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Inklusion in Schule und Gesellschaft

 

Herausgegeben von

Erhard Fischer, Ulrich Heimlich

Joachim Kahlert und Reinhard Lelgemann

 

Band 8

Reinhard Lelgemann, Philipp Singer und Christian Walter-Klose (Hrsg.)

Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17- 024283-8

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-024284-5

epub:    ISBN 978-3-17-024285-2

mobi:    ISBN 978-3-17-024286-9

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Vorwort der Reihenherausgeber

 

Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 für Deutschland verbindlich gilt, entwickelt sich die Idee der Inklusion zu einem neuen Leitbild in der Behindertenhilfe. Sowohl in der Schule als auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen sollen Menschen mit Behinderung von vornherein in selbstbestimmter Weise teilhaben können. Inklusion in Schule und Gesellschaft erfordert einen gesamtgesellschaftlichen Reformprozess, der sowohl auf die Umgestaltung des Schulsystems als auch auf weitreichende Entwicklungen im Gemeinwesen abzielt. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung wird in Deutschland durch ein differenziertes Bildungssystem und eine stark ausgeprägte spezialisierte sonderpädagogische Fachlichkeit bezogen auf unterschiedliche Förderschwerpunkte bestimmt. Vor diesem Hintergrund soll die Buchreihe »Inklusion in Schule und Gesellschaft« Wege zur selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinderung in den verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern von der Schule über den Beruf bis hinein in das Gemeinwesen und bezogen auf die unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte aufzeigen. Der Schwerpunkt liegt dabei im schulischen Bereich. Jeder Band enthält sowohl historische und empirische als auch organisatorische und didaktisch-methodische sowie praxisbezogene Aspekte bezogen auf das jeweilige spezifische Aufgabenfeld der Inklusion. Ein übergreifender Band wird Ansätze einer interdisziplinären Grundlegung des neuen bildungs- und sozialpolitischen Leitbildes der Inklusion umfassen.

Die Buchreihe wird die folgenden Einzelbände umfassen:

Band 1:

Inklusion in der Primarstufe

Band 2:

Inklusion im Sekundarbereich

Band 3:

Inklusion im Beruf

Band 4:

Inklusion im Gemeinwesen

Band 5:

Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung

Band 6:

Inklusion im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

Band 7:

Inklusion im Förderschwerpunkt Hören

Band 8:

Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung

Band 9:

Inklusion im Förderschwerpunkt Lernen

Band 10:

Inklusion im Förderschwerpunkt Sehen

Band 11:

Inklusion im Förderschwerpunkt Sprache

Band 12:

Inklusive Bildung – interdisziplinäre Zugänge

Die Herausgeber

Erhard Fischer

Ulrich Heimlich

Joachim Kahlert

Reinhard Lelgemann

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. I Körperbehindertenpädagogik und Inklusion
  3.     Körperbehindertenpädagogik: Exklusives Bildungsangebot in inklusiven Zeiten – Gedanken zur Geschichte, Gegenwart und nahen Zukunft
  4. Reinhard Lelgemann
  5. II Theorie und Praxis der Inklusion
  6.     Theoretischer Anspruch und praktische Wirklichkeit des inklusiven Ansatzes im pädagogischen Diskurs. Zu Konsequenzen der normativen Einseitigkeit und des Umgangs mit Fremdheit
  7. Philipp Singer
  8. III Pädagogische und medizinische Reflexionen zur schulischen Inklusion
  9.     Pädagogische Unterstützung und Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit Körperbehinderung in inklusiven Bildungsangeboten
  10. Volker Daut
  11. IV Empirische Untersuchungen zur schulischen Inklusion und ihre Bedeutung für die Schulentwicklung
  12.     Empirische Befunde zum gemeinsamen Lernen und ihre Bedeutung für die SchulentwicklungChristian Walter-Klose
  13. Christian Walter-Klose
  14.     Heterogene Schülerschaft – heterogene Bedingungen. Befunde eines empirischen Forschungsprojektes zur schulischen Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung
  15. Philipp Singer
  16.     Die Schule vom Kind aus denken – Ein Leitfaden für die Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit körperlicher Beeinträchtigung
  17. Christian Walter-Klose
  18. V Inklusion: Beispiele aus der Schulpraxis und Beratung
  19.     Vorbemerkung
  20.     Das Kardinal-von-Galen-Haus auf dem Weg zur inklusiven Schule
  21. Guido Venth
  22.     »Inklusive Partnerklassen« der Astrid-Lindgren-Schule an der Grundschule Nord in Kempten/Allgäu
  23. Helmut Kirsch
  24.     Inklusion – Den Anfang wagen und gemeinsam wachsen
  25. Irene Roth
  26.     »Barrieren in den Köpfen abbauen« – Das Kompetenzzentrum Albatros-Schule in Bielefeld
  27. Manfred Palm
  28.     Das LWL-Beratungshaus Münster
  29. Arno Grothus
  30.     Beratung und Unterstützung im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung in Schleswig-Holstein
  31. Rainer Dräger/Tobias Schubert
  32. Autorenverzeichnis

Vorwort

 

Chancengleichheit und das Recht auf Selbstbestimmung und soziale Teilhabe von Menschen mit körperlichen Behinderungen und chronischen Erkrankungen ist vor dem Hintergrund von Menschenrechten und Bürgerrechten keine Erfindung der Inklusionsbewegung seit den 1990er Jahren. Sie sind vielmehr handlungsleitende Maximen humanen soziologischen, sozialpsychologischen und pädagogischen Denkens seit Beginn der »modernen« Förderpädagogik (Sonderpädagogik) etwa 1960, allerdings mit grundsätzlich einseitiger Anpassungsrichtung an Normen von Menschen ohne spezifischen Förderbedarf – Stimmen, die darüber hinaus argumentierten, wurden noch nicht gehört. Gleichwohl erfolgte durch die neuere Entwicklung inklusiver Denkschemata in der Pädagogik und die konkrete Formulierung der Leitziele der UN-Behindertenkonvention 2006 und deren gesetzliche Verankerung in Deutschland 2009 ein kraftvoller Schub für die theoretische Diskussion und die Umsetzung der Forderungen in die pädagogische Praxis. Dabei ist ein normatives Theoriegebäude mit einem Totalanspruch entstanden, das die sonderpädagogische Diskussion und Innovation inzwischen vollständig dominiert, nicht zuletzt unter dem Druck der gesetzlichen Vorgaben – die es allerdings »eindeutig« zurzeit nur in Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gibt (Der Spiegel, 12/2014); ein Zeichen, dass unser föderalistisches Schulsystem nicht genug spezifische Vorbereitungszeit hatte. Wissenschaftlich wird schon seit Ende der 1990er Jahre ein pädagogischer Paradigmenwechsel konstatiert, der sich auf der Theorieebene spätestens seit 2009 durchgesetzt hat und die Inklusion grundsätzlich gegen die Integration abgrenzt.

Im Hinblick auf die Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung besteht allerdings weiterhin Bedarf an Diskussion auf allen Ebenen und insbesondere ganz schlicht an Aufklärung über die Natur dieses Paradigmenwechsels: Es geht nicht mehr um Inklusionsfähigkeit oder gar die portionsweise »Zuteilung« von Inklusion wie anfänglich bei der Integration; vielmehr ist der Komplex von Erziehung und Bildung aller Kinder ein ganzheitliches soziales System mit einer Gesamtdynamik.

Jetzt kommt es darauf an, den rein normativen Ansatz an der schulischen Praxis zu messen und anhand realistischer organisatorischer und menschlicher Dimensionen zu relativieren. Auf der Ebene der praktischen Umsetzung von pauschal formulierten theoretischen Zielen der UN-Konvention (die vom allgemeinen Menschenrecht ausgeht) gilt es, die Forderungen so zu differenzieren und an Realitäten zu orientieren, dass bei inklusiver Förderung nicht ständig defizitäre Praxis entsteht, weil beispielsweise nicht alle »Sondereinrichtungen« in das Schema passen und abgeschafft werden müssten (was in der Konvention allerdings nirgends gefordert wird) – eine solche Situation widerspräche geradezu den Forderungen nach Chancengleichheit vieler Kinder mit körperlichen Behinderungen. Hier will die vorliegende Schrift ansetzen und vor allem unter Betonung von Praxiserfahrungen einen Beitrag leisten.

Hinsichtlich der Legitimation und Theoriebildung der Inklusion können wir uns insbesondere wieder an etablierten handlungsleitenden Konzepten orientieren, die längst in allgemeinen sonderpädagogischen Denkmustern selbstverständlich geworden sind (spätestens seit Ulrich Bleidick als »Behindertenpädagoge« 1987 offiziell das royale Zepter an Otto Specks »System Heilpädagogik« übergeben hat): Systemisch-konstruktivistisches Denken bestimmt inzwischen unser aller Menschenbild. Es wurde offensichtlich auch bei der Entwicklung und Abfassung der UN-Konvention wirksam und ist damit spätestens seit 2006 (UN) bzw. 2009 (D) hoch »legitimationshaltig« sowohl für die Theoriediskussion als vor allem auch die bildungspolitische Umsetzung der Inklusion in die Praxis.

Systemisch-konstruktivistisch ist das erste von mehreren zentralen Schlagworten, die die Grundlage bilden für handlungsleitende theoretische Annäherung an diesen Komplex. Es besagt, dass jeder Teil eines sozialen Systems in zirkulärer Beziehung steht zu allen anderen Teilen. Das bedeutet für die schulische und vorschulische Inklusion nicht nur, dass jedes betroffene Kind in diesem System dort abgeholt wird, wo es in seiner Entwicklung (körperlich, sozial-emotional, leistungsmäßig) steht, sondern auch dass jedes einzelne Kind das ganze System in allen mikro- und makrosozialen Elementen beeinflusst und damit auf seine eigene Entwicklung und pädagogische Förderung implizit einwirkt. In systemischer inklusiver Verantwortung stellen wir dem »Teil-System« Kind alle pädagogischen Errungenschaften je nach Bedarf zeitweise oder dauerhaft zur Verfügung. Dazu gehört parallel zu inklusiv arbeitenden Institutionen der Erhalt aller bewährten bestehenden Angebote (z. B. die über Jahrzehnte entwickelte Förderschule mit ihren Strukturen). Das mag in letzter organisatorischer Konsequenz eine gesellschaftliche Utopie darstellen, liefert jedoch praktikable Rahmen- und Zielvorstellungen (auch für die Gestaltung des Unterrichts). Lelgemann spricht von bereitgestellten Ressourcen, »die nicht leichtfertig aufgegeben werden dürfen«.

Kennzeichen dieser im weitesten Sinne »Pädagogik der Vielfalt« (Prengel) sind Heterogenität und die Auflösung von Untergruppen in pädagogischen Systemen (Vorschule, Schule). Die Kinder und Jugendlichen werden individuell in ihrer Einzigartigkeit respektiert. Organisationseinheit Schule bedeutet ein Primat von Gemeinsamkeiten bei individueller Verschiedenheit (Hinz). Eine gruppenspezifische Perspektive bleibt jedoch erforderlich, um Schule gesellschaftlich zu organisieren – und nicht zuletzt um in diesem Zusammenhang generalisierbare handlungsleitende Forschungsergebnisse zu erreichen.

Grundsätzlich stellt sich die Frage nach dem generellen Stellenwert »besonderter« (Gruppen- oder Einzel-)Förderung bzw. der Förderschule. Das betrifft vor allem Kinder mit hohem Fürsorge- und Pflegebedarf, der die allgemeine Schule in vielerlei Hinsicht (personell, baulich usw.) überfordert. Sie stellt sich aber auch, weil gegenwärtig viele betroffene Kinder in allgemeinen und Stadtteilschulen (besonders in sozialen Brennpunkten) den oftmals in ihrer Vorentwicklung ungewohnten Belastungen, die sie dort als solche erfahren, nicht gewachsen sind. In diesem Zusammenhang wird eine Umschulung (oder eine Rückkehr) in die Förderschule von den Kindern (und ihren Eltern) oft als soziales Trauma erlebt. Im oben skizzierten systemisch-konstruktivistischen Bild ist die »Förderschule« (oder eine homogene Fördergruppe in inklusiv arbeitenden Schulen), die ggf. im Austausch mit zuständigen allgemeinen Schulen steht, im Grunde keine Besonderung, sondern eine angezeigte individuelle Maßnahme, etwa als »geschützter Raum«, der im Rahmen der Inklusion bereitgehalten wird und in dem betroffene Kinder bildende und stabilisierende gemeinsame Erfahrungen mit ähnlich Betroffenen machen können – und zwar nur dort; »für die eigene Identitätsentwicklung scheint dies besonders wichtig zu sein« (Daut).

Im Zentrum historischer Reflexion im deutschsprachigen Raum steht vor allem die Auseinandersetzung über den Zusammenhang zwischen Integration und der Inklusion. Seit den 1970er Jahren standen Prinzipien der Integration im Vordergrund. In Europa war es zunächst Italien, das 1977 gleich radikale Tatsachen geschaffen hat. Per Gesetz wurden Kinder mit Behinderungen den nichtbehinderten Kindern gleichgestellt, und es wurden kurzerhand die »Sonderschulen« (mit Ausnahme von Institutionen zur Förderung sehr schwer behinderter Kinder) aufgelöst, um Chancengleichheit zu gewährleisten. Dabei wurde die Struktur der Regelschule allerdings grundsätzlich nicht verändert, und Kinder mit Behinderungen mussten sich dort einpassen. Dieses Missverständnis von Integration (und später in der Inklusion) hat sich bis heute vielfach erhalten. Und die 1977 fehlenden integrationspädagogischen Erkenntnisse mussten über Jahrzehnte parallel zur Praxis erarbeitet und formuliert werden. Mediterraner Abenteuerlust abhold, rief man im föderalistischen Westdeutschland zur selben Zeit langjährige Forschungsprojekte zur Integration ins Leben (mit steilem Nord-Süd-Gefälle an Enthusiasmus). Dabei widmete sich das einzige offiziell nur auf Kinder mit Körperbehinderung zugeschnittene Projekt ausschließlich der Integration ins Gymnasium (Neuwied). Haupt entwickelte ein Modell (mit Vorauswahl der Kinder und zielgleicher Förderung), das nach dessen Ablauf in die Regelform übernommen wurde. In der Rückschau zeigten sich schon damals Probleme, die noch heute bei der Inklusion eine Rolle spielen und ungelöst sind: die Tendenz zur Vereinsamung von Kindern mit besonderem Förderbedarf, ihre Isolation und die als besonders schmerzhaft erlebte Nichtbeachtung durch die Mitschüler. Außerdem wurde deutlich, wie wichtig regelmäßige professionelle Beratung in Einzel- und Gruppengesprächen mit Pädagogen an der Schule waren – heute in großem Stil in die Organisation erfolgreicher Inklusion eingeflossen, in erster Linie auch im Rahmen spezifischer Fortbildung und vor allem zur Motivierung. Denn »Voraussetzung für einen positiven sozialen Umgang zwischen Schülern ohne und mit Behinderung ist zunächst sicherlich, dass die Lehrkräfte eine positive Haltung zur schulischen Inklusion vorleben« (Singer).

In den 1990er Jahren erfolgte der Paradigmenwechsel zur Inklusion, begleitet von erneuter Begriffsdiskussion (tragischerweise nachdem die Begrifflichkeit der Integration gerade mehr oder weniger abgeklärt war). Dabei wurde mindestens bis zum gesetzlichen Einschnitt 2009 unter beiden Begriffen häufig das Gleiche verstanden (Inklusion als optimierte Integration). Das war in diesen Jahren zunächst begründet durch die missverständliche Übersetzung amerikanischer Begrifflichkeit in der UN-Konvention – inclusion wurde als die vertraute Integration übersetzt und als solche aufgefasst. Grundsätzlich aber muss vereinfachend unterschieden werden zwischen Integration als Methode und Inklusion als gesellschaftlichem Weg, bei dem es nicht mehr nur um Anpassung an vorhandene Systeme geht, sondern »die Systeme selbst ihre Standards verändern« (Hinz).

Die inklusive pädagogische Förderung von körperbehinderten Kindern ist weiterhin charakterisiert durch das Schlagwort Komplexität aufgrund der extremen Heterogenität der Betroffenen bezüglich Erscheinungsbild, Entwicklungsverlauf, Förderbedürftigkeit und vor allem Kommunikation. Das stellt auch an speziell ausgebildete Förderpädagogen hohe Anforderungen: beispielsweise bei Verweigerungshaltungen als Ausdruck emotionalen Protests oder Auseinandersetzung mit begrenzter Lebenserwartung und plötzlichem Tod – Faktoren, die auch zur individuellen Vereinsamung in der Inklusion beitragen können. Insbesondere das Erkennen von Signalen der Befindlichkeit und der Leistungsbereitschaft der Betroffenen erfordert große persönliche Vertrautheit. Dabei ist ein weitgehend unterschätztes Problem bei Kindern mit leichter oder minimaler körperlicher Behinderung, dass sich Auffälligkeiten erst unter Leistungsdruck zeigen.

Ein entscheidendes drittes Schlagwort der Inklusionspädagogik ist alternativlos die selbstverständliche Transparenz des zwischenmenschlichen und pädagogischen Geschehens durch Verbalisierungen (die Teil der Lehrerausbildung sind), um »Besonderungen« und aufkommende Befürchtungen durch deren Benennung aufzulösen. Dazu gehört auch eine Form spezifischer Thematisierung vermeintlich fachfremder Gegenstände im Unterricht wie Information über Behinderungen und Befindlichkeiten (»Behinderung als Unterrichtsgegenstand« für alle Kinder). Und schließlich auch die Bewusstheit und Umsetzung von Kontaktpflege und Empathie.

Allgemein ist festzuhalten, dass die genannten übergeordneten Schlagworte systemisch-konstruktivistische Perspektive, Komplexität und Transparenz im Hinblick auf Schuleingangsdiagnostik, Schulorganisation, Unterrichtsgestaltung und Kommunikation von allen Beteiligten größtmögliche Flexibilität erfordern – die gelernt werden kann.

Idealerweise werden zwei Pädagogen pro Klasse tätig sein und wird professionelle Beratung für das Kollegium geboten. Besonders erfolgreich scheinen bisher Konzepte offenen Unterrichts zu sein, die sich aller möglichen Formen bedienen: von freier Arbeit (für Kinder mit Körperbehinderung ggf. geleitet) bis Frontalunterricht und von Einzelarbeit bzw. -betreuung bis zur Arbeit in Klein- und Großgruppen; außerdem Elemente wie individuelle Erziehungs- und Lehrpläne, Ungleichzeitigkeit des Lernens und individueller Rhythmus. Alltagspraktisches Lernen steht für alle Schüler mit Körperbehinderung zumindest gleichwertig neben dem Erwerb der Kulturtechniken. Der Unterricht findet in gemischten Alters- und Lerngruppen statt mit Förderung auf unterschiedlichem Niveau (Bedeutung des passiven Mitlernens); Verzicht auf Benotungen.

Schule mit Respekt vor der einzigartigen Biographie und Persönlichkeit des Individuums »ist nicht nur ein frommer Wunsch, sondern ein menschenrechtlicher Anspruch« (Singer). Dieser Weg bedeutet, Schule vom Kind aus zu denken – »die Inklusion hat begonnen!« (Walter-Klose).

 

Im Sommer 2014

Harry Bergeest

Einleitung

 

»Voll krank, auf ’ne andere Schule zu müssen!«, heißt es auf einem Werbeplakat der »Aktion Mensch«. Abgebildet sind drei jugendliche Schülerinnen, von denen eine in einem Rollstuhl sitzt. Die Botschaft ist eindeutig: Körperbehinderte junge Menschen gehören auf eine allgemeine Schule, sie gehören inklusiv unterrichtet. Die Werbung bestätigt unbeabsichtigt ein Ergebnis eines Forschungsprojektes, das die Herausgeber dieses Bandes im Rheinland durchführen konnten. Schüler mit einer körperlichen Beeinträchtigung, die keine größeren Unterstützungsleistungen benötigen und sich in sozialen Beziehungen aktiv einbringen und durchsetzen können, besuchen erfolgreich diese sehr engagiert arbeitenden allgemeinen Schulen. Doch was ist mit den Schülerinnen und Schülern1, die nicht so charmant wirken wie die drei jungen Frauen auf dem Werbeplakat der »Aktion Mensch«? Was ist mit jungen Menschen, die Probleme haben, soziale Beziehungen konstruktiv zu gestalten, oder die keine Eltern haben, die sich aktiv in Schulprozesse einbringen können oder wollen?

Schulen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung berichten immer wieder davon, dass sie viele Schülerinnen und Schüler aufnehmen müssen, die aus der Integration/Inklusion zurückkommen, weil allgemeine Schulen ihnen kein passendes schulisches Bildungsangebot machen konnten und sie dort großen Belastungen ausgesetzt waren. Ein Sachverhalt, der bis vor wenigen Jahren nicht empirisch untersucht wurde.

Kinder und Jugendliche mit einer Körperbehinderung sind eine ausgesprochen heterogene Schülergruppe. Es sind eben nicht nur diejenigen, die Rollstuhl fahren und die vor allem körperlich beeinträchtigt sind. Es sind auch Schülerinnen und Schüler, die weitere Beeinträchtigungen und Schwierigkeiten haben, die nicht direkt sichtbar sind, die sich aber als bedeutsam erweisen, wenn sie erfolgreich lernen und am sozialen Leben teilnehmen wollen. Ebenso zählen hierzu Schülerinnen und Schüler mit komplexem Unterstützungsbedarf, die bisher fast überhaupt nicht in die Debatte einbezogen werden. Themen wie Gesundheit, Pflege und Therapie haben für viele dieser Kinder und Jugendlichen eine besondere Bedeutung in ihrem leiblichen Dasein. Wenn auch sie am inklusiven Schulentwicklungsprozess teilhaben sollen, müssen diese Themen in inklusiven Schulen als bedeutsam erkannt und berücksichtigt werden.

Die schulpolitischen Entwicklungen in den Bundesländern sind bezogen auf den hier angesprochenen Personenkreis derzeit außerordentlich unterschiedlich. Einerseits scheint die Bedeutung der Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung durch die aktuellen Entwicklungen in den meisten Bundesländern nicht in Frage gestellt zu werden. Andererseits werden die Möglichkeiten der Schulen zumeist nicht ernsthaft in inklusive Schulentwicklungsprozesse einbezogen. Initiativen entstehen eher aus einigen Schulen selbst heraus, als dass diese systematisch gesucht werden. Die Inklusionsquote dieser Schülergruppe bleibt in den meisten Bundesländern relativ stabil bei etwa 20–30%, obwohl die Gruppe »der« Schülerinnen und Schüler mit einer Körperbehinderung allgemein als leicht »inkludierbar« gilt. Nationale und internationale Studien weisen zudem darauf hin, dass Schülerinnen und Schüler vorwiegend außerhalb des allgemeinen Schulwesens unterrichtet werden, sobald zu einer Körperbehinderung weitere Probleme in Bereichen wie der Wahrnehmung und des Lernens oder eine höhere Therapie- oder Pflegebedürftigkeit hinzutreten. Dies sollte und kann nicht automatisch als aussondernd bezeichnet werden, wird hiermit doch häufig im Sinne des Artikels 24, Abs. 1, Satz 1 das Recht der Schüler auf bestmögliche schulische Bildungsangebote anerkannt und gesichert. Die hier nur skizzierte Situation verweist auf eine Komplexität der Inklusionsentwicklung, die in diesem Band theoretisch und praxisorientiert für die Personengruppe der Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf körperliche und motorische Entwicklung differenziert reflektiert wird.

Die Systematik des vorliegenden Bandes spiegelt die Vielfältigkeit der aktuellen Diskussionen wider, die sich mit dem Begriff der Inklusion verbinden. Er baut auf einem Forschungsprojekt auf, das von den Herausgebern in den Jahren 2010 bis 2012 durchgeführt wurde. Der Band nimmt das Problemfeld der Inklusion aus der Perspektive von fünf unterschiedlichen, aber aufeinander bezogenen Zugängen in den Blick:

Das erste Kapitel skizziert historische Entwicklungen der Körperbehindertenpädagogik in Deutschland und stellt den Prozess und die Situation der inklusiven Schulentwicklung in diesem Förderschwerpunkt bis zum Herbst 2013 dar.

Aus einer theoretisch-philosophischen Perspektive und anhand empirischer Daten diskutiert Kapitel zwei die Grundlagen des inklusionspädagogischen Ansatzes in ihrer Relevanz für (schwerer) körperlich und geistig behinderte Menschen. Das Potenzial des inklusiven Ansatzes wird durch die einseitig normative Sichtweise auf Inklusion nicht nur aufs Spiel gesetzt – diese Ausrichtung könnte gravierende Konsequenzen haben und der Anerkennung und Teilhabe schwerer körperlich und geistig behinderter Menschen auf paradoxe Weise zuwiderlaufen.

Kapitel drei widmet sich wesentlichen durch eine Körperbehinderung bedingten Auswirkungen und stellt deren pädagogische Bedeutsamkeit für inklusive Situationen heraus. Im Fokus stehen dabei besonders Kinder und Jugendliche mit cerebralen Bewegungsstörungen und Jungen mit fortschreitenden Muskelerkrankungen.

Im vierten Kapitel legen zwei Artikel den empirischen Forschungsstand der inklusiven Schulentwicklung in Bezug auf Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf körperliche und motorische Entwicklung dar. Ausgehend von der Auswertung nationaler und internationaler Studien zum Gemeinsamen Unterricht der vergangenen 40 Jahre, leitet Walter-Klose Empfehlungen für den Aufbau inklusiver Bildungssysteme ab. Es zeigt sich, dass eine spezifische Perspektive auf Schülerinnen und Schüler mit einer körperlichen Beeinträchtigung notwendig ist, um Fragen bestmöglicher Unterrichts- und Schulqualität differenziert beantworten zu können. Singer stellt die Ergebnisse des Forschungsprojektes »Ermittlung von Qualitätsbedingungen für den Ausbau gemeinsamer Beschulung (schulische Inklusion) und Sicherung des bestmöglichen schulischen Bildungsangebots (Art. 24, 2e der UN-Konvention) von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung« vor. Neben den Erfahrungen von Schülern, ihren Eltern und Lehrkräften in gelingenden inklusiven Schulsituationen wurden in diesem Projekt ebenso die Erfahrungen von Schülern, die an eine Förderschule wechselten, berücksichtigt. Im Mittelpunkt dieses Beitrages stehen vor allem sozial-integrative Aspekte einer gelingenden schulischen Inklusion. Aus der Perspektive der Schulentwicklung stellt Walter-Klose in seinem zweiten Kapitel von IV einen Leitfaden vor, der den Unterstützungsbedarf der Schülerinnen und Schüler sowie die individuellen schulorganisatorischen Anpassungsnotwendigkeiten in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Er kann in der Praxis für die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen mit Körperbehinderung in die allgemeine Schule sowie zur Reflexion der Anpassung von Schule und Unterricht an das jeweilige Kind verwendet werden und wurde auf Basis der empirischen Arbeiten entwickelt.

Im fünften Kapitel berichten sechs Autorinnen und Autoren von unterschiedlichen praktischen Beispielen. Vorgestellt werden zum einen Beispiele, in denen allgemeine Schulen im Rahmen eines Schulentwicklungsprozesses inklusive Bildungsangebote eröffnen, erproben oder bereits über viele Jahre hinweg praktisch anbieten. Zum anderen werden Beispiele beschrieben, in denen Förderschulen körperliche und motorische Entwicklung neue Beratungsangebote entwickeln, die Bildungsmöglichkeiten in inklusiven, allgemeinen Schulen initiieren und unterstützen.

Der Band richtet sich insbesondere aufgrund seiner vielfältigen Zugänge zur Thematik der Inklusion gleichermaßen an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, an Studierende und Lehramtsanwärter, ebenso an Lehrerinnen und Lehrer, Schulleitungen und in der Schulaufsicht Tätige, die hier zahlreiche theoretische und praktische Anregungen finden. Die Herausgeber und die Autorinnen und Autoren hoffen, mit diesem Band sowohl einen Beitrag zu einer intensiven Fortführung der wissenschaftlichen Diskussion um Inklusion als auch zu einer verstärkten Entwicklung schulischer Inklusionsangebote zu leisten. Unser Dank gilt besonders allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge zu diesem Band. Für Rückfragen und Diskussionen stehen alle Autorinnen und Autoren gerne zur Verfügung.

Würzburg im August 2014

Reinhard Lelgemann

Philipp Singer

Christian Walter-Klose

1     Im vorliegenden Buch wurde es den Autoren überlassen, weibliche und/oder männliche Geschlechtsbezeichnungen in ihren Texten zu verwenden. Mit der jeweils verwendeten Sprachform geht ein Respekt für die Vielfalt aller Menschen einher.

 

 

 

 

 

I

Körperbehindertenpädagogik und Inklusion

 

 

 

 

 

Körperbehindertenpädagogik: Exklusives Bildungsangebot in inklusiven Zeiten – Gedanken zur Geschichte, Gegenwart und nahen Zukunft

Reinhard Lelgemann

Die schulisch orientierte Körperbehindertenpädagogik ist innerhalb der Sonderpädagogik ein kleines Fachgebiet, welches dadurch herausgefordert ist, dass sich die Schülerschaft in allen Schulen unterschiedlich darstellt und in ständigen Veränderungsprozessen befindet, auch wenn die weiterhin größte Einzelgruppe Schülerinnen und Schüler mit einer infantilen Cerebralparese sind (vgl. Hansen, 2012; Lelgemann/Fries, 2009). In der Inklusionsdebatte wird die Schülerschaft vor allem als Gruppe der vornehmlich körperbehinderten Kinder und Jugendlichen wahrgenommen, die scheinbar, außer einem Mobilitätsproblem, nur geringe Lern- und Lebenserschwernisse bewältigen müssen. In vielen Förderschulen dagegen finden sich vor allem mehrfach oder stark beeinträchtige Schülerinnen und Schüler.

In der aktuell geführten Diskussion zur Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems kann der Eindruck entstehen, Körperbehindertenpädagogik bzw. spezifische Bildungsangebote für Schülerinnen und Schüler mit einer körperlichen Beeinträchtigung seien selbstverständlich in einem inklusiven Bildungssystem möglich, wenn nur gewisse bauliche Aspekte berücksichtigt werden. Dieser Eindruck wird in der medialen Öffentlichkeit u. a. dadurch begünstigt, dass das Thema Inklusion in sehr hohem Maße durch körperbehinderte Menschen repräsentiert wird, die einen Rollstuhl nutzen oder aufgrund körperlicher Fehlbildungen (z. B. verkürzte Gliedmaßen) vom Erscheinungsbild her auffallen, eine sehr sympathische Ausstrahlung haben, selbstbewusst auftreten, charmant sind, weiterhin aber keine relevanten Erschwernisse zu bewältigen haben.

Im Folgenden wird auf der Basis einiger weniger Hinweise zur Qualität inklusiver Bildungssituationen für Schülerinnen und Schüler mit einer körperlichen oder mehrfachen Beeinträchtigung und sich daraus ergebender Fragen die Entwicklung der Körperbehindertenpädagogik als erziehungswissenschaftlicher Disziplin skizziert. Die Darstellung verweist darauf, wie wenig selbstverständlich die Entwicklung von Bildungsangeboten für Schülerinnen und Schüler mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen sich gestaltete, benennt aktuelle Bedingungen und ermöglicht eine erste Reflexion des Selbstverständnisses sowie der Komplexität des Fachgebietes und der inklusionsspezifischen Besonderheiten und Herausforderungen. Dabei geben die Ausführungen zu den aktuellen Entwicklungen in einigen Bundesländern den Stand zum Ende des Jahres 2013 wieder.

1          Internationale Entwicklungen

Differenzierte empirische Studien zur schulischen Situation körperbehinderter und der hier ebenso angesprochenen mehrfachbehinderten Schülerinnen und Schüler im internationalen Raum liegen inzwischen einige vor, auch wenn diese nicht immer vergleichbar sind oder den gleichen Personenkreis ansprechen, der in Deutschland in die Diskussion einbezogen wird. Walter-Klose hat in seiner vergleichenden Arbeit 81 Studien aus Deutschland, vor allem aber Staaten, die seit mehr als dreißig Jahren integrative Bildungssysteme entwickelt haben, einbeziehen können. Wesentliche Erkenntnisse dieser Studie (ausführliche Darstellung bei Walter-Klose hier im Buch) sind,

Images  dass in den von ihm ausgewerteten Studien vornehmlich Schülerinnen und Schüler erfasst wurden, die nicht gleichzeitig erhebliche Lernbeeinträchtigungen oder sehr schwere Beeinträchtigungen aufwiesen (Walter-Klose, 2012, S. 310f.). Hieraus kann zumindest abgeleitet werden, dass diese Personengruppe auch nach langjähriger integrativer Schulentwicklung nicht im Fokus der pädagogischen Forschung steht;

Images  dass unterschiedliche Schulentwicklungsmodelle realisiert wurden, die von einer ständigen Präsenz der Schüler in der Klasse bis hin zu überwiegend räumlich getrennter Unterrichtung in anderen Klassenräumen alle Facetten aufweisen (ebd., S. 324f.);

Images  dass ein deutlich höheres Maß an integrativer/inklusiver Beschulung als in Deutschland, wenn auch in unterschiedlichen organisatorischen Modellen, möglich ist (ebd., S. 56f.);

Images  dass Integration/Inklusion leichter realisiert werden kann, wenn die Schüler ein sozial akzeptiertes Verhalten aufweisen und nicht mehrfachbehindert sind (siehe hierzu auch Singer hier im Buch);

Images  dass Aspekte der medizinischen Unterstützung, also Hilfsmittel und Therapien, kaum als forschungsrelevant angesehen und nur selten erforscht wurden. Dort, wo entsprechende, zumeist kleinere qualitative Forschungsergebnisse vorliegen, verweisen sie auf deutliche Mängel in der Versorgung mit Therapien und Hilfsmitteln (ebd., S. 313ff., S. 342ff., S. 352ff.);

Images  dass in den Untersuchungen, in denen der Intelligenzquotient der Schülerinnen und Schüler in inklusiven Situationen erfasst wurde, nachgewiesen werden konnte, dass die messbaren schulischen Bildungsergebnisse den potenziell für möglich erachteten nicht entsprachen (ebd., S. 278f.).

Eine weitere von Paulsson und Nygren 2009 in Schweden vorgelegte Studie befragte Schüler, Eltern und Lehrer, um nach dreißig Jahren integrativer Schulentwicklung die Qualität des schulischen Bildungsangebotes vornehmlich körperbehinderter Schülerinnen und Schüler zu erfassen (Paulsson et al., 2011). Es wurde deutlich, dass Schülerinnen und Schüler mit einer Körperbehinderung in allen Regionen Schwedens integrativ/inklusiv unterrichtet werden und sich der weitaus größere Teil der Schüler in diesen Schulen wohlfühlt. Ebenso aber wiesen Schüler und Eltern darauf hin, dass in aller Regel entsprechende bzw. notwendige Hilfsmittel nicht beschafft und eingesetzt wurden und eine therapeutische Begleitung im Schulalltag kaum zur Verfügung stand. Oftmals waren die Schulgebäude auch nach 30 Jahren integrativer Entwicklung nicht barrierefrei und Schülerinnen und Schüler von der Teilnahme an sozialen Aktivitäten, wie Klassenausflügen oder auch nur Pausen auf dem Schulhof, ausgeschlossen. Leider wurde in dieser Studie nicht nach der Qualität der Bildungsangebote für sehr schwer beeinträchtigte Schüler gefragt.

In einer weiteren Studie zum Stand der Integration im italienischen Bildungswesen, die von Ianes und Demo auf einer Tagung in Köln im Jahre 2010 vorgestellt wurde, konnten allerdings auch Erkenntnisse über die Situation sehr schwer behinderter Schüler gewonnen werden (Lehrerbefragung). Hier wurde deutlich, dass in vielen Regionen Italiens Schüler mit einer umfassenden Beeinträchtigung zu sehr hohen Anteilen räumlich getrennt unterrichtet wurden. In diesem Zusammenhang ist es ebenfalls interessant, dass Köpfer (2013) in einer Studie zum Stand der Inklusion in New Brunswick, Kanada, zwar nach der Situation dieser Schülergruppe fragte, sich aber in der Veröffentlichung keine Angaben hierzu finden.

Wer also differenziert nach der Bildungssituation körper- und mehrfachbehinderter Schülerinnen in vielen anderen Staaten fragt, wird feststellen, dass schulische Integration auf vielfältige Weise möglich ist. Er wird aber auch feststellen, dass es immer dann, wenn mehrfache Beeinträchtigungen oder eine größere Abhängigkeit von Personen oder Hilfsmitteln gegeben oder ein höherer therapeutischer Bedarf feststellbar ist, sich die gemeinsame Unterrichts-, nicht nur die gemeinsame Anwesenheitszeit erheblich reduziert. Zudem gibt es Hinweise, dass spezifisches Fachwissen über Therapien, Hilfsmittel oder auch Möglichkeiten Unterstützender Kommunikation nicht mehr oder nur in seltenen Fällen bei den Pädagoginnen und Pädagogen der allgemeinen Schulen zu finden sind. Häufig konzentriert sich die fachliche Expertise auf den weiteren medizinischen Bereich, der nur einen begrenzten Zugang zum pädagogischen Raum hat. Werden die Erkenntnisse der aktuell vorliegenden Forschungsprojekte in Deutschland und im internationalen Raum beachtet, stellt sich deshalb die Frage, wie ein bestmögliches Bildungsangebot (entsprechend Art. 24, 2e der UN-Konvention) von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung gestaltet werden kann und welche Hinweise aus der historischen Entwicklung der Körperbehindertenpädagogik möglicherweise hilfreich einzubeziehen sind.

2          Vom Bemühen um Bildungs- und Arbeitsangebote

Die ersten schulischen Bildungsangebote für körperbehinderte Schüler waren auch Angebote, die Schülern und dem Lehrer ein Auskommen ermöglichten. Freiherr von Kurz verwirklichte mit seinem Angebot einerseits die materielle Absicherung der eigenen Familie, hatte aber nach Stadler (2004, S. 58) auch den philanthropischen Anspruch, jungen Menschen, insbesondere jungen Männern, Auskommen und eine grundlegende Bildung zu sichern. Die diakonischen Einrichtungen, die Ende des 19. Jahrhunderts gegründet wurden, öffneten sich dagegen nicht nur für Jungen, sondern auch für Mädchen und für Menschen, die zum damaligen Zeitpunkt als stärker behindert oder gar als Sieche galten. Dass dies keine Selbstverständlichkeit war, kann an den Arbeiten von Würtz und Biesalski erkannt werden. Da die meisten Schüler mit einer Körperbehinderung zu Beginn des letzten Jahrhunderts kein schulisches Bildungsangebot erhielten, können alle damaligen Angebote für körperbehinderte Schüler und Schülerinnen als historisches Neuland betrachtet werden, denn der Bildungsanspruch auch für, aus heutiger Sicht, leichter körperbehinderte junge Menschen wurde bis zu diesem Zeitpunkt gesellschaftlich nicht wahrgenommen bzw. beachtet (vgl. Stadler/Wilken, 2004). Selbst die Selbsthilfebewegung Körperbehinderter, die von Otto Perl gegründet wurde, hatte ihre Probleme mit der Personengruppe der sogenannten Siechen, die auch in diesen Kreisen als bildungsunfähig angesehen und der Rehabilitation nicht würdig erachtet wurden (vgl. Wilken, 2004). Derartige Einstellungen lassen sich auch in den Einrichtungen der Körperbehindertenpädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg wiederfinden; sie sind belegbar in der geringen Aufnahmebereitschaft von Rollstuhlfahrern noch Ende der 1950er Jahre, auch wenn dies sicherlich oftmals bauliche Gründe hatte, der zögerlichen Aufnahme von Schülern und Schülerinnen mit einer Lernbeeinträchtigung oder einer starken geistigen Entwicklungsverzögerung in den 70er und zu Beginn der 80er Jahre oder auch von Schülern mit komplexen Beeinträchtigungen noch Mitte der 80er Jahre. Auch in der Einstellung gegenüber nicht sprachlich kommunizierenden Schülern, die noch in den 90er Jahren oftmals generalisierend als kognitiv stark beeinträchtigt galten (Almon, 2000, S. 54) und die sich erst mit Einführung der Unterstützten Kommunikation im Verlaufe der folgenden Jahre veränderte, ist erkennbar, wie langsam sich Bildungsangebote für alle jungen Menschen mit einer körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigung durchsetzten.

Spezialisierte Einrichtungen für körper- und mehrfachbehinderte Menschen können im schulischen, ebenso wie im Bereich der weiterbildenden und beruflichen Schulangebote darauf verweisen, dass sie für viele Schülergruppen spezialisierte Angebote entwickelten, die jungen Menschen ermöglichten, ihren Lebensunterhalt selbstständig in einem frei gewählten Beruf zu verdienen, und denen, die dies nicht können, ein so selbstständiges Leben wie möglich zu eröffnen. Dieser Prozess ist an gesellschaftliche Entwicklungen, an Sichtweisen, ebenso aber an medizinische Entwicklungen und Fortschritte in der Rehabilitation gebunden. Engagierte Pädagoginnen und Pädagogen entwickeln auf der Basis dieser Erkenntnisse neue Bildungsangebote. So werden z. B. Menschen mit einer Muskelerkrankung, wie der Muskeldystrophie Typ Duchenne, in der Gegenwart häufig deutlich älter als noch vor zwei Jahrzehnten (vgl. Daut, 2010). Berufsbildende Einrichtungen, wie Berufsbildungswerke, haben deshalb inzwischen ein differenziertes berufsbildendes Angebot für diesen Personenkreis entwickelt (vgl. Weiser, 2010).

Schulen für körperbehinderte junge Menschen haben in ihrer historischen Entwicklung aufzeigen können, dass es möglich ist, für Menschen, die im allgemeinen Schulwesen traditionell kein Bildungsangebot erhielten, ein solches zu verwirklichen. Hierfür wurden im Rahmen einer hoch zu schätzenden kulturellen und ethischen Verantwortlichkeit Ressourcen bereitgestellt, die nicht aufgegeben werden dürfen. Gleichzeitig weisen unsere, hier dargestellten Forschungen darauf hin, dass Eltern und Schüler inklusive schulische Bildungsangebote wünschen (vgl. Singer in diesem Band). Sie machen darauf aufmerksam, dass körper- und mehrfachbehinderte Schülerinnen und Schüler sowie diejenigen mit komplexen Unterstützungsbedürfnissen nicht von inklusiven Entwicklungen ausgeschlossen werden dürfen. Der Wunsch nach einer intensiven und umsichtigen pädagogischen Begleitung und Angebotsstruktur ist damit ebenso verbunden. Deshalb sprechen sich 82% der in unserer Untersuchung befragten Eltern von Förderschülern dafür aus, die Schulform ›Schule mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung‹ in der Gegenwart erneut zu wählen (Lelgemann/Lübbeke/Singer/Walter-Klose, 2012, S. 470). Damit wird deutlich, dass die Qualität des schulischen Bildungsangebots den Eltern durchaus bewusst ist und gesichert werden muss. Es geht also nicht nur um rein quantitative Entwicklungen, die inzwischen jährlich dokumentiert nachweisen, in welchem Maße es den Bundesländern gelingt, Schüler ins allgemeine Schulwesen abzugeben; es geht in hohem Maße um eine qualitätsintensive, am jeweiligen Schüler orientierte Weiterentwicklung inklusiver Bildungsangebote.

3          Zur Entwicklung der Schülerschaft und ihrer schulischen Bildungsangebote

Bereits für die erste Einrichtung für verkrüppelte Kinder und Jugendliche des Freiherrn von Kurz, die von fünf Schülern besucht wurde, berichtet Stadler, dass einer der Schüler ein gehörloser Junge war, dessen Beeinträchtigung damals unter einen weiten Begriff der Körperbehinderung fiel (vgl. Stadler, 2004). Trotzdem verstanden sich Bildungseinrichtungen für körperbehinderte junge Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis etwa in die 70er Jahre hinein vornehmlich als Einrichtungen für mobilitäts- und aktivitätsbeeinträchtigte Schüler und Schülerinnen, die nur geringe mentale Einschränkungen aufwiesen. Wer Fotos aus den ersten dreißig Jahren des letzten Jahrhunderts betrachtet, wird selten Kinder und Jugendliche in rollstuhlähnlichen Wagen finden, oftmals weisen die Schüler verkürzte oder fehlende Gliedmaßen auf. Schüler mit einer Infantilen Cerebralparese in Form einer Athetose, Schüler mit einer Spina Bifida, wenn sie überlebten, besuchten vermutlich zu Beginn des letzten Jahrhunderts selten Schulen für Körperbehinderte. Einige kirchliche Einrichtungen nahmen diese Schülergruppe durchaus auf, doch finden sich auch hier auf vielen Fotos keine Schüler mit motorisch stärkeren Beeinträchtigungen.

Dies änderte sich erst Mitte der 60er Jahre, in denen die Tagesschulangebote expandierten, es selbstverständlich wurde, dass Therapien während des Schultages stattfanden, eine engere Kooperation zwischen medizinischen Mitarbeitern und Sonderpädagogen einsetzte, sich die Fachwissenschaft der Körperbehindertenpädagogik entwickelte und Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen sich deutlicher für eine pädagogische Öffnung der Schülerschaft engagierten. Ende der 70er Jahren wurden zunehmend Schüler mit Lernbeeinträchtigungen aufgenommen, zudem stärker körperbehinderte Schüler, die ebenso mental stärker beeinträchtigt waren sowie Schülerinnen und Schüler mit sehr hohem Unterstützungsbedarf.

Die Veränderung der Schülerschaft lässt sich an den von Haupt (1982a; b) für das Bundesland Rheinland-Pfalz vorgelegten Daten zur Zusammensetzung der Schülerschaft sowie der von Lelgemann und Fries (2009) vorgelegten Studie zur Entwicklung der neu aufgenommenen Schüler in den Jahren 2005 bis 2008 gut darstellen. Während das Verhältnis von Jungen zu Mädchen über die gesamte Zeit gleich blieb und etwa 60% zu 40% betrug, veränderten sich die feststellbaren Werte in Bezug auf die Richtlinienbezüge deutlich. Noch in der Untersuchung von Haupt wurden 32,7% dem Grund- und Hauptschulzweig, 42,7% dem Lernbehindertenbereich und nur 18,5% dem Richtlinienbereich Geistige Entwicklung zugeordnet (Haupt, 1982a, 100). In der Grunderhebung in bayerischen Schulen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung im Jahre 2004 ergaben sich dagegen folgende Werte: 25,2% Grund- und Hauptschulzweig, 25,1% im Lernbehindertenbereich und 42,5% im Richtlinienbereich Geistige Entwicklung (vgl. Lelgemann/Fries, 2009).

Die Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit einer Infantilen Cerebralparese bleibt, wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau, die größte Einzelgruppe in den Körperbehindertenschulen. Während bei Haupt die Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit einer Cerebralen Bewegungsstörung noch 65,9% ausmachte, lag diese bei 39,9% in der von Lelgemann und Fries 2004 erfolgten Grunderhebung in bayerischen Förderschulen und bei Hansen in einer im Jahre 2009 erfolgten Erhebung in Nordrhein-Westfalen bei 45% (vgl. Hansen, 2012). In der bayerischen Untersuchung zeigte sich, dass allein in der Gruppe der zwischen 2004 und 2008 neu aufgenommenen Schüler dieser Anteil bis auf 30% abnahm. Auch der Anteil der Schüler mit einer Querschnittslähmung/Spina Bifida veränderte sich von 10,3% hin zu 4%. Um ein Drittel abgenommen hat zudem der Anteil der Schüler mit einer Muskelerkrankung, der in der Untersuchung von Haupt bei 7,1% in der 2004 durchgeführten Grunderhebung sowie den vier folgenden Erhebungen bei etwas über 5% der Gesamtschülergruppe lag.

Insbesondere die über vier Jahre hinweg erhobenen bayerischen Daten der neu aufgenommenen Schülerinnen und Schüler weisen darauf hin, dass seit Mitte der 80er Jahre Schulen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung zunehmend auch von Kindern und Jugendlichen besucht und von deren Eltern gewählt werden, die nur eine marginale motorische Beeinträchtigung aufweisen, stattdessen aber häufig eine Geschichte des Scheiterns im allgemeinen Schulsystem und des individuellen Leidens erleben mussten (vgl. Lelgemann/Fries, 2009). Wieder andere Kinder und Jugendliche zeigten ein schwieriges Sozialverhalten oder hatten zusätzlich mentale Beeinträchtigungen, die dazu führten, dass sie die Angebote des Förderschwerpunkts emotionale und soziale Entwicklung nicht nutzen konnten, sie im allgemeinen Schulwesen abgewiesen wurden oder Beeinträchtigungen aufwiesen, auf die das allgemeine Schulwesen nicht oder nur unzureichend vorbereitet war (z. B. Schüler mit einer deutlichen Autismus-Spektrum-Störung). So wird das aus dieser Sicht exklusive Bildungsangebot der kleineren Lerngruppen, der besseren Schüler-Lehrer-Relation, der therapeutischen Grundversorgung und des Ganztagsangebots in Förderschulen körperliche und motorische Entwicklung gesucht und gewählt.

Wurden über viele Jahre hinweg zwischen 16% und 20% aller Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf körperliche und motorische Entwicklung integrativ unterrichtet, so steigt dieser Prozentsatz inzwischen langsam und lag im Schuljahr 2011/12 bei 24,4% integriert unterrichteten Schülern mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung (Kultusministerkonferenz, 2012). Im Bundesland Schleswig-Holstein liegt dieser Prozentsatz bei etwas über 50% (vgl. Artikel von Dräger/Schubert hier im Buch). Dies liegt auch an einer regional besonderen Entwicklung, die dazu führte, das Förderzentren körperliche und motorische Entwicklung vor allem an der Ostküste des Landes entstanden und Schüler an der Westküste entweder ein Internat oder eine allgemeine Schule besuchten. Zudem sind die Schulen in diesem Bundesland eher klein, werden also von durchschnittlich nur 100 Schülerinnen und Schülern oder weniger besucht, während es in vielen anderen Bundesländern oftmals 150 bis 200 oder mehr Schüler sind.

Die aktuelle Bildungspolitik in den Bundesländern bestätigt derzeit die Existenzberechtigung der Schulen bzw. Förderzentren mit dem Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung. Dies gilt z. B. auch für das Bundesland Bremen, welches eine inklusive Schulentwicklung in den letzten Jahren sehr stark vorantrieb. Inklusionsorientierte Entwicklungen im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung gehen eher von einzelnen, wie den in diesem Band exemplarisch vorgestellten Schulen aus.