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Kapitel 2

Ich verfolge den Teufel und seine Trulla

Ich sah ihn, aber er sah mich nicht. Er war mit einer Frau unterwegs, na klar. Sie war ein paar Jahre älter, na klar. Keine Schönheit, aber gut gebaut und sorgfältig gekleidet. Na klar. Und klar war er charmant und aufmerksam. Na klar, na klar, na klar.

Ich konnte seine Seife riechen, sein Shampoo und seine Feuchtigkeitscreme, sein gereinigtes und gebügeltes Hemd. So sauber, so frisch und so unmenschlich. Wie nah ich ihm auch immer kam, ich konnte nie seinen Körper riechen. Der Teufel hat keinen Geruch. Vielleicht hätte mich das gleich stutzig ­machen sollen.

Ich stand eine Sekunde wie erstarrt und fragte mich unwillkürlich, ob Elektra wohl imstande war, Gram Attwoods Witterung wahrzunehmen. Vielleicht ist das bei Hunden eine übernatürliche Fähigkeit – vielleicht können sie anhand des Geruchs unterscheiden zwischen normaler Bosheit und dem Teufel persönlich. Aber sie stand bloß geduldig da und wartete darauf, dass ich weiterging. Hunde sind unschuldige Geschöpfe, die keine Ahnung vom wahrhaft Bösen haben, also bemerken sie den Teufel vielleicht gar nicht, selbst wenn sie ihn sehen.

Gram Attwood spazierte ohne den kleinsten Funken des Wiedererkennens über den Trafalgar Square in Richtung Haymarket. Seine rechte Hand führte leicht den Ellenbogen seiner Begleiterin. Seine Berührung war vertraulich, intim, die Berührung des Besitzers. Womöglich hatte er etwas bezahlt. Er war bestimmt gesellschaftlich aufgestiegen, seit ich ihn gekannt hatte. Als ich ihn kannte, hatte ich alles bezahlt – sogar den Preis für seine Freiheit.

»Komm«, sagte ich zu Elektra, und wir folgten dem Teufel.

Vor einem Theater trennte die Frau sich von ihm. Sie küsste ihn auf den Mund, lachte und verweilte noch einen Augenblick. Sein Lächeln war ein Kunstwerk. Ich bin ja so aufrichtig interessiert an dir, sagte das Lächeln. Du faszinierst mich. Wenn du mich gut genug behandelst, könnte ich dich vielleicht lieben.

Als ich dieses Lächeln zum letzten Mal sah, saß ich auf der Anklagebank, und ich hatte ihn sehr gut behandelt. Ich tat genau das, was er von mir wollte. Wobei, eigentlich ging es mehr um das, was ich nicht tat. Mit dem, was ich nicht sagte, könnte man leicht hundert Bücher füllen. Als mir schließlich klar wurde, dass er mich nie besuchen kommen würde, dass er mich ganz entspannt da drinnen verrotten ließ, da lernte ich, was Hass in Wahrheit ist. Hass ist Liebe mit Maden, die ihr bei lebendigem Leib das Fleisch von den Knochen fressen. Er ist umgestülpte Liebe, das Innerste nach außen gekehrt, so dass Eingeweide und Weichteile offen daliegen, leichte Beute für die Maden und sauren Regen.

Das hab ich im Gefängnis gelernt. Hübsch, oder?

Sie verpassten mir Tabletten – drei Stück pro Tag –, um den Hass zu bekämpfen. Schicht um Schicht begruben sie ihn unter Lagen aus Mull, der den Schall dämpfte und zwischen meinen Augen und der Welt hing.

Danach passte ich mich besser an. Tag für Tag verstrich die Zeit, ohne in meinem Gedächtnis Fußabdrücke zu hinterlassen. Es war einfach nur Zeit, und ich saß sie ab, wie man es eben tun muss. Aber meine Persönlichkeit wurde aufgefressen, genau wie meine Erinnerung.

Dann war es vorbei. Ich verließ das Gefängnis, und es gab keine Tabletten mehr. Ich war frei. Frei, wieder zu hassen. Frei, wieder Schmerz zu spüren. Eines Morgens wachte ich auf, und der Mull, der zwischen mir und den Bildern und Geräuschen hing, war weggeweht. Alles tat meinen Augen weh, meinen ­Ohren und meiner Haut. Bilder und Geräusche wurden zu Stichen und Wunden. Hätte ich Geld gehabt, ich wäre bestimmt zum Junkie geworden, denn man sagt, dass Junkies stundenlang gar keinen Schmerz fühlen. Aber ich hatte kein Geld, meine Mutter war tot, und mein Haus war verkauft ­worden.

Als Erstes tat ich das, was man eben so tut, um zur Normalität zurückzufinden. Ich bemühte mich, einen Job zu kriegen, damit ich was Passables zum Wohnen mieten könnte. Aber dann musste ich feststellen, dass ich abgestürzt war und mich am Boden eines gähnenden Abgrunds namens Schulden befand. Ich hatte Gram Attwood Vollmacht erteilt, mein Haus zu verkaufen und davon die Verfahrenskosten zu begleichen – was ziemlich genau dasselbe ist, wie dem König der Diebe den Schlüssel zu deiner Schatztruhe zu geben und zu sagen: »Nur zu, mein ­Bester, bedien dich ruhig.«

Da stand ich also, mit weniger als nichts. Trotzdem versuchte ich, wieder in der Gesellschaft Fuß zu fassen und aufs Neue eine anständige Person zu werden. Ich versuchte es wirklich. Das Problem war nur, dass ich keine anständige Person mehr war und dass jeder das sehen konnte. Oder vielleicht konnten sie es auch riechen, so wie ich es kann, an jedem Tag meines Lebens.

Es ist bekannt, wie schwer es ist, einen Job zu finden, wenn man aktenkundig vorbestraft ist und bloß ein Wohnheim als ­Adresse hat. Aber wusstet ihr, dass man auch nicht zum Arzt kann oder zum Zahnarzt? Wenn es schlimm genug steht, kann man zur Notfallambulanz gehen, die sind im Ernstfall verpflichtet, einen zu behandeln. Aber das kannst du nicht bringen, wenn dir einfach nur dein Prozac oder Propaphenin ausgegangen ist.

Sie besorgen dir eine Behelfsunterkunft in einer Vorstadtpension, meilenweit weg von Sozial- und Arbeitsamt. Du hast kein Geld für den Bus, also brauchst du Stunden, um zu Fuß hinzulaufen, nur um festzustellen, dass das zuständige Büro geschlossen ist. Oder dass sie sich irgendeinen neuen Grund ausgedacht haben, warum gerade du keinen Anspruch auf Unterstützung hast. Also darfst du den ganzen Weg zurück­latschen. Die Pension ist eine stinkende Bruchbude, und es gibt kein Schloss an der Badezimmertür. Die anderen Bewohner sind besoffen, verrückt oder auf Drogen, oder sie schleppen sich mit einem ganzen Cocktail von Problemen ab, denen du auf keinen Fall auf einem finsteren Flur begegnen möchtest, draußen vor der Tür zu einem versifften Bad. Und schon gar nicht drinnen.

Wenn du es keine Sekunde länger aushalten kannst, gehst du, und damit machst du dich »freiwillig obdachlos«. Und wisst ihr was? Es ist eine Erlösung. Du bist ganz unten angekommen. Es gibt kein weiteres Fallen. Du kannst endlich aufhören, krampfhaft um den Wiedereintritt in die Gesellschaft zu kämpfen, und dich ganz aufs Überleben konzentrieren.

Du kannst aufhören zu hoffen, dass eins deiner Vorstellungsgespräche Erfolg zeitigt. Du kannst aufhören zu hoffen, dass du einer besseren Unterkunft für würdig befunden wirst. Du kannst aufhören zu hoffen, Punkt.

Hoffnung ist die große Blenderin. Sie flüstert dir ins Ohr und hält dich in der Tretmühle. Sie gaukelt dir vor, wenn du brav alles tust, was man dir sagt – alle Formulare ausfüllst, zu allen Terminen erscheinst –, dann schaffst du es eines Tages, aus deinem Loch zu kriechen und ein normales Leben zu ­führen.

Wenn du die Hoffnung fahren lässt, bist du frei. Du musst dich nicht mehr bemühen, einen sauberen und respektablen Eindruck zu machen. Du brauchst kein Dach überm Kopf mehr, keinen gedeckten Tisch. Alles wird wesentlich einfacher ohne Dach und Tisch. Niemand schert sich darum, ob du verrückt bist. Es ist der Kampf ums Normalsein, der dich wahnsinnig macht. Hör auf zu kämpfen, sage ich, hör auf zu hoffen und lerne überleben. Gib die Hoffnung auf und leg dir einen Hund zu. Das ist die einzige Selbsthilfelektion, die ich euch geben kann.

Aber wenn es dich gerade innerlich in Stücke reißt, weil du deinen teuflischen Exliebsten mit einer anderen Frau gesehen hast, dann brauchst du ein wenig Hilfe aus einer verlässlichen Quelle. Meine kam aus einer Flasche. Die allerdings war schon wieder gefährlich leer. Ich musste eine Entscheidung treffen. Sollte ich mir neuen Wein besorgen gehen oder Gram Attwood folgen?

»Also?«, fragte ich Elektra. Sie wandte den Kopf und schien Gram Attwood zu beobachten, wie er in Richtung Piccadilly davonging. Vielleicht kann sie den Teufel ja doch wittern.

»Wie du meinst«, sagte ich, und wir folgten ihm.

Er spazierte dicht am Kantstein entlang, und ich begriff, dass er nach einem Taxi Ausschau hielt. Er erspähte eins, trat auf die Fahrbahn und winkte es heran. Der Fahrer ignorierte all die anderen ausgestreckten Arme und hielt direkt vor ihm. Der Teufel war schon immer ein verfluchter Glückspilz. Ich hastete näher und hörte ihn sagen: »Harrison Mews.« Jetzt stand ich so dicht hinter ihm, dass er nicht umhinkonnte, mich zu bemerken. Er runzelte die Stirn und drehte sich um.

Ich sagte: »Haben Sie mal ’n bisschen Kleingeld für mich?«

»Verpiss dich«, sagte er.

»Mein Hund hat Hunger.«

Er lachte nur und stieg in sein Taxi.

Als der Wagen losfuhr, blickte er gleichgültig in meine Richtung. Auf seinem ebenmäßigen Gesicht zeigte sich keine Spur des Erkennens. Nicht der allerkleinste Schimmer. Entweder hatte ich mich vollkommen verändert, oder er hatte mich aus seinem Gedächtnis gelöscht – komplett ausradiert.

»Ich habe aufgehört zu existieren«, erklärte ich Elektra, als sein Taxi verschwand. »Ich bin nicht mal mehr ein Gespenst, das ihn heimsuchen könnte.« Sie sah mich mit ihren wunderschönen goldgefleckten Augen an, die mir erzählten, dass ich der Mittelpunkt ihres Universums war.

»Danke«, sagte ich und kniete mich hin, um sie auf die Stirn zu küssen und ihre Ohren zu kraulen.

»Such dir ’n Zimmer«, sagte Joss hinter mir. »Such dir ’n Kerl und such dir ’n Leben.« Joss und Georgie waren auf dem Weg zu St. Martins-in-the-Fields, wo es Essen und Betten gab.

»Schaff dir den Köter vom Hals«, meinte Georgie, »dann wird’s viel leichter, ’n Schlafplatz zu finden. Keiner will sein Zimmer mit einem verflohten Furzbeutel teilen.«

»Er spricht von dir.« Joss hält sich für einen Witzbold.

Wir verzogen uns vom Bürgersteig in einen Hauseingang. Die Jungs mussten ihre Flaschen leeren, bevor sie in die Notunterkunft gingen, also nahmen wir alle einen schnellen Schluck und rauchten eine dazu. Joss hielt aus dem Augenwinkel Ausschau nach Bullen.

»Weiß einer von euch zufällig, wo die Harrison Mews ist?«

»Kensal Rise«, sagte Georgie, einfach weil er von Geburt an unfähig ist, ›ich weiß es nicht‹ zu sagen. Er ist Experte für jedes verdammte Thema auf der ganzen Welt.

»Toni im Asyl hat ’n Stadtplan«, bemerkte Joss. »Komm mit uns.«

Aber das wollte ich nicht. Ich wollte vor dem Theater auf Gram Attwoods neue Frau warten. Vielleicht konnte ich sie warnen. Vielleicht konnte ich ihr in ihren dürren Arsch treten. Vielleicht konnte ich ihre schicken Schuhe klauen und gegen ein Schinkenbrot und eine Flasche Wein eintauschen.

»Was gibt’s denn in der Harrison Mews?«, fragte Joss misstrauisch. »Sind da Freikirchler?« Er tritt ständig neuen Sekten bei, denn am Anfang füttern sie ihn immer und geben ihm Geld. Nach ’ner Weile kennen sie ihn dann und zeigen ihm die kalte Schulter. Wie jeder, der bei Verstand ist.

»Was Persönliches«, sagte ich.

»Leute, die draußen schlafen, haben nichts Persönliches«, erklärte Joss.

»Ich hab meinen Stolz«, versetzte Georgie, und wir lachten alle drei los. Ich wünschte mir, wir könnten immer zusammenbleiben.

Aber natürlich ist Georgie eine Nervensäge und Joss ist paranoid, und beide stinken, und keiner von ihnen kann Elektra leiden. Außerdem gibt niemand Geld, wenn drei von uns zusammen rumhängen, dafür rücken einem die Bullen wesentlich schneller auf die Pelle. Einzeln sind wir bloß Jammergestalten, im Rudel sind wir eine Bedrohung.

Ich pilgerte am Piccadilly Circus vorbei und kaufte ein paar Liter Roten. Dann kehrte ich zurück und ließ mich vor dem Theater nieder, um Elektra mit Hundekeksen zu füttern und ihr etwas Wasser zu geben. In einer Wolke aus rosa Tüll und Flügeln kam eine Braut mit ihrem kreischenden Gefolge vorbei. Die Braut blieb stehen und gab mir einen Fünfpfundschein. »Soll Glück bringen«, sagte sie und erschauerte.

»Ihre Freundlichkeit wird Sie vor einem Schicksal wie meinem bewahren.« Die Leute lieben diesen Karmascheiß, wenn sie angeschickert sind. Auch die Brautjungfern rückten was raus, und plötzlich hatte ich mehr als genug für ein Bett und ein Essen.

Wie gewöhnlich, wenn ich es nicht mehr brauchte, wurden die Leute auf einmal verschwenderisch mit ihrem Kleingeld. Elektra zeigte sich von ihrer besten Seite – sanftäugig und würdevoll – und quittierte jede Gabe mit einem freundlichen Kopfneigen.

»Du bis viel besser mit mich als da«, sagte ich. »Ich meine, du bis viel besser damit als ich. Du bist mein Glücksbringer, mein Malistan, nein, Talisman, mein Omelett, mein Amulett.« Und ich nahm noch einen kleinen Trunk, um das zu feiern.

Dann, ohne dass ich es mitbekam, war auf einmal die Zeit rum, und die Leute strömten aus dem Theater. Sie kamen viel zu schnell raus, trampelten über mich und Elektra hinweg, quasselten, quasselten und quasselten. Da war kein Platz zum Ausweichen, keine Luft zum Atmen. Elektra fing an zu zittern.

»Hey, passt doch auf! Vorsicht mit dem Hund.«

Ein Mann erwiderte: »Sie ist betrunken.«

»Mein Hund ist nicht betrunken«, sagte ich, weil es wahr war und weil er kein Recht hatte, sie zu beleidigen – er mit seinem vor Pomade ganz glitschigen Haar und seinen auf Hochglanz polierten Fingernägeln. Was verstand er schon von einem Hund, der seit heute früh um sechs zu Fuß halb London durchquert hatte?

»Sie’s mein Omelett. Sie’s wertmal so viel zehn wie ihr.«

»Schreien Sie uns nicht an«, sagte seine Frau. »Wir verstehen Sie nicht.« Und sie gingen weg. Ich wollte gerade hinterher, um das zu klären, aber da sah ich sie, Gram Attwoods neue Frau, und mir fiel wieder ein, warum ich überhaupt vor dem Theater saß.

»Sie!«, rief ich. »Hey, Sie, ich rede mit Ihnen.«

Sie war mit einer Freundin zusammen, und in ihrer Seidenkluft, goldbehängt, passten sie ganz prima zusammen, quasseln, quasseln, quasseln und nichts merken.

»Hörn Sie marne Weinung – meiden Sie Am Grattwood. Er’s gefährlich.«

»Entschuldigung«, sagte sie höflich und versuchte mit ihrer Freundin, mir auszuweichen.

»Sie schein ’ne nette Frau zu sein. Hörn Sie zu! Gram is gefährlich. Er singt Brie um alles.«

»Was pöbelt sie da? Hat sie eben Graham gesagt? Was weiß sie denn von ihm?«

»Was weiß ich denn nicht über ihn?« Ich versuchte sie am Weglaufen zu hindern, indem ich rückwärts vor ihr herging. »Sehn Sie mich an. Sein Werk. Nehmen Sie sich in Acht!« Leider kam es raus wie »Nemesis Nacht«, also wiederholte ich es, bis ich es richtig hinbekam: »Nehmen Sie sich in Acht, nehmen Sie sich in Acht, nehmen Sie sich in Acht.«

»Sie machen den Leuten Angst«, mahnte ein Mann. Er arbeitete für das Theater. Ich wusste das, weil er eine Ansteckplakette trug, darauf stand Eventmanager für Besuchersicherheit/Foyer.

»Sie sollte Angst haben«, gab ich zurück. »Aber nicht vor mir. Nehmen Sie sich in Acht vor Gram Attwood!«

Vielleicht hätte ich weniger trinken sollen, bevor ich eine so wichtige Nachricht überbrachte. Wie sollte sie mich ernst nehmen, wenn sie nichts hörte als »Nemesis Nacht vergrämt fett«? Denn so klang es. Sogar für meine Ohren.

Warum sollte sie auf mich hören, sie, die nach Rive Gauche und Trüffelöl duftete, während ich nach Dreckfüßen und Londoner Gullys roch?

Kapitel 3

Ich werde von einem Hund beraten

Elektra und ich waren allein in der Jermyn Street. Wir hockten im Eingang einer Buchhandlung, und sie sah hundeelend aus. Ich versuchte mich auf knochenlosen Beinen aufzurappeln, aber ich plumpste sofort wieder hin.

»Tut mir leid«, sagte ich.

»Das sagst du immer.«

»Du bist ein Hund. Du kannst nicht sprechen.«

»Das sagst du auch immer.«

»Wenn du schon sprichst, dann sag doch was Nettes.«

»Wie denn? Mir ist kalt, ich habe Hunger und bin müde, und das ist alles deine Schuld.«

»Die Schuldnummer.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte eine menschliche Stimme. »Sie murmeln die ganze Zeit vor sich hin. Sind Sie verletzt? Krank? Ich bin Melanie Jones von den Fliegenden Helfern beim Ökumenischen Dienst.«

»Fliegende – was?« Der Boden schwankte zwar ein bisschen, sah aber sonst ziemlich stabil aus. »Ich hab nur mit meinem Hund gesprochen.« Ich zog meine Mäntel um mich zusammen und machte einen halbherzigen Versuch, meine Würde zu wahren.

»Er ist ein schöner Hund.«

»Sie.«

Elektra schnaubte. »Warum halten mich bloß alle für einen Kerl?«

»Also ich finde, du bist sehr weiblich.« Ich streichelte ihre Wange.

»Danke«, sagte Jelly Moans oder wie sie hieß, »wenn auch nicht ganz angemessen. Ich bin hier, weil wir die Meldung eines Anwohners erhalten haben, dass Sie offenbar Hilfe benötigen.«

»Oha, jetzt bist du geliefert«, sagte Elektra, und ich musste ihr zustimmen. Anwohner melden nur, dass man Hilfe braucht, wenn sie extrem genervt sind. Und die Hilfe, die sie im Sinn haben, beinhaltet meist einen kleinen Abstecher in die Klapse. Ohne Hund, wohlgemerkt.

Rasch setzte ich mich kerzengerade und verkündete: »Ich kann tatsächlich Hilfe gebrauchen. Ich hab versucht, jemanden zu finden, der mir erklärt, wie ich zur Harrison Mews komme. Vielleicht hat man mich missverstanden und gedacht, ich versuche zu betteln. Die Leute verstehen mich nicht immer, seit ich mein kleines zerebrales Missgeschick hatte.«

»Schlaganfall, ja? Also mir wurde gesagt, Sie grölen hier rum und sind rattentütendicht.« Smelly Jones war wohl weniger zartbesaitet, als sie aussah.

»Ich hab mir bloß einen Kleinen genehmigt.« Eine Flasche, genauer gesagt – aber es ist unklug, Fliegenden Helfern mit Mengenangaben zu kommen. Es wäre auch unklug, auf stocknüchtern zu plädieren, wenn man nach algerischem Fusel stinkt und aufstehunfähig im Eingang einer Buchhandlung rumsumpft. »Mir war kalt«, fuhr ich fort, »aber vielleicht sollte ich heutzutage lieber gar nichts mehr trinken. Schon der kleinste Schluck scheint meinen Gleichgewichtssinn und mein Sprechvermögen zu beeinträchtigen.«

»Wenn bei Ihrem Schlaganfall dieselben Hirnzentren betroffen waren, sollten Sie wirklich aufhören.«

»Und dabei empfehlen die Ärzte doch moderaten Rotweingenuss, um Schlaganfällen vorzubeugen.«

»Oh, bit-te«, seufzte Elektra.

»Schön«, sagte Moany, »ich geb Ihnen mal ein Faltblatt über Alkoholmissbrauch mit. Davon abgesehen: Haben Sie einen Schlafplatz für heute Nacht und genug Geld, um ihn zu bezahlen? Oder soll ich eine Aufnahme ins Krankenhaus und ein Gutachten arrangieren?«

»Es gibt ein prima Frauendreibettzimmer im St. Christopher’s Inn in Euston«, ich sprach jedes Wort extra deutlich aus. »Und mein Penngeld hab ich auch zusammen. Mir geht es bestens, danke der Nachfrage.«

»Im St. Christopher’s haben sie was gegen mich«, wandte Elektra ein.

»Ach was, Unsinn«, sagte ich und durchsuchte alle meine Taschen. Ein Wunder: Ich hatte tatsächlich Geld. Ich hatte es nicht weggeworfen, und niemand hatte mich ausgeraubt.

»Im St. Christopher’s sind Hunde gar nicht gestattet.« Elektra kann manchmal ein dermaßen stures Luder sein.

»Aber da gehen wir jetzt hin, also finde dich damit ab.«

»Entschuldigung?« Lemony klang säuerlich. »Haben Sie mich etwa gerade Luder genannt?«

»Ganz sicher nicht.« Ich rappelte mich äußerst behutsam hoch. Wenn man sich langsam genug bewegt, fällt man nicht so leicht um und verrät sich damit. »Mein Bein ist ganz steif, das alte Luder, vielleicht haben Sie mich darüber fluchen hören.« Ich beugte mich vor, nahm Elektras Gesicht zwischen meine Hände, sagte: »Still jetzt«, und küsste sie auf die Nase.

»Sie lieben diesen Hund wirklich«, bemerkte Wallaby Jo.

»Ich könnte ohne Elektra nicht leben.« Ich packte ihr Halsband und wir gingen ganz vorsichtig los.

»Warten Sie!«

»Was?«

»Ich dachte, Sie wollen zur Harrison Mews?«

»Wo ist das?«

»South Kensington, nicht weit vom Wissenschaftsmuseum.«

»Haben Sie ein Auto?«, fragte ich. »Sie könnten uns mit­nehmen.«

»Fordere dein Glück nicht heraus«, sagte Elektra. »Wenn du im geschlossenen Raum einmal ausatmest, weist sie dich ein.«

»Sollten Sie nicht zum St. Christopher’s Inn, bevor da die Tür abgeschlossen wird? Gehen Sie doch lieber morgen früh zur Harrison Mews.«

»Genau, genau, schlau die Frau«, sagte ich. »Gute Nacht, und noch mal danke, dass Sie extra vorbeigeschaut haben. Ich weiß Ihre Fürsorge zu schätzen.«

Ich ging ganz langsam und auf einer kerzengeraden Linie davon. Mein Kopf fühlte sich unförmig an, aber von außen konnte man das bestimmt nicht sehen. Elektra wusste natürlich Bescheid, schließlich wurde sie mir von Feen gesandt, weiß alles und sieht alles. Aber zur Abwechslung hielt sie den Mund. Normalerweise ist sie die perfekte Gefährtin, nur manchmal wird sie spitzfindig. Ich wünschte, sie würde das lassen. Unvernünftig bin ich eigentlich nur, wenn ich unter unerträglichem Stress stehe. In so einer Lage sind Kritteleien von der besten Freundin wirklich das Letzte, was man braucht. Und wenn eine Begegnung mit dem Teufel vor der ­National Portrait Gallery nicht in die Kategorie unerträglicher Stress fällt, wüsste ich nicht, was sonst.

Algerischer Roter ist gut gegen alles, was mich plagt, es sei denn, das, was mich plagt, ist algerischer Roter.

Wir wanderten nordwärts Richtung Euston, bis ich sicher war, dass wir uns außerhalb des Luftraums der Fliegenden Helfer befanden. Dann schwenkte ich nach links. Elektra sprach nicht mehr mit mir, aber sie humpelte.

Ich blieb stehen und setzte mich. Sie legte sich hin, bettete ihren Kopf in meinen Schoß und schlief augenblicklich ein. Sie ist ein Hund – sie schläft, wenn sie erschöpft ist. Macht einfach die Augen zu und ist weg. Ich wünschte, ich wäre ein Hund.

Kapitel 4

Gequält von Joss, Bier und Eifersucht

Manchmal schlafe ich aber auch wie ein Hund. Und manchmal schlafe ich draußen besser als drinnen. Statt erst mühselig die Bettpfosten in die Schuhe zu stellen und sich sorgsam auf sein Geld zu legen, damit einem keiner was stehlen kann, rollt man sich einfach in einem Hauseingang zusammen. Du denkst, du gönnst deinen geplagten Füßen zwanzig Minuten Pause, und das Nächste, was du mitkriegst, ist Tageslicht und dass dir jemand auf die Schulter tippt und dir ­einen Pappbecher mit heißem, süßem Kaffee in die Hand drückt. Ein ganz normaler Typ auf dem Weg zur Arbeit schenkte mir seinen Kaffee und ging weiter, bevor ich danke sagen konnte. Manchmal sind Leute so reizend, dass ich heulen könnte.

Wir wanderten westwärts zum Hyde Park, wo ich die öffentliche Toilette benutzen und Elektra das Gras unter ihren Pfoten fühlen konnte. Sie liebt das. Sie trank aus dem See, stromerte zwischen den Bäumen herum und las die Nachrichten, die andere Hunde hinterlassen hatten. Ein Spaziergang im Park ist für sie wie für mich eine druckfrische Zeitung.

In einem Papierkorb entdeckte ich ein beinahe unberührtes Päckchen Käsesandwiches und teilte sie mir mit Elektra. Es war ein strahlender Morgen – spendierter Kaffee, kostenlose Stullen und kaum Kopfweh. Ich hatte Schlimmeres erwartet. Ich hatte Schlimmeres verdient.

Ich trug sechsundzwanzig Pfund und siebenundvierzig Pence mit mir herum, verteilt auf alle möglichen Taschen. Alleine im Park hatte ich Gelegenheit, es zu zählen und das meiste davon direkt am Körper zu verstecken. Griffbereit blieb nur, was ich brauchte, um in den nächsten Stunden über die Runden zu kommen. Ich versprach mir und Elektra, dass ich bis zum Nachmittag keinen algerischen Roten kaufen würde.

Ich wollte nach South Kensington, und South Kensington gehört nicht zu meinem Revier. Meine Gegend ist das West End, wo alle Touristen hingehen. Es ist trubelig, vollgemüllt, und es gibt jede Menge rund um die Uhr geöffnete Burgerläden – ein Stadtteil der unbegrenzten Möglichkeiten. Um nach South Kensington zu kommen, muss man die Viertel Belgravia und Knightsbridge umgehen, denn da wohnen die ganzen feinen Pinkel, und feine Pinkel wollen mich und Elektra nicht vor ihren millionenschweren Hütten sehen. Und sie geben auch nichts auf die Annehmlichkeiten, die das Leben erst möglich machen, wie Tag-und-Nacht-Supermärkte und öffentliche ­Toiletten.

Es war ein schöner grauer Tag für die von uns, die draußen leben – keine Sonne, kein Wind, kein Regen. Leute, die sich auf knallheiße Sonnentage freuen, sollten sich klarmachen, dass das für unsereins fast so schlimm ist wie Schnee, wir können nämlich beidem nicht entrinnen.

Jetzt aber stellte sich das Problem der Harrison Mews. Ich konnte da nicht einfach rumhängen. Es handelte sich um ein kopfsteingepflastertes kleines Bühnenbild von Sackgasse mit schnuckeligen Reihenhäuschen, die Fassaden berankt mit Blauregen und blühender Clematis.

»Wir sind angeschissen«, erklärte ich Elektra. »Die haben hier nicht mal Mülltonnen, hinter denen man sich verstecken kann. Die Leute hier sind ja so exquisit – ich wette, es dauert keine fünf Minuten, bis irgendwer ein Dienstmädchen rausschickt, um zu überprüfen, was wir hier wollen.«

Elektra starrte erstaunt einen kleinen Steinlöwen an, den Mr. und Mrs. Exquisit von Harrison Mews vor einem Häuschen mit gelber Tür auf der Kante einer Pferdetränke platziert hatten. Mews, das sind die Gässchen der ehemaligen Stallungen. Es gibt nichts Rustikaleres als eine Mews mitten im Herzen Londons.

Gram Attwood ist gestern Abend hierher gefahren, dachte ich. Vielleicht schläft er jetzt in einem dieser Häuschen. Liegt ausgestreckt auf dem Rücken, suhlt sich breit in der Mitte ihres Betts, so wie früher in Acton, als er unter meiner Daunendecke schlief. Er lag immer so da, Kehle und Brust entblößt, Bauch und Genitalien ungeschützt. Offenbar hat er von mir nie eine Attacke befürchtet. Nein, der Teufel fürchtet keine Attacken.

Ich schlafe nie mehr auf dem Rücken, und ich kenne niemanden mehr, der das tut. Jeder, den ich kenne, krümmt sich wie ein Gürteltier schützend über seine Weichteile und ­Besitztümer.

Im Song heißt es: »When you got nothin’ you got nothin’ to lose – wenn du nichts hast, hast du nichts zu verlieren«, aber das hat ein Typ geschrieben, der das Prinzip nicht versteht. Es gibt immer etwas zu verteidigen, und seien es nur deine Weichteile oder dein Recht darauf, keinen Schmerz zu empfinden.

Gram Attwood hingegen kann ohne Angst schlafen. Macht euch das bitte klar, bevor ihr mir Vorträge über Redlichkeit haltet. Er hat Reiche und Arme bestohlen und mich dann beschwatzt, die Schuld auf mich zu nehmen. Warum? Weil, wie er mir versicherte, ich keine Vorstrafen hatte und folglich nicht ins Gefängnis kommen würde. Ich war eine respektable Vierzigjährige, bis dato ein unbescholtener Charakter, mit einem Eigenheim und einer kranken Mutter, die Pflege brauchte. Ja, ich war Hausbesitzerin, und Angestellte einer Bausparkasse. Ich hatte eine Vertrauensposition inne, und genau das wurde mir zum Verhängnis – ich hatte so viele Erwartungen enttäuscht. Ich war noch viel schlimmer als ein Dieb: Ich war eine schlechte Frau. Es gibt nichts Schändlicheres. Also wurde ich selbstredend ins Gefängnis gesteckt – wie ihm von vorn­herein klar gewesen sein muss.

Doch Gram Attwood kann auf dem Rücken schlafen, ohne seine Weichteile zu schützen.

Sogar seine Geschichte von der Vorstrafe erwies sich im Nachhinein als dreckige Lüge. Dabei hatte er echte Tränen geweint, als er mir erzählte, wie ihn eine jugendliche Unbedachtheit in den Knast gebracht hatte. Als er mich anflehte, mich seiner zu erbarmen.

Der Teufel weint salzige Tränen und kann angstfrei auf dem Rücken pennen.

In den letzten vier Jahren hatte er keine Falte und kein graues Haar bekommen. Er war offenbar gehätschelt worden. Wie viele Frauen, fragte ich mich, haben ihm Kleidung und Schuhe gekauft, ihm das Bett frisch bezogen und frische Handtücher bereitgelegt? Haben sie ihm Kaffee und Champagner serviert, so wie ich? Wissen sie auch, dass er keine Pilze mag?

Elektra winselte leise. Meine Hand war in ihren Nacken verkrampft – eine geballte Faust. Ich ließ sie los und spürte meine Finger schmerzen.

»Ich brauch was zu trinken«, sagte ich.

Elektra leckte rasch über meinen Daumen – so behutsam, dass ich die Botschaft fast nicht mitbekam. Ich ­blickte in diese großen Topasaugen, die mir sagten: »Du hast es versprochen.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte ich. »Aber was soll ich mit dieser Wut machen?«

»Was meckerst du schon wieder?«, fragte Joss. »Ständig bist du am Rummeckern. Die Leute halten dich schon für völlig bekloppt.«

»Was machst du denn hier?«

»Du hast uns doch davon erzählt. Ich wollt mir das mal ansehen. Du sollst ’n guten Schnapp nicht einfach für dich behalten. Wir sind doch Kumpels, oder?«

»Und wo ist Georgie?«

»Kensal Rise. Er denkt, du bist da. Wir haben gewettet. Egal, vergiss ihn.« Joss trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Offenbar hatten sie sich gestern Abend gestritten. Georgie macht ihn wahnsinnig, aber ohne ihn ist er aufgeschmissen.

»Fette Beute?« Joss spähte in die kleine Mews, sah die niedlichen, makellos gepflegten Reihenhäuschen. Dann betrachtete er die grandiosen viktorianischen Fassaden der Harrison Road. »Was steckt dahinter?«, fragte er. »Was suchen wir hier?«

»Ich weiß, was ich hier suche«, sagte ich, »dich hab ich nicht eingeladen.«

»Richtig, hast du nicht.« Seine Züge verfinsterten sich misstrauisch. Er ging ein paar Schritte in die Mews hinein und starrte durch seine strähnigen langen Haare auf die Pflastersteine.

Ihr würdet nie denken, dass er erst vierundzwanzig ist  – mit den Haaren und dem Bart sieht er aus wie fünfzig.

»Hier gibt’s also keine neue Mission, sagst du? Tja, wär auch ’n schräger Platz für ’ne Mission. Was dann? Schmeißt hier jemand Zeug raus, das man verscherbeln kann?« Plötzlich schnellte er herum und hielt sein Gesicht ganz dicht vor meins. Ich roch Cornflakes und sein erstes Bier. »Warum lässt du uns außen vor?«, zischte er. »So was gehört sich nicht unter Kameraden.«

Elektra winselte. Ich machte einen Schritt rückwärts. »So ist das nicht. Ich hab nur gestern Abend einen alten ... ich hab jemanden gesehen, den ich mal kannte.«

»Einen Reichen? Von früher? Siehste, ich hab ja immer gesagt, du bist keine von uns. Du kommst aus besseren Kreisen, du. Ich hab’s Georgie gleich gesagt, ich sag, eines Tages geht sie dahin zurück, wo sie hergekommen ist. Dann hängt sie bei ihren reichen Freunden ab und vergisst uns alle.«

»Hör auf zu brüllen«, sagte ich. »Sonst ruft noch jemand die Bullen.«

»Kameraden halten zusammen«, knurrte er. Und ich musste an eine Geschichte denken, die mir jemand erzählt hatte. Joss war früher bei den Leergutsammlern gewesen und hatte einen anderen Obdachlosen übel zusammengeschlagen, weil er sein Territorium bedroht glaubte. Das war, bevor er Georgie begegnet und etwas zur Ruhe gekommen war. Aber paranoid war er immer noch – das sah ich deutlich.

»Magst du ’n Kaffee?«, fragte ich. »Ich geb einen aus.« Ich musste später wiederkommen, allein. Joss machte mich zu auffällig und verdächtig.

»Was ist denn nun mit deinem alten Freund?«

»Ich glaube nicht, dass jemand, der hier wohnt, ein Wiedersehen mit mir möchte. Ich hätte gar nicht herkommen sollen.«

»Ich will keinen Kaffee«, sagte er. »Aber ich könnt ’ne Dose Special Brew vernichten.«

Ich sah Elektra an. »Tut mir leid«, sagte ich. »Dafür kann ich jetzt nichts.«

Mit unbeirrbarem Instinkt startete er durch zum nächsten Getränkemarkt. Er ging schnell. Ich schleppte meinen Rucksack und meine Schlafrolle und folgte ihm langsamer. So konnte ich mich umdrehen und noch mal einen Blick in die Mews werfen, und da sah ich die Frau von gestern Abend aus dem Haus mit der gelben Tür kommen. Sie spähte prüfend in ihre Handtasche – eine echte Louis-Dingsbums-Handtasche –, dann eilte sie zur Ecke Harrison Road. Dort hielt jemand, den ich nicht sehen konnte, in einem sexy knallroten deutschen Auto, ließ sie einsteigen und fuhr los.

Es ist ihr Haus, dachte ich. Natürlich ist es ihr Haus. Ich hatte exakt genau so in meine Handtasche geguckt, wenn ich morgens zur Arbeit aufbrach, um mich zu vergewissern, dass ich die Schlüssel dabeihatte. Als ich noch eine Handtasche hatte, und ein Haus und einen Job. Und wie sie hatte auch ich immer noch einen Blick hoch zum Schlafzimmerfenster geworfen, wo Gram in der ­Mitte meines Bettes weiterschlief.

Ich könnte eine Zeitung mit Alkohol tränken, sie anzünden und durch den Briefschlitz in der gelben Tür stopfen. Wenn Gram dann hustend und würgend vom Qualm aus dem Haus getaumelt kam, könnte ich ihm auflauern und einen Gullydeckel über den Schädel ziehen.

»Scheiße, willst du jetzt was trinken oder nicht?«, brüllte Joss. Elektra ging noch langsamer und machte ein bedrücktes Gesicht. Sie weiß, was ich denke.

»Ich bin stinkwütend«, erklärte ich ihr leise. »Denn wenn der Teufel mich nicht so in die Scheiße geritten hätte, wäre meine Mutter noch am Leben.«

Elektra starrte mich mit kummervollen Augen an, und ich wusste, ich hatte ihr Mitgefühl.

»Hast du Geld?« Joss blieb so plötzlich stehen, dass ich fast in ihn hineinlief.

»Nicht viel«, sagte ich. Man darf ihm nie sagen, wie viel man hat, sonst hat man ihn am Hals und wird ihn nicht los, bis alles ausgegeben ist. In diesem Punkt besitzt er durchaus Ähnlichkeit mit Gram Attwood.

Wir warfen zusammen und kauften ein Sixpack Special Brew. Es ist ja kein algerischer Roter, dachte ich, also breche ich mein Versprechen nicht direkt. Bier ist durstlöschender als Wein, aber es bläht einen fürchterlich auf. Und dann stellt sich die Frage, wo hinpinkeln, das ist das andere Problem bei Bier. Joss kann das in der Unterführung erledigen, ich nicht. Welche Getränke man verträgt und wo man pinkeln kann, das gehört zu den Kenntnissen, die ich mir auf die harte Tour angeeignet habe. Deswegen bleibe ich auch lieber in meinem Revier. In South Kensington bin ich aufgeschmissen.

Als ich endlich an der U-Bahn-Station Gloucester Road ein öffentliches Klo fand, war ich fast am Platzen. Ich hasse den Pipigestank, trotzdem blieb ich endlos drin. Ich hoffte, dass Joss das Warten sattbekam und sich trollte. Immerhin hatte ich das Örtchen ganz für mich, denn jede Frau, die reinkam, warf einen Blick auf mich und war sofort wieder draußen. Der dreckfleckige Spiegel zeigte mir warum: Unter ­etlichen Schichten Kleidung, mit meiner Schlafrolle und meinem Rucksack wirke ich unförmig. Ein buckliger grober Klotz. Mein Gesicht ist bläulich-violett vor geplatzten Äderchen und vom Wetter. Das angegraute Haar, das nach allen Seiten aus meinem Wollhut quillt, ist ein wüster krauser Filz. Bis vor vier Jahren ging ich alle fünf bis sechs Wochen zum Frisör. Für mein Erscheinen vor Gericht ließ ich mir Stufen schneiden und helle und dunkle Strähnchen machen – als könnte mich retten, dass ich gut aussah. Aber Frauen geraten immer dann in die größten Schwierigkeiten, wenn sie am besten aussehen. Ich begegnete Gram Attwood, als ich am allerbesten aussah. Diese Art von Scherereien bleibt mir heutzutage garantiert erspart.

Ich konnte nicht anders. Ich flennte wie ein Kleinkind. Das passiert mir oft, wenn ich blöd genug bin, einen verstohlenen Blick in einen Spiegel zu werfen.

»Hunde werden doch auch nicht hässlich vom Altern«, heulte ich Elektra vor. »Warum dann ich? Weil ich mich um dich besser kümmere als um mich?«

»Zieh mich da nicht mit rein«, sagte sie. Ihre Bernsteinaugen sind schöner als die jedes Supermodels. Sie stand auf den Hinterbeinen, die Vorderpfoten auf dem Waschbeckenrand, und ich gab ihr aus dem laufenden Wasserhahn zu trinken. Warum kriegen Greyhounds keine Tränensäcke?

»Das machen die reinen Gedanken«, sagte sie. »Ich kenne keinen Hass, keine Wut, nur Liebe.«

»Ach, halt die Schnauze«, sagte ich, und wir schritten hinaus in den steingrauen Nachmittag.

Da stand Joss mit einem Mann, der ihn umkreiste wie ein Geier und zischte: »Ich sollte dir deine hässlichen scheiß Zähne in den Hals treten. Das ist nicht dein Platz, du Kinderficker.«

»Komm doch, trau dich!«, brüllte Joss. »Wen nennst du Kinderficker, Arschloch?«

Beide fuhren blind ihr krankes Programm ab. Das ist das, was bestimmte Typen im Knast lernen, und es soll dem Gegner sagen: Ich kann mehr Schmerz wegstecken und mehr austeilen als du, weil ich noch wahnsinniger bin als du.

Der Anblick von zwei Obdachlosen, die einander wegen ­eines schmalen Streifens vom Gehweg einzuschüchtern suchen, zog mich so runter, dass ich die Gloucester Road verließ und versuchte, zur Harrison Mews zurückzufinden. Schaffte ich das? Man könnte meinen, ich wär im Raum-Zeit-Kontinuum verloren gegangen. Ich konnte nicht mal die Harrison Road finden, ganz zu schweigen von dieser verdammten Mews.

»Ich bin doch gar nicht so ...«

»Was? Durchgeknallt und fertig?«, versetzte Elektra. »Mach dir nichts vor.«

»Na, dann finde du doch den Weg. Du kannst es auch nicht, stimmt’s? Ich hätt mir lieber einen Bloodhound zulegen sollen und keinen Greyhound.«

Sie verpasste mir einen Blick voller Engelsgeduld und leisem Vorwurf, dann bog sie rechts ab, führte mich durch einen versteckten Durchgang, ein paar steinerne Stufen hoch, und plötzlich standen wir in einem winzigen, geheimen Kirchhof. Über der Kirchentür hing ein Schild: Apfelkern, Montessori-Kindergarten und Vorschule. Verstreut zwischen den uralten Grabsteinen standen Drahtkäfige mit schlappohrigen Kaninchen und ­rotblonden Meerschweinchen, die glücklich frisches Gras und Karottenstückchen mampften. Elektra und ich starrten sie verdutzt an. Dann schnüffelte sie an ein paar Käfigen, aber die Insassen zeigten keine gesteigerte Alarmbereitschaft oder auch nur Interesse. Sie erkannten ihre harmlose Natur ohne den leisesten Zweifel.

Ich rollte eine Decke aus und setzte mich hinter ein Grab. Es war still und friedlich hier, voller Ruhe, eine Insel inmitten ­eines reißenden Flusses. Ich machte es mir gemütlich, und da niemand rauskam, um mich wegzuscheuchen, öffnete ich eine Dose Hundefutter für Elektra und ließ den Inhalt in ihre rote Plastikschüssel platschen. Als sie damit fertig war, gab ich ihr etwas von dem Meerschweinchenwasser zu trinken. Wir saßen sicher und behaglich in South Kensington, und wir feierten das, indem wir uns schlafen legten.

Kapitel 5

Ich gerate ans falsche Ende eines Stiefels

Ich träumte, ich gehe auf ein Haus mit einer gelben Tür zu. Meine hübschen, hochhackigen Schuhe klappern und rutschen auf dem Kopfsteinpflaster, und ich habe Angst, dass ich hinfalle und mein Partykleid ruiniere. Es ist wichtig, tadellos auszusehen. Liebe und Erfolg warten jenseits der gelben Tür, wenn ich nur rechtzeitig ankomme.

Ich öffnete die Augen. Zwei sehr kleine Kinder in Oshkosh-Latzhosen streichelten Elektra, die sich auf den Rücken gerollt hatte, damit sie ihr den Bauch kraulen konnten. Eine junge Frau mit schimmerndem Goldhaar rüttelte an meinem Fuß und drängte: »Sie müssen jetzt gehen. Wachen Sie auf – Sie können hier nicht schlafen.« Hinter ihr standen noch mehr Kinder und starrten mich neugierig an.

»Ist sie tot?«, fragte eins von ihnen vergnügt. »Warum macht sie so komische Geräusche?«

»Ist sie ein Yeti?«

»Sie schnarcht«, sagte die Lehrerin. »Geht jetzt rein zu eurer Milch und eurem Gebäck.«

»Kann der Yeti auch Milch und Kekse kriegen?«

»Sie ist kein Yeti«, sagte die Lehrerin, »und sie geht jetzt gleich nach Hause.«

»Kann der Wauwau Milch und Kekse kriegen?«

»Geht jetzt rein«, sagte sie wieder, und ich merkte, wie sich ein Hauch von Verzweiflung in ihren Tonfall schlich, als ich mich aufsetzte und sie eifrig anlächelte.

»Etwa Schoko-Kekse?«, fragte ich.

So bekamen Elektra und ich Milch und Schokoladen­kekse, denn die Leute vom Apfelkern Montessori-Kindergarten ­waren zu lieb, um uns mit leeren Händen wegzuschicken. Sie erklärten uns sogar den Weg zur Harrison Mews. Und winkten uns zum Abschied gemeinsam zu, ein Lächeln gewaltiger Erleichterung auf den Gesichtern.

Ich bin ein schlechter Mensch. Ich habe heute Geschenke empfangen – Kaffee, Käsesandwich, Milch und Schokolade. Fremde waren freundlich zu mir. Nach alledem sollte ich doch voller Liebe sein. Aber ich werde diese gähnende Grube voll kochender Wut in meinem Inneren nicht los. In dieser Grube bin ich hungrig und durstig, oh ja, aber nicht nach Brot und Wein. Nichts als Rache kann dieses schartige Loch füllen. Ich würde zu gern Blut sehen. Meinen Hunger stillen könnte das Geräusch von ein oder zwei brechenden Knochen. Ich will Gram Attwoods Schmerz und Angst erleben. Um meine Qualen hat er sich einen Dreck geschert, aber seine werden die Arznei sein, die mich wieder heil macht.

Wenn ich diese untragbare Last aus Wut und Frust erst los bin, dann kann ich wieder frei atmen, aufrecht gehen, für Lohn arbeiten, um Feuchtigkeitscreme für mein violettes Gesicht zu kaufen und Pflegespülung für mein splissiges Haar.

»Und du bekommst ein Sofa zum Schlafen«, versprach ich Elektra, aber ich konnte ihr nicht in die Augen sehen. Sie hat keinen Sinn für das Verlangen nach Rache. Ich glaube, sie würde nie auch nur in Erwägung ziehen, Zahn an die sogenannten menschlichen Wesen zu legen, die ihr so grausam mitspielten, als die Tage ihrer Siege zu Ende gingen. Die sie wegwarfen und zu Aas erklärten. Wie mich.

»Kannst du das wirklich verzeihen?«, fragte ich sie, während wir weitergingen. »Fatalismus liegt in deiner Natur, also zählt das nicht als Tugend. Aber wenn du wirklich vergeben kannst  ... na ja, dann bist du wohl ein besseres Weibsstück als ich.«

Sie antwortete nicht, und schließlich erreichten wir das Haus mit der gelben Tür. Ich hockte mich gegenüber mit dem ­Rücken an eine Hauswand, wo ein Zweig des spirreligen Schmetterlingsflieders mich im Nacken kitzelte. Elektra setzte sich neben mich.

Zwei Minuten später zischte mir Joss ins Ohr. »Scheiße, du blöde Kuh – du kannst hier nicht schlafen. Verpiss dich, verdammt, bevor dich jemand sieht!« Er packte mit einer Hand meinen Arm, mit der anderen Elektras Halsband und schleifte uns über das Kopfsteinpflaster.

Er tat mir weh. Ich wollte gerade losbrüllen, da flog zu meiner völligen Verblüffung die gelbe Haustür auf, und Georgie kam herausgeschossen wie ein Frettchen aus einer Regenrinne. Er sprintete an uns vorbei zur Harrison Road, bog links um die Ecke und war verschwunden. Er hatte drei Plastiktüten bei sich, die beim Rennen laut schepperten.

»Was habt ihr getan?«, jaulte ich auf.

Joss ließ meinen Arm los und beugte sich über mich. »Du hast uns nicht gesehen!«, schnarrte er drohend. Um seinem Anliegen Nachdruck zu verleihen, rammte er mir mit Wucht seinen Stiefel in die Seite. Ich fühlte, wie meine Rippen brachen – durch all die Schichten von Kleidung hindurch. Dann wirbelte er herum und wollte Elektra dieselbe Lektion erteilen, aber ich bekam seinen Fuß zu fassen, und er fiel um. Elektra rannte um ihr Leben.

Er rappelte sich hoch. »Du bescheuerte, versyphte alte Kuh«, fauchte er und zielte mit seinem Stiefel direkt auf mein Gesicht.

An die nächsten paar Minuten kann ich mich nicht erinnern. Als ich die Augen wieder aufschlug, fühlte mein Kopf sich an wie eine zermanschte Melone, alle meine Zähne wackelten und mein Mund war voller Blut. Joss war weg. Elektra war weg.

Ich brauchte ganz dringend was zu trinken.

Die gelbe Tür war nur angelehnt. Ich kroch auf sie zu. In schmucken kleinen Mews-Häuschen mit gelben Türen gibt es immer einen Weinvorrat.

Auf allen vieren krabbelte ich über blondes Ahornparkett bis zu einer winzig kleinen Küche. Da stand ein Weinregal auf dem Tresen. Ich schnappte mir eine beliebige Flasche. Die Dame des Hauses gab sich mit praktischen Schraubverschlüssen nicht ab, also musste ich einen Korkenzieher aufstöbern. Das war das Einzige, wofür es sich lohnte, einen Aufstehversuch zu machen. Trotzdem übergab ich mich ganz fürchterlich in die adrette kreisrunde Küchenspüle. Dabei musste ich feststellen, dass Erbrechen mit gebrochenen Rippen extrem unbekömmlich ist. Nur mein Durst nach Rotwein bewahrte mich davor, in Ohnmacht zu fallen. Aber ich fand den Korkenzieher in einer Schublade und eine Lade tiefer auch eine Schachtel mit Aspirinbrausetabletten. Ich löste drei davon in einem großen Glas Wein auf und hätte um ein Haar alles wieder in die Spüle gespien.

Der Boden kam mir entgegen, und dankbar ließ ich mich mit Flasche und Glas darauf nieder, bis der Raum zu schwanken aufhörte und die Flasche leer war. Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich Wein aus einem Glas trank.

»Das könnte alles mir gehören«, sagte ich zu Elektra. »Ich müsste inzwischen Filialleiterin sein.« Doch Elektra antwortete nicht. Ich sah mich um. An meiner Seite klaffte gähnende ­Leere – eine Kluft aus Stille, wo sich sonst warmer Hundegeruch an mich schmiegte. Dann fiel es mir wieder ein. Sie war weggerannt, als Joss versuchte, sie zu treten. Ich hatte sie beschützt, aber sie hatte mich nicht beschützt.

»Scheiß auf sie«, dachte ich. Dann bekam sie eben kein Sofa. Ich öffnete den Kühlschrank: Weißwein, Milch und Sprudelwasser in der Tür. Oh ja! Und Päckchen mit Schinken, Käse und Räucherlachs, plus sechs kleine Gläschen Schokoladenpudding – all das Zeug, das ich immer für Gram kaufe, weil ich genau weiß, was er mag.

Ich öffnete die nächste Flasche noblen französischen Roten. Ich nahm mir einen Pudding aus dem Kühlschrank und ­einen Löffel aus der Schublade und machte mich langsam, sehr langsam auf den Weg nach oben. Wenn man nach einem harten Arbeitstag nach Hause kommt, ist das Erste, was man sich gönnt, ein kleiner Schluck Wein, und dann ein Bad. Oder vielleicht auch ein kleiner Schluck Wein im Bad. Manchmal, wenn Gram zu Hause ist, wenn er auf mich wartet, baden wir zusammen, trinken Wein und unterhalten uns bei Kerzenschein. Heute möchte ich, glaub ich, ein Bad mit ganz viel Schaum, dieses Jasminschaumbad, das Gram so gern hat. Heißes Wasser, Schaum und guter Wein sind genau das, was man braucht, wenn die Rippen schmerzen und die Zähne nicht mehr in den Mund passen wollen. Ich lasse immer den Boiler an, damit es jederzeit heißes Wasser gibt, wenn Gram und ich Lust darauf haben. Und ich habe immer Kerzen da. Kerzenlicht ist freundlich und bemäntelt die Spuren der Jahre. So kann Gram vergessen, dass ich älter bin als er.

Schwelgend liege ich im heißen Jasminwasser, lasse die Wunden des Tages heilen und warte auf meinen einzig wahren Geliebten. Den Einen und Einzigen. Sonne des Herzens. Sinn meiner Schmerzen.

*

Ich wachte auf, als ich das Geschrei hörte.

Das Wasser war nicht mehr warm. Der Schaum war vergangen. Die Flasche war leer, aber der Stummel einer Kerze flackerte noch auf dem Wannenrand. Ich versuchte mich aufzusetzen, aber mein Rücken und meine Rippen protestierten mit wütenden Krämpfen. Also schrie ich auch. Langte nach einem Handtuch, rutschte aus, plumpste zurück und knallte mit dem Kopf irgendwo gegen. Die Kerze verlosch. Eine Tür schlug zu. Dunkelheit und Stille.

Kapitel 6

Eingeliefert

Ein Mann sagte: »Ma’am, können Sie mich hören? Können Sie aufstehen? Ma’am?«

Starke Arme hoben mich hoch und wickelten mich in warmes, flauschiges Frottee.

»Gram?«, fragte ich.

»Gehirnerschütterung«, sagte die Stimme. »Pass auf, ihr Kopf blutet. Was ist mit der anderen?«

Eine Frau sagte: »Reanimation erfolglos. Ich hab’s gemeldet.«

»Polizei?«

»Ist unterwegs. Was für ein verfluchtes Blutbad, ne?«

»Und das in so ’ner beschaulichen Gegend – da sieht man’s mal wieder, niemand ist sicher.«

Meine Augenlider wogen eine Tonne. Meine Finger fühlten sich an wie Walnüsse. Ich roch nach Jasmin. Der Mann roch nach Zigaretten und Desinfektionsmittel. Das Handtuch ...

Die Frau sagte: »Können Sie uns hören, Liebes? Wie heißen Sie?«

Das Handtuch roch nach Aftershave und Eau de Cologne.

»Gram«, sagte ich. »Der Teufel.«

»Was hat sie gesagt?«

»Mit dem Mund wird sie kaum was Verständliches rausbringen, bis die Schwellung abgeklungen ist.«

»Kühlkissen?«

»Ich weiß, die Kripo will, dass wir auf sie warten, aber ich finde wirklich, wir sollten die hier einladen und losfahren.«

»Denk an den Verkehr in der Brompton Road. Es kann ’ne halbe Stunde dauern, bis wir da sind. Sie muss schleunigst in die Notaufnahme.«

»Wir bringen Sie jetzt ins Krankenhaus, Schätzchen«, sagte die Frau laut. »Da wird es Ihnen gleich besser gehen.«

»Au«, machte ich. »Au, oh, au.«

»Sachte jetzt«, sagte sie. »Das ist ja alles sehr hübsch hier – diese Mews-Häuschen sind echte Juwelen, aber versuch mal, eine verdammte Trage durch diese engen Treppenhäuser zu manövrieren, ohne damit stecken zu bleiben oder dir was zu brechen.«

Ich spürte kalte Luft auf meinem schmerzenden Gesicht und roch den Londoner Smog.

»Meine Taschen«, rief ich. »Elektra!«

»Was meint sie?«

»Ich glaube, sie will ihre Handtasche«, sagte die Frau.

Der Mann streichelte meine Hand. »Keine Sorge, die Polizei wird sich gleich darum kümmern, dass Ihr Haus sicher ist. Die passen auch auf, dass keine Geräte anbleiben.«