image

Titel

Der SCM-Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-7751-7202-8 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5507-6 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2014
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: info@scm-haenssler.de

Originally published in English under the title: Seven Men
© 2013 by Eric Metaxas
Published by Thomas Nelson, Inc. in Nashville, Tennessee.
All Rights Reserved. This Licensed Work published under license.

Um der besseren Lesbarkeit willen wurde für fremdsprachige Sonderzeichen eine deutsche
Transkription verwendet. So wird z.B. Karol Wojtyła als Karol Wojtyla wiedergegeben.

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.
Weiter wurde verwendet:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung,
© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Übersetzung: Dr. Friedemann Lux
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titelbild: siehe Bildnachweis im Anhang des Buches
Autorenfoto: © James Allen Walker
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg






Dieses Buch ist meinem Vater,
Nicholas Metaxas,
gewidmet.

Με Αγάπη

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. Kapitel | Martin Luther

2. Kapitel | William Wilberforce

3. Kapitel | Eric Liddell

4. Kapitel | Dietrich Bonhoeffer

5. Kapitel | Jackie Robinson

6. Kapitel | Papst Johannes Paul II.

7. Kapitel | Charles W. Colson

Bildteil

Anhang

Anmerkungen

Fußnoten

Danke!

Über den Autor

Bildnachweis

Vorwort

Wir brauchen Helden.
Damit meine ich Leute, die über sich und über die Gesetze des gemeinhin Machbaren hinauswachsen – und zwar zum Nutzen und Wohl der Menschheit. Solche Vorbilder an Mut und Tatkraft stacheln uns nämlich an, selbst an unsere Grenzen zu gehen, wenn die Situation es erfordert.

Die meisten antiken Heldengeschichten kommen aus dem Land, aus dem auch Eric Metaxas väterlicherseits stammt: Griechenland. Den dortigen Dichtern verdanken wir die Geschichten von Herkules, Theseus und Achill. Diese Heroen unterscheiden sich von den Helden der Christenheit allerdings in mehrfacher Hinsicht: Erstens handelte es sich um Halbgötter; zweitens verfolgten sie mit ihren Heldentaten in der Regel egoistische Ziele; drittens stiegen ihnen die eigenen Erfolgsgeschichten zu Kopf.

Zumindest die letzten zwei Merkmale weisen auch die Helden auf, die sich nicht in der mythischen Vorgeschichte, sondern in der Weltgeschichte tummeln – Menschen wie Cäsar, Friedrich Barbarossa und Napoleon. Keiner von ihnen stellte sich in den Dienst der Barmherzigkeit, und keiner von ihnen blieb der Nachwelt als demütig in Erinnerung. Sie entzogen der Menschheit mehr Energie, als sie zurückgaben.

Ganz anders verhielten sich die sieben Männer, deren leuchtenden Beispiele uns in diesem Buch vor Augen geführt werden. Ihre Antriebskraft war nicht der Applaus der Zeitgenossen; sie waren nicht berauscht von der Illusion der eigenen Bedeutsamkeit. Sie sahen sich als geliebte Geschöpfe Gottes, die sich selbst aus Dankbarkeit und Notwendigkeit weiterverschenkten – an Schwache und Ausgegrenzte.

Die »glorreichen Sieben«, deren Biografien auf den folgenden Seiten präsentiert werden, stellen einen bunten Mix dar, genau wie die Christenheit überhaupt: ein Pole und je zwei Deutsche, Briten und Amerikaner. Dass diese Avantgarde des Guten rein männlich ist, liegt natürlich nicht daran, dass es an tapferen Christinnen fehlen würde. Man denke nur an Sophie Scholl oder Corrie ten Boom. Umgekehrt ist es vielmehr so, dass heutzutage ein Mangel an prominenten Kerlen mit Vorbildcharakter besteht. Sonst würden nicht immer mehr Halbwüchsige bei tätowierten und goldkettchenbehangenen Hip-Hop-Performern in die Lebensschule gehen.

Die Herren Bonhoeffer, Colson, Liddell, Luther, Robinson, Wilberforce und Wojtyla stellen die Alternative dar: lauter Vollblut-Typen, die ihr Testosteron auf karitative und kreative Art kanalisierten, die Freiräume schufen und dabei selbst Ausgrenzung erfuhren. Die Biografien dienen längst nicht nur als pädagogisch wertvoller Anschauungsunterricht, sondern sind dichter und spannender als jeder historische Thriller.

Ich wünsche viel Vergnügen und jede Menge heilige Inspiration mit dem Panorama wuchtiger Fronteinsätze, das der geniale Erzähler Eric Metaxas auf den folgenden Seiten ausbreitet.

Auf in den Kampf.

Dr. Markus Spieker
Berlin im Mai 2014

Einleitung

Die meisten Leser werden mir wohl zustimmen, wenn ich behaupte, dass in unserer Gesellschaft die Männlichkeit in den letzten Jahrzehnten unter die Räuber gefallen ist. Das vorliegende Buch möchte dies ein kleines Stück weit wiedergutmachen, indem es zwei zentrale Fragen stellt und beantwortet. Erstens: Was ist ein Mann? Und zweitens: Wodurch wird ein Mann groß?

Verzeihen Sie mir bitte, wenn ich mit dem Western-Schauspieler John Wayne beginne. Er gehört nicht zu den sieben Männern in diesem Buch, aber für viele aus meiner Generation war (und ist) er so etwas wie ein Sinnbild der Männlichkeit. Warum? Weil er ein Haudegen war und sich für einen tollen Hecht hielt? Weil er groß und stark war und die meisten Männer das auch gerne wären? Nun, all das spielt sicher eine Rolle, aber ich glaube, das Entscheidende war, dass er meist Rollen spielte, in denen er mit seiner Größe und Kraft die Schwachen beschützte. Er gehörte zu den Guten. Er war stark und hart, aber nie gemein. John Wayne auf der Leinwand zu erleben, zeigte Generationen von Männern (und Frauen) mehr darüber, was einen Mann groß macht, als endlose Diskussionen über das Thema. Manchmal sagt ein Bild wirklich mehr als tausend Worte. Und unsere Reaktion auf John Wayne ist ein Schlüssel zum Geheimnis der Größe der Männer in diesem Buch.

Dies ist kein Buch, das über Männlichkeit philosophiert (zumindest nicht nach dieser Einleitung, die Sie auch übergehen können, aber warum sollten Sie, wenn Sie bis hierhin gelesen haben?), sondern das sie im wirklichen Leben großer Männer demonstriert. Man kann den ganzen Tag lang über Richtig und Falsch und Gut und Böse reden, aber irgendwann muss man es in Aktion erleben. Die beste Methode, anderen zu zeigen, welches Verhalten gut und welches schlecht ist, ist das Studium des realen Lebens realer Menschen. Wir brauchen Helden. Wir brauchen Vorbilder.

Mein persönliches größtes Vorbild ist Jesus – und vielleicht haben auch Sie schon gemerkt, dass er nicht nur Worte machte. Er sagte natürlich die erstaunlichsten Dinge, aber er lebte auch drei Jahre lang mit seinen Jüngern zusammen. Sie sahen, wie er aß und schlief und Wunder tat. Sie sahen, wie er lebte und litt und starb. Sie sahen, wie er mit den Menschen umging (sie selbst einbegriffen).

Er lebte unter ihnen – seine wichtigste Methode, sich den Männern mitzuteilen, die ihn später der Welt mitteilten. So »machte« er Jünger, die dann später selbst Jünger »machten«. Wer die Evangelien liest, bekommt eine Vorstellung davon, dass das Leben eines Menschen mindestens genauso wichtig ist wie seine Worte. Predigten können packend sein, aber das Leben so manches Predigers kann mich noch stärker packen. Die Art, wie ich lebe, teilt meinen Mitmenschen etwas mit. Sie ist ein Anschauungsunterricht im Leben.

Vorbilder waren in der Geschichte der Menschheit bis vor Kurzem immer wichtig. Die alten Griechen hatten Plutarchs Große Griechen und Römer, und im 16. Jahrhundert gab es Foxe’s Book of Martyrs. Diese und ähnliche Bücher vermittelten die Botschaft, dass das Leben der porträtierten Personen groß und nachahmenswert sei. Viele Jahrhunderte lang hat das Studium von Vorbildern und Helden der nächsten Generation gezeigt, welchen Weg sie einschlagen sollte.

Das ist einer der Hauptgründe für die großen Biografien, die ich über William Wilberforce und Dietrich Bonhoeffer verfasste. Übrigens – eines der letzten Bücher, die Bonhoeffer vor seinem Tod las, waren die »Großen Männer« von Plutarch.

Doch, wie vorhin schon erwähnt, hat sich unsere Einstellung zu Helden und Vorbildern in den letzten Jahren verändert. Warum ist das so? Wie kam es dazu?

Die antiautoritäre Welle

Teilweise lässt sich die Frage dadurch beantworten, dass seit der Generation der 1968er in großen Teilen unserer Gesellschaft das Denken herrscht, dass niemand wirklich sagen könne, was »gut« und »böse« ist. Wir zögern, irgendjemanden als »Vorbild« zu bezeichnen. Der Satz »Darüber kann ich mir kein Urteil erlauben« ist geradezu ein Mantra unserer Zeit geworden.

Dass es dazu kam, hat (vor allem in den USA) mit dem Vietnamkrieg und Watergate (vgl. S. 205) zu tun; beide haben zweifellos den Trend zum Hinterfragen der »offiziellen Version«, ja unserer Politiker und Autoritäten überhaupt beschleunigt. Vor Vietnam hatten die Amerikaner so ziemlich alle eigenen Kriege als »gerecht« betrachtet, und die überwältigende kulturelle Botschaft lautete, ein patriotischer Amerikaner habe seine Pflicht zu tun und sein Land und dessen Freiheiten zu verteidigen, wo immer nötig. Mit Vietnam wurde all das anders. Und mit Watergate, als die Amerikaner – vor allem dank der Tonbandmitschnitte der Gespräche im Weißen Haus – es zum ersten Mal in der Geschichte erlebten, wie ein US-Präsident sich nicht wie ein Präsident, sondern unanständig, bestechlich und schändlich verhielt und Ausdrücke benutzte, die der Normalbürger seinen Kindern verbot.

Und so kam die Autorität dieses Präsidenten, Richard Nixon, auf den Prüfstand. Zu Recht. Das Problem ist nur, dass wir seitdem keinem unserer Prominenten mehr vertrauen und dazu neigen, bei berühmten Menschen vor allem das Negative zu sehen und zu suchen. Ein Fernsehevangelist kann noch so viel Gutes und Richtiges sagen – ein einziger falscher Satz, und alle Welt stürzt sich auf ihn. Es ist kein heldenfreundliches Klima.

Aber mehr noch: Unsere Gesellschaft wendet dieses Suchen nach dem Negativen nicht mehr nur auf die heutige Prominenz an, sondern auch auf die vergangene. So ist zum Beispiel George Washington in vielen Köpfen nicht mehr der heldenhafte »Vater Amerikas«, sondern ein reicher Grundbesitzer, der sich die Frechheit erlaubte, Sklaven zu halten. Viele Amerikaner haben die ungeheuren Opfer, die er brachte und für die sie ewig dankbar sein sollten, schier vergessen. Dergleichen ist nicht nur eine Schande, sondern ein schwerer Schaden für unser Land. Oder nehmen wir Christoph Kolumbus: Für viele ist er nicht mehr ein tapferer Visionär, der unter vollem Einsatz die Neue Welt entdeckte, sondern ein schäbiger Völkermörder. Sicher sollten wir niemals Menschen kritiklos vergöttern, doch das andere Extrem – das Schlechtmachen von Persönlichkeiten, die Großes und Gutes geleistet haben – ist genauso schädlich.

Die ganze Vorstellung rechtmäßiger Autorität ist in der westlichen Kultur in Misskredit geraten. Aus meiner Kindheit in den 1970er-Jahren kenne ich Aufkleber mit dem Spruch Question Authority (»Prüfe jede Autorität«). Was nicht nur bedeutete, dass man (was ja gut und richtig ist) prüfen sollte, ob eine Autorität rechtmäßig war, sondern sehr viel weiter ging; der Gedanke der Autorität an sich wurde infrage gestellt. Unsere Gesellschaft ist vom einen Extrem ins andere gefallen: von der unkritischen Bejahung jeder Autorität in ihre ebenso unkritische Verneinung, von der Naivität in den Zynismus. Die goldene Mitte (also das Prüfen jeder Autorität darauf, ob sie rechtmäßig ist), kam dabei unter die Räder. Wir benehmen uns wie eine Frau, die von einem Mann so enttäuscht und verletzt worden ist, dass sie hinfort keinem einzigen Mann mehr traut. Anstatt nach Menschen zu suchen, die unser Vertrauen verdienen, haben wir die Vertrauenswürdigkeit schlechthin abgeschafft; alles und jeder ist verdächtig.

Dies ist eine denkbar schlechte Situation, und in unserer Kultur zahlen wir einen hohen Preis für sie. Wie gesagt, wir brauchen Helden und Vorbilder. Wer die Bibel ernst nimmt, glaubt, dass die Menschheit gefallen ist und dass niemand außer Jesus vollkommen ist. Aber er glaubt auch, dass Menschen mit ihrem konkreten Leben eher ein gutes oder ein schlechtes Beispiel abgeben können. Ist es wirklich realistisch, anzunehmen, dass es keine Lebensläufe gibt, die eher nachahmenswert sind – oder abschreckend? Wollen wir im Ernst behaupten, dass es für uns (oder für unsere Kinder) egal ist, ob jemand mit seinem eigenen Leben Mutter Teresa und Dietrich Bonhoeffer nacheifert oder aber Hitler und Stalin?

Vor Kurzem schaute ich mir eine Wiederholungssendung der alten Westernserie The Rifleman (deutsch: »Westlich von Santa Fé«) an, mit Chuck Connors in der Hauptrolle. Die Serie lief 1958–1963 und wurde vor allem von Jungen gesehen. Mich faszinierte die Darstellung echter Männlichkeit, ein guter, ja heldenhafter und tapferer Mann zu sein. Und wie sich solch ein Mann von einem Feigling oder Rabauken unterscheidet.

Eine Gesellschaft, die junge Männer hervorbringen will, die das Rechte tun, braucht solche Rollenbilder. Aber was für Vorbilder bekommen unsere jungen Leute heute im Fernsehen präsentiert? Der gute Held – das war einmal …

Dies ist ein Buch für jedermann (und jedefrau), aber als ich es schrieb, habe ich vor allem an die jungen Männer in unserer Gesellschaft gedacht, die so dringend Vorbilder brauchen. Wenn wir ihnen niemanden aus unserer Geschichte und Kultur als Vorbild präsentieren, dem nachzueifern sich lohnt, werden sie halt irgendjemand anderem nacheifern.

Jugendliche, die ihre Freizeit mit Videospielen und Gewalt auf dem Bildschirm verbringen, werden nicht leicht zu den Männern, die sie eigentlich werden sollten. Sie werden ohne Fundament aufwachsen und die große Aufgabe, zu der sie in die Welt gekommen sind – nämlich Helden und »groß« zu werden –, verpassen. Wie tragisch: Generationen junger Männer, die nicht begreifen, wer sie sind oder wie sie mit Frauen umgehen sollen, und die auf ihrem Lebensweg sich selbst (und wahrscheinlich etliche Frauen) tief verletzen werden. Es ist unerlässlich, dass wir ihnen zeigen, wie Gott sie gemeint hat und was ein echter Held ist. Die Männer in diesem Buch gehören zu meinen persönlichen Helden. Ich freue mich, sie meinen Lesern vorstellen zu dürfen, und hoffe, dass sie viele junge Männer zur Nachahmung anspornen werden.

Vater war der Beste

Ich habe vorhin gesagt, dass in unserer Zeit die Männlichkeit unter die Räuber gefallen ist. Dies ist eine Folge der antiautoritären Welle. Traditionell galt der Vater als Familienoberhaupt. Eine Gesellschaft, die Autorität demontiert, demontiert den Vater mit, und in der Tat: Die vergangenen vier Jahrzehnte erlebten einen dramatischen Niedergang des Vaterbildes.

Eine der beliebtesten Radio- und Fernsehserien der 1950er-Jahre war Father Knows Best (»Vater ist der Beste«), ein liebevolles Porträt einer typisch amerikanischen Mittelklassefamilie. Der Vater (gespielt von Robert Young) war die unangefochtene Autoritätsperson, ohne dabei hart oder tyrannisch zu werden. Er strahlte eine stille Souveränität aus. Er war so freundlich, weise und großzügig, dass man sich unwillkürlich wünschte, der eigene Vater wäre auch so. Und heute? Präsentieren uns die Mainstream-Medien Väter entweder als gesichtslose Nieten oder als pompöse Trottel.

Väterlichkeit ist einer der Schlüssel zum Geheimnis des großen Mannes. Doch ein Mann braucht nicht buchstäblich ein Vater zu sein, um die Eigenschaften eines guten Vaters zu besitzen. Zwei der in diesem Buch porträtierten Männer – Dietrich Bonhoeffer und Johannes Paul II. – haben in ihrem Leben nie geheiratet oder Kinder gehabt. Und das Wort »Papst« kommt von dem lateinischen papa – »Vater«. Vatersein ist nicht in erster Linie biologisch. Wenn wir an unseren himmlischen Vater denken (Gott), dann denken wir an jemanden, der stark und voller Liebe ist und sich für die, die er liebt, opfert. Das ist echte Väterlichkeit und echte Männlichkeit.

Wer ist ein Mann?

In einer Welt, in der Autorität in Misskredit geraten ist und Leiter und vor allem Väter als verdächtig gelten, ist für Helden herzlich wenig Platz, ja, es bestehen nur noch konfuse Vorstellungen von Männlichkeit. Anstelle echter Männlichkeit, wie Gott, der Schöpfer, sie sich gedacht hat, finden wir heute zwei Zerrbilder von Männlichkeit.

Das erste Zerrbild ist der Macho – der eitle Kraftprotz, der seine Kraft nur dazu benutzt, anzugeben und die Schwächeren zu tyrannisieren. Offensichtlich hat Gott sich unter einem echten Mann etwas anderes vorgestellt. Der Macho ist der Mann, dessen Gefühlsleben nicht erwachsen geworden ist; hinter der Fassade des harten Kerls steckt ein egoistischer kleiner Junge voller Angst.

Das zweite Zerrbild ist der Softie – der Mann, der seine Männlichkeit prinzipiell leugnet und so tut, als gäbe es keine wirklichen Unterschiede zwischen Mann und Frau. Starksein ist für den Softie nichts Erstrebenswertes; denn was bringt es denn?

Gottes Definition von Männlichkeit ist völlig anders. Sie hat weder mit dem Macho noch mit dem Softie etwas zu tun. Die Bibel sagt, dass Gott uns nach seinem Bilde erschaffen hat, als Mann und als Frau. Die Bibel feiert Mannsein und Frausein – und die Unterschiede zwischen ihnen, die sich Gott persönlich ausgedacht hat. Unter anderem sagt die Bibel – an einer berühmten beziehungsweise berüchtigten Stelle –, dass Männer in der Regel stärker sind als Frauen, die sie in 1. Petrus 3,7 als das »schwächere Geschlecht« nennt. Aber warum hat Gott die Männer stärker erschaffen? Damit sie Frauen, Kinder und andere beschützen können, und schon darin liegt ein Stückchen Heldentum. Männliche Stärke ist eine Gabe Gottes, die wie alle Gottesgaben zum Besten der Mitmenschen eingesetzt werden sollte. In 1. Mose 12,1-3 verspricht Gott Abraham, er werde ihn segnen, damit er seinerseits anderen zum Segen werden kann. Alle Segnungen und Gaben (und auch körperliche Kraft ist eine Gabe) sind Gottes Gaben, die wir in seinem Sinne, zum Wohl unserer Mitmenschen einsetzen sollen. Männer haben ihre Kraft dazu einzusetzen, die Schwächeren (ob dies nun andere Männer sind oder Frauen und Kinder) zu beschützen. Echte Kraft ist immer Kraft, die sich in Gottes Dienst nehmen lässt.

Doch in unserer Zeit erleben wir die Verteufelung männlicher Kraft. Weil es Männer gab, die ihre Kraft egoistisch missbrauchten, haben manche Kreise die Männlichkeit an sich verteufelt. Wer dieser Ideologie aufsitzt, kommt zu dem Ergebnis, die einzig richtige Methode, mit Männlichkeit umzugehen, bestehe darin, die Männer zu schwächen; denn wenn sie stark wären, würden sie den anderen ja bloß Schaden zufügen. Kraft wird böse geredet, weil sie missbraucht werden kann, und auf diese Weise sind wir in einer Kultur gelandet, die glaubt, dass sie die Starken bekämpfen muss, um die Schwachen zu beschützen. In einer solchen Kultur ist kein Platz mehr für Helden; sie vergisst den eigentlichen Sinn von Kraft und Macht. Es ist eine Welt, in der es keine Männer mehr gibt, sondern nur noch zwei Arten kleiner Jungen: hier die großmäuligen Machos, dort die emotional kastrierten Softies. Es ist eine Welt, in der Frauen vor allem selbstbewusst sein müssen und sich ja nie auf die Männer verlassen dürfen. Es ist eine quasi sozialistische »Umverteilung« von Macht: Man nehme sie den Männern weg und gebe sie den Frauen, damit es endlich gerecht zugeht … Natürlich geht die Rechnung nicht auf. Schlussendlich werden alle zum Verlierer.

Der edle Ritter, der die Schwächeren beschützt, und der Gentleman, der der Dame die Tür öffnet oder seinen Sitzplatz anbietet – so sehen christliche Männlichkeitsideale aus. Jesus sagte, der beste Führer ist ein guter Diener, der sich mit Herzblut für seine Untergebenen einsetzt. Der gute Hirte gibt sein Leben für die Schafe. Jesus wusch die Füße seiner Jünger, er starb für die, die er liebte. So stellt Gott sich Menschen vor, die führen, die stark sind, die ein Segen für ihre Umgebung sind. Gottes Definition von Männlichkeit und Kraft führt uns zum Bild des Ritters und Gentlemans, und nicht zu dem des rücksichtslosen Rüpels oder des konturlosen Pseudomannes, der nicht mehr weiß, was ihn von einer Frau unterscheidet.

Es gibt noch Ritter und Helden

Im vergangenen Sommer wurden in einem Kino in den USA zwölf Menschen, die in eine Mitternachtsvorstellung des neuesten Batman-Films gegangen waren, von einem bewaffneten Verrückten, der plötzlich um sich schoss, ermordet. Am stärksten beeindruckte mich an dem Vorfall, dass sich unter den Toten drei junge Männer befanden, die versucht hatten, ihre Freundinnen vor den Kugeln zu schützen. Irgendetwas hatte sie dazu bewegt, ihr Leben für eine junge Frau einzusetzen. Warum machten sie das, und was sagt uns das über echte Männlichkeit?

Der Mörder ist das perfekte Bild des Bösen, des Gegenteils von Liebe. Er benutzt seine Macht (hier eine Pistole) dazu, anderen zu schaden, ja sie zu töten. Die drei jungen Männer hingegen sind ein Abbild der Macht der Liebe, das Gegenteil des Bösen. Diese Männer gebrauchten ihre Macht dazu, ihre Freundinnen zu beschützen. Im Täter tritt uns ein Egoist übelster Sorte entgegen, für den seine Mitmenschen keinen Wert zu haben scheinen und der sich entsprechend verhält. In seinen Opfern treten uns drei Männer entgegen, die absolut selbstlos handelten. Warum? Welchem Instinkt folgten sie?

Die Geschichten in diesem Buch sind Geschichten von Männern, die diesen zweiten Weg gingen. Männer, die darum wussten, dass Selbstlosigkeit einen Mann auszeichnet – und die Entscheidung, seine größten Stärken Gott zur Verfügung zu stellen; ja, dass es manchmal an der Zeit ist, etwas von sich im Dienst für den Mitmenschen oder für ein höheres Ziel einzusetzen.

Männer mit Herz gesucht

Wir behaupten, dass nicht nur John Wayne und andere Kinohelden, sondern auch Alltagshelden mutig sind. Ein anderes Wort für »mutig« ist »beherzt«. Der Mutige ist jemand, der ein festes Herz hat. Ein festes Herz – das ist Gottes Definition von »Kraft«. Der innerlich starke Mann ist der Mann, der ein festes, rechtes, gutes Herz hat. Das Herz eines Löwen sozusagen.

Sie haben es vielleicht schon beobachtet: Für den pseudomännlichen Macho ist »Herz« etwas Schwächliches, Weiches. Er versteht nicht, was es heißt, beherzt zu sein. Er verortet Männlichkeit anatomisch allein im Unterleib, und seine Heldentaten sind nur noch sexueller Natur. Während der echte Held einem Löwen gleicht, ähnelt der pseudopotente Sexprotz eher einem Affen oder Ziegenbock.

Das erste Kapitel seines Buches »Die Abschaffung des Menschen« betitelte C. S. Lewis Men Without Chests (»Menschen ohne Brust«). Lewis wusste darum, dass echten Männern (und Frauen) ein starkes, großes Herz in der Brust schlägt. Was Gott unter echter Männlichkeit versteht, begreifen wir erst dann, wenn wir sehen, dass es ihm um das Herz geht und nicht um sexuelle Großtaten.

Ein echter Mann ist ein beherzter Mann; ein Mann mit Mut. Doch Mut zu was? Mut, das Rechte zu tun, wenn alle Stimmen um mich herum mir einreden wollen: »Pass dich doch einfach an.« Mut, sich über die Umstände und scheinbaren Sachzwänge zu erheben. Mut, der Mann zu sein, den Gott sich vorstellt, und sich für andere einzubringen und hinzugeben, auch wenn mich das etwas kostet und alles dafür zu sprechen scheint, als Erstes an mich selbst zu denken.

Warum diese sieben Männer?

Der Leser dieses Buches wird sich unwillkürlich fragen, warum ich über genau diese sieben Männer schreibe, und nicht über andere. Meine Auswahl ist natürlich kein Gesetz der Meder und Perser. Es ist eine zum Großteil subjektive Wahl. Es gibt noch viele andere große Männer, die ich ebenfalls gerne in dieses Buch aufgenommen hätte und über die ich hoffentlich später noch werde schreiben können. Aber für dieses erste Buch suchte ich sieben Männer, die alle etwas gemeinsam hatten: Um eines höheren Zieles willen verzichteten sie auf etwas, das sie hätten behalten oder bekommen können. Diese Eigenschaft ist edel und bewundernswert; sie erfordert Mut und meist auch Glauben. Alle Männer in diesem Buch besitzen diese Qualität. Lassen Sie mich es kurz erklären.

Martin Luther (1483–1546) gab die Sicherheit auf, mit dem kirchlichen Strom seiner Zeit zu schwimmen. Er hätte eine vergleichsweise geruhsame Karriere im Kloster und an der Universität machen können, zu einer Zeit, als der Mönchsstand ein hohes Prestige genoss. Er hätte ein reibungsfreies Verhältnis zu den kirchlichen und weltlichen Autoritäten seiner Zeit pflegen können. Doch die Wahrheit, die er über Gott, die Bibel und die Kirche erkannt hatte, ließ ihn nicht mehr los. Er riskierte den sicheren Zusammenstoß mit der mächtigen kirchlichen Hierarchie, ja den Tod auf dem Scheiterhaufen, um ein Zeuge der Wahrheit zu sein und das zu sagen, was er vor Gott und seinem Gewissen laut sagen musste und nicht verschweigen durfte. Er machte den Mund auf, wenn, mit den Augen des Verstandes betrachtet, Schweigen klüger gewesen wäre. Aber er wusste: Mit Schweigen hätte er sich schuldig gemacht. Er tauschte eine behagliche Gelehrtenkarriere mit der Arena des öffentlichen Kampfes – und stieß so eine der größten Revolutionen in der Geschichte der Christenheit und Europas, ja der Welt an.

William Wilberforce (1759–1833) verzichtete auf die Chance, englischer Premierminister zu werden. Viele haben kommentiert, dass er »Prinzipien über die Partei« setzte. Doch warum tat er das? Weil es etwas gab, was für ihn noch viel wichtiger war, als der Führer des größten Weltreiches der damaligen Zeit zu werden. Er widmete sein Leben der Sache der schwarzen Sklaven – Menschen, die ihm seinen Einsatz nicht entlohnen konnten. Doch er wusste: Gott hatte für ihn ein noch weitaus größeres Opfer gebracht, und so setzte er sich eben für Menschen ein, die er nie kennenlernen würde – und für Gott.

So entscheidend für Luther die Entdeckung von Gottes Gnade war, wurde für Wilberforce seine Hinkehr zum christlichen Glauben bedeutsam. Sie eröffnete ihm schlagartig eine neue Sichtweise. Plötzlich erkannte er, dass alles, was er besaß – Reichtum, Macht, Einfluss, Beziehungen, Intelligenz und sein rhetorisches Talent –, ja eine Gabe Gottes war. Eine Gabe, die er für andere einsetzen musste. Er wusste plötzlich, warum er auf der Welt war: um alles, was Gott ihm da gegeben hatte, einzusetzen, um das Leben seiner Mitmenschen besser und schöner zu machen. Indem er fünf Jahrzehnte lang konsequent danach handelte, wurde er einer der wichtigsten Menschen, die je auf diesem Planeten gelebt haben. Er veränderte die Welt auf eine Art und Weise, wie es keiner seiner Zeitgenossen für möglich gehalten hätte.

Der Film Chariots of Fire (deutscher Titel: Die Stunde des Siegers) erzählt die Geschichte von Eric Liddell (1902–1945), der bewusst auf die Beifallsstürme von Millionen verzichtete, um den Sabbat zu halten und Gott zu ehren. Dies führte zu einer der bemerkenswertesten Episoden in der Geschichte des modernen Sports – und sie bestand nicht in einer sportlichen Großtat, sondern im Verzicht auf eine solche. Es war die historische Entscheidung eines tiefgläubigen jungen Christen, auf das zu verzichten, was in den Augen der gesamten Welt als das Logischste erschien, ja, was er verdient hatte: die Chance, olympisches Gold in seiner stärksten Disziplin zu gewinnen. Aber für Liddell kam Gott zuerst, und so verzichtete er auf seine beste Goldmedaillenchance. Doch das ist erst die erste Hälfte seiner Geschichte, wie Sie noch sehen werden.

Als Nächstes folgt der brillante und heldenhafte deutsche Pastor und Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906–1945). Bonhoeffer bot dem nationalsozialistischen Regime mutig die Stirn und setzte mehrfach seine Freiheit und Sicherheit aufs Spiel, um für Gott und die Wahrheit zu kämpfen – nicht zuletzt im Sommer 1939, kurz vor Kriegsausbruch, als er die schicksalhafte Entscheidung traf, aus den USA nach Deutschland zurückzukehren, weil er spürte, dies sei Gottes Wille. Zuletzt opferte er sein Leben. Seine Opferbereitschaft ist zahllosen Menschen in Tausenden von Situationen Vorbild und Ansporn gewesen, das Rechte zu tun, und seine Geschichte wirkt heute noch nach.

Jackie Robinson (1919–1972) machte Geschichte, als er die sogenannte Rassenschranke im amerikanischen Profi-Baseball durchbrach. Doch dazu musste er Verzicht üben, wie ihn nur sehr wenige Männer durchgehalten hätten; er musste auf sein Recht verzichten, sich zu wehren – gegen rassistische Attacken, die an Gehässigkeit beinahe beispiellos waren. Es muss ihn übermenschliche Anstrengung gekostet haben, doch er schaffte es – weil er Gott vertraute und an die unzähligen Menschen dachte, denen er mit seiner Entscheidung den Weg bahnte. Er brachte große Opfer für Menschen, die er nie kennenlernen sollte. Er dachte an seine Frau und Kinder, aber auch an all die anderen, Fremden, die von seinem Entschluss, mutig das Rechte zu tun, profitieren würden. Sein Mut kostete ihn viel – und brachte ihn in dieses Buch.

Karol Wojtyla (1920–2005) – den meisten besser als Papst Johannes Paul II. bekannt – stellte sein Leben in den Dienst für Gott, wie es viele immer noch für besonders typisch halten: Er beschloss, ihm als Priester zu dienen. Danach wurde er Bischof, Erzbischof, Kardinal und schließlich Papst. Aber er war kein ehrgeiziger Mann und überhaupt nicht machthungrig. Er gab sein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben auf, ja sein Recht auf die eigene Würde. In seinem Alter trat er couragiert weiter vor die Welt, obwohl er durch die parkinsonsche Krankheit gezeichnet war.F1 So demonstrierte er mit seinem eigenen Leben, was er mit seinen Worten bekannt hatte – dass jeder Mensch in Gottes Augen heilig ist. Auch als Schwache und Kranke – ja gerade dann! – sind wir geliebte Geschöpfe Gottes. Johannes Paul II. war ein Beispiel für konsequenten Heldenmut, ein Mann, der lebte, was er predigte.

Der einzige Mann in diesem Buch, den ich persönlich kennenlernen durfte, ist Charles Colson (1931–2012). Lange Zeit gehörte er nicht zu den Persönlichkeiten, die in einem Buch wie diesem auf keinen Fall fehlen durften. Er war ungeheuer ehrgeizig und machtversessen – und er wurde auch mächtig und brachte es bis zum Chefberater von US-Präsident Richard Nixon. Es war eine schwindelerregende Karriere für einen Mann, der noch keine vierzig war, und sie endete mit einem tiefen Fall. Doch als Colson im Laufe der Watergate-Affäre seine Macht verlor, fand er stattdessen den eigentlichen Sinn seines Lebens, ja des Lebens überhaupt, und als ihm das Gefängnis drohte, ließ er sich davon nicht unterkriegen. Sein Glaube war so stark, dass er wusste, was er zu tun hatte: Gott so bedingungslos vertrauen, dass es für den Rest der Welt nach Verrücktheit aussah. Tatsächlich sah es verrückt aus. Aber was die anderen dachten, war Colson mittlerweile egal. Für ihn zählte nur noch Gottes Meinung, und so schlug er einen gerichtlichen Deal aus, der ihm das Leben um einiges leichter gemacht hätte, legte ein Geständnis ab, das er nicht hätte ablegen müssen – und kam ins Gefängnis. Er hatte begriffen: Wirklich frei ist nur derjenige, der alles in Gottes Hand legt. Und so wurde Charles Colson zu einem Vorbild echter Größe für uns alle.

Appetitmacher

Wenn Sie mich fragen, dann gehören die sieben Männer in diesem Buch zu den größten Männern, die je gelebt haben, und ihre Geschichten zu lesen, wird Ihr Leben unendlich bereichern. Es ist mein sehnlicher Wunsch, dass diese Kurzbiografien Ihnen Appetit darauf machen, längere Biografien dieser Männer zu lesen. Ich hoffe, dass Sie anfangen, ihr Leben zu studieren, ja ihnen nachzueifern. Es ist mein Gebet, dass alle, die dieses Buch lesen, sich von ihm anspornen lassen, selbst echte Helden zu werden – große Männer (oder Frauen) in ihrer eigenen Generation.

In welcher Reihenfolge Sie die Geschichten der sieben Männer in diesem Buch lesen, ist egal. Sie können das Buch von vorne bis hinten durchlesen oder irgendwo in der Mitte einsteigen. Die Kapitel können für sich gelesen werden oder zusammen mit den anderen.

Eric Metaxas
New York City im Mai 2014

i 1. Kapitel

Martin Luther

1483–1546

Meine Mutter wuchs als evangelische Christin in Deutschland auf. Mein ganzes Leben lang hörte ich von Martin Luther – und wusste doch sehr wenig über ihn. Mir war bekannt, dass er Sinn für Humor hatte und viele derbe Aussprüche auf ihn zurückgehen. In unserer Wohnung steht ein vergoldeter Becher mit Luthers Konterfei und dem Spruch: »Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang.«1 Ich kannte Luthers bulliges Gesicht durch das berühmte Porträt von Lucas Cranach und wusste, dass die »Lutheraner« nach ihm benannt waren.

Aber das war auch schon fast alles, und bis zu den Recherchen für mein Buch über Dietrich Bonhoeffer, der stark von Luther geprägt war, war mir nicht klar, was ich da alles verpasst hatte. Falls Sie noch nicht viel über diesen großen Reformator wissen, hoffe ich, dass dieses Kapitel Ihnen helfen wird. Und falls Sie schon viel wissen, hoffe ich, dass Sie ein paar neue Entdeckungen machen.

Ich schreibe diese Zeilen zu einer Zeit, in der das große Reformationsjubiläum seine Schatten vorauswirft. 2017 sind fünfhundert Jahre seit jenem historischen 31. Oktober vergangen, an dem Luther seine 95 Thesen veröffentlichte und an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg angeschlagen haben soll.F2 Es wird als Geburtstag der Reformation erinnert und gefeiert. Kein Wunder, dass Luther zurzeit bei vielen große Aufmerksamkeit weckt, was nicht ohne geschäftstüchtige Auswüchse bleibt. Luther-Produkte sind in. Vor Kurzem schickte mir ein Freund ein Paar Socken, auf denen die vielleicht berühmtesten Worte gestickt waren, die auf Luther zurückgehen sollen: »Hier stehe ich.«

Ich weiß nicht, ob Sie sich jetzt laut lachend auf die Schenkel klopfen oder aber dieses Buch am liebsten in die Ecke legen würden. Ich selbst musste (nun ja, ein bisschen) kichern. Aber das Kichern vergeht mir sofort, wenn ich bedenke, wie wenig Menschen heute wirklich wissen, wer Luther war.

Wenn Sie in den USA den Namen »Luther« erwähnen, denken viele als Erstes an Martin Luther King, das große Idol der Bürgerrechtsbewegung, der weder Deutscher noch Lutheraner noch ein Mönch des sechzehnten Jahrhunderts war. Viele Menschen haben vergessen, wer Luther wirklich war, so wie sie auch William Wilberforce vergessen haben oder nur oberflächliches Halbwissen über Dietrich Bonhoeffer haben. Sie haben vergessen (falls sie es denn überhaupt je gewusst haben), was dieser Mönch mit den tiefgründigen Augen2 in nur fünfzehn Jahren angestoßen hat: Seine Taten und Worte brachten einen Stein ins Rollen, der schließlich die fünfzehn Jahrhunderte alte christliche Kirche auseinanderriss, was zu den beiden Strömungen führte, die wir heute als »katholisch« und »evangelisch« bezeichnen.

Luther wurde so etwas wie ein Star des sechzehnten Jahrhunderts, und ähnlich wie die heutigen Stars schockierte er seine Zeitgenossen manchmal durch das, was er tat oder sagte, etwa über den Zustand seiner Kirche. Und noch heute, im einundzwanzigsten Jahrhundert, wären viele schockiert, wenn sie hörten, ein Priester habe eine ehemalige Nonne geheiratet. Können wir uns vorstellen, was für ein Skandal es vor fünfhundert Jahren gewesen sein muss, als Luther Katharina von Bora ehelichte, eine Nonne, die kurz zuvor den Nonnenhabit und ihr lebenslanges Gelübde abgelegt hatte?

Können wir uns vorstellen, wie sich die Kirchenführer des sechzehnten Jahrhunderts fühlten, als ein aufmüpfiger Mönch, der an der Universität Wittenberg lehrte, sie öffentlich angriff und wüst beleidigte? Seinen Widersacher, Dr. Eck, betitelte er mit »Dr. Sau« oder »Das Schwein aus Ingolstadt«.3 Den Reformationsgegner, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, bezeichnete er nicht nur als dummen »Hans Worst« (Hanswurst),4 sondern für ihn war er auch der »grobe Filtz, Rultz und Tölpel, der Esel aller Esel zu Wolfenbüttel«5. Und das war noch vergleichsweise harmlos. Es sollte noch heftiger kommen.

So stellte Luther eine fünfzehn Jahrhunderte alte Tradition auf den Kopf und erzürnte seine Kirchenoberen, als er das Alte und Neue Testament in das Deutsch seiner Zeit übersetzte, damit auch die einfachen Leute, die nicht des Lateinischen mächtig waren, sie lesen und darüber ins Gespräch kommen könnten. So etwas galt damals als hochgefährlich, denn der normale Bürger, so hieß es in der Kirche, wusste doch gar nicht, wie man die Bibel richtig las; was, wenn er sie völlig falsch verstand? Deshalb brauchte er das kirchliche Lehramt.

An diesem Argument war durchaus etwas Wahres dran. Was jeder lesen kann, kann auch jeder falsch verstehen; dieses Prinzip hat sich bis heute nicht geändert. Doch Luther war bereit, dieses Risiko einzugehen; er war der Überzeugung, dass die Vorzüge die Nachteile bei Weitem überwiegen würden: dem Wort der Heiligen Schrift direkt und unmittelbar zu begegnen. Und quasi nebenbei schuf Luther als Sprachgenie nichts anderes als die heutige deutsche Sprache.

Doch manchmal waren Luthers Absichten weniger edelmütig. Oft ging es ihm nur darum, seine Gegner zu schockieren, wenn er beispielsweise seinen Freund, den berühmten Maler Lucas Cranach, dazu brachte, einige seiner Schriften mit deftigen Karikaturen zu illustrieren.

Luther war ein Universalgelehrter mit vielfältigen Interessen und Talenten. Er liebte die Musik und glaubte, sie bringe uns näher zu Gott, schrieb Choräle, die Christen heute noch singen, darunter seinen berühmtesten, Ein feste Burg ist unser Gott.

Fünfhundert Jahre nachdem Luther das Übel des Ablasshandels bekämpft und den damaligen Papst als Antichristen tituliert hatte, ist sein berühmtes sola fide (»allein durch den Glauben«) nicht verstummt. Und wir erinnern uns ebenfalls immer noch an einige seiner heftigsten Beleidigungen – und daran, dass auch dieser große Mann des Glaubens nicht vollkommen war.

Ornament

Martin Luther wurde am 10. November 1483 in Eisleben (Sachsen-Anhalt) geboren, als Sohn von Hans und Margarete Luther. Es war ein sehr bewegtes Jahr für das christliche Abendland. Karl VIII. wurde zum König von Frankreich gekrönt, während in England Richard III. den Thron an sich riss. Die Bürger von Rom erlebten die Einweihung der Sixtinischen Kapelle, während in Spanien 1484 Tomás de Torquemada zum ersten Großinquisitor (also oberstem Ketzerjäger) ernannt wurde – wie gut für Luther, dass er in fernen deutschen Landen geboren wurde.

Johannes Gutenbergs Druckerpresse, die Luther gute Dienste leisten würde, war noch nicht lange erfunden, und neun Jahre nach Luthers Geburt begann ein genuesischer Seemann und Visionär namens Christoph Kolumbus seine epochale Reise über den Atlantik. Epidemien, die Millionen Opfer fordern konnten, waren häufig und sicher einer der Gründe für endzeitliche Stimmungen. Auch Luther war der Meinung, das Ende der Welt stehe vor der Tür.

Kein Jahr nach Martins Geburt zog die Familie nach Mansfeld um, das zu Luthers Heimat wurde. Luthers Vorfahren waren Bauern gewesen, doch sein Vater, der aus Rechtsgründen keinen Familienhof hatte erben können, wurde Bergmann und konnte schließlich eine Kupferschmelzerei erwerben. Obwohl er nicht lesen konnte, wurde er zu einem der »Viermänner« gewählt, die die Gemeinde Mansfeld gegenüber dem Rat vertraten.

Luthers Mutter hatte alle Hände voll zu tun mit Martin und seinen Geschwistern, von denen mehrere nicht das Erwachsenenalter erreichten. Das Geld reichte anfangs nur knapp zum Leben, und der erwachsene Luther sollte sich noch oft an die enorme Sparsamkeit und bittere Armut in seinem Elternhaus erinnern.

Mit Staunen sollte Luther später feststellen, wie hoch er in seinem Leben aufgestiegen war. Ein Biograf kommentiert:

Dieses Wurzelbodens war er sich ebenso bewusst wie des für ihn wundersamen Umstandes, dass er, der Mann aus den eigentlich kleinen und einfachen bäuerlichen Verhältnissen, es zum Doktor der Heiligen Schrift und Gegenspieler des Papstes gebracht habe.6

Luthers Erziehung war streng; harte Prügel durch beide Eltern waren nicht ungewöhnlich. Uns Heutige mag das befremden, doch es war der damals übliche Stil in der Erziehung. Typisch war auch die konsequente religiöse Prägung. Schon als kleiner Junge war Luther von der Realität des Satans überzeugt – aber auch davon, dass Jesus Christus noch stärker war.7 An der Schule, an der Luther auch schon in Latein und Logik unterrichtet wurde, herrschte die Prügelstrafe, oft aus nichtigstem Anlass; an diese Sitte blieben Luther bittere Erinnerungen.

Luther machte sich als Schüler so gut, dass er 1501, mit 19 Jahren, das Studium der Philosophie an der Universität im thüringischen Erfurt beginnen konnte, das er 1505 mit einem Magistergrad abschloss. Hans Luther wollte, dass es seinen Kindern einmal besser ginge als ihm. Sein Sohn sollte Rechtsanwalt werden. Also fing Martin gehorsam ein Jurastudium an. Doch dann geschah eines Tages etwas, das den Gang seines Lebens und damit auch den Gang der Weltgeschichte dramatisch verändern sollte.

Es war ein typisches »Damaskuserlebnis«, und ähnlich wie bei der Bekehrung des Apostels Paulus fand es unterwegs statt. Luther hatte gerade seine Eltern besucht und war zu Pferde auf dem Rückweg zur Universität, als ein gewaltiges Unwetter aufkam, bei dem ein Blitz so nah einschlug, dass Luther vor Angst wie gelähmt war. In Todesnot betete der junge Mann, der nichts anderes als Gottes baldiges Gericht erwartete, zur heiligen Anna, der Mutter Marias. »Hilf Du, St. Anna«, schrie er in den Wind und den Regen, »ich will ein Mönch werden!«8

Luther überstand das Gewitter unbeschadet. Zwar hätte er das Gelübde nicht als bindend ansehen müssen, da er es nicht aus freiem Willen, sondern in Todesangst gesprochen hatte. Doch er beschloss, sein Wort zu halten. Seit diesem Tag verbrachte er seine Zeit in intensivem Gebet, mit Fasten, Beichten und Wachen. Und ohne seinem Vater seine Pläne mitzuteilen, trat er bald darauf ins Erfurter Augustinerkloster ein. Als sein Vater davon hörte, war er außer sich. Dass sein so vielversprechender Sohn eine strahlende Zukunft als Jurist gegen die Mönchskutte getauscht hatte, konnte er nicht fassen. Aber Martin stand zu seinem Entschluss; für ihn gab es kein Zurück mehr.

Luther wurde nicht einfach nur Mönch, er wurde es mit tiefem Ernst und großer Hingabe. Was Martin Luther tat, das tat er gründlich; er war, im Guten wie im Bösen, kein Mann für das Lauwarme und Mittelmäßige.

Hinter den Klostermauern setzte er alles daran, um Gott, wie er ihn sich vorstellte, zufriedenzustellen. Doch nichts schien zu genügen. Verzweifelt rang er mit sich selbst und mit Gott, doch kam er nicht weiter. Wie sehr er sich auch anstrengte, irgendwie wusste er, dass es nicht ausreichte; er strengte sich noch mehr an, nur um erneut zu versagen. Zwar wurde Luther immer wieder von seinem Beichtvater, Generalvikar Johann von Staupitz, ermutigt, nicht unaufhörlich über eigene Sünden nachzudenken; er solle vielmehr »den Mann ansehen, der da heißt Christus«9. Doch letztlich konnte Staupitz Luther nicht völlig verstehen.

Luthers Anfechtungen bleiben. Völlig erschöpft vom Kämpfen, kam er schließlich zu dem Schluss: dass »ich nicht darauf vertrauen konnte, ich sei durch meine Genugtuung mit Gott versöhnt«, sondern ich fühlte mich »trotz meines untadeligen Lebens als Mönch […] vor Gott als Sünder mit durch und durch unruhigem Gewissen«10. Er war geradezu besessen von der Frage, wie man diesem Gott des Zornes und der Liebe begegnen sollte, und »die Suche nach Gewissheit über Gottes Beziehung zu den Menschen wurde sein großes Lebensthema«11.

Am 4. April 1507 wurde Luther zum Priester geweiht. Bald darauf lud ihn sein Vorgesetzter Staupitz an die Universität Wittenberg ein. Staupitz, inzwischen Dekan an der Universität, erkannte Luthers Gaben und sah den fünfundzwanzigjährigen Mönch schon in Wittenberg weiterstudieren und später dort selbst Theologie lehren. Luther ging also nach Wittenberg, wo er 1508 Bakkalaureus der Theologie wurde und am 19. Oktober 1512 zum Doktor promoviert wurde; wenige Tage später nahm man ihn in die theologische Fakultät auf. Zu dieser Zeit begann Luther, sich intensiv mit den Paulusbriefen im Neuen Testament zu beschäftigen, was in den folgenden Jahren reiche Früchte tragen sollte.

Zum Jahreswechsel 1510/1511 unternahm Luther eine Reise nach Rom. Staupitz hatte ihn dorthin geschickt, um in einem Zwist zwischen zwei verschiedenen Parteien innerhalb des Augustinerordens zu schlichten. Was Luther in Rom sah, sollte seine Sicht von der Kirche, in welcher er Mönch war, entscheidend beeinflussen. Damals hatte der Bau des neuen Petersdoms begonnen, und wohl kaum einer war nicht beeindruckt von der beispiellosen Pracht dieser zu Gottes Ehren errichteten Kirche.

Ein anderes Kapitel waren die Menschen der Stadt. Luther, so ein Biograf, war entsetzt über »das Chaos, den Dreck und das Verhalten der Bewohner, die in der Öffentlichkeit urinierten und Prostituierte aufsuchten«12