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Vancouver Dreams

 

 

Corinna Bach

 

 

Corinna Bach

Vancouver Dreams

 

© 2015 Sieben Verlag, 64354 Reinheim

© Covergestaltung Andrea Gunschera

Lektorat Christine Hochberger www.buchreif.de

 

ISBN Taschenbuch: 9783864434853

ISBN eBook-PDF: 9783864434860

ISBN eBook-epub: 9783864434877

 

www.sieben-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Die Autorin

Kapitel 1

 

„Hier, Pacific Central! Und geh zur Polizei“, keuchte der Mann und hielt ihn mit hartem Griff fest.

Zac starrte ihn nur verständnislos an. Der Typ hatte ihm einen Schlüssel vor die Nase gehalten und ihm dann einfach in die Jeanstasche gesteckt. Als wäre es das Normalste der Welt, einen Wildfremden anzurempeln und ihm etwas unterzuschieben.

Er starrte auf das Handgelenk des Mannes. Das Tattoo der Red Scorpions, das dort prangte und in seiner Schlichtheit wie eine lächerliche Untertreibung wirkte, verhieß nichts Gutes. Verdammt! Er versuchte, sich von ihm zu lösen, ihn wegzudrücken, doch der Kerl lehnte sich so fest an ihn, dass er die Bewegungen seiner Brust spüren konnte. Entferntes Hupen und Motorenlärm drangen an seine Ohren. Mitten in der Stadt hatte er sich überrumpeln lassen. Der Mann roch nach Angst. Er war vor jemandem davongelaufen, hatte ihn gesehen und geschnappt. Einfach so. Vor wem hatte der Typ solchen Schiss? Er sah mit seinen stattlichen Muskeln nicht aus wie jemand, der sich nicht wehren konnte. „Ja, ja, Pacific Central“, wiederholte Zac, immer noch perplex über den seltsamen Angriff.

„Und zur Polizei!“, mahnte der Mann und löste seinen Griff ein wenig, als er sich hastig umsah.

„Jetzt reicht’s aber!“ Zac stieß ihn zurück, sein Gegner geriet ins Stolpern. Er rückte sein Shirt zurecht und sah zu, wie der Mann sich aufrappelte und davonrannte.

Zur Polizei. Der spinnt doch! Zacs Herz begann wieder zu pumpen, er atmete auf. Nur ein Red Scorpion von hinten war ein guter Red Scorpion. Als er erneut rasche Schritte hörte, wurde er sich seiner Situation bewusst. Was, wenn die Verfolger diese Aktion beobachtet hatten? Ob er nun auch in Gefahr war? Er stand hier wie auf dem Präsentierteller.

Drei Männer in dunklen Klamotten näherten sich. Schnell drückte er sich in den Schatten der Bretterwand, die zwei Müllcontainer verbergen sollte in dieser schmalen Gasse, die er eigentlich nur zur Abkürzung genommen hatte. Jetzt bloß nicht den Helden spielen. Er presste sich an das Holz. Stocksteif, unfähig, sich zu rühren. Es war heller Tag, sie würden ihn entdecken. Sie würden ihn töten. Diese Bande war fix mit dem Messer. Oder waren das die Killer einer rivalisierenden Gang?

Die Schritte wurden lauter, er hörte gepresst klingende Worte, so nah, dass er vor Schreck die Augen weit aufriss.

Da kamen sie schon, athletische, kräftige Gestalten, die er im Profil vor sich hatte. Zwei Weiße, ein Latino mit einem Tattoo am Hals. Sie rannten an ihm vorbei und folgten ihrem Opfer.

Zac wagte nicht, sich jetzt noch zu ducken – die Bewegung würde nur ihre Aufmerksamkeit erregen. Nicht umdrehen, Jungs, nicht umdrehen!

Doch die Schritte verhallten allmählich und er spürte, wie seine Muskeln langsam wieder beweglicher wurden. Er verließ auf Zehenspitzen seinen Beobachtungsposten, huschte an einem Obdachlosen vorbei, der an der anderen Seite der Müllcontainer saß und ihn erstaunt anstarrte, und gab Fersengeld. Bald hatte er die nächste Straße erreicht und verlangsamte seinen Schritt.

Der Verkehr in Downtown Vancouver gab ihm Sicherheit. Die Anspannung wich, er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Mann, war er früher auch so ein Weichei gewesen? Er sollte diesen blöden Zwischenfall vergessen. Doch da durchströmte eine heiße Welle sein Inneres. Der Obdachlose. Was, wenn die Typen zurückkamen und den Alten nach Zeugen fragten? Ach was. Er sah schon Gespenster. War doch nur eine kleine Auseinandersetzung, ein Geplänkel unter Dealern oder so. Es bestand auch keine Notwendigkeit, die Polizei zu rufen. Der Mann konnte sich bestimmt selbst helfen. Vielleicht war er ja bereits entwischt und alles war in bester Ordnung. Ob er seinen Schlüssel wiederhaben wollte? Wie denn? Schließlich hatten sie keine Visitenkarten ausgetauscht. Er tastete seine Hose ab und spürte das kleine, harte Ding. Pacific Central. Wahrscheinlich war das der Schlüssel zu einem Schließfach in der Gepäckaufbewahrung. Ob er dort mal nachsehen sollte? Er zog den Schlüssel heraus. Eine Zahl war eingraviert: 324. Er straffte seine Schultern und sah auf.

Es war ein schöner Tag, der die North Shore Mountains zum Leuchten brachte. Er hatte Besseres zu tun, als sich über Gangs und geheimnisvolle Schlüssel Gedanken zu machen. Scheiß auf den Schlüssel. Er steckte ihn wieder ein. Die Luft war warm und roch nach Meer und Abgasen. Ein toller Duft, besser als der ewige Kiefernadelduft aus der Dose im Knast. Er ging weiter durch die Häuserschluchten. Doch die Unruhe ließ ihn nicht los. Er griff erneut an seine Hosentasche. Die Neugier wuchs, doch andererseits … Eine kribbelnde Angst durchzog seinen Körper. Die Red Scorpions waren in diesen Vorfall verwickelt, und mit denen war nicht zu spaßen. Er hatte sich früher immer erfolgreich von ihnen fernhalten können. Jetzt würde er nur zwischen zwei Gangs geraten oder in einen internen Streit. Nein, er wollte sich aus allem heraushalten. Schließlich war er gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden.

Wie zur Bestätigung seiner Gedanken fuhr ein Streifenwagen vorbei. Die Julisonne blinkte auf dem Dach des weißen Ford, die blauen Streifen glänzten. Nein, er würde ihn nicht anhalten und den Beamten von dem verfolgten Mann berichten. Wie hasste er diese Streifenwagen, die immer zum falschen Zeitpunkt am richtigen Ort auftauchten. Unwillkürlich presste er die Sporttasche an sich, in der er seine wenigen Habseligkeiten verstaut hatte. Die Bullen sollten ihn in Ruhe lassen. Er war entlassen, ein freier Mann, der die Strafe für seine Taten abgesessen hatte. Er brauchte sie nicht mehr zu fürchten. Dieser Gedanke war nicht übel und entlockte ihm ein Lächeln. Dieses Gefühl war sogar klasse. Unbescholten. Frei. Ein neues Leben konnte beginnen. Kein Rasen harken und gezüchtete Fische füttern in diesem blöden Correctional Center mitten in der Wildnis. Endlich wieder Stadtluft schnuppern, auf die Piste gehen. Na ja, mit nur einer Handvoll Dollar, einem Ersatzshirt, einer zweiten Jeans und etwas Unterwäsche. Aber das war egal. Er konnte tun und lassen, was er wollte. Mann, Vancouver lag ihm zu Füßen! Mum würde sich freuen.

Sie hatte ihn seit einem Jahr nicht mehr besuchen können, das Rheuma war zu schlimm geworden. Die Fahrt zum Gefängnis nach Maple Ridge zu anstrengend. Ihr breites Lächeln stand ihm vor Augen, eine Welle der Geborgenheit kam über ihn, fast so, als läge er an ihrer ausladenden, weichen Brust und ihre Arme wärmten seinen Körper. Ihre raue Stimme, der Duft ihrer Lieblingsseife, die Hits aus den 80ern, die sie immer hörte. Zac gab sich einen Ruck. Jetzt komm zu dir, du bist ja gleich bei ihr.

Ohne es zu merken, war er in Chinatown angekommen. Tief sog er den Duft scharfer Gewürze ein, als er an den kleinen Lebensmittelläden vorüberging. Seine Figur wanderte in den Schaufenstern mit und ihm gefiel, was er sah: einen coolen Typen in durchlöcherter Jeans und einem Sport-Shirt mit der Nummer eins. Numero Uno! Die Gestalt im Schaufenster war mittelgroß, durchtrainiert, hatte dunkle, leider lockige Haare. Aber das Goldkettchen stand ihm gut. Er fühlte sich klasse. Dieser Tag war wirklich ein Fest für die Sinne und die Erinnerung an den Übergriff schwand allmählich. Ein Glücksgefühl flutete ihn und er gab sich diesem Gefühl voller Lust hin. Fast war er versucht, ein Liedchen zu pfeifen, doch das stand einem Bad Boy nicht. Wie an jedem Vormittag waren auch an diesem Samstag viele Menschen unterwegs, um einzukaufen und ihren Geschäften nachzugehen. Diese Geschäfte waren nicht immer astrein, das wusste er. Schon gar nicht im Rotlicht-Viertel, das nicht weit entfernt lag. Unwillkürlich befingerte er wieder den Schlüssel. Er war immer noch da, hatte sich leider nicht in Luft aufgelöst. Später, Zac, jetzt erst nach Hause. Was man so Zuhause nennen konnte.

Seine Mum wohnte seit zwei Jahren am Rand von China Town in der Hastings Street. Diese Wahl fand Zac nicht besonders gelungen. Es gab Junkies und Penner, die nachts herumpöbelten. Und die Gangs wurden immer aufdringlicher. Doch Mum hatte ihren Willen durchgesetzt und war mit ihrer Freundin zusammengezogen. Beim Gedanken an Vanessa zog Zac seine Augenbrauen zusammen und er beachtete nicht mehr die chinesischen Schriftzeichen auf den Werbeschildern.

 

*

 

„Zachary“, sagte Mum mit rauer Stimme. Sie duftete nach ihrer Lieblingsseife, im Hintergrund erklang West End Girls von den Pet Shop Boys aus dem Radio in der Küche.

Genau wie er es sich vorgestellt hatte. „Mum“, murmelte Zac und schluckte den Kloß im Hals weg. Er machte sich aus ihrer Umarmung los und blickte auf ihre kurz geschnittenen, braunen Haare, bevor er ihre Gestalt betrachtete. „Mum, du sparst nicht am Essen, oder?“, raunte er und lächelte.

Sie haute ihm auf die Finger, als er neckend in ihr Hüftgold kniff. „Finger weg! Die Medikamente schwemmen mich auf, Zac. Aber du bist so dünn geworden. Du bist doch nicht etwa krank?“

„Quatsch, nein. Ich bin so.“

Sie hielt immer noch seine Hand fest. Ihre Haut war noch nicht faltig, aber trocken und mit einigen dunklen Flecken versehen. Für ihre 55 Jahre hielt sie sich ganz gut.

„Schön, dass du da bist. Ich habe schon gewartet. Hast du Hunger?“

Zac nickte und sah sich um. Sie standen im geräumigen Wohnzimmer, das von einer Küchenzeile begrenzt wurde. Auf der Theke warteten bereits zwei Teller darauf, gefüllt zu werden. Das Sofa war mit bunten Kissen bestückt und ihre Lieblingsbücher zierten die Holzregale. Auf der anderen Seite des Zimmers stand ihr Computer, an dem aber meistens ihre Freundin Vanessa saß. So hatte Mum es erzählt. An einem Fenster klebte ein Fensterbild, offenbar von einem Kind angefertigt. Seine Mutter war Lehrerin gewesen, bis das Rheuma sie zum Aufgeben zwang. „Wo ist Vanessa?“

„Arbeiten.“

„Hat sie wieder etwas gefunden?“

„Ja, sie serviert in einem Diner in der Main Street.“

Die wilde Vanessa mit braver Schürze und Puschen an den Füßen, die Kaffeekanne in der Hand. Zac grinste in sich hinein. Er setzte sich auf den Barhocker, während seine Mutter hinter den Tresen ging und ein Steak aus einer Pfanne fischte. Das Öl knisterte, im Raum lag der Duft von frischem Toast. Zac lief das Wasser im Mund zusammen. Er widmete sich unverzüglich seinem Essen. Seine Mutter hievte sich stöhnend auf den zweiten Barhocker.

„Wir können auch am Tisch sitzen, Mum.“

„Nein, ich muss mich bewegen. Damit ich nicht einroste.“

„Wie geht es dir? Brauchst du viel Schmerzmittel?“

In den dunklen Augen seiner Mutter lag eine Art Schmerz oder Wehmut, er konnte es nicht genau deuten.

„Es geht schon.“

Ihr Blick nahm ihm den Mut, weiter nachzufragen. Er sparte sich auch die Frage, wie sie mit Vanessa zurechtkam. Das würde nichts bringen. Eines Tages würde sie vielleicht selbst darauf kommen, dass Vanessa sie nur ausnutzte. Mum erhielt regelmäßig ihre Pension. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Er war überzeugt, dass Vanessa nichts zu den Mietkosten beitrug und auf Mums Kosten lebte. Selbst der Diner-Job war Augenwischerei. Wahrscheinlich wollte Vanessa dort bloß Männer aufreißen. Er wusste, dass sie hin und wieder mal für mehrere Tage verschwand. Dann tauchte sie wieder auf, mit Ringen unter den Augen und so schlecht gelaunt wie Ma Dalton aus den Lucky-Luke-Filmen. Nein, Vanessa war nicht gut für Mum.

„Geht es dir wirklich gut hier? Hast du nie bereut, hierher gezogen zu sein. Und wie läuft es mit Vanessa?“

Nun hatte er es doch getan – er hatte sie gefragt. Doch er mochte es nicht. Wenn er sich um andere kümmern musste, wurde er immer ganz kribbelig und nervös. Er mochte keine Probleme und schon gar nicht dieses Verantwortungs-Ding.

„Es ist bequem, Zac. Die Läden sind nicht weit weg. Und der Arzt auch nicht. Ich bin jetzt bei Dr. Wang. Er macht auch Akupunktur.“

Noch so ein Geier. Jetzt fiel sie schon auf Quacksalber rein. „Ach, Mum.“ Er seufzte und schob den leeren Teller von sich.

„Möchtest du noch?“

Er klopfte leicht auf seinen Bauch, der deutlich gefüllt aussah. „Bin voll. Muss auf meine Figur achten.“

Ihr Lachen tat ihm gut. Sie lachte immer so rollend und guttural.

„Du bist immer noch eine Augenweide, mein Kleiner. Die Jungs werden dir nachrennen.“

Da hatte sie recht. Er strich sich über den Dreitagebart, den er sich hatte stehen lassen. So etwas kam im Gay-Club seines Vertrauens immer gut an. Doch er hatte etwas von einem neuen Club gehört. Dort würde er mal auf die Pirsch gehen.

„Was hast du nun vor, Zac?“

„Weiß noch nicht. Übermorgen muss ich zum Bewährungshelfer. Kann ich hier pennen?“

„Du kannst in meinem Zimmer schlafen. Ich bleibe immer so lang wach und seh fern.“

Er legte die Hand auf ihren Unterarm. „Ich bleibe nur kurz. Bestimmt finde ich bald etwas Eigenes.“

„Das wünsche ich dir, Zachary.“ Seine Mutter blickte zu Boden, doch sie konnte ihre Rührung nicht vor ihm verbergen. „Jetzt bist du wieder da“, murmelte sie, „und du wirst ein ordentlicher Junge werden, nicht wahr?“

„Sicher, Mum.“ Das war er doch, oder?

„Ich will keine Angst mehr um dich haben.“

Zac biss sich auf die Unterlippe, als er ihre gequälte Stimme hörte. Sie meinte es nur gut. Sie verstand das Leben dort draußen nicht, hatte es nie kennengelernt. Seitdem Dad abgehauen war, hatte sie immer nur Angst vor den bösen Jungs gehabt und davor, dass er sich einer Gang anschloss und Drogen nahm. Der Schlüssel in seiner Hosentasche fiel ihm wieder ein. Er sollte ihn wegwerfen. „Ich bin nicht auf Drogen, Mum. Ich bin in keiner Gang und mache keine Brüche mehr. Ich bin wieder frei. Das ist keine schlechte Bilanz, oder? Und ich habe noch Freunde hier.“

„Hoffentlich die Richtigen.“

„Hm, Bobby und so.“

Sie verdrehte die Augen und seufzte.

Na ja, sie kannte Bobby nicht so gut wie er.

„Du wirst es ja wissen, Zac. Ich kann dir nicht helfen.“

Mitleid stieg in ihm auf. Er umarmte sie, drückte sie fest an sich. Sie war sein Ruhepol, sein Fels in der Brandung – und doch war der Fels von äußeren Einflüssen bedroht, der Pol verrutschte auf der Landkarte seines Lebens. „Du brauchst mir nicht helfen“, sagte er leise und tätschelte ihren Rücken. Er spürte die Last, die wie eine bedrohliche Wolke um ihn herumwaberte. In Zukunft würde er ihr helfen müssen. Er war ihr einziges Kind. Niemand würde ihn dabei unterstützen.

 

*

 

Der neue Gay-Club in West End überraschte ihn. Dem Laden haftete nichts Schmuddeliges, nichts Anrüchiges an. Der Eingangsbereich war mit dezenter Beleuchtung und Spiegelleisten versehen, das Logo Gold Rush prangte in fast unauffälligen dunklen Schriftzügen über der Glastür. Im Foyer versank man in einem dicken Teppich, sodass Liam fast versucht war, sich die Schuhe auszuziehen, um ihn nicht zu beschmutzen. Die Wände waren mit schwarzgoldenen Tapeten geschmückt. Ein Freund hatte ihm diesen Tipp gegeben. Auch wenn er sich nicht als einen Typ für Gay-Clubs hielt, hatte er doch seiner Neugier nachgegeben. Das Innere glich dem Interieur eines Clubs der feineren Sorte. Gediegene Ausstattung in Gold und Schwarz. An den Wänden schwarz-weiße Bilder vom Goldrausch am Yukon. Knorrige Typen mit Maulesel und Schaufel, der Chilkoot-Pass, Schlittenhunde. Sanfte Musik aus den gut getarnten Boxen. Urig und elegant zugleich, der Innenausstatter verstand sein Handwerk.

Der Club füllte sich schnell. Liam hatte sich alles angesehen und hielt sich an seinem Glas alkoholfreien Bieres fest, da er mit dem Wagen hier war. Bei jedem eintretenden Gast tat er so, als schaue er rein zufällig zu ihm hin. Vielleicht gefiel ihm ja jemand, auch wenn er eigentlich gar nicht vorhatte, einen Sex-Partner aufzureißen. Viele der Gäste trugen teure Markenkleidung. Die Preise für die Getränke waren dermaßen gepfeffert, dass sich die Klientel von ganz allein ausdünnte. Doch das war die Strategie des Clubs. Die schwule High Society Vancouvers sollte unter sich bleiben. Wieder war Bewegung an der Tür. Ein arrogant aussehender Kerl mit einer Rolex am Handgelenk. Nein, danke.

Wenn mal ein heißes Exemplar eintrat, hatten sie meist keinen Blick für ihn. Dabei sah er doch ganz manierlich aus. Ob es an seiner blassen Ausstrahlung lag? Er war kein Poser, kein Aufreißer. Er ließ es langsam angehen.

„’N Abend“, sagte der Mann.

Die Uhr funkelte vor Liams Augen, als er seinen Whisky vom Barkeeper entgegennahm.

„Zum ersten Mal hier?“

„Ja, wollte mal sehen“, sagte Liam und musterte sein Gegenüber. Eigentlich gar nicht so übel gebaut. Er wollte ihn schließlich nicht heiraten.

„Der Laden hat einen guten Ruf.“

„Das ist gut.“

„Gibt ja auch reichlich Auswahl hier.“ Der Mann grinste breit.

Die Gegend um die Davie Street war das Mekka der Schwulen. Nirgendwo im ganzen Land gab es eine solche Schwulen-Dichte wie im West End Vancouvers. Als Liam den Wunsch geäußert hatte, hier ein Appartement zu nehmen, hatte sein Vater ihn misstrauisch angesehen. Schnell hatte er umgeschwenkt und seine Aufmerksamkeit auf eine andere Gegend gelenkt. Dass er sich noch nicht geoutet hatte, war fast schon peinlich. Doch ein Hindernis in seiner Seele, das er nicht packen oder beschreiben konnte, hatte ihn bisher davon abgehalten. War ja eigentlich auch nicht so wichtig. Das konnte warten. Die Schwulenwitze im Büro machten ihm eigentlich nichts aus. Eigentlich.

„Was möchtest du trinken?“

„Etwas ohne Alkohol.“

Der Mann sah ihn überrascht an.

Sah er etwa aus wie ein Weichei? Nervös strich er sich eine imaginäre Strähne aus der Stirn.

„Wie heißt du?“, fragte sein neuer Bekannter, bevor er noch ein Bier bestellte.

Sein Name ging niemanden etwas an. „Jack. Und du?“ Es war recht voll geworden. In seinem Rücken drängelte jemand an die Bar.

Der Mann lächelte maliziös. „Joe.“

Liam nahm das Bier entgegen. Jemand rempelte ihn von hinten an. Er ignorierte es. „Auf dich, Joe.“

„Auf dein Wohl, Jack.“

Plötzlich unterbrach ein kicherndes Lachen in seinem Rücken ihr Gespräch. „Haha, Jack und Joe! Mein Gott, seid ihr beiden süß!“

Joes Augenbrauen verzogen sich drohend. „Zieh Leine, Kleiner.“

„Also, ich heiße Zac. Nicht Jack und nicht Joe und auch nicht Jim oder Mike. Ich bin Zachary.“

Liam drehte sich um und bekam gerade noch mit, wie sich ein junger Mann stolz auf die Brust tippte. Auf ein Muskel-Shirt mit der Nummer eins.

„Und wenn du der Dalai Lama bist – zieh Leine!“, wiederholte Joe, während Liams Blick an den Lippen des dunkel gelockten Mannes hängen blieb. Schöne Lippen, nicht zu voll, ein breiter Mund mit weißen Zähnen. Dazu ein Dreitagebart, der ihn ziemlich sexy aussehen ließ. Gegen seinen Willen meldete sich sein bester Freund zum Dienst und zuckte in seiner Hose. Liam leckte sich über die Lippen und ließ Zac nicht aus den Augen, der einen guten halben Kopf kleiner war als er, aber das Ego eines ausgewachsenen Bullen zu haben schien.

„Jetzt reg dich nicht auf, Joe“, sagte der Fremde. „Wie wär’s mit einem schicken Dreier?“

Wenn es nach Liam gegangen wäre, könnte Joe in diesem Dreier ruhig fehlen. Zac war irgendwie anders. Wie einer seiner Klienten sah er aus, wie jemand aus einer Gang. Er suchte die nackten Arme nach Tätowierungen ab, konnte aber nichts entdecken.

„Was glotzt du so, Jack?“

Er fühlte sich ertappt und räusperte sich. „Darf man hier nicht mal gucken?“ Da sah er, wie Zac sein Gesicht betrachtete, nein, er bohrte seinen Blick in Liams Augen und verharrte dort. Lange, sehr lange.

Zacs Ausdruck wurde weich, er lächelte sanft, was Liam irritierte. Sein Herz klopfte stärker, als er es gewohnt war. Sollte er wirklich mit einem Gangster in den Darkroom gehen? Nein, niemals. Und doch – Zacs Körper war drahtig und auf den Punkt richtig proportioniert. Schmale Hüften, die die Jeans jeden Moment zu verlieren drohten, akzeptable Schultern und muskulöse Arme mit feinen, dunklen Härchen.

Zac öffnete leicht seinen hübschen Mund, blieb aber stumm.

Liam glaubte, dass der Schweiß auf seiner Stirn jeden Moment zu fließen beginnen würde. Zacs Augen hielten ihn immer noch fest, als könnte er sich nicht von seinem Anblick losreißen. Eine seltsame Erregung stieg in ihm auf. Diese Lippen – lieber nicht daran denken, was die alles anstellen konnten. Doch es war mehr als das, mehr als Sex. Zac war – seltsam.

„Verdammt, was treibt ihr da?“, meldete sich Joe zu Wort und zerbrach den unmerklichen Zauber, der sich zwischen ihm und Zac aufgebaut hatte.

Zac wandte sich ihm zu. „Also keinen Dreier?“

„Nein, Mann! Geh zurück in dein Getto! Soweit ich weiß, ist Prostitution hier nicht erlaubt.“

Liam biss sich auf die Lippe und wartete gespannt auf Zacs Reaktion. Bloß keine Prügelei, das konnte er nicht ausstehen.

Zac reckte Kinn und Oberkörper vor. „Und wenn ich am Verhungern wäre, würde ich dich nicht aufreißen wollen.“ Er tippte auf Joes Brust herum, als wäre sie eine Tastatur.

Der wischte die Hand beiseite und packte Zac an seinem Shirt.

Ein Goldkettchen blinkte an seinem Hals und dirigierte Liams Blick auf eine Ader, die anschwoll.

Zac schnaufte vor Wut, hob die Fäuste.

In diesem Moment erwachte Liam aus seiner Starre. Er packte Zacs Handgelenk, legte seine andere Hand auf Joes Schulter. „Hört auf, ihr beiden, wegen so einem Scheiß. Wollt ihr auf der Straße landen?“

Zac wandte sich um und musterte ihn erstaunt. „Was bist du denn für einer? Mutter Teresa?“

Joe stieß Zac von sich. „Pass bloß auf, du Arschloch. Verpiss dich von hier und mach keine Männer an, die ich im Visier habe, klar?“

„Ach, hast du mich im Visier?“, fragte Liam. Joe wurde ihm gerade außerordentlich lästig.

„Ja, dachte ich jedenfalls.“ Joe nahm seinen Whisky in einem Schluck und knallte das Glas wütend auf den Tresen.

Zac grinste, als Joe sich umdrehte und auf den Darkroom zusteuerte.

Na, der würde jetzt ordentlich zustoßen. Liam bedauerte den armen Kerl, den er unter sich haben würde.

„Das hat er sich wohl anders vorgestellt“, sagte Zac und blickte Liam wieder an.

Warum starrte Zac ihm immerzu in die Augen? Doch auch er ertappte sich dabei, dass er wieder Zacs Lippen betrachtete. Schnell wandte er seinen Blick ab und reckte sich. „Ich muss jetzt los.“

„Hey, du willst schon gehen? Die Nacht ist verdammt jung.“

„Muss morgen arbeiten.“

„Pah …“ Zacs Geste war eindeutig. „Ist doch scheißegal.“ Als er die Hand auf seine Brust legte und mit einem Finger gefährlich nah an seine Brustwarze geriet, wurde es trotz aller Selbstbeherrschung in Liams Hose hart.

Worauf Zac wohl kalkuliert haben musste. „Komm, wir machen’s eben. Ich finde dich heiß.“ Zacs Stimme an seinem Ohr war rau.

Was in aller Welt wollte Liam eigentlich? Er wusste es nicht. Eigentlich war er hergekommen, um sich den Club einmal anzusehen. Auf ein Abenteuer war er nicht aus gewesen. Zacs Angebot war durchaus verführerisch, doch wer weiß, was er sich dabei einhandelte? Ein Gangmitglied? Ex-Knacki? Junkie? Ja, ein Junkie, so aufgedreht, wie er war. „Hast du Koks genommen?“ Zac sollte nicht glauben, dass er einen naiven Idioten vor sich hätte.

„Spinnst du?“

Diese Antwort war deutlich, doch sie erleichterte ihn nicht. Zac konnte ihm wer weiß was vorlügen. Er passte einfach nicht in Liams Kategorie von netten Männern. „Hätte ja sein können“, murmelte er und ließ seinen Blick über Zacs muskulöse Brust wandern.

Plötzlich zog Zac ihn an der Hand mit sich fort.

Überrumpelt folgte er ihm in eine stillere Ecke, wo Zac sich an einen Pfeiler lehnte und ihn nah an sich zog. Liam konnte nicht fort, Zac hatte den Arm um seine Hüfte geschlungen. Ihre Unterleiber klebten zusammen, was ihm jedoch nicht unangenehm war. Liam stellte sein Glas auf einem Holzbalken ab.

„Jack, warum hast du so wundervolle Augen?“ Er seufzte und strich über seinen Arm, was Liam ein angenehmes Kribbeln bescherte.

„Damit ich dich besser sehen kann.“ Er neigte seinen Kopf, um Zacs Gesicht näher zu kommen. Warum tat er das? Doch Zac war in seiner Frechheit und Unbedarftheit interessanter als Joe. Schließlich wollte er auch ihn ja nicht heiraten. Aber auch nicht ficken, nein, lieber nicht. Seine Gedanken verblassten, als Zac sich etwas auf die Zehenspitzen erhob und ihn auf den Mund küsste. Nur ein wenig küssen und knabbern, dann war Schluss, nahm er sich vor, als der Kuss intensiver wurde und er eine Zungenspitze an seinen Lippen spürte. Er ließ die Zunge hinein, spielte mit ihr, strich durch Zacs Mund und schmeckte das Aroma eines herben Cocktails.

Zac drängte sich näher an ihn, schloss die Augen mit den langen Wimpern und im Nu gerieten ihre Zungen in einen atemlosen Takt, dessen Wellen sich bis in seinen Unterleib fortsetzten. Die Erregung erschien ihm verboten lustvoll. Nein, das hatte keinen Sinn, er wollte einen klaren Kopf behalten. Er löste sich von ihm. Zac war ihm ein wenig zu schnell, ein wenig zu geheimnisvoll. Lieber nichts mit einem Kerl anfangen, der vielleicht einer Gang angehörte. Plötzlich strömte ein erregendes Prickeln durch seinen Unterleib, denn Zac hatte die Hand fest auf sein Glied gelegt und drückte leicht zu. Unwillkürlich rieb Liam sich an den festen Fingern. Seine Hand wanderte von Zacs Brust, die er während des Kusses gestreichelt hatte, hinunter zu dessen Hosenbund. Er fuhr mit dem Finger zwischen Gürtel und Haut entlang und spürte feine Haare unter der Gürtelschnalle. Ein Stöhnen wollte aus seiner Brust, er unterdrückte es. Nein, nichts mit diesem Kerl anfangen, der so hart und fest und warm war und ihn verdammt schwer atmen ließ. Zacs andere Hand lag in seinem Nacken. In dem Augenblick, als Zac ihn zu sich hinab zog, gerade, als er die Augen schloss und seinen Mund zu einem weiteren Kuss auf diese weichen Lippen öffnete, erklang das Glockengeläut seines Handys. Er zuckte zusammen, kam zu sich.

„Mamma Mia, was ist denn jetzt?“ Zac verdrehte die Augen.

Liam griff zum Telefon griff. „Tut mir leid, mein Vater.“ Er nahm das Gespräch an, hörte zu und verabschiedete sich. „Ich komme. Bis gleich, Dad.“

In Zacs verblüffte Augen zu sehen, erfüllte ihn mit ein wenig Bedauern. Er seufzte. Es war besser so. Nun hatte er einen Grund, vor diesem faszinierenden Mann zu flüchten.

„Was soll das heißen?“

„Entschuldige, ich muss los. Meinen Dad nach Hause bringen.“

Zac schwieg, er sah aus, als könne er seine Worte nicht begreifen.

Liam ging zurück zur Bar und stellte sein Glas ab.

Zac folgte ihm.

„Vielleicht ein anderes Mal, Zac.“ Er zückte seine Geldbörse und bezahlte sein Bier.

Zac sah ihm zu, verblüfft, fast fassungslos, dann stellte er einen Ausdruck zur Schau, der Liam an ein verzogenes Kind erinnerte: die Lippen zu einem Schmollmund verzogen, die Stirn gekraust.

Liam schüttelte den Kopf und blickte sich kurz nach den anderen Gästen um. Er nickte Zac noch einmal zu und verließ die Theke. Bevor er die Außentür erreichte, drehte er sich noch einmal um.

Zac war auf die Trittstange vor den Barhockern geklettert und beugte sich drohend über den Tresen zum Barkeeper vor. „Was willst du für den Drink haben? Sehe ich aus wie Bill Gates?“

Lächelnd verließ Liam den Club. Nun, Zac musste sich einen anderen suchen. Der junge Mann passte weder in dieses Etablissement – noch zu ihm.

Die Luft war warm und ein allerletzter rötlicher Schatten erhellte den westlichen Himmel. Es war wirklich noch viel zu früh, um ins Bett zu gehen. Er stieg ins Auto. Purer Luxus, sein Sportwagen. Der Verkehr war mörderisch, er hätte genauso gut mit dem Sky Train oder mit dem Bus fahren können. Endlich war er in seiner Straße in Gastown angekommen und fühlte sich aus unerklärlichen Gründen unzufrieden. Als er den Range Rover seines Vaters vor seinem Appartementhaus parken sah, musste er wieder an Zacs beleidigte Miene denken. Er stieg aus, ging an einer auf altmodisch getrimmten Straßenlaternen vorbei und blickte an dem restaurierten viktorianischen Gebäude hinauf. Im zweiten Stock brannte Licht. Natürlich hatte sein Vater einen Schlüssel. Als er vor seiner Wohnung angekommen war, öffnete sich bereits die Tür vor ihm.

„Hallo, mein Junge.“

„Hallo, Dad.“

Eine kurze Umarmung, der obligatorische Klaps auf den Rücken. Sein Vater roch nach mehr als einem Drink. „Hast du bis jetzt gearbeitet?“ Liam warf seinen Schlüssel auf die Anrichte.

„Ja, ich war mit Kunden im Heavens an der Bar. Deshalb bin ich zu dir gefahren. Hab einiges intus.“

In den Augen des bekannten Immobilienmaklers Ralph Hillerman gehörte das Saufen zum Handwerk. Das war Liam immer schon klar gewesen. Er seufzte und ging ins Badezimmer, um sich ausgiebig die Hände zu waschen. Er schrubbte, seifte sich ein und fühlte sich besser, als seine Finger sich weich und sauber ins Handtuch schmiegten. Er ging zu seinem Vater zurück, der einige Fotos an der Wand betrachtete. Liam allein in der Felswand, er und David in der Felswand, mit glänzenden Karabinern gesichert.

„Also gut, ich bringe dich nach Hause. Mum wird sicher schon warten.“

Sein Vater zuckte nur mit den Schultern. „Wahrscheinlich. Wo warst du denn so lang?“

“Ich war aus. Kurz eine neue Bar ansehen.“ Im gleichen Moment wurde ihm bewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte.

„Neu? Wo denn? Ist sie gut?“

Schnell überlegte er sich eine Ausrede. Gut, dass er darin geübt war. „Grottig. Aber Cynthia wollte unbedingt da hin. Ich … nie wieder.“

„Oh, Cynthia? Wann stellst du sie uns vor?“ Die buschigen, dunklen Augenbrauen seines Vaters zuckten fast vor Begeisterung.

„Ehrlich gesagt, Dad, Cynthia war genauso grottig wie die Bar.“

„Hahaha!“ Sein Vater schlug sich mit der Hand auf den Schenkel und prustete sein Amüsement hinaus. „Du verdammter Schwerenöter! Aber ehrlich, Liam, wann lachst du dir ein nettes Mädchen an und nicht immer diese Gossentauben für eine Nacht?“

„Du hast Mum auch erst spät kennengelernt.“

Sein Vater kratzte sich am Kopf. Er trug einen hellen, gut geschnittenen Anzug, der seinen leichten Bauch gekonnt kaschierte. Sein Dad war eine imposante Persönlichkeit mit Witz und Verve. Die Kunden rissen sich um ihn und seine wohlüberlegt ausgewählten, millionenschweren Immobilien.

„Du musst mir ja nicht alles nachmachen, Junge.“

„Thema durch, Dad. Komm, ich bin müde.“ Er zog seinen Vater am Arm aus seinem Appartement und sah sich sehnsüchtig nach seiner Couch um. Die gemütliche Einrichtung, die warmen Bodenfliesen, der passende Teppich, die Liegelandschaft vor dem Wandfernseher, alles schrie nur nach ihm. Wie gern hätte er sich jetzt hingelegt und von einem gewissen Zac mit Dreitagebart und einem Gesicht, das die Lebendigkeit selbst war, geträumt. Das Verlangen, sich noch einmal die Hände zu waschen, überkam ihn. Er zog schnell die Tür ins Schloss, bevor der Drang übermäßig wurde.

 

*

 

Zac spürte den Kater, der in seinem Kopf tobte, als suchte er vergeblich nach einer Katzenklappe. Doch er störte nicht. Nein, so war eben das Gefühl der Freiheit. Er hatte mit den Jungs einen draufgemacht, seine Entlassung auch am zweiten Tag danach gefeiert. Man musste die Feste feiern, wie sie fielen. Vorher, im neuen Gay-Club, hatte er einen Ledertypen aufgetan und sich im Darkroom über ihn gebeugt. Das hatte echt gutgetan, wieder ein richtiger, normaler Bottom für ihn, so wie es sein musste. Schade, dass es mit diesem verdammt heißen Jack nicht geklappt hatte. Etwas an ihm hatte sein Interesse geweckt, auch wenn er nicht genau wusste, was. Doch jetzt fühlte er sich gut, vom Kater abgesehen. Bereit, den Tag zu beginnen. Was würde ein weiterer Tag in Freiheit ihm bieten? Da fiel es ihm wieder ein. Bewährungshelfer – Mist! Es war fast schon elf Uhr, er musste sich beeilen. Er hastete in Boxershorts aus dem Schlafzimmer seiner Mutter und wollte die Tür zum Bad öffnen. Geschlossen, besetzt.

„Mum?“

„Halt es zurück, Zac. Von mir aus pinkle aus dem Fenster!“

Verdammt! Vanessa war noch im Haus. „Schon wieder gefeuert, Honey?“

„Halt dein Maul, Zac.“

Er grinste.

Seine Mutter kam gerade zur Haustür herein, in der Hand eine Packung Croissants.

Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Schnell zog er sich an, wusch sich das Gesicht am Spülbecken und wuschelte sich die Locken zurecht. „Danke, Mum, du rettest mir das Leben.“

„Gut geschlafen, Zachary?“

„Ja, super.“ Er gab seiner Mutter einen Kuss auf die Stirn und biss in das saftige Croissant.

„War es ein schöner Abend?“

Als er in die braunen Augen seiner Mutter sah, fiel es ihm wieder ein. Die Augen von diesem Jack - … wow, die waren der Hammer gewesen. Immer wieder hatte er sie ansehen müssen, so oft, dass es ihm fast peinlich gewesen war. Er hatte ganz gut ausgesehen. Nicht richtig hübsch, aber sympathisch mit seinen Wangengrübchen und den braunen, kurzen Haaren. Und diese Augen! Er vergaß zu kauen, schob die fettige Masse in seinem Mund herum. Markant geschnitten waren sie, richtige Scheinwerferaugen. Jedes Mal, wenn er ihn angesehen hatte, hatte sein Herz Kapriolen geschlagen. Keine Ahnung, warum. Jacks Augenfarbe war zufällig die gleiche wie bei seiner Mum und der Ausdruck seiner Augen so ruhig und sicher.

„Zac, hörst du mir zu?“

„Ja, Mum, es war ein echt schöner Abend.“

„Das glaub ich dir“, hörte er Vanessa in seinem Rücken. Sie war aus dem Bad herausgekommen. Ihr blauer Rock war eng und kurz, der Hüftspeck quoll ein wenig über den Bund. Sie steckte eine Zigarette an und strich sich die gefärbten blonden Haare aus der Stirn. Sie war ungefähr zehn Jahre jünger als seine Mutter, was aber nicht hieß, dass sie auch so aussah.

„Du hast wahrscheinlich herumgefickt wie ein Blöder. Hast ja Entzug gehabt. Oder nicht, Zac?“

„Hör auf, Vanessa!“, sagte er gefährlich leise.

Sie blies ihm den Rauch so ins Gesicht, dass er nicht wusste, ob es Absicht war oder nicht. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass seine Mutter betreten zu Boden sah.

„Uh, wahrscheinlich kein Entzug, sondern viel zu tun bei deinen Knastbrüdern, oder?“

Zac wedelte den Rauch fort. „Paff deine stinkende Dinger draußen. Dies ist Mums Wohnung.“

„Ja, die ich sauber mache und in Schuss halte!“ Vanessa tippte sich auf die Brust. Sie trug eine weiße Bluse, etwas zu eng, die Knöpfe hatten alle Mühe, nicht abzuspringen.

„Zac, gehst du mit mir zum Einkaufen?“

Seine Mum hatte es drauf, ihn kaltzustellen. Er riss sich zusammen und entspannte seine Faust. Er wollte ja keinen Unfrieden, aber Vanessa schaffte es immer wieder, ihn zu reizen. „Natürlich, Mum. Gern. Muss erst noch aufs Klo.“

Er zog sich an, wobei er darauf achtete, dass ihm der Schließfachschlüssel nicht aus der Tasche fiel. Eine unbestimmte Gefahr ging von dem Ding aus, doch er schob die Gedanken an den Überfall schnell beiseite. Gestern war er schon drauf und dran gewesen, zum Bahnhof zu gehen, doch dann hatten ihn seine Freunde zum Glück abgelenkt. Er wollte ja auch gar nicht wissen, was es mit dem Schlüssel auf sich hatte. Bevor er mit seiner Mutter das Haus verließ, drehte er sich noch einmal um. „Lüfte das Haus, Vanessa. Mum verträgt den Rauch nicht, das weißt du genau.“

Auf der Straße beruhigte ihn der Anblick der Passanten, der Motorenlärm und das Hundegebell. Sie machten sich auf in Richtung Chinatown. Eine Weile schwiegen sie, gingen nebeneinander. Er hatte die Hand seiner Mutter an seinen Arm gehängt. Sie kam nur in kleinen Schritten vorwärts. Seine Gedanken rasten, von Vanessa zu Mum, von seiner Mutter zu silbernen Akupunkturnadeln. Er hielt es nicht mehr aus, er musste es einfach auskotzen. „Mum, wie kannst du nur …“

„Hör auf, Zac. Fang nicht wieder damit an. Vanessa tut viel für mich, was du nicht siehst.“

„Ja? Was denn? In diesen zwei Tagen hat sie nur Medizin für dich abgeholt und Wäsche für dich aufgehängt. Sonst nichts.“

„Sie putzt das Haus.“

„Klar, deshalb hast du ja gestern auch Staub gewischt. Sogar oben auf dem Regal.“

„Wenn ich keine Schmerzen habe, bewege ich mich. Wenn ich helfen kann, fühle ich mich nicht ganz so … nutzlos.“

Das haute ihn um. Seine Mum war doch noch nie nutzlos gewesen. Nicht für ihn. „Aber Mum, du …“

„Zac“, mahnte sie leise, als sie die Straße überquerten.

Er hob dem Verkehr den Arm entgegen, um sich sichtbar zu machen. Zugleich sah er sich um, ob er irgendwo verdächtige Gestalten entdeckte, die ihm folgten. Der Schlüssel lag ihm immer noch auf der Seele, obwohl er ihn sich gestern aus der Erinnerung hatte trinken wollen.

„Ich bin es so müde, Zac. Bitte reite nicht länger darauf herum.“

Sie waren vor einem kleinen Supermarkt angekommen.

„Gut, kein Problem. Bin ja sonst auch nicht da gewesen. Du wirst schon wissen, was du tust.“

Sie nickte und lächelte. Ein Lächeln, bei dem ihm das Herz aufging. Auch sie hatte Grübchen. Wie Jack.

 

Das war der Grund, warum er erst um zwölf Uhr bei der Beratungsstelle für entlassene Häftlinge eingetroffen war. Er mochte keine Behörden, keine langen Flure, keine besetzten Stühle. Er wusste auch nicht, an wen er sich wenden sollte, er hatte den Brief etwas vorschnell weggeworfen. Daher suchte er sich die Tür aus, vor der die wenigsten Leute warteten. Mit geschmeidigen Schritten näherte er sich, blickte drohend um sich und blieb stehen. „Verpiss dich!“, zischte er einem dünnen Männchen zu, das auch prompt aufstand und ihm seinen Platz überließ. Zac warf sich auf den Stuhl und schloss die Augen. Er hörte das Atmen seiner Sitznachbarn, Gemurmel aus dem Büro. Eine Behörde. Nun gut, dann würde er sich einen Spaß erlauben.

Als sich die Tür öffnete, sprang er auf.

Mit ergebener Miene ließ der Mann, der an der Reihe war, ihn vorgehen.

Er grinste, trat ein und baute sich vor dem Schreibtisch auf, hinter dem ein dicklicher Mann mit Halbglatze saß. Wenn dieser auch noch eine Brille getragen hätte, wäre er das perfekte Abziehbild eines Beamten gewesen. „Bonjour, Monsieur.“ Er hatte seine Worte längst aus seinem Gedächtnis hervorgekramt. „J’ai un rendez-vous, mais je suis un peu tard.”

Der Mann wurde so blass wie die Wand hinter ihm.

„Mais vous parlez francais, n’est-ce pas?“, fragte Zac unschuldig.

„N-Non, ähh, oui, Monsieur, tout de suite.“ Doch anstatt etwas zu unternehmen, einen Kollegen zu holen oder Ähnliches, verharrte der Mann auf seinem Stuhl.

Zac rieb sich innerlich die Hände. Er hatte sich gedacht, dass er keinen Beamten antreffen würde, der, wie es ein Gesetz versprach, seine Kundschaft zweisprachig bedienen konnte.

„Mann, das ist ja ein Skandal“, rief er empört und bedankte sich innerlich bei seinem Mistkerl von Vater, der aus Montreal stammte, bei dem er ein paar Brocken Französisch aufgeschnappt hatte.

„Aber, aber …, Sie sprechen ja Englisch!“ Der Kerl ärgerte sich offensichtlich ein Loch in den Bauch.

„Na, Gott sei Dank, sonst wäre das ja ein Desaster geworden.“

„Wie ist denn Ihr Name?“, fragte der Mann kleinlaut und gab sich einen geschäftigen Anschein.

„Zachary Cohen. Ich bin etwas spät, aber das haben Sie ja sicher vorhin verstanden.“

„J … Ja, gewiss.“ Der Mann suchte seinen Namen auf einer Liste.

„Also, Mr Cohen, Sie sind nicht mir zugeteilt, sondern Mr Hillerman. Das ist die dritte Tür. Ich werde Sie umgehend telefonisch anmelden, dann werden Sie sofort aufgerufen. Bitte gedulden Sie sich eine Minute auf dem Flur.“

Na, geht doch.

*

 

Schwülwarme Luft strich vom Meer her über die Stadt. Liams Bürofenster war deshalb geschlossen. Es war an diesem Morgen bereits genauso heiß wie am gestrigen Mittag. Die Sonne verbarg sich hinter Dunst. Trotz der feuchten Schwüle genoss Liam das Wetter, wie die meisten Bewohner Vancouvers, die im Lauf des Jahres zwar keine Kälte fürchten, jedoch oft mit Nebel und warmem Regen vorlieb nehmen mussten. Die Klimaanlage würde er erst einschalten, wenn es gar nicht mehr ging. Man wusste ja nie – Legionellen oder andere Bakterien …

Gerade hatte er seinen dritten Klienten entlassen und sich in einem Nebenraum die Hände gewaschen. Seine Klienten, hoffnungslose Gestalten waren darunter. Viele waren zum zweiten oder dritten Mal inhaftiert gewesen und irrten im Dschungel der behördlichen Anforderungen umher. Für so manchen hatte er Anträge auf Sozialhilfe oder Altersversorgung gestellt, für so manchen hatte er den Beichtvater gespielt. Einige standen derart unter Strom, dass er nach ihren Beschimpfungen die Security hatte rufen müssen. Er fragte sich, warum er sich diesen Beruf ausgewählt hatte. Sozialarbeiter. Retter der Armen und Schwachen, der Witwen und Waisen. Von wegen.

Nun holte er die nächste Akte von einem halbhohen Stapel, den er ordentlich auf seinem Tisch aufgebaut hatte, und schlug sie auf. Er erwartete Mr Zachary Cohen. Er blätterte zwei Seiten weiter, wo das Bild, das nach der Festnahme aufgenommen worden war, verewigt war. „Shit!“ Liam warf sich an das Polster seines Bürostuhls zurück. Es war Zac, der Zac von gestern Abend, ein eingeschüchterter, schmalwangiger Zac, dessen Augen ihn hilflos und fast bemitleidenswert ansahen. Kein Zweifel, das war seine Bekanntschaft aus dem Club. „Oh heilige Scheiße!“ Er klappte die Akte zu, als wäre das Thema damit vom Tisch. Für einen Moment war er versucht, den Fall an seinen Kollegen abzugeben. Doch dann blickte er auf die Uhr. Es war bereits viertel nach elf. Vielleicht würde er nicht kommen. Er sah nach, ob Zac dazu verdonnert war, sich regelmäßig zu melden. Das war nicht der Fall. Er atmete auf. Zac kam wahrscheinlich auch ohne ihn ganz gut zurecht. Gestern Abend hatte er jedenfalls bewiesen, dass er nicht auf den Mund gefallen war und keiner Auseinandersetzung aus dem Weg ging. Das war gut. Und es war zugleich schlecht. Es hieß, dass seine Streitsucht ihn im Nu wieder in Schwierigkeiten bringen konnte. Mit einem flauen Gefühl im Magen sah er nach, was Zac sich hatte zuschulden kommen lassen. Hoffentlich war er kein Vergewaltiger oder so etwas. Als er las, dass es sich um drei Einbruchdiebstähle handelte, die er zugegeben hatte, um damit das Strafmaß auf drei Jahre zu vermindern, atmete Liam auf. Allerdings hatte Zac sich mit einem Wärter geprügelt. Nicht gut, gar nicht gut.

Aber Liam konnte nichts für ihn tun, dazu musste er schon erscheinen. Doch er wollte nicht, dass er kam. Warum eigentlich? Gestern in seinem Appartement hatte er noch an ihn denken müssen. Schon komisch. Zac hatte sich so quirlig und offen gezeigt, so voller Elan und Witz, dass er sich selbst zu Hause wie ein verlassener, stummer Holzklotz gefühlt hatte.

Zac hatte ein freches Mundwerk und verführerische Lippen. Aber er passte so gar nicht zu ihm. Sollte er ruhig dort bleiben, wo er war. Als er um kurz vor zwölf den nächsten Besucher verabschiedete, hatte er innerlich mit Zac abgeschlossen. Als sein Telefon klingelte, erkannte er an der Nummer, dass sein Kollege Ron etwas auf dem Herzen hatte. „Hallo Ron, was gibt’s?“

„Hör mal, Liam, hier ist eben so ein Typ reingeschneit und hat mich zu Tode erschreckt. Er hat Französisch gesprochen, so ganz ernsthaft.“

„Was? Jemand aus Quebec?“

Kein Wunder, dass Ron so durcheinander war. Er sprach kein Wort Französisch. Der einzige hiesige Beamte, der das konnte, war seit zwei Wochen in Urlaub. „Was jetzt?“

„Ach, der hat mich verarscht. Der spricht ganz normal. Und er ist einer von deinen neuen Klienten. Zachary Cohen heißt er.“

Liam holte tief Luft, sein Herz begann zu klopfen.

„Er müsste jetzt vor deiner Tür stehen. Tu mir den Gefallen und hol ihn herein, bevor er noch eine Beschwerde ans Amtssprachenkommissariat schreibt.“

„Klar, Ron, mache ich“, presste er mühsam heraus und legte auf.

Langsam stand er auf, strich sich über die Stirn und blickte kurz in den blauen Himmel. Er konnte es spüren, Zachary Cohen würde ihm nur Scherereien bereiten. Zac war jemand, der mit Autorität nicht zurechtkam und ausgerechnet vor seiner Tür auf dem Flur stand. Noch einmal atmete Liam tief ein und ging noch einmal zum Waschbecken hinüber. Die Akten waren staubig gewesen, das Papier wurde mit der Zeit immer schmieriger und dünner. Als er sich die Hände wusch, sah er sich nicht im Spiegel an. Auf dem Rückweg ging er zur Tür und öffnete sie wie beiläufig. Dann kehrte er zum Schreibtisch zurück. Die Tür wurde aufgestoßen.

*

 

„Du? Was zum …“