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Barbara Aland

Die Gnosis

Reclam

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© 2014 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2014

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960562-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019210-8

www.reclam.de

Inhalt

I  Zur Einführung

II  Zeit und Raum der Gnosis: Das römische Weltreich des 2./3. Jahrhunderts

1  Das soziale Leben in den Städten

2  Die Philosophie als Anknüpfungspunkt für Christen und Gnostiker

3  Die antike Religion der Römer und Griechen

4  »Private« religionsphilosophische Literatur der Kaiserzeit

III  Ansätze der Forschung

IV  Die Quellen zur Gnosis

1  Die Nachrichten der frühen Kirchenschriftsteller

2  Gnostische Originaltexte in koptischer Übersetzung

3  Weitere sekundäre Quellen

4  Manichäismus und Mandäismus

V  Die Hochgnosis

1  Der Mythos als Aussage- und Lehrform der Gnosis

2  Der valentinianische Mythos nach Irenäus

3  Exkurs: Platonismus und Gnosis im Vergleich

4  Der sogenannte ›sethianische‹ Mythos nach dem Apokryphon des Johannes

VI Zur Entstehung und den Anfängen der Gnosis

1  Simon Magus und die Simonianer

2  Weitere frühe (vor)gnostische Lehrer nach Irenäus (AH 1,23–26)

3  Frühe Gnosis nach Hippolyt

4  Valentin

5  Basilides

VII  Das zeitgenössische Umfeld der Gnosis

1  Pagane Gnosis? Das Corpus Hermeticum

2  Philosophische Mysterientheologie: Plutarch von Chaironeia

3  Ein christlicher Gnostiker? Marcion aus Sinope

VIII  Wie lebten die Gnostiker?

1  Gnostische Schul- und/oder Gemeindebildung?

2  Praktische Ethik

3  Kult, Ritual, Sakramente

IX  Fortentwicklung und Wirkung der Gnosis

1  Valentinianer und Sethianer

2  Die platonisierende Gnosis und Plotin

3  Mani und der Manichäismus

X  Gnosis in der Geschichte bis heute?

Abkürzungen

Ausgewählte Literaturhinweise

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

I  Zur Einführung

Gnosis ist eine spätantike Bewegung des 2. bis 4. nachchristlichen Jahrhunderts zwischen Religion und Philosophie. Sie ist von einem großen Schwung der Freude und des Jubels getragen. Hier sprechen Menschen von ihrer Gewissheit, Sinn und Ziel ihres Lebens gefunden zu haben, und dessen sind sie so gewiss, dass sie es fortan für ihre einzige Lebensaufgabe halten, von nichts anderem als dieser gewonnenen Erkenntnis (Gnosis) zu reden und sie andern mitzuteilen. Schwärmer also? Nicht unbedingt. Denn es war ihr Anliegen, ihre Erkenntnis – eine Erkenntnis des Menschen und seiner Stellung zur Welt und zu Gott – zu begründen und sie denkend zu verantworten. Dabei bedienten sie sich zeitgenössischer Mittel, aber sie traten in bewusste Konkurrenz zu allem andern, was an Wahrheitssuche sonst angeboten wurde. Das macht sie interessant. Ihr Bemühen ist gescheitert. Sie haben es trotz Anfangserfolgen nicht vermocht, ihr Anliegen durchdacht zu vertreten, und sind von anderen mit Recht zurückgewiesen worden. Aber sie haben damit sehr früh Impulse gesetzt, die größere Wirkung hatten, als gemeinhin anerkannt wird. Sie haben begonnen, ihre Überzeugung, die eine auf Offenbarung hin erfahrene Glaubensüberzeugung war, denkend zu durchdringen, und haben damit an einer Tradition zumindest mitgewirkt, die in anderer Weise bis heute anhält.

Die antike Gnosis ist freilich ein umstrittener Gegenstand. Wer heute ein Sachbuch zur Gnosis zur Hand nimmt, muss das wissen. Es gibt keinen Konsens über das, was Gnosis ist. Umstritten ist vor allem die inhaltliche Sachfrage, worum es bei dieser weiterzusagenden »Erkenntnis« eigentlich geht. Zwar scheint es eine Übereinstimmung darüber zu geben, dass es sich irgendwie um eine Erlösung des innersten Kerns des Menschen handele, begründet in dessen Wesensgleichheit mit Gott, aber was das eigentlich bedeutet, wie es begründet wird und welche Konsequenzen es hat, wird völlig verschieden beantwortet. Das liegt auch an den Quellen für die antike Gnosis. Zwar gibt es eine Fülle davon. Wie sie aber genau abzugrenzen und zu gewichten seien, was vor allem herangezogen werden müsse und was erst in zweiter Linie, ist fraglich. Vieles fehlt auch, insbesondere frühe Quellen sind nicht oder nur fragmentarisch oder in teilweise polemischer Berichterstattung erhalten. Anderes ist nicht im griechischen Originaltext, sondern nur als Übersetzung oder Bearbeitung in die antiken Sprachen des Römischen Reiches, besonders das Koptische, überliefert. Dazu kommt schließlich, dass die Ausdrucksweise der Quellentexte schwierig ist und verschiedenen Interpretationen Raum zu geben scheint. Es handelt sich meist um mythische Darstellungen, die theologisch-philosophische Zusammenhänge in Bildern und Geschichten narrativ darlegen und entwickeln.

Wie begegnen wir diesen Schwierigkeiten, und was erwartet den Leser dieses Sachbuchs? Da wir von einem allgemein anerkannten Begriff von Gnosis nicht ausgehen können, beginnen wir bei den Quellen selbst, um an ihnen aufgrund genauer Analyse zu bestimmen, was Gnosis ist, in welchem Kontext sie steht und was sie aussagen will. Aber an welchen Quellen? Ihre Auswahl muss eine Reihe von Bedingungen erfüllen. Sie müssen das gnostische System, das sie darstellen, umfassend, nicht auswahlweise, darlegen, und sie müssen begründbar repräsentativ für die Gnosis oder doch eine gnostische Schulrichtung sein, d. h. weder aus den allerersten Ansätzen der Gnosis noch aus deren Spätentwicklung stammen. Sie sollten schließlich möglichst in der Originalsprache erhalten sein. Wir erhalten so einen quellenkritisch gesicherten Ausgangspunkt, zunächst nur für diese Texte, von dem aus wir sowohl frühere, nur fragmentarisch erhaltene, als auch gleichzeitige und spätere Zeugnisse der Gnosis untersuchen und sie in Beziehung setzen können. Wir erhoffen uns davon einen genauen Zugang zur Gnosis, der vielleicht sogar noch Neuentdeckungen an den Quellentexten zulässt.

Ausgewählt werden zwei Texte, die mit Sicherheit ins 2. Jahrhundert, genauer: vor 180, zu datieren sind. Der erste ist der in der originalen griechischen Sprache erhaltene Lehrmythos eines Valentinianers, den Irenäus ausführlich zitiert und paraphrasiert und seiner gesamten Widerlegung als repräsentativ für die von ihm als verderblich angesehene Gnosis voranstellt. Der zweite Text ist das sogenannte Apokryphon des Johannes (AJ), das Irenäus ebenfalls in einem Auszug referiert. Es ist vollständig in koptischer Übersetzung in verschiedenen Fassungen erhalten, der Auszug bei Irenäus in lateinischer Übersetzung. Von diesem Text besitzen wir insgesamt vier Handschriften, in Versionen verschiedener Bearbeitungen, was einzigartig ist. Alle andern gnostischen Texte sind nur einmal, sehr selten zweimal überliefert. Auch das lässt auf die Bedeutung dieses Textes und das Interesse, das man daran nahm, schließen. Beide Texte gehören jeweils einer der Hauptrichtungen der Gnosis an, die heute in der Forschung behandelt werden: der erste Text den Valentinianern, benannt nach ihrem Schulgründer Valentin, der zweite Text den sogenannten Sethianern, benannt nach der Erlösergestalt Seth, dem dritten Sohn Adams, zu dessen »Samen« sie sich zählen. Aufgrund der Übereinstimmungen und Unterschiede beider Texte gewinnen wir eine erste Definition von Gnosis. Sie stellt eine Hypothese dar, die dann anhand der weiteren Zeugnisse korrigiert oder präzisiert werden kann.

Um für das Verständnis dieser Texte gerüstet zu sein, befassen wir uns zunächst mit den Bedingungen der Zeit, in denen die Gnosis entstand und zu ihrer vollen Wirkung kam (II), wir skizzieren die Hauptansätze der langen Forschungsgeschichte zur Gnosis (III) und verschaffen uns einen Überblick über ihre erstaunlich reichen und vielfältigen Quellen insgesamt (IV). Aufgrund der vollständigen Besprechung der beiden ausgewählten Texte legen wir dann das Verständnis von Gnosis definitionsartig fest, das diesem Buch zugrundeliegt (V,1 und 2), und haben damit einen Maßstab zur Beurteilung der frühesten Fragmente und Nachrichten über gnostische Lehrer gewonnen (VI). Er ist vorsichtig anzuwenden, denn in der frühen Zeit begegnen uns beeindruckende christlich-gnostische Theologen und Denker, aber auch Spuren von nichtchristlichen Mythen, an denen manches rätselhaft bleiben wird und als solches dann auch benannt werden muss. Das so erarbeitete Konzept von Gnosis grenzen wir von vergleichbaren paganen (Hermetik, philosophische Mysterientheologie) und christlichen (Marcion) Zeitströmungen ab und fassen es so noch schärfer in seiner Eigenart (VII). Wir suchen nach Hinweisen auf das soziale, ethische und kultische Leben der Gnostiker (VIII) und fragen schließlich danach, ob und wie sich gnostisches Denken weiterentwickelt hat. Dabei wird von platonisierenden Entwürfen und von Mani und dem Manichäismus gehandelt werden (IX). Ob und inwiefern von gnostischem Denken auch heute und in der Geschichte des Abendlandes immer wieder die Rede sein kann, wird am Ende kurz zu erörtern sein (X).

Was ist Gnosis? Ich halte Gnosis – und das sei nun doch schon zur Orientierung des Lesers thesenartig vorangestellt – für eine bestimmte Sichtweise von Gott, Mensch und Welt, die ihre eigentliche Ausformung und folglich auch ihre reifsten Früchte erst im Zusammenhang mit dem Christentum und als Deutung des christlichen Glaubens, insbesondere der Zentralgedanken der Briefe des Paulus und des Evangeliums des Johannes, gewonnen hat. Diese waren »gnostisch« verstehbar und interpretierbar, und sie mussten interpretiert werden, um einer intellektuellen, griechisch-philosophisch gebildeten Welt ihren Gehalt nahezubringen. Damit ist über den Ursprung von Gnosis noch nichts gesagt. Möglicherweise kann aber auch die in der Forschungsgeschichte vergangener Jahre so heiß umstrittene Ursprungsfrage ein wenig zugunsten des Aussagegehalts einzelner Texte zurückgestellt werden. Fragt man nach dem Ursprung der Gnosis, impliziert das, dass Gnosis eine festumrissene, als solche identifizierbare Größe ist. Das muss aber nicht so sein. Nicht alles, was polemisierende Kirchenschriftsteller der Gnosis zuordneten, muss gnostisch sein, steht zumal bestimmt nicht auf der gleichen Qualitätsstufe. Auf Differenzierungen in dem großen der Gnosis zugeschriebenen Quellenmaterial wird daher zu achten sein. Hat die Gnosis, wie ich annehme, in Verbindung mit dem Christentum ihre anspruchsvollste und eigentliche Ausformung erreicht, so ist das christliche Element bei einer Definition von Gnosis auf keinen Fall zu übergehen. Nur vorläufig und gleichsam zur ersten Verständigung charakterisiere ich die in diesem Sinne gnostische Sichtweise von Gott, Mensch und Welt als gekennzeichnet durch

die Anschauung von der zu überwindenden Welt, nicht unbedingt von der gänzlich bösen Welt,

die Gewissheit der Zugehörigkeit des Einzelnen zu einem überweltlichen, jenseitigen Gott,

die Überzeugung, dass diese Zugehörigkeit nur durch Gott selbst oder seinen göttlichen Boten, nicht durch den einzelnen Menschen, realisiert und aktiviert werden kann,

die beseligende Gewissheit, zu seinem eigentlichen Selbst gekommen zu sein, wenn der Einzelne diese Zugehörigkeit begriffen und erfahren hat, verbunden mit grenzenloser Freude, Jubel, dem Bewusstsein von Befreiung und der inneren Nötigung, diese weiterzusagen.