Mathias Jung

Töchter und Väter –
so nah und doch so fern

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Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

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Umschlaggestaltung: Vogelsang Design

Umschlagmotiv: © istockphoto.com – Jason Lugo

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Buch) 978-3-451-61315-9

ISBN (E-Book) 978-3-451-80208-9

Eines Vaters Segen kann nicht

im Wasser ertränkt

noch im Feuer verbrannt werden.

RUSSISCHES SPRICHWORT

Inhalt

»Sorry, dass ich nur ein Mädchen geworden bin«
Wechselbäder der Gefühle

Wovon träumen kleine Mädchen?
Vaterschätze

»Kein Tag, an dem ich ihn nicht vermisse«
Vatertod

»Was bleibt, ist eine Leere«
Scheidungstöchter

»Da blieb mir fast das Herz stehen«
Vatermissbrauch

»Er hat seine Schmerzen ertränkt«
Prügel und Alkoholkrankheit

»Da war Zärtlichkeit, Wärme, Liebe«
Ersatzväter

Gefall-Tochter, Leistungs-Tochter, Trotz-Tochter?
Partnerwahl

Liebe ist Wissen
Spurensuche

»Mein Vater lässt die Umarmung zu«
Vaterversöhnung

Literaturverzeichnis

»Sorry, dass ich nur ein Mädchen geworden bin«

Wechselbäder der Gefühle

»Tatsächlich ist die Reflexion einer Tochter über ihren Vater lebensnotwendig. Der Vater ist der erste und wichtigste Mann im Leben einer Frau. Das kann Glanz oder Elend bedeuten.«

MATHIAS JUNG

Warum dieses Buch? Weil die Vater-Tochter-Beziehung facettenreich ist und die Tochter meist ein Leben lang prägt. Schauen wir uns vorab einige Beispiele an. Den »furchtbarsten Schmerz« hat Lisa (Name, wie alle folgenden, geändert) beim plötzlichen Tod ihres Vaters empfunden.

Eine andere Frau, die ihren Namen nicht nennt, beantwortet meinen Fragebogen mit einem einzigen anrührenden Satz: »Mein Vater ist seit 36 Jahren tot, aber ich als Tochter habe ihn sehr, sehr geliebt.« Asta, deren Vater an der unheilbaren Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) starb, berichtet dankbar: »Als Kind wollte ich immer meinen Papa heiraten und dachte, das ginge allen kleinen Mädchen so. Mein Vater war immer ein starker Mann, schlank, groß und mit so viel Kraft. Als ich ein Kindergartenkind war, malte er mir jeden Morgen ein Bild und stand dazu extra eine halbe Stunde früher auf. Mein Vater hat mich bedingungslos geliebt.« Er war offensichtlich ein lustiger Vater: »Mein Vater konnte auf Kommando pupsen und machte von diesem Talent ausgiebig Gebrauch.« Asta war eine geliebte Tochter: »Was würde ich dafür geben, ihn noch einmal sprechen oder umarmen zu dürfen. Bestimmt schaut er mir auch heute ab und zu über die ›Schulter‹ und gibt mir Kraft, wenn ich sie brauche.«

Das sind die guten Stimmen. Schon schwieriger sieht es Thea: »Ich glaube, die Liebe zwischen Vater und Tochter ist sehr kompliziert. Mein Vater wollte einfach kontrollieren und hat nie gelernt, Gefühle zu zeigen. Er hat das gelebt, was er von zu Hause kannte (ein alkoholkranker, beherrschender Vater und eine schwache Mutter). Er hat für uns das gemacht, was er konnte und was er für richtig empfand.« Doch sie hat sich mit ihm, bestärkt durch Seelenarbeit mit ihrem inneren Kind, versöhnt: »Für mein jetziges Leben bin ich selbst verantwortlich und arbeite an mir.« Aber auch der Vater hat sich entwickelt. Thea: »Er hat in den letzten Monaten durch die psychologischen Therapien meiner Mutter schon vieles gesagt, was ich mir von ihm gewünscht habe, etwa ›Ich habe dich lieb‹ oder ›Ich bin stolz auf dich‹. Es kommt noch sehr hölzern rüber. Aber er ist auf dem richtigen Weg und hilft mir dadurch, auch mich zu öffnen!«

Dagegen bezeichnet Sandra ihre Vaterbeziehung ohne Wenn und Aber als »ungenügend«: »Liebe von meinem Vater kenne ich nicht. Er zeigt es mir nicht.« Sie kompensierte die väterliche Leere mit Gottvater. Sandra: »Die einzige Sehnsucht, die ich hatte, war Gott. Ich erinnere mich, ich war neun, da wusste ich, ich war Gottes Tochter. Ich wollte mit neun Jahren Bestatterin werden, war auf Friedhöfen, weil ich Gott nah sein wollte. Ich war sehr allein. Ich habe immer schon an Selbstmord gedacht. Ich meinte, ich gehöre nicht hierher, ich will nach Hause – zum göttlichen Vater.«

Sandra benennt ein klassisches Tochterdrama, wenn sie schreibt: »Mein Vater wünschte sich Söhne und bekam drei Töchter. Ich fühlte mich nicht genügend angenommen.« Der Vater glaubte, dass Männer wertvollere und tüchtigere Menschen seien. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er mich in den Arm genommen hätte oder gar geküsst hätte.« Sandra bekräftigt das Nur-Mädchen-Syndrom mit den knappen Worten: »Wahrscheinlich war ich seine größte Niederlage. Wäre ich ein Junge, wäre ich wahrscheinlich sein größter Erfolg geworden.« Sandra: »Ob es etwas gibt, wofür ich meinen Vater um Verzeihung bitten müsste? Sorry, dass ich nur ein Mädchen geworden bin!« Wie heißt es so sarkastisch: »Der Wunsch nach dem Sohn ist der Vater vieler Töchter.«

Warum setzen sich Frauen hin und beantworten, manchmal in zehnseitigen Briefen, die für sie aufwühlenden Fragen nach der Vaterbeziehung? Alberta nennt einen Grund: »Ich möchte nur, dass es neue Väter gibt, dass kein Mädchen mehr leer ausgeht.« Rita nennt einen anderen Grund, nämlich die Befreiung durch die Erinnerungsarbeit: »Beim Schreiben und Vorbereiten (im Kopf) für den Vater-Tochter-Bericht ging es mir ziemlich schlecht. Ich schlief nicht richtig und hatte Kopf- und Rückenschmerzen. Jetzt, wo ich meine Antworten gleich absenden werde, geht es mir besser. Es ist so, als fiele eine schwere Last von mir, und ich fühle mich zufrieden, wenngleich auch ziemlich ausgepowert.«

Tatsächlich ist die Reflexion einer Tochter über ihren Vater lebensnotwendig. Der Vater ist der erste und wichtigste Mann im Leben einer Frau. Das kann Glanz oder Elend bedeuten. Positiv hilft die polare Vaterfigur dem Mädchen, sich von der Mutter abzunabeln, männliche Anteile zu erwerben und sich in seiner bewundernden Spiegelung selbstbewusst als weiblich zu erfahren. In der Probehandlung der vitalen Vaterbeziehung lernt sie für die Begegnung mit der Welt der Männer und für die Liebe.

Aber was passiert, wenn eine Frau keinen oder einen abwesenden oder abwertenden Vater hatte? Die Unfähigkeit mancher Frauen, einen Mann zu lieben, liegt häufig daran, dass sie schon in der Kindheit ihren Vater verloren haben. Ist die Heilung einer Vaterwunde möglich? Gibt es einen Ausbruch aus der Vaterfalle? Sicher ist, was John Selby in seinem Buch Väter und ihre Rolle in unserem Leben sagt: »Viele wichtige Konflikte mit Eltern liegen uns Erwachsenen immer noch schwer im Magen. Wir sind erwachsen geworden, wir sind aus dem Nest geflogen und doch kämpfen wir innerlich noch mit unseren Vätern.« Und: »Selbst wenn Ihr Vater vielleicht bereits gestorben ist und Sie die Vergangenheit nicht mehr ändern können, ist es nicht zu spät, die Beziehung zu ihm grundlegend infrage zu stellen. Das Bild Ihres Vaters, das Sie in Ihrem Inneren tragen, resultiert fast immer aus Ihren Kindertagen. Als Erwachsener können Sie sich in die Vergangenheit zurückversetzen, Ihren Vater neu erfahren, ihn in einem neuen Licht sehen und dann ein realistischeres, befriedigenderes und verständnisvolleres Bild von ihm entwickeln.«

172 Frauen gaben mir Auskunft über ihre Vaterbeziehung. Ich danke euch von Herzen. In euren ausführlichen und bewegend wahrhaften Berichten habt ihr meistens zugleich die Wege des Verzeihens und der Versöhnung eindrucksvoll ins Bild gerückt. Natürlich konnte ich nicht alle Antworten veröffentlichen. Dafür bitte ich um Verständnis. Selbstverständlich habe ich eure Namen verändert und erkennbare biografische Hinweise getilgt. Nicht ich, sondern ihr habt dieses Buch, das farbenreiche Vater-Tochter-Mosaik, geschrieben.

Für dich, liebe Leserin, dokumentiere ich hier die 27 Fragen, welche ich in der Zeitschrift Der Gesundheitsberater im November 2013 veröffentlichte:

Wie die Versöhnung mit den Müttern für die Töchter der Ausgangspunkt dafür ist, andere Frauen mit einem wohlwollend-weiblichen Blick zu betrachten und ohne Konkurrenz und Neid ihren Werdegang liebevoll zu verstehen, so bildet die Versöhnung mit dem Vater die Voraussetzung für ein positives Männerbild und freudvolle Bindungsfähigkeit.

Die amerikanische Psychotherapeutin Linda Leonard formuliert dies in ihrem scharfsinnigen Werk Töchter und Väter. Heilung einer verletzten Beziehung (S. 117) so: »Töchter brauchen die Wiederannäherung an ihren Vater, damit sie ein positives Vaterbild in ihrem Inneren entwickeln können – ein Bild, aus dem eine Frau Kraft und Führung beziehen kann, das es ihr möglich macht, die positive Seite der Männlichkeit in der inneren wie der äußeren Welt zu würdigen. Sie müssen die verborgene Perle, den Schatz finden, den der Vater bieten kann. Wenn die Beziehung zum Vater beschädigt ist, ist es für die Frau wichtig, diese Verwundung zu begreifen, damit ihr der Mangel klar wird und sie das Fehlende in ihrem Innern entwickeln kann.«

Liebe Leserin, ich wünsche dir einen befreienden, wenn auch manchmal schmerzhaften, Weg durch den Fragebogen und die folgenden Stationen des Vaterdramas.

Wovon träumen kleine Mädchen?

Vaterschätze

»Er hat mir immer das Gefühl gegeben, dass ich so, wie ich bin, wunderbar bin.«

CHRISTEL

Aus den vielen Tochterzuschriften ist mir eines überdeutlich geworden: Die Bedeutung des Vaters für die Entwicklung der Tochter, ihre Autonomie, Lebensneugier und Realitätsbewältigung, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Denn der Vater ist sozusagen, um es technisch zu formulieren, die Abschussrampe für das Projekt Frau.

Vor allem mit dem Vater erkundet die Tochter die Welt und gewinnt Robustheit. Das Kleinkind kann von ihm das gewinnen, was der Psychoanalytiker Erik Erikson (in: Identität und Lebenszyklus) das Urvertrauen nennt. So hält Katharina fest: »Wenn mein Vater mich in seine Arme nimmt, spüre ich, dass ich sein Kind bin, und das ist ein verdammt schönes Gefühl. Immer.« Als Kind war sie ein kleiner Wirbelwind, der die Familie auf Trab hielt: »Jeden habe ich angelacht und habe somit die Herzen erobert.« Katharina erinnert sich: »Mein Vater war zu DDR-Zeiten in der Oberliga im Tischtennis. Manchmal durfte ich mit zu Spielen am Wochenende. Das war besonders schön. Wenn wir im Auto mit jemandem mitfuhren, schlief ich oft in seinen Armen ein. Ich fühle, dass er mich immer so geliebt hat, wie ich bin. Heute ist mein Vater stolz auf mich. Ich führe ein kleines Unternehmen, einen Südfrüchtehandel mit biologisch angebauten Früchten.« Er half ihr dabei. Katharinas Vater liebte seine Selbstständigkeit als Schuhmachermeister. Hier war er sein eigener Herr. Doch ganz leicht war auch sein Leben nicht: »Vor 23 Jahren wollte er die Scheidung, er hatte eine Außenbeziehung. Mutter drohte ihm mit Selbsttötung, und er blieb. Er bekam einen Herzinfarkt. Seitdem hat er sich in sich zurückgezogen und seit ein paar Jahren geht er in die Demenz.«

Katharinas Vater sparte nicht mit Lob und Anerkennung. Im Sport war sie die Schnellste und Stärkste. Katharina sehnt sich heute danach, mit ihrem Vater alleine in einer Wirtschaft zu sitzen, über alte Zeiten zu klönen und nach seinen Träumen und Wünschen zu fragen. Doch »die Mutter würde es nie zulassen«. In seiner Jugend wollte der Vater Operettensänger werden, aber das wollte sein Vater nicht. Katharina ist voller Liebe und Bewunderung für ihren Vater: »Mein Papa hat viele angenehme Seiten, er ist witzig, warmherzig, er kann staunen wie ein Kind, er schaut in die Welt mit den Augen eines Kindes. Es hat mich immer tief berührt. Als wir auf dem Ätna waren, berührte er mit seiner Hand die Erde und sagte darauf, ›sie ist warm‹. Ich könnte bei sowas weinen.«

Schließlich: »Mein Vater hat mir für mein Leben sehr viel mitgegeben, ich meine, mehr als die Mutter. Meine Orientierung ging eher von ihm aus. Sein großes Herz, für andere da zu sein, ein offenes Ohr zu haben, zu helfen, wenn jemand in Not ist, den Selbstwert, seine innere Freiheit, seine Fähigkeit, Ziele anzuvisieren und sie in die Tat umzusetzen. Seine Sachliebe zu den Dingen und seine Liebe zur Selbstständigkeit und zum Unternehmertun. Seine Fähigkeit, Menschen zu achten und zu respektieren. Über die kleinen Dinge zu staunen. Sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, einer unter vielen zu sein. Ich singe auch gern. Handwerkliche Geschicklichkeit habe ich von ihm. Seit sechs Jahren renoviere ich mein 300 Jahre altes Haus mit Lehm. Wenn mein Vater es sehen könnte, wäre er stolz auf sein Kind. Mir hat immer imponiert, wie ihm die Menschen zugehört haben. Es war, als entstehe ein Raum um ihn herum. Alles wird still und lauscht.«

Katharina will ihren Vater, dem sie seine damalige Außenbeziehung längst verziehen hat, rehabilitieren: »Sein Leben im Schatten unserer Mutter bekommt somit mit diesen Zeilen einiges an Sonne zurück. Er gehört in die Sonne!«

Man könnte die Vater-Tochter-Beziehung auf die Faustformel bringen »Viel Vater – viel Selbstbewusstsein«. »Ich bekam Zivilcourage und Bildung mit auf den Lebensweg«, registriert Erika: »Mein Vater versuchte, alles aus mir herauszuholen. Er wollte bei mir, der Erstgeborenen, alles richtig machen (Frühförderung, schulische Förderung, Förderung der Zivilcourage etc.). Er sagte es nie, aber ich spürte, er war stolz auf mich. Ich durfte Eiskunstlauf-Privatunterricht und Gitarrenunterricht nehmen. Ich liebe an meinem Vater seine einfühlsame, mütterliche und hilfsbereite Art und seinen Scharfsinn. Manchmal, wenn es wieder einmal hervorkommt, seine treffenden, intelligent-sarkastischen Bemerkungen.«

Katinka (20) bekundet: »Als ich mit 17 Jahren den Führerschein machte, fuhr mein Vater mit mir geduldig ein Jahr lang als Begleiter. Als ich dann mit 18 alleine fahren durfte, hat er mir, da ich mir als Schülerin noch kein eigenes Auto leisten konnte, seinen heißgeliebten Mercedes anvertraut, wenn ich ein Auto benötigt habe. Neulich wurde mein Vater an der Schulter operiert, sodass er im Frühjahr keine Winterreifen wechseln konnte. Also habe ich das gemacht, so wie er es mir beigebracht hatte. Dass mein Vater mir so viel zutraut, erfüllt mich mit Stolz. Von meinem Vater habe ich die Leidenschaft für Autos geerbt. Mein Traum ist es, irgendwann einmal einen Oldtimer zu kaufen und ihn gemeinsam mit meinem Vater zu restaurieren.«

Ein robuster Vater ermuntert die Tochter zum Abenteuer des Lebens, gleichsam zum Überlebenstraining. Er regt sie an, sich in den sportlichen Wettkampf zu trauen, ihre Stärke zu erproben, handwerkliche Fähigkeiten zu erwerben, eigene Problemlösungen zu entwickeln, kurz nicht zimperlich zu werden, sondern sich auf ihre eigenen Kräfte zu verlassen. Mit dem Psychoanalytiker Carl Gustav Jung zu sprechen, der Vater ermöglicht der Tochter, ihren animus, den männlichen Seelenanteil zu entdecken und wachsen zu lassen.

Vaterschätze machen Töchter reich. Manuela spürt: »In Verbindung mit meinem Vater gibt es nur gute Gefühle. Ich verbinde mit ihm Freude und Wohlbefinden. Der Vater starb mit 91 Jahren: »Sein Lebensende war ruhig. Er wollte sterben, nicht mehr essen, nicht mehr trinken. Meine Mutter hat ihn mithilfe eines Pflegedienstes zu Hause gepflegt. Er starb auch zu Hause. Meine Kinder und ich konnten sich von ihm verabschieden. Er starb in meinen und in den Armen meiner Mutter.«

Manuela hat bekommen, wovon kleine Mädchen träumen: »Ich habe mit meinem Vater gemeinsam gesungen. Ich spielte Gitarre, und wir sangen dazu im Duett. Wir haben oft heftig diskutiert. Das war während der Pubertät, und ich fürchte, ich war manchmal nicht besonders nett. Mein Vater blieb immer geduldig und gelassen. Er hat mich gelehrt, anderer Leute Meinung zu achten. Er wollte mich immer nett einkleiden, und wir sind mit dem Zug in die nächstgrößere Stadt zum Einkaufen gefahren. Leider war ich nie besonders modeinteressiert. Er hatte auch Zeit für Gesellschaftsund Kartenspiele. Es ging dabei lustig zu.«

Er war ein anwesender Vater und hat seine Tochter in ihrer Entwicklung unterstützt: »Er war tolerant, humorvoll, interessiert, warmherzig, beschützend und großzügig, sehr hilfsbereit, aufrichtig und bescheiden, wenn es um ihn selbst ging.« Ein, wie Manuela sagt, attraktiver Mann. Auch er hatte es nicht immer leicht: »Mit 20 Jahren musste er Kriegsdienst leisten. Er war neun Jahre lang in Russland, vier davon im Krieg und fünf in Gefangenschaft. Er hat Unmenschliches erlebt. Er kam zwar körperlich unbeschadet zurück, hat aber sein weiteres Leben lang unter Depressionen gelitten.«

Viele der 172 erwachsenen Töchter, die auf meine Fragen antworteten, erkennen: Dieser deutsche Verbrecherkrieg von 1939 bis 1945 war für ihre Väter kein Abenteuer, sondern eine seelische Krankheit, ein traumatisierender Hochverrat der Zivilisation. Der Reichskanzler Otto von Bismarck, ein späterer Virtuose friedenssichernder Bündnisverträge, schrieb bereits am 29. Juni 1870 in einem Rundschreiben an die Vertreter des Norddeutschen Bundes: »Ich betrachte auch einen siegreichen Krieg an sich immer als ein Übel, das die Staatskunst den Völkern zu ersparen bemüht sein muss.« »Ein Tag Krieg«, sagt das chinesische Sprichwort, »heißt zehn Jahre Not.«

Das war das Schicksal vieler Kriegsväter, deren Trauma in der bundesdeutschen Verdrängungsgesellschaft nie bearbeitet wurde. Alexander und Margarethe Mitscherlich beschrieben dieses Seelendrama in ihrem Epochenbuch Die Unfähigkeit zu trauern. Bei der Spurensuche nach dem Leben der Väter sollten Töchter diese väterlichen Kriegswunden barmherzig berücksichtigen. Manuela hat dies offensichtlich getan: »Ich bin absolut im Frieden mit meinem Vater. Kurz bevor er starb, konnte ich ihm noch sagen, wie sehr ich ihn geliebt habe und was für ein toller Vater er war. Darüber bin ich froh.«

Als »sehr gut« bewertet Carina die Beziehung zu ihrem Vater, der an der Creutzfeldt-Jacob-Krankheit starb: »Mein Papi hat uns mit einer Hand in die Luft gestemmt; er war immer Tarzan und Häuptling