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STEFAN ZWEIG

wurde 1881 als Sohn des jüdischen Textilfabrikanten Moritz Zweig und dessen Frau Ida in Wien geboren.

Nach dem Abschluss des Gymnasiums studiert er von 1900-1904 Romanistik und Germanistik und promoviert mit einer Arbeit über Hippolyte Taine. In dieser Zeit beginnt er auch mit ersten literarischen Arbeiten. Es folgen zahlreiche Reisen um die Welt. Nach dem ersten Weltkrieg, den er im Pressequartier verbrachte, wird er Pazifist. 1933 werden seine Bücher in Berlin verbrannt. 1934 emigriert er nach London, um 1941 mit seiner zweiten Frau Lotte Altmann über New York nach Südamerika auszuwandern. 1942 begeht er in Petrópolis, Brasilien, gemeinsam mit seiner Ehefrau Selbstmord.

Zum Buch

imagen den Sternstunden der Menschheit verdichtet Stefan Zweig individuelle Augenblicke zu weltgeschichtlicher Bedeutung. Dabei ist er vor allem an dem Augenblick interessiert, in dem sich der Charakter des Handelnden essentiell offenbart. Vom Untergang Napoleons bei Waterloo zu Goethes unerfüllter Altersliebe und der Entstehung seiner Marienbader Elegie, von der Entdeckung des Pazifik durch Bilbao bis zu Lenins Rückkehr nach Russland im gepanzerten Zug, zeigen die Sternstunden den Einzelnen als brillanten oder zaghaften Agenten des Schicksals.

imagetefan Zweig verdeutlicht in seinen Sternstunden der Menschheit, dass es vor allem individuelle Entscheidungen sind, die über Sieg und Niederlage, Erflog oder Misserfolg bedeutender historischer Momente entscheiden. Die zwölf hier versammelten literarischen Miniaturen beschreiben genau jene Augenblicke im Leben großer Persönlichkeiten wie Goethe, Händel, Napoleon und Lenin, die zu „Quantensprüngen“ in der kulturellen, wissenschaftlichen oder ästhetischen Entwicklung der Menschheit geführt haben.

"Nie ist mit tieferer Bescheidenheit ein Weltruhm getragen worden." Thomas Mann über Stefan Zweig

Stefan Zweig

Sternstunden der Menschheit

Stefan Zweig

Sternstunden
der Menschheit

Zwölf historische Miniaturen

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Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2013
Der Text wurde behutsam revidiert nach der
Ausgabe Stockholm, 1943
Korrektorat: Dr. Markus Lorenz, Bonn und
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Bildnachweis: Lebensfreude, Gemälde von Helena Winkler, Karlsruhe,
www.helenawinkler.com
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ISBN: 978-3-8438-0339-7

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Inhalt

Vorwort

Flucht in die Unsterblichkeit

Die Entdeckung des Pazifischen Ozeans, 25. September 1513

Die Eroberung von Byzanz

29. Mai 1453

Georg Friedrich Händels Auferstehung

21. August 1741

Das Genie einer Nacht

Die Marseillaise, 25. April 1792

Die Weltminute von Waterloo

Napoleon, 18. Juni 1815

Die Marienbader Elegie

Goethe zwischen Karlsbad und Weimar, 5. September 1823

Die Entdeckung Eldorados

J. A. Suter, Kalifornien, Januar 1848

Heroischer Augenblick

Dostojewski, Petersburg, Semenowskplatz 22. Dezember 1849

Das erste Wort über den Ozean

Cyrus W. Field, 28. Juli 1858

Die Flucht zu Gott

Ein Epilog zu Leo Tolstois unvollendetem Drama »Und das Licht scheinet in der Finsternis«, Ende Oktober 1910

Der Kampf um den Südpol

Kapitän Scott, 90. Breitengrad, 16. Januar 1912

Der versiegelte Zug

Lenin, 9. April 1917

Vorwort

Kein Künstler ist während der ganzen vierundzwanzig Stunden seines täglichen Tages ununterbrochen Künstler; alles Wesentliche, alles Dauernde, das ihm gelingt, geschieht immer nur in den wenigen und seltenen Augenblicken der Inspiration. So ist auch die Geschichte, in der wir die größte Dichterin und Darstellerin aller Zeiten bewundern, keineswegs unablässig Schöpferin. Auch in dieser »geheimnisvollen Werkstatt Gottes«, wie Goethe ehrfürchtig die Historie nennt, geschieht unermesslich viel Gleichgültiges und Alltägliches. Auch hier sind wie überall in der Kunst und im Leben die sublimen, die unvergesslichen Momente selten. Meist reiht sie als Chronistin nur gleichgültig und beharrlich Masche an Masche in jener riesigen Kette, die durch die Jahrtausende reicht, Faktum an Faktum, denn alle Spannung braucht Zeit der Vorbereitung, jedes wirkliche Ereignis Entwicklung. Immer sind Millionen Menschen innerhalb eines Volkes nötig, damit ein Genius entsteht, immer müssen Millionen müßige Weltstunden verrinnen, ehe eine wahrhaft historische, eine Sternstunde der Menschheit in Erscheinung tritt.

Entsteht aber in der Kunst ein Genius, so überdauert er die Zeiten; ereignet sich eine solche Weltstunde, so schafft sie Entscheidung für Jahrzehnte und Jahrhunderte. Wie in der Spitze eines Blitzableiters die Elektrizität der ganzen Atmosphäre, ist dann eine unermessliche Fülle von Geschehnissen zusammengedrängt in die engste Spanne von Zeit. Was ansonsten gemächlich nacheinander und nebeneinander abläuft, komprimiert sich in einen einzigen Augenblick, der alles bestimmt und alles entscheidet: ein einziges Ja, ein einziges Nein, ein Zu-Früh oder ein Zu-Spät macht diese Stunde unwiderruflich für hundert Geschlechter und bestimmt das Leben eines Einzelnen, eines Volkes und sogar den Schicksalslauf der ganzen Menschheit.

Solche dramatisch geballten, solche schicksalsträchtigen Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine Minute zusammengedrängt ist, sind selten im Leben eines Einzelnen und selten im Laufe der Geschichte. Einige solcher Sternstunden - ich habe sie so genannt, weil sie leuchtend und unwandelbar wie Sterne die Nacht der Vergänglichkeit überglänzen - versuche ich hier aus den verschiedensten Zeiten und Zonen zu erinnern. Nirgends ist versucht, die seelische Wahrheit der äußern oder innern Geschehnisse durch eigene Erfindung zu verfärben oder zu verstärken. Denn in jenen sublimen Augenblicken, wo sie vollendet gestaltet, bedarf die Geschichte keiner nachhelfenden Hand. Wo sie wahrhaft als Dichterin, als Dramatikerin waltet, darf kein Dichter versuchen, sie zu überbieten.

Flucht in die Unsterblichkeit

Die Entdeckung des Pazifischen Ozeans 25. September 1513

Ein Schiff wird ausgerüstet

Bei seiner ersten Rückkehr aus dem entdeckten Amerika hatte Kolumbus auf seinem Triumphzug durch die gedrängten Straßen Sevillas und Barcelonas eine Unzahl Kostbarkeiten und Kuriositäten gezeigt, rotfarbene Menschen einer bisher unbekannten Rasse, nie gesehene Tiere, die bunten, schreienden Papageien, die schwerfälligen Tapire, dann merkwürdige Pflanzen und Früchte, die bald in Europa ihre Heimat finden werden, das indische Korn, den Tabak und die Kokosnuss. All das wird von der jubelnden Menge neugierig bestaunt, aber was das Königspaar und seine Ratgeber am meisten erregt, sind die paar Kästchen und Körbchen mit Gold. Es ist nicht viel Gold, das Kolumbus aus dem neuen Indien bringt, ein paar Zierdinge, die er den Eingeborenen abgetauscht oder abgeraubt hat, ein paar kleine Barren und einige Handvoll loser Körner, Goldstaub mehr als Gold - die ganze Beute höchstens ausreichend für die Prägung von ein paar hundert Dukaten. Aber der geniale Kolumbus, der fanatisch immer das glaubt, was er gerade glauben will, und der ebenso glorreich mit seinem Seeweg nach Indien recht behalten hat, flunkert in ehrlicher Überschwänglichkeit, dies sei nur eine winzige erste Probe. Zuverlässige Nachricht sei ihm gegeben worden von unermesslichen Goldminen auf diesen neuen Inseln; ganz flach, unter dünner Erdschicht, läge dort das kostbare Metall in manchen Feldern. Mit einem gewöhnlichen Spaten könne man es leichthin aufgraben. Weiter südlich aber seien Reiche, wo die Könige aus goldenen Gefäßen becherten und das Gold geringer gelte als in Spanien das Blei. Berauscht hört der ewig geldbedürftige König von diesem neuen Ophir, das sein Eigen ist; noch kennt man Kolumbus nicht genug in seiner erhabenen Narrheit, um an seinen Versprechungen zu zweifeln. Sofort wird für die zweite Fahrt eine große Flotte ausgerüstet, und nun braucht man nicht mehr Werber und Trommler, um Mannschaft zu heuern. Die Kunde von dem neuentdeckten Ophir, wo das Gold mit bloßer Hand aufgehoben werden kann, macht ganz Spanien toll: zu Hunderten, zu Tausenden strömen die Leute heran, um nach dem Eldorado, dem Goldland, zu reisen.

Aber welch eine trübe Flut ist es, welche die Gier jetzt aus allen Städten und Dörfern und Weilern heranwirft. Nicht nur ehrliche Edelleute melden sich, die ihr Wappenschild gründlich vergolden wollen, nicht nur verwegene Abenteurer und tapfere Soldaten, sondern aller Schmutz und Abschaum Spaniens schwemmt nach Palos und Cadiz. Gebrandmarkte Diebe, Wegelagerer und Strauchdiebe, die im Goldland einträglicheres Handwerk suchen, Schuldner, die ihren Gläubigern, Gatten, die ihren zänkischen Frauen entfliehen wollen, all die Desperados und gescheiterten Existenzen, die Gebrandmarkten und von den Alguacils Gesuchten melden sich zur Flotte, eine toll zusammengewürfelte Bande gescheiterter Existenzen, die entschlossen sind, endlich mit einem Ruck reich zu werden, und dafür zu jeder Gewalttat und jedem Verbrechen entschlossen sind. So toll haben sie einer dem andern die Phantasterei des Kolumbus suggeriert, dass man in jenen Ländern nur den Spaten in die Erde zu stoßen brauche, und schon glänzten einem die goldenen Klumpen entgegen, dass sich die Wohlhabenden unter den Auswanderern Diener mitnehmen und Maultiere, um gleich in großen Massen das kostbare Metall wegschleppen zu können. Wem es nicht gelingt, in die Expedition aufgenommen zu werden, der erzwingt sich anderen Weg; ohne viel nach königlicher Erlaubnis zu fragen, rüsten auf eigene Faust wüste Abenteurer Schiffe aus, um nur rasch hinüberzugelangen und Gold, Gold, Gold zu raffen; mit einem Schlage ist Spanien von unruhigen Existenzen und gefährlichstem Gesindel befreit.

Der Gouverneur von Española (dem späteren San Domingo oder Haiti) sieht mit Schrecken diese ungebetenen Gäste die ihm anvertraute Insel überschwemmen. Von Jahr zu Jahr bringen die Schiffe neue Fracht und immer ungebärdigere Gesellen. Aber ebenso bitter enttäuscht sind die Ankömmlinge, denn keineswegs liegt das Gold hier locker auf der Straße, und den unglücklichen Eingeborenen, über welche die Bestien herfallen, ist kein Körnchen mehr abzupressen. So streifen und lungern diese Horden räuberisch herum, ein Schrecken der unseligen Indios, ein Schrecken des Gouverneurs. Vergebens sucht er sie zu Kolonisatoren zu machen, indem er ihnen Land anweist, ihnen Vieh zuteilt und reichlich sogar auch menschliches Vieh, nämlich sechzig bis siebzig Eingeborene jedem Einzelnen als Sklaven. Aber sowohl die hochgeborenen Hidalgos als die einstigen Wegelagerer haben wenig Sinn für Farmertum. Nicht dazu sind sie herübergekommen, Weizen zu bauen und Vieh zu hüten; statt sich um Saat und Ernte zu kümmern, peinigen sie die unseligen Indios – in wenigen Jahren werden sie die ganze Bevölkerung ausgerottet haben – oder sitzen in den Spelunken. In kurzer Zeit sind die meisten derart verschuldet, dass sie nach ihren Gütern noch Mantel und Hut und das letzte Hemd verkaufen müssen und bis zum Halse den Kaufleuten und Wucherern verhaftet sind.

Willkommene Botschaft darum für alle diese gescheiterten Existenzen auf Española, dass ein wohlangesehener Mann der Insel, der Rechtsgelehrte, der »bachiller« Martin Fernandez de Enciso, 1510 ein Schiff ausrüstet, um mit neuer Mannschaft seiner Kolonie an der terra firma zu Hilfe zu kommen. Zwei berühmte Abenteurer, Alonzo de Ojeda und Diego de Nicuesa, hatten von König Ferdinand 1509 das Privileg erhalten, nahe der Meerenge von Panama und der Küste von Venezuela eine Kolonie zu gründen, die sie etwas voreilig Castilia del Oro, Goldkastilien, nennen; berauscht von dem klingenden Namen und betört von Flunkereien, hatte der weltunkundige Rechtskundige sein ganzes Vermögen in dieses Unternehmen gesteckt. Aber von der neugegründeten Kolonie in San Sebastian am Golf von Uraba kommt kein Gold, sondern nur schriller Hilferuf. Die Hälfte der Mannschaft ist in den Kämpfen mit den Eingeborenen aufgerieben worden und die andere Hälfte am Verhungern. Um das investierte Geld zu retten, wagt Enciso den Rest seines Vermögens und rüstet eine Hilfsexpedition aus. Kaum vernehmen die die Nachricht, dass Enciso Soldaten braucht, so wollen alle Desperados, alle Loafers von Española die Gelegenheit nützen und sich mit ihm davonmachen. Nur fort, nur den Gläubigern entkommen und der Wachsamkeit des strengen Gouverneurs! Aber auch die Gläubiger sind auf ihrer Hut. Sie merken, dass ihre schwersten Schuldner ihnen auf Nimmerwiedersehen auspaschen wollen, und so bestürmen sie den Gouverneur, niemanden abreisen zu lassen ohne seine besondere Erlaubnis. Der Gouverneur billigt ihren Wunsch. Eine strenge Überwachung wird eingesetzt, das Schiff Encisos muss außerhalb des Hafens bleiben, Regierungsboote patrouillieren und verhindern, dass ein Unberufener sich an Bord schmuggelt. Und mit maßloser Erbitterung sehen alle die Desperados, welche den Tod weniger scheuen als ehrliche Arbeit oder den Schuldturm, wie Encisos Schiff ohne sie mit vollen Segeln ins Abenteuer steuert.

Der Mann in der Kiste

Mit vollen Segeln steuert Encisos Schiff von Española dem amerikanischen Festland zu, schon sind die Umrisse der Insel in den blauen Horizont versunken. Es ist eine stille Fahrt und nichts Sonderliches zunächst zu vermerken, nur allenfalls dies, dass ein mächtiger Bluthund von besonderer Kraft – er ist ein Sohn des berühmten Bluthundes Becericco und selbst berühmt geworden unter dem Namen Leoncico – unruhig an Deck auf und nieder läuft und überall herumschnuppert. Niemand weiß, wem das mächtige Tier gehört und wie es an Bord gekommen. Schließlich fällt noch auf, dass der Hund von einer besonders großen Proviantkiste nicht wegzubringen ist, welche am letzten Tage an Bord geschafft wurde. Aber siehe, da tut sich unvermuteterweise diese Kiste von selber auf, und aus ihr klimmt, wohlgerüstet mit Schwert und Helm und Schild, wie Santiago, der Heilige Kastiliens, ein etwa fünfunddreißigjähriger Mann. Es ist Vasco Nuñez de Balboa, der auf solche Art die erste Probe seiner erstaunlichen Verwegenheit und Findigkeit gibt. In Jerez de los Caballeres aus adeliger Familie geboren, war er als einfacher Soldat mit Rodrigo de Bastidas in die neue Welt gesegelt und schließlich nach manchen Irrfahrten mitsamt dem Schiff vor Española gestrandet. Vergebens hat der Gouverneur versucht, aus Nuñez de Balboa einen braven Kolonisten zu machen; nach wenigen Monaten hat er sein zugeteiltes Landgut im Stich gelassen und ist derart bankrott, dass er sich vor seinen Gläubigern nicht zu retten weiß. Aber während die andern Schuldner mit geballten Fäusten vom Strande her auf die Regierungsboote starren, die ihnen verunmöglichen, auf das Schiff Encisos zu flüchten, umgeht Nuñez de Balboa verwegen den Kordon des Diego Kolumbus, indem er sich in eine leere Proviantkiste versteckt und von Helfershelfern an Bord tragen lässt, wo man im Tumult der Abreise der frechen List nicht gewahr wird. Erst als er das Schiff so weit von der Küste weiß, dass man um seinetwillen nicht zurücksteuern wird, meldet sich der blinde Passagier. Jetzt ist er da.

Der »bachiller« Enciso ist ein Mann des Rechts und hat, wie Rechtsgelehrte meist, wenig Sinn für Romantik. Als Alcalde, als Polizeimeister der neuen Kolonie, will er dort Zechpreller und dunkle Existenzen nicht dulden. Barsch erklärt er darum Nuñez de Balboa, er denke nicht daran, ihn mitzunehmen, sondern werde ihn an der nächsten Insel, wo sie vorbeikämen, gleichgültig, ob sie bewohnt sei oder unbewohnt, am Strande absetzen.

Doch es kam nicht so weit. Denn noch während das Schiff nach der Castilia del Oro steuert, begegnet ihm – ein Wunder in der damaligen Zeit, wo im Ganzen ein paar Dutzend Schiffe auf diesen noch unbekannten Meeren fahren – ein stark bemanntes Boot, geführt von einem Mann, dessen Name bald durch die Welt hallen wird, Francisco Pizarro. Seine Insassen kommen von Encisos Kolonie San Sebastian, und zuerst hält man sie für Meuterer, die ihren Posten eigenmächtig verlassen haben. Aber zu Encisos Entsetzen berichten sie: es gibt kein San Sebastian mehr, sie selbst sind die Letzten der einstigen Kolonie, der Kommandant Ojeda hat sich mit einem Schiffe davongemacht, die Übrigen, die nur zwei Brigantinen besaßen, mussten warten, bis sie auf siebzig Personen herabgestorben waren, um in diesen beiden kleinen Booten Platz zu finden. Von diesen Brigantinen wiederum ist eine gescheitert; die vierunddreißig Mann Pizarros sind die letzten Überlebenden der Castilia del Oro. Wohin nun? Encisos Leute haben nach den Erzählungen Pizarros wenig Lust, sich dem fürchterlichen Sumpfklima der verlassenen Siedlung und den Giftpfeilen der Eingeborenen auszusetzen; nach Española wieder zurückzukehren, scheint ihnen die einzige Möglichkeit. In diesem gefährlichen Augenblick tritt plötzlich Vasco Nuñez de Balboa vor. Er kenne von seiner ersten Reise mit Rodrigo de Bastidas, erklärte er, die ganze Küste Zentralamerikas, und er erinnere sich, dass sie damals einen Ort namens Darien am Ufer eines goldhaltigen Flusses gefunden hätten, wo freundliche Eingeborene wären. Dort und nicht an dieser Stätte des Unglücks solle man die neue Niederlassung gründen.

Sofort erklärt sich die ganze Mannschaft für Nuñez de Balboa. Seinem Vorschlag gemäß steuert man nach Darien an dem Isthmus von Panama, richtet dort zunächst die übliche Schlächterei unter den Eingeborenen an, und da sich unter der geraubten Habe auch Gold findet, beschließen die Desperados, hier eine Siedlung zu beginnen, und nennen dann in frommer Dankbarkeit die neue Stadt Santa Maria de la Antigua del Darien.

Gefährlicher Aufstieg

Bald wird der unglückliche Financier der Kolonie, der Bachiller Enciso, es schwer bereuen, die Kiste mit dem darin befindlichen Nuñez de Balboa nicht rechtzeitig über Bord geworfen zu haben, denn nach wenigen Wochen hat dieser verwegene Mann alle Macht in Händen. Als Rechtsgelehrter aufgewachsen in der Idee von Zucht und Ordnung, versucht Enciso in seiner Eigenschaft eines Alcalde Mayor des zur Zeit unauffindbaren Gouverneurs die Kolonie zugunsten der spanischen Krone zu verwalten und erlässt in der erbärmlichen Indianerhütte genauso sauber und streng seine Edikte, als säße er in seiner Juristenstube zu Sevilla. Er verbietet mitten in dieser von Menschen noch nie betretenen Wildnis den Soldaten, von den Eingeborenen Gold zu erhandeln, weil dies ein Reservat der Krone sei, er versucht dieser zuchtlosen Rotte Ordnung und Gesetz aufzuzwingen, aber aus Instinkt halten die Abenteurer zum Mann des Schwertes und empören sich gegen den Mann der Feder. Bald ist Balboa der wirkliche Herr der Kolonie: Enciso muss, um sein Leben zu retten, fliehen, und wie nun Nicuesa, einer der vom König eingesetzten Gouverneure der terra firma, endlich kommt, um Ordnung zu schaffen, lässt ihn Balboa überhaupt nicht landen, und der unglückliche Nicuesa, verjagt aus dem ihm vom König verliehenen Lande, ertrinkt bei der Rückfahrt.

Nun ist Nuñez de Balboa, der Mann aus der Kiste, Herr der Kolonie. Aber trotz seines Erfolges hat er kein sehr behagliches Gefühl. Denn er hat offene Rebellion gegen den König begangen und auf Pardon umso weniger zu hoffen, als der eingesetzte Gouverneur durch seine Schuld den Tod gefunden hat. Er weiß, dass der geflüchtete Enciso mit seiner Anklage auf dem Wege nach Spanien ist und früher oder später über seine Rebellion Gericht gehalten werden muss. Aber immerhin: Spanien ist weit, und ihm bleibt, bis ein Schiff zweimal den Ozean durchfahren hat, reichlich Zeit. Ebenso klug als verwegen sucht er das einzige Mittel, um seine usurpierte Macht so lange als möglich zu behaupten. Er weiß, dass in jener Zeit Erfolg jedes Verbrechen rechtfertigt und eine kräftige Ablieferung von Gold an den königlichen Kronschatz jedes Strafverfahren beschwichtigen oder hinauszögern kann; Gold also zuerst schaffen, denn Gold ist Macht! Gemeinsam mit Francisco Pizarro unterjocht und beraubt er die Eingeborenen der Nachbarschaft, und mitten in den üblichen Schlächtereien gelingt ihm ein entscheidender Erfolg. Einer der Kaziken, namens Careta, den er heimtückisch und unter gröblichster Verletzung der Gastfreundschaft überfallen hat, schlägt ihm, schon zum Tode bestimmt, vor, er möge doch lieber, statt sich die Indios zu Feinden zu machen, ein Bündnis mit seinem Stamme schließen, und bietet ihm als Unterpfand der Treue seine Tochter an. Nuñez de Balboa erkennt sofort die Wichtigkeit, einen verlässlichen und mächtigen Freund unter den Eingeborenen zu haben; er nimmt das Angebot Caretas an, und, was noch erstaunlicher ist, er bleibt jenem indianischen Mädchen bis zu seiner letzten Stunde auf das Zärtlichste zugetan. Gemeinsam mit dem Kaziken Careta unterwirft er alle Indios der Nachbarschaft und erwirbt solche Autorität unter ihnen, dass schließlich auch der mächtigste Häuptling, namens Comagre, ihn ehrerbietig zu sich lädt.

Dieser Besuch bei dem mächtigen Häuptling bringt die welthistorische Entscheidung im Leben Vasco Nuñez de Balboas, der bisher nichts als ein Desperado und verwegener Rebell gegen die Krone gewesen und dem Galgen oder der Axt von den kastilischen Gerichten bestimmt. Der Kazike Comagre empfängt ihn in einem weiträumigen, steinernen Haus, das durch seinen Reichtum Vasco Nuñez in höchstes Erstaunen versetzt, und unaufgefordert schenkt er dem Gastfreund viertausend Unzen Gold. Aber nun ist die Reihe des Staunens an dem Kaziken. Denn kaum haben die Himmelssöhne, die mächtigen, gottgleichen Fremden, die er mit so hoher Reverenz empfangen, das Gold erblickt, so ist ihre Würde dahin. Wie losgekettete Hunde fahren sie aufeinander los, Schwerter werden gezogen, Fäuste geballt, sie schreien, sie toben gegeneinander, jeder will seinen besonderen Teil an dem Gold. Staunend und verächtlich sieht der Kazike das Toben: Es ist das ewige Staunen aller Naturkinder an allen Enden der Erde über die Kulturmenschen, denen eine Handvoll gelbes Metall kostbarer erscheint als alle geistigen und technischen Errungenschaften ihrer Kultur.

Schließlich richtet der Kazike an sie das Wort, und mit gierigem Schauer vernehmen die Spanier, was der Dolmetsch übersetzt. Wie sonderbar, sagt Comagre, dass ihr euch wegen solcher Nichtigkeiten untereinander streitet, dass ihr wegen eines so gewöhnlichen Metalles euer Leben den schwersten Unbequemlichkeiten und Gefahren aussetzt. Dort drüben, hinter diesen Bergen liegt eine mächtige See, und alle Flüsse, die in diese See fließen, führen Gold mit sich. Ein Volk wohnt dort, das in Schiffen mit Segeln und Rudern wie die euren fährt, und seine Könige essen und trinken aus goldenen Gefäßen. Dort könnt ihr dieses gelbe Metall finden, so viel, wie ihr begehrt. Es ist ein gefährlicher Weg, denn sicher werden euch die Häuptlinge den Durchgang verweigern. Aber es ist nur ein Weg von wenigen Tagereisen.

Vasco Nuñez de Balboa fühlt sein Herz getroffen. Endlich ist die Spur des sagenhaften Goldlandes gefunden, von dem sie seit Jahren und Jahren träumen; an allen Orten, im Süden und Norden haben es seine Vorgänger erspähen wollen, und nun liegt es bloß einige Tagereisen weit, wenn dieser Kazike wahr berichtet hat. Endlich ist zugleich auch die Existenz jenes andern Ozeans verbürgt, zu dem Kolumbus, Cabot, Corereal, alle die großen und berühmten Seefahrer, vergeblich den Weg gesucht haben: damit ist eigentlich auch der Weg um den Erdball entdeckt. Wer als Erster dies neue Meer erschaut und für sein Vaterland in Besitz nimmt, dessen Name wird nie mehr auf der Erde vergehen. Und Balboa erkennt die Tat, die er tun muss, um sich freizukaufen von aller Schuld und unvergängliche Ehre sich zu erwerben: als Erster den Isthmus überqueren zum Mar del Sur, zum Südmeer, das nach Indien führt, und das neue Ophir für die spanische Krone erobern. Mit dieser Stunde im Hause des Kaziken Comagre ist sein Schicksal entschieden. Von diesem Augenblick an hat das Leben dieses zufälligen Abenteurers einen hohen, einen überzeitlichen Sinn.

Flucht in die Unsterblichkeit

Kein größeres Glück im Schicksal eines Menschen, als in der Mitte des Lebens, in den schöpferischen Mannesjahren, seine Lebensaufgabe entdeckt zu haben. Nuñez de Balboa weiß, was für ihn auf dem Spiele steht – erbärmlicher Tod am Schafott oder Unsterblichkeit. Zunächst sich einmal Frieden mit der Krone erkaufen, seine schlimme Tat, die Usurpierung der Macht, nachträglich legitimieren und legalisieren! Deshalb sendet der Rebell von gestern als allereifrigster Untertan an den königlichen Schatzhalter auf Española, Pasamonte, nicht nur von dem Geldgeschenk Comagres das gesetzlich der Krone gehörige Fünftel, sondern, besser erfahren in den Praktiken der Welt als der dürre Rechtsgelehrte Enciso, fügt er der offiziellen Sendung noch privatim eine reichliche Geldspende an den Schatzmeister bei mit der Bitte, er möge ihn in seinem Amte als Generalkapitän der Kolonie bestätigen. Dies zu tun hat der Schatzhalter Pasamonte zwar keinerlei Befugnis, jedoch für das gute Gold schickt er Nuñez de Balboa ein provisorisches und in Wahrheit wertloses Dokument. Gleichzeitig hat Balboa, der sich nach allen Seiten sichern will, aber auch zwei seiner verlässlichsten Leute nach Spanien gesandt, damit sie bei Hofe von seinen Verdiensten um die Krone erzählten und die wichtige Botschaft meldeten, die er dem Kaziken abgelockt habe. Er brauche, lässt Vasco Nuñez de Balboa nach Sevilla melden, nur eine Truppe von tausend Mann; mit ihr mache er sich anheischig, für Kastilien so viel zu tun wie noch nie ein Spanier vor ihm. Er verpflichte sich, das neue Meer zu entdecken und das endlich gefundene Goldland zu gewinnen, das Kolumbus vergebens versprochen und das er, Balboa, erobern werde.

Alles scheint sich nun für den verlorenen Menschen, den Rebellen und Desperado, zum Guten gewendet zu haben. Aber das nächste Schiff aus Spanien bringt schlimme Kunde. Einer seiner Helfershelfer bei der Rebellion, den er seinerzeit hinübergeschickt, um die Anklagen des beraubten Enciso bei Hofe zu entkräften, meldet, die Sache stünde für ihn gefährlich, und sogar lebensgefährlich. Der geprellte »bachiller« ist mit seiner Klage gegen den Räuber seiner Macht vor dem spanischen Gericht durchgedrungen und Balboa verurteilt, ihm Entschädigung zu leisten. Die Botschaft dagegen von der Lage des nahen Südmeers, die ihn hätte retten können, sie sei noch nicht eingelangt; jedenfalls werde mit dem nächsten Schiff eine Gerichtsperson einlangen, um Balboa zur Rechenschaft für seinen Aufruhr zu ziehen und ihn entweder an Ort und Stelle abzuurteilen oder in Ketten nach Spanien zurückzuführen.

Vasco Nuñez de Balboa begreift, dass er verloren ist. Seine Verurteilung ist erfolgt, ehe man seine Nachricht über das nahe Südmeer und die goldene Küste erhalten hat. Selbstverständlich wird man sie ausnützen, während sein Kopf in den Sand rollt – irgendein anderer wird seine Tat, die Tat, von der er träumte, vollbringen; er selbst hat nichts mehr von Spanien zu erhoffen. Man weiß, dass er den rechtmäßigen Gouverneur des Königs in den Tod getrieben, dass er den Alcalden eigenmächtig aus dem Amte gejagt – gnädig wird er das Urteil noch nennen müssen, wenn es ihm bloß Gefängnis auferlegt und er nicht am Richtblock seine Verwegenheit büßen muss. Auf mächtige Freunde kann er nicht rechnen, denn er hat selbst keine Macht mehr, und sein bester Fürsprecher, das Gold, hat noch zu leise Stimme, um ihm Gnade zu sichern. Nur eines kann ihn jetzt retten vor der Strafe für seine Kühnheit – noch größere Kühnheit. Wenn er das andere Meer und das neue Ophir entdeckt, noch bevor die Rechtspersonen einlangen und ihre Häscher ihn fassen und fesseln, kann er sich retten. Nur eine Form der Flucht ist hier am Ende der bewohnten Welt für ihn möglich, die Flucht in eine grandiose Tat, die Flucht in die Unsterblichkeit.

So beschließt Nuñez de Balboa, auf die von Spanien erbetenen tausend Mann für die Eroberung des unbekannten Ozeans nicht zu warten und ebensowenig auf das Eintreffen der Gerichtspersonen. Lieber mit wenigen gleich Entschlossenen das Ungeheure wagen! Lieber in Ehren sterben für eines der kühnsten Abenteuer aller Zeiten, als schmachvoll mit gebundenen Händen auf das Schafott geschleift zu werden. Nuñez de Balboa ruft die Kolonie zusammen, erklärt, ohne die Schwierigkeiten zu verschweigen, seine Absicht, die Landenge zu überqueren, und fragt, wer ihm folgen wolle. Sein Mut ermutigt die andern. Hundertneunzig Soldaten, beinahe die ganze wehrfähige Mannschaft der Kolonie, erklären sich bereit. Ausrüstung ist nicht viel zu besorgen, denn diese Leute leben ohnehin in ständigem Krieg. Und am 1. September 1513 beginnt, um dem Galgen oder dem Kerker zu entfliehen, Nuñez de Balboa, Held und Bandit, Abenteurer und Rebell, seinen Marsch in die Unsterblichkeit.

Unvergänglicher Augenblick

Die Überquerung der Landenge von Panama beginnt in jener Provinz Coyba, dem kleinen Reich des Kaziken Careta, dessen Tochter Balboas Lebensgefährtin ist; Nuñez de Balboa hat, wie sich später erweisen wird, nicht die engste Stelle gewählt und durch diese Unwissenheit den gefährlichen Übergang um einige Tage verlängert. Aber für ihn musste es vor allem wichtig sein, bei einem solchen verwegenen Abstoß ins Unbekannte für Nachschub oder Rückzug die Sicherung eines befreundeten Indianerstammes zu haben. In zehn großen Kanus setzt die Mannschaft von Darien nach Coyba über, hundertneunzig mit Speeren, Schwertern, Arkebusen und Armbrüsten ausgerüstete Soldaten, begleitet von einer stattlichen Rotte der gefürchteten Bluthunde. Der verbündete Kazike stellt seine Indios als Tragtiere und Führer bei, und schon am 6. September beginnt jener ruhmreiche Marsch über den Isthmus, der selbst an die Willenskraft so verwegener und erprobter Abenteurer ungeheure Anforderungen stellt. In erstickender, erschlaffender Äquatorglut müssen die Spanier zuerst die Niederungen durchqueren, deren sumpfiger, fieberschwangerer Boden noch Jahrhunderte später beim Bau des Panamakanals viele Tausende hingemordet hat. Von der ersten Stunde an muss mit Axt und Schwert der Weg ins Unbetretene durch den giftigen Dschungel der Lianen gehauen werden. Wie durch ein ungeheures grünes Bergwerk bahnen die Ersten der Truppe den andern durch das Dickicht einen schmalen Stollen, den dann Mann hinter Mann in endlos langer Reihe die Armee des Konquistadoren durchschreitet, ständig die Waffen zur Hand, immer, Tag und Nacht, die Sinne wachsam gespannt, um einen plötzlichen Überfall der Eingeborenen abzuwehren. Erstickend wird in der schwülen dunstigen Dunkelheit der feuchtgewölbten Baumriesen, über denen mitleidslose Sonne brennt, die Hitze. Schweißbedeckt und mit verdurstenden Lippen schleppt sich in ihren schweren Rüstungen die Truppe Meile um Meile weiter: dann brechen wieder plötzlich orkanische Regengüsse herab, kleine Bäche werden im Nu zu reißenden Flüssen, die entweder durchwatet werden müssen oder auf rasch von den Indios improvisierten schwankenden Brücken aus Bast überquert. Als Zehrung haben die Spanier nichts als eine Handvoll Mais; übernächtig, hungrig, durstig, umschwirrt von Myriaden stechender, blutsaugender Insekten, arbeiten sie sich vorwärts mit von Dornen zerrissenen Kleidern und wunden Füßen, die Augen fiebrig und die Wangen verschwollen von den surrenden Mückenstichen, ruhelos bei Tag, schlaflos bei Nacht und bald schon vollkommen erschöpft. Schon nach der ersten Marschwoche kann ein Großteil der Mannschaft den Strapazen nicht mehr standhalten, und Nuñez de Balboa, der weiß, dass die eigentlichen Gefahren ihrer erst warten, ordnet an, alle Fieberkranken und Maroden mögen lieber zurückbleiben. Nur mit den Auserlesensten seiner Truppe will er das entscheidende Abenteuer wagen.

Endlich beginnt das Terrain anzusteigen. Lichter wird der Dschungel, der nur in den sumpfigen Niederungen seine ganze tropische Üppigkeit zu entfalten vermag. Aber nun, da der Schatten sie nicht mehr schützt, glüht grell und scharf die steile Äquatorsonne auf ihre schweren Rüstungen nieder. Langsam und in kurzen Etappen vermögen die Ermatteten Stufe um Stufe das Hügelland zu jener Bergkette emporzuklimmen, welche wie ein steinernes Rückgrat die schmale Spanne zwischen den beiden Meeren trennt. Allmählich wird der Blick freier, nächtens erfrischt sich die Luft. Nach achtzehntägigem heroischem Mühen scheint die schwerste Schwierigkeit überwunden; schon erhebt sich vor ihnen der Kamm des Gebirges, von dessen Gipfel man nach der Aussage der indianischen Führer beide Ozeane, den Atlantischen und den noch unbekannten und unbenannten Pazifischen überblicken kann. Aber gerade nun, wo der zähe tückische Widerstand der Natur endgültig besiegt scheint, stellt sich ihnen ein neuer Feind entgegen, der Kazike jener Provinz, um mit Hunderten seiner Krieger den Fremden den Durchgang zu sperren. Im Kampf mit Indios ist Nuñez de Balboa reichlich erprobt. Es genügt, eine Salve aus den Arkebusen abzufeuern, und wieder erweist der künstliche Blitz und Donner seine bewährte Zauberkraft über die Eingeborenen. Schreiend flüchten die Erschreckten davon, gehetzt von den nachstürmenden Spaniern und den Bluthunden. Aber statt sich des leichten Sieges zu freuen, entehrt ihn Balboa wie alle spanischen Konquistadoren durch erbärmliche Grausamkeit, indem er eine Anzahl wehrloser, gebundener Gefangener – Ersatz für Stierkampf und Gladiatorenspiel – lebend von der Koppel der hungrigen Bluthunde zerreißen, zerfetzen und zerfleischen lässt. Eine widrige Schlächterei schändet die letzte Nacht vor Nuñez de Balboas unsterblichem Tag.

Einmalige unerklärliche Mischung in Charakter und Art dieser spanischen Konquistadoren. Fromm und gläubig, wie nur jemals Christen waren, rufen sie Gott aus inbrünstiger Seele an und begehen zugleich in seinem Namen die schändlichsten Unmenschlichkeiten der Geschichte. Fähig zu den herrlichsten und heroischen Leistungen des Mutes, der Aufopferung, der Leidensfähigkeit, betrügen und bekämpfen sie sich untereinander in der schamlosesten Weise und haben doch wieder inmitten ihrer Verächtlichkeit ein ausgeprägtes Gefühl für Ehre und einen wunderbaren, wahrhaft bewundernswerten Sinn für die historische Größe ihrer Aufgabe. Derselbe Nuñez de Balboa, der am Abend zuvor unschuldige, gefesselte Gefangene wehrlos den Hetzhunden vorgeworfen und vielleicht die noch von frischem Menschenblut triefenden Lefzen der Bestien zufrieden gestreichelt, ist sich genau der Bedeutung seiner Tat in der Geschichte der Menschheit gewiss und findet im entscheidenden Augenblick eine jener großartigen Gesten, die unvergesslich bleiben durch die Zeiten. Er weiß, dieser 25. September wird ein welthistorischer Tag sein, und mit wunderbarem spanischem Pathos bekundet dieser harte, unbedenkliche Abenteurer, wie voll er den Sinn seiner überzeitlichen Sendung verstanden.

Großartige Geste Balboas: am Abend, unmittelbar nach dem Blutbad, hat ihm einer der Eingeborenen einen nahen Gipfel gewiesen und gekündet, von dessen Höhe könne man schon das Meer, das unbekannte Mar del Sur, erschauen. Sofort trifft Balboa seine Anordnungen. Er lässt die Verwundeten und Erschöpften in dem geplünderten Dorf und befiehlt der noch marschfähigen Mannschaft – siebenundsechzig sind es noch im Ganzen von den einstigen hundertneunzig, mit denen er in Darien den Marsch angetreten –, jenen Berg hinanzusteigen. Gegen zehn Uhr morgens sind sie dem Gipfel nahe. Nur eine kleine kahle Kuppe ist noch zu erklimmen, dann muss der Blick sich ins Unendliche weiten.

In diesem Augenblick befiehlt Balboa der Mannschaft, haltzumachen. Keiner soll ihm folgen, denn diesen ersten Blick auf den unbekannten Ozean will er mit keinem teilen. Allein und einzig will er für ewige Zeit der erste Spanier, der erste Europäer, der erste Christ gewesen sein und bleiben, der, nachdem er den einen riesigen Ozean unseres Weltalls, den Atlantischen, durchfahren, nun auch den andern, den noch unbekannten Pazifischen, erblickt. Langsam, pochenden Herzens, tief durchdrungen von der Bedeutung des Augenblicks, steigt er empor, die Fahne in der Linken, das Schwert in der Rechten, einsame Silhouette in dem ungeheuren Rund. Langsam steigt er empor, ohne sich zu beeilen, denn das wahre Werk ist schon getan. Nur ein paar Schritte noch, weniger, immer weniger, und wirklich, nun da er am Gipfel angelangt ist, eröffnet sich vor ihm ungeheurer Blick. Hinter den abfallenden Bergen, den waldig und grün niedersinkenden Hügeln, liegt endlos eine riesige, metallen spiegelnde Scheibe, das Meer, das Meer, das neue, das unbekannte, das bisher nur geträumte und nie gesehene, das sagenhafte, seit Jahren und Jahren von Kolumbus und allen seinen Nachfahren vergebens gesuchte Meer, dessen Wellen Amerika, Indien und China umspülen. Und Vasco Nuñez de Balboa schaut und schaut und schaut, stolz und selig in sich das Bewusstsein eintrinkend, dass sein Auge das erste eines Europäers ist, in dem sich das unendliche Blau dieses Meeres spiegelt.

Lange und ekstatisch blickt Vasco Nuñez de Balboa in die Weite. Dann erst ruft er die Kameraden heran, seine Freunde, seinen Stolz zu teilen. Unruhig, erregt, keuchend und schreiend klimmen, klettern, laufen sie den Hügel empor, starren und staunen und deuten hin mit begeisterten Blicken. Plötzlich stimmt der begleitende Pater Andres de Vara das Te Deum laudamus an, und sofort stockt das Lärmen und Schreien; alle die harten und rauen Stimmen dieser Soldaten, Abenteurer und Banditen vereinigen sich zum frommen Choral. Staunend sehen die Indios zu, wie auf ein Wort des Priesters hin sie einen Baum niederschlagen, um ein Kreuz zu errichten, in dessen Holz sie die Initialen des Namens des Königs von Spanien eingraben. Und wie nun dieses Kreuz sich erhebt, ist es, als wollten seine beiden hölzernen Arme beide Meere, den Atlantischen und Pazifischen Ozean, mit allen ihren unsichtbaren Fernen erfassen.

Inmitten des fürchtigen Schweigens tritt Nuñez de Balboa vor und hält eine Ansprache an seine Soldaten. Sie täten recht, Gott zu danken, der ihnen diese Ehre und Gnade gewährt, und ihn zu bitten, dass er weiterhin ihnen helfen möge, diese See und alle diese Länder zu erobern. Wenn sie ihm weiter getreu folgen wollten wie bisher, so würden sie als die reichsten Spanier aus diesem neuen Indien wiederkehren. Feierlich schwenkt er die Fahne nach allen vier Winden, um für Spanien alle Fernen in Besitz zu nehmen, welche diese Winde umfahren. Dann ruft er den Schreiber, Andres de Valderrabano, dass er eine Urkunde aufsetze, welche diesen feierlichen Akt für alle Zeiten verzeichnet. Andres de Valderrabano entrollt ein Pergament, er hat es in verschlossenem Holzschrein mit Tintenbehälter und Schreibekiel durch den Urwald geschleppt, und fordert alle die Edelleute und Ritter und Soldaten auf – los Caballeros e Hidalgos y hombres de bien –, »die bei der Entdeckung des Südmeers, des Mar del Sur, durch den erhabenen und hochverehrten Kapitän Vasco Nuñez de Balboa, Gouverneur seiner Hoheit, anwesend gewesen sind«, zu bestätigen, dass »dieser Herr Vasco Nuñez es war, der als Erster dieses Meer gesehen und es den Nachfolgenden gezeigt«.

Dann steigen die siebenundsechzig von dem Hügel nieder, und mit diesem 25. September 1513 weiß die Menschheit um den letzten, bisher unbekannten Ozean der Erde.

Gold und Perlen