, Janet. Vor

»Ich weiß doch, wie viel du arbeitest, Ben. Ich habe wirklich gar nichts gemeint. Kein Grund, dich gleich so angegriffen zu fühlen.«

Sie hat ja recht. Ich fühle mich schon seit Wochen dauernd angegriffen – seit sie mich eines Freitags schlafend erwischt hat. Sie kam überraschend zum Mittagessen nach Hause, und ich schlief tief und fest auf dem Sofa, zwei Liter Schokoladeneis in der Hand, dazu lief eine verkratzte CD von Cat Stevens. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich echt fertig war. Jodi hatte in der Nacht zuvor kaum geschlafen. Es war eigentlich keine große Sache, und ich war auch nur eine Minute weggenickt. Piper war noch in der Schule, und Jodi war einen Meter von mir entfernt in seinem Laufstall. Ich bin nicht mal sicher, ob Janet gemerkt hat, dass ich geschlafen habe, oder ob sie dachte, ich döse nur. Ich glaube, sie hat sich mehr darüber aufgeregt, dass Jodi auf dem Nagelknipser herumkaute. Sie hat kein Wort zu der ganzen Sache gesagt, aber ich spürte ihre Missbilligung. Ein paar Tage später fand sie meine Graspfeife im Gartenhaus und bezeichnete mich als entwicklungsverzögert.

»Was soll das denn heißen?«

»Das soll heißen, dass du herumhängst und kiffst und Eis isst und Cat Stevens hörst, Ben, wie damals auf dem College!«

»Auf dem College habe ich kein Eis gegessen. Und ich hänge auch nicht herum«, erklärte ich.

»Daddy, kann ich Grandpa heute meine Ratte zeigen?«, fragt Piper und zieht den Deckel von ihrem Pfirsichjoghurt.

»Warte doch bitte, bis Grandpa und Nanny hierherkommen, Schatz«, sagt Janet.

»Ich hab Daddy gefragt, nicht dich«, bettelt sie.

»Mom hat recht, Liebes. Wir können den Käfig ja nicht gut

»Ich habe aber dich gefragt, nicht Mommy«, sagt Piper. »Wieso hat Mommy eigentlich immer recht?«

»Hat sie ja gar nicht«, sage ich.

»Aber immer, wenn sie zuerst was sagt, sagst du das Gleiche. Wie ein Echo oder so.«

Janet kichert.

Die reinste Verschwörung.