Hans J. Massaquoi
»Neger, Neger, Schornsteinfeger!«
Meine Kindheit in Deutschland
Autobiographie/Memoir
Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
FISCHER E-Books
Hans J. Massaquoi, geb. 1926 in Hamburg, ging 1948 zunächst nach Liberia und 1950 in die USA. Nach einem Studium der Zeitungswissenschaft arbeitete er als leitender Redakteur bei «Ebony», der größten afro-amerikanischen Zeitschrift der USA. Heute lebt er mit seiner Frau in Florida.
»Der Führer« kommt nach Hamburg. Die Straßen, durch die sein Konvoi rollt, sind gesäumt von begeistert jubelnden Schulkindern. In dem Meer von blonden und blauäugigen Schülern ein achtjähriger Junge mit brauner Haut, krausen Haaren und – noch – kindlichem Enthusiasmus. Vorerst erreichen ihn nur die Spottverse gleichaltriger Nachbarskinder: »Neger, Neger, Schornsteinfeger!«
Eines Tages aber wird man den Jungen vom Spielplatz jagen mit der schlichten Bemerkung: »Kannst du nicht lesen? Das Betreten dieses Platzes ist nur Ariern erlaubt.« Hans J. Massaquoi beschreibt in seiner Autobiographie seine Kindheit und Jugend zwischen 1926 und 1948 als einer der ganz wenigen schwarzen Deutschen in diesem Land. Seine Hautfarbe bewahrte ihn unter anderem davor, Nazi zu werden. Und sie verhinderte, dass er in den Krieg geschickt wurde wie viele seiner Mitschüler, die nie zurückkamen.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1999
unter dem Titel ›Destined to Witness‹ bei Morrow, New York
© 1999 by Hans J. Massaquoi
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1999
Covergestaltung: Hißmann & Heilmann, Hamburg
Digitalisierung: pagina GmbH, Tübingen
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400299-6
Für meine Mutter Bertha Nikodijevic
(1903–1986)
»Nur wenige besitzen die Fähigkeit, so über sich selbst zu schreiben, dass ihnen nicht gleich Schwäche, Eitelkeit und Egozentrik unterstellt wird; ich habe nur wenig Grund zu der Annahme, dass ich zu diesen wenigen Glücklichen zähle …«
Frederick Douglass
Diese Bedenken, die Frederick Douglass, der große Kämpfer gegen die Sklaverei, vor über einem Jahrhundert so wortgewandt in seiner Autobiografie My Bondage and My Freedom äußerte, sprechen mir aus der Seele. Dass ich mich wie Mr.Douglass trotzdem dazu entschlossen habe, die Geschichte meines Lebens in Buchform zu veröffentlichen, ist unter anderem auf das beharrliche Drängen einiger guter alter Autorenfreunde wie Alex Haley und Ralph Giordano zurückzuführen sowie auch auf meinen früheren Chef und Mentor, den Herausgeber der Zeitschrift EBONY, John H. Johnson. Sie haben mich überzeugt, dass meine Erfahrungen als junger Schwarzer, der in Nazideutschland heranwuchs und überlebte – als Augenzeuge und häufig auch als Opfer des rassistischen Wahnsinns der Nazis und der Bombenangriffe der Alliierten –, so einzigartig sind, dass es meine Pflicht als Journalist ist, einem größeren Publikum diesen völlig anderen Blick auf den Holocaust nahe zu bringen. Da ich zwar in Nazideutschland lebte, aber zugleich ein gefährdeter Außenseiter war, konnte ich die beängstigenden Triumphe und den katastrophalen Zusammenbruch des Dritten Reiches aus einer ganz eigenen Perspektive verfolgen.
Es gibt vier grundlegende Aspekte, durch die sich der persönliche Schrecken, den ich unter den Nazis erduldete, sowohl von den Pogromen unterscheidet, die meine jüdischen Landsleute in Deutschland durchleiden mussten, als auch von den rassistischen Verfolgungen, denen sich meine schwarzen Brüder und Schwestern in den Vereinigten Staaten ausgesetzt sehen:
Als Schwarzer im weißen Nazideutschland war ich derart auffällig, dass ich weder fliehen noch mich verstecken konnte.
Anders als meine schwarzen Brüder und Schwestern in den Vereinigten Staaten konnte ich nicht von Überlebenstechniken profitieren, die in den Jahrhunderten der Unterdrückung von zahllosen Vorfahren entwickelt und von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Ich war also gezwungen, meine ureigenen Instinkte zu verfeinern, um physisch und psychisch in einem Land zu überleben, das von Rassenhass beherrscht wurde und sich unverhohlen der Vernichtung aller »Nicht-Arier« verschrieben hatte.
Die Nazi-Rassisten waren im Gegensatz zu ihren Geistesbrüdern im weißen Amerika früherer Tage keine feigen Feierabendterroristen, die ihre grässlichen Taten im Schutze der Nacht und unter weißen Laken versteckt begingen. Sie machten ihre schmutzige Arbeit offen und unverfroren mit Rückendeckung und Unterstützung ihrer eigenen Regierung, die das Vermischen arischen Blutes mit »minderwertigem«, nichtarischem Blut zur Kardinalsünde erklärt hatte.
Meine deutsche Mutter lehrte mich dadurch, dass sie an mich und meine Möglichkeiten glaubte, an mich selbst zu glauben. Abgesehen von ihrer mutigen und unermüdlichen Unterstützung sah ich mich jedoch praktisch allein der permanenten Bedrohung ausgesetzt, die die nationalsozialistische Politik der ethnischen Säuberungen für mich bedeutete. Das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, das Menschen normalerweise aus ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe ziehen können, selbst wenn diese Gruppe angefeindet wird, fehlte mir vollkommen. Heute leben in der Bundesrepublik Tausende von Afrikanern und so genannten »braunen Babys«, die Kinder schwarzer GIs und deutscher Mütter. Damals jedoch gab es praktisch keine nennenswerte schwarze Bevölkerung in Deutschland. Erst nach dem Krieg erfuhr ich, dass es außer mir doch eine relativ kleine Anzahl schwarzer Deutscher gegeben hatte – einschließlich der tragischen »Rheinland-Bastarde«, deren Väter französische und belgische Kolonialsoldaten des Ersten Weltkrieges waren – und dass die meisten von ihnen in Hitlers Konzentrationslagern ermordet worden waren.
Da von den Deutschen meiner Generation erwartet wurde, dass sie hellhäutig waren und sicher nicht afrikanischer Abstammung, wurde es mein Los, fortwährend zu erklären, wieso jemand mit brauner Haut und schwarzem, krausem Haar akzentfrei Deutsch sprach und Deutschland als Geburtsland für sich beanspruchte. Lassen Sie mich also hier ein weiteres Mal darlegen, dass ich 1926 in Hamburg geboren wurde, da mein Großvater damals liberianischer Generalkonsul in Hamburg war und seine vielköpfige Familie mit nach Deutschland genommen hatte, darunter auch seinen ältesten Sohn, der, nachdem er meiner Mutter, einer deutschen Krankenschwester, erfolgreich den Hof gemacht hatte, schließlich mein Vater wurde. Kurz vor Hitlers Machtergreifung kehrten mein Großvater und mein Vater nach Liberia zurück und ließen meine Mutter und mich in einem zunehmend feindseligen, rassistischen Land zurück, wo wir uns allein durchschlagen mussten.
Die schwere Zeit, in der wir in ständiger Angst sowohl vor den Häschern der Gestapo als auch vor den Bombardierungen der Alliierten lebten, endete im Frühjahr 1945, als Hamburgs nationalsozialistischer Gauleiter Karl Kaufmann die Stadt den anrückenden britischen Truppen kampflos übergab, obwohl Hitler befohlen hatte, Hamburg »bis zum letzten Mann« zu verteidigen.
1948, also drei Jahre nach dem Krieg, fuhr ich zu meinem Vater nach Liberia und blieb dort, bis ich 1950 mit einem auf ein Jahr befristeten Studentenvisum in die USA einreisen konnte. Knapp neun Monate nach meiner Ankunft, als der Koreakrieg schon in vollem Gange war, erhielt ich, offensichtlich auf Grund eines verwaltungstechnischen Fehlers, meine Einberufung zum Militär und diente zwei Jahre lang als Fallschirmspringer in der 82. Luftlandedivision.
Häufig hatte ich Gelegenheit, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Armee, die hässliche Seite Amerikas kennen zu lernen, den Rassismus Marke USA zu erleben und ihn mit dem der Nazis zu vergleichen. So war ich 1966 bei einem Zwischenfall zugegen, der deutlich demonstrierte, dass der Rassismus nicht auf den tiefen amerikanischen Süden beschränkt war, wie oft behauptet wurde. Ich hatte mich einem von Martin Luther King angeführten Protestmarsch durch die rein weiße Wohngegend um den Gage Park in Chicago angeschlossen. Während wir kniend mit Martin Luther King beteten, hagelte es Steine auf uns, und wir wurden unflätig beschimpft. Die aufgebrachte Menge von Weißen konnte durch das dünne Polizeiaufgebot, das zu unserem Schutz abgestellt worden war, nur mühsam in Schach gehalten werden.
Ein besonderes Förderungsgesetz für Armeeangehörige ermöglichte es mir dann, vieles nachzuholen und das Studium zu absolvieren, das mir in Nazideutschland verwehrt geblieben war. Während der Studienzeit gelang es mir, die Liebe einer jungen Sozialarbeiterin aus St. Louis zu gewinnen. Unsere Ehe wurde zwar nach vierzehn Jahren wieder geschieden, doch sie bescherte uns zwei wunderbare Söhne, denen ich einen Großteil des Ansporns verdanke, auf den ich meine bescheidenen Erfolge im Leben zurückführe.
Mit einem Abschluss in Zeitungswissenschaft von der University of Illinois in der Tasche arbeitete ich eine Zeit lang in mehreren kleineren Redaktionen, bis ich schließlich als Redakteur der Zeitschrift Jet bei der Johnson Publishing Co. anfing. Innerhalb eines Jahres wurde ich auf einen ähnlichen Posten bei EBONY versetzt, dem Flaggschiff des Verlages und der größten afroamerikanischen Zeitschrift der USA, mit zwei Millionen Auflage.
Förmlich über Nacht wurde ich zum aktiven Teilnehmer und Beobachter im Kampf der Schwarzen um Gleichberechtigung, der in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren im Norden wie im Süden der USA, in Afrika und in der Karibik ausgetragen wurde. Während meiner fast vierzigjährigen Tätigkeit bei EBONY, in deren Verlauf ich es zum Chefredakteur brachte und einen Sitz im Editorial Board des Blattes einnahm, konnte ich einige historische Ereignisse unserer Zeit aus nächster Nähe verfolgen. Im Rahmen meiner Arbeit bereiste ich die Vereinigten Staaten, Afrika, Europa, Asien und die Karibik, und ich begegnete vielen bekannten Persönlichkeiten unseres Jahrhunderts, darunter auch drei US- Präsidenten (Carter, Reagan und Bush). Für meine verschiedenen Reportagen führte ich Interviews mit Staatsmännern wie dem nigerianischen Präsidenten Nnamdi Azikiwe, dem Präsidenten von Botswana, Tseretse Kama, dem Präsidenten von Liberia, William Tolbert, dem namibischen Präsidenten Sam Njomo, den jamaikanischen Premierministern Michael Manley und Edward Seaga. Ich sprach mit Bürgerrechtlern wie Martin Luther King, Reverend Jesse Jackson und Malcolm X, und ich lernte eine Reihe von »lebenden Legenden« kennen, so beispielsweise Lena Horne, Diana Ross, Shirley Temple Black, Joe Louis, Max Schmeling und Muhammad Ali.
Fast vierzig Jahre lang über die Leistungen schwarzer Menschen zu berichten war nicht nur überaus befriedigend, es ersparte mir auch den psychologischen Konflikt, den viele gemischtrassige Menschen im Hinblick auf ihre rassische Identität durchleben. Die Arbeit half mir, eine stabile psychische Basis zu finden, nachdem ich zwölf Jahre lang unter der Naziherrschaft entmenschlicht und gedemütigt worden war. Ich hätte unmöglich zum Zeugen des Kampfes um Überleben und Gleichberechtigung der Schwarzen im rassistischen Amerika werden können, ohne mich selbst als Schwarzer zu fühlen und stolz darauf zu sein. Die Sternstunde der Bürgerrechtsbewegung war der Marsch nach Washington im Jahre 1963. Damals stand ich am Lincoln Memorial und hörte Martin Luther Kings unvergessliche Rede mit den beschwörend wiederholten Worten »I have a dream«, eine Erinnerung, die zu meinen stolzesten und kostbarsten zählt.
Als Kind wuchs ich unter einfachen deutschen Arbeitern auf. Ich erlebte den Aufstieg eines der brutalsten Herrschaftssysteme, das je von Menschen ersonnen wurde, und – nach zwölf quälend langen Jahren – dessen verdienten Zusammenbruch. Aus meiner besonderen Position heraus konnte ich unmittelbar beobachten, wie das Nazigift langsam, aber sicher seine tödliche Wirkung entfaltete, bis sich anständige und vernünftige Männer und Frauen in fanatische Rassisten verwandelten und bereit waren, alles zu vernichten, das nicht in ihre Vorstellung einer neuen Weltordnung passte, in der »Deutschland, Deutschland über alles« wörtlich verstanden wurde. Die historische Tatsache, dass die Deutschen als Volk nur allzu gewillt waren, gemeinsame Sache mit einem Haufen gewissenloser politischer Abenteurer zu machen, an deren Spitze ein blutrünstiger Wahnsinniger stand, wird häufig als Beweis dafür gesehen, dass alle schuldig wurden. Aber es wurden nicht alle Deutschen schuldig. Ich weiß, dass viele – leider nicht so viele, dass es einen entscheidenden Unterschied gemacht hätte – anständige Menschen blieben, trotz des Drucks, der von der Naziführung ausgeübt wurde, und obwohl Anständigkeit völlig aus der Mode gekommen war. Einigen dieser Menschen habe ich es zu verdanken, dass ich weitgehend unbeschadet überlebte. Sie widerstanden der Versuchung, im herrschenden Zeitstrom rassistischen Wahnsinns mitzuschwimmen, und sahen in mir nie etwas anderes als einen wertvollen Mitmenschen.
Dass ich, ein offenkundiger Nicht-Arier, der Vernichtung entging, dass mir Sterilisation oder medizinische Experimente in einem von Hitlers Todeslagern erspart blieben, schreibe ich vor allem zwei glücklichen Umständen zu. Zum einen gab es im Gegensatz zu den Juden so wenige Schwarze, dass die Nazis sie bei ihren Vernichtungsplänen als relativ unbedeutend einstuften. Zum anderen verlief der Vormarsch der Alliierten so unerwartet schnell, dass die Nazis mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt waren. In vielen Fällen kamen die Henker der Gestapo um, bevor sie Zeit hatten, ihre rassischen Säuberungen endgültig abzuschließen.
Ich habe die Ereignisse meiner Jugendjahre Revue passieren lassen und mich dabei überwiegend auf mein Gedächtnis verlassen. Wenn es um Geschehnisse ging, die vor meiner Geburt oder vor dem Beginn meines Erinnerungsvermögens lagen, so vertraute ich dem Gedächtnis meiner Mutter und anderer Familienmitglieder in Deutschland, den Vereinigten Staaten und Liberia. Da nicht alles, was im Buch erwähnt wird, schmeichelhaft für die jeweiligen Beteiligten ist, habe ich einige Namen geändert, um gewissen Leuten Anonymität zu ermöglichen und ihnen Peinlichkeiten zu ersparen.
Als ich an einem schönen Sommermorgen des Jahres 1934 in meiner Schule in Barmbek ankam, teilte uns Herr Grimmelshauser, unser Lehrer in der dritten Klasse, mit, dass sich die gesamte Schülerschaft und der Lehrkörper auf Anordnung von Schulleiter Wriede auf dem Schulhof versammeln sollten. Dort verkündete Herr Wriede, wie so oft bei besonderen Gelegenheiten in seiner braunen Naziuniform, dass »der größte Moment in eurem jungen Leben bevorsteht«. Wir seien nämlich vom Schicksal dazu auserkoren worden, »unseren geliebten Führer Adolf Hitler« mit eigenen Augen sehen zu dürfen. Um diese Ehre, so versicherte Herr Wriede uns, würden uns unsere zukünftigen Kinder und Kindeskinder dereinst beneiden. Ich war damals acht Jahre alt, und ich hatte noch nicht begriffen, dass ich unter den fast sechshundert Schülern auf dem Schulhof der einzige war, den Herr Wriede nicht meinte.
Wir nahmen Wriede beim Wort, und schon bald herrschte in der gesamten Schule helle Aufregung und Vorfreude auf dieses seltene, völlig unerwartete Glück eines praktisch schulfreien Tages. Wir waren alle gründlich indoktriniert, wussten vom heldenhaften Aufstieg des Führers zur Macht, von seinen übermenschlichen Anstrengungen, Deutschland von der »Versklavung« zu befreien, unter der es seit dem verlorenen Ersten Weltkrieg litt, von Hitlers Entschlossenheit, die Nation wieder zu Ruhm und Stärke zu führen. Die Allgegenwart des Führers war bereits zu spüren. Seine Porträts hingen wirklich überall – in der ganzen Schule, in öffentlichen und privaten Räumen, waren auf Plakaten und Briefmarken, in Zeitungen und Zeitschriften zu sehen. Noch eindringlicher waren seine mittlerweile vertraute Stimme im Radio und seine regelmäßigen Auftritte in den Wochenschauen. Jetzt hatten wir die Chance, diesen sagenhaften Retter und Wohltäter des Vaterlandes mit eigenen Augen zu sehen. Für die meisten von uns, auch für mich, bedeutete das Ereignis eine unvorstellbare Sternstunde.
Getragen von unserer Begeisterung und von unseren Lehrern flankiert, marschierten wir fast eine Stunde lang bis zu einer Stelle an der Alsterkrugchaussee, einer großen Durchgangsstraße, die auch zum Hamburger Flughafen in Fuhlsbüttel führt. Die gesamte Strecke vom Flughafen bis zum ehrwürdigen Hamburger Rathaus im Stadtzentrum, die die Wagenkolonne des Führers nehmen sollte, wurde von Tausenden fast hysterischer Menschen gesäumt. Gestrenge Braunhemden hielten sich an den Händen und bildeten eine undurchdringliche und endlose Menschenkette, die die Massen davon abhielt, auf die Straße zu drängen. Wir Kinder saßen am Bordstein hinter den SS- und SA-Leuten und mussten eine stundenlange quälende Wartezeit über uns ergehen lassen. Aber gerade als unsere überstrapazierte Geduld zu reißen drohte, schwoll das Tosen der Menge aus Richtung Flughafen zu einem ohrenbetäubenden Crescendo an. In diesem Moment schmetterte eine Marschkapelle der SS ganz in der Nähe die Auftaktfanfaren des Badenweiler Marsches, des Lieblingsmarsches des Führers, mit dem sein Nahen offiziell angekündigt wurde. Der Augenblick, auf den alle gewartet hatten, war da. Der Führer stand aufrecht neben dem Fahrer seines Mercedes-Kabrioletts, den rechten Arm zum Hitlergruß erhoben, ausdruckslos geradeaus starrend, und der Wagen rollte in flottem Schritt-Tempo vorbei.
Der »größte Moment unseres Lebens«, auf den Schulleiter Wriede uns vorbereitet hatte, währte nur wenige Sekunden, aber mir kamen sie wie eine Ewigkeit vor. Da stand ich, ein achtjähriger, kraushaariger, dunkelhäutiger Junge in einem Meer von blonden und blauäugigen Kindern, erfüllt von kindlichem Patriotismus und noch geschützt durch selige Unwissenheit. Wie alle um mich herum jubelte ich dem Mann zu, der sein Leben der Vernichtung aller »minderwertigen nichtarischen Menschen«, wie ich einer war, gewidmet hatte, dem Mann, der die Welt nur wenige Jahre später an den Rand des Untergangs bringen und sein eigenes Volk in die größte Katastrophe seiner langen Geschichte führen würde.
Die Geschichte, durch die ich Teil jener fanatisch jubelnden Masse wurde, begann nicht am 19. Januar 1926, dem Tag meiner Geburt. Sie begann auch nicht in Hamburg, meiner Geburtsstadt. Nein, sie begann fünf Jahre früher und über fünftausend Kilometer weit entfernt in Westafrika, in der liberianischen Hauptstadt Monrovia. Sie begann mit der cleveren Entscheidung des Präsidenten, sich eines möglichen politischen Rivalen zu entledigen. Der Mann hieß Momolu Massaquoi und war mein zukünftiger Großvater väterlicherseits.
Charles Dunbar King, der vierzehnte Präsident Liberias, hatte schon seit einiger Zeit die wachsende Popularität Massaquois als potenzielle Gefahr erkannt. Massaquoi war in den USA zur Schule gegangen und hatte nach dem Tod seiner Eltern als Momolu IV. zehn Jahre lang über das Volk der Vai geherrscht, das im Grenzgebiet zwischen Liberia und der britischen Kolonie Sierra Leone lebte. Nachdem er auf Grund einer Stammesfehde gezwungen worden war, auf die Krone zu verzichten, war er in die liberianische Politik gewechselt. Es war seiner Sache ungemein dienlich, dass er sich von seinen fünf Vai-Frauen trennte und die junge, schöne Rachel Johnson heiratete, die, wie es eine glückliche Fügung wollte, aus politisch einflussreichen und wohlhabenden Verhältnissen stammte. Sie war die Enkelin von Hilary W. R. Johnson, dem ersten aus dem Lande selbst stammenden Präsidenten Liberias. Die Ehe bescherte Massaquoi etwas, ohne das niemand in der liberianischen Politik reüssieren konnte – die gesellschaftliche Anerkennung der herrschenden Klasse der »Ameriko-Liberianer«.
Mit Hilfe seines politischen Geschicks, seines Charmes und seines guten Aussehens machte Massaquoi eine steile politische Karriere. Da er sowohl bei den Ameriko-Liberianern als auch bei seinem Stammesvolk Unterstützung fand, war der aristokratische Massaquoi bald eine nicht zu unterschätzende politische Macht. Schon wurde er in hohen politischen Kreisen als der nächste Präsident gehandelt. Bis Präsident King beschloss, solchen Spekulationen ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Aber wie? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Sie kam in Gestalt eines Abgesandten der ersten Regierung der Weimarer Republik, Dr.Busing. Er traf sich mit Präsident King, um die Möglichkeit einer engeren Zusammenarbeit zwischen Liberia und Deutschland zu erörtern. Bei diesem Treffen war auch der Innenminister anwesend, Momolu Massaquoi.
Der Deutsche kam schnell zur Sache. Nach Auffassung seiner Regierung, so erklärte er, sei es an der Zeit, dass die beiden Länder durch die Einrichtung von Generalkonsulaten diplomatische Beziehungen zueinander aufnähmen. Ein solcher Schritt wäre für beide Länder von Vorteil: Liberia würde sich einen dringend benötigten Absatzmarkt für Rohstoffe und Produkte wie Kautschuk, Kakao und Palmöl eröffnen, und Deutschland hätte auf diese Waren wieder ungehinderten Zugriff, einen Zugriff, den es zusammen mit seinen afrikanischen Kolonien nach dem verlorenen Krieg eingebüßt hatte.
Sehr zur Freude des Deutschen war der Präsident nicht nur interessiert, sondern drängte sogar darauf, den Plan so bald wie möglich in die Tat umzusetzen. Allerdings, so gab der Gesandte zu bedenken, sei es überaus wichtig, den richtigen Mann für diese Aufgabe zu finden.
»Ich glaube, ich habe da genau den Richtigen für Sie«, erwiderte der Präsident mit einem vielsagenden Blick auf seinen Innenminister. »Das heißt, ich weiß es.«
Sechs Monate nach dem Besuch des deutschen Gesandten traf Momolu Massaquoi, der frisch gebackene liberianische Generalkonsul in Deutschland, am 12. Juni 1922 in Hamburg ein. Er wurde begleitet von seiner Frau Rachel, seinen Söhnen, dem siebzehnjährigen Nathaniel und dem einjährigen Arthur, und seiner zehn Jahre alten Tochter Fatima. Fünf seiner sechs erwachsenen Söhne aus seinen früheren Ehen waren in Afrika geblieben. Sein Ältester und Lieblingssohn, Al-Haj, war bereits in Europa und studierte in Dublin.
Es war ein kalter Sonntagmorgen im Februar. Man schrieb das Jahr 1905. Wie so oft schon ging der Steinbruchmeister Hermann Baetz durch die winterliche Waldlandschaft im Harz, in der Nähe des Ortes Uftrungen. Er war auf dem Weg zur Pulverhütte, wo große Mengen Dynamit lagerten, um ein paar Stangen für eine Sprengung zu holen, die für den nächsten Morgen angesetzt war. Normalerweise gelangte man schnell vom Steinbruch zur Pulverhütte, aber bei dem fast dreißig Zentimeter hohen Schnee kam Meister Baetz nur langsam voran.
An diesem Morgen war ihm unbehaglich zu Mute, und das aus gutem Grund. Im letzten Monat war er zweimal nur knapp dem Tode entronnen. Das erste Mal war eines der Halteseile gerissen, als er im Steinbruch eine Strickleiter hochstieg, um Sprenglöcher in eine Steilwand zu bohren. Zum Glück hatte er sich so lange an einer Sprosse festklammern können, bis ihn einige seiner Leute aus seiner misslichen Lage retten konnten. Als er wenige Tage später fast von einem Felsbrocken erschlagen worden wäre, der nur wenige Zentimeter neben ihm auf den Boden aufschlug, wurde ihm klar, dass das kein Zufall war. Eine Untersuchung bestätigte seinen Verdacht. Jemand hatte sich an der Strickleiter zu schaffen gemacht, und auch der Felsbrocken war nicht von allein heruntergestürzt.
Noch vor diesen »Unfällen« hatte ihn seine Frau Martha gebeten, vorsichtig zu sein. Seitdem er mehrere italienische Arbeiter entlassen und sie durch arbeitslose Deutsche ersetzt hatte, fürchtete sie – berechtigt oder nicht – um seine Sicherheit. Er hatte nichts gegen Ausländer, er war nur ein deutscher Patriot mit einfachen Prinzipien und der festen Überzeugung, dass Nächstenliebe zu Hause beginnen muss. In den Jahren, als es noch genug Arbeit gab, waren immer wieder Italiener im Steinbruch beschäftigt gewesen. Aber ein ungeschriebenes Gesetz besagte, dass sie als Letzte eingestellt und bei einer Verschlechterung der Wirtschaftslage als Erste entlassen wurden. Die Italiener hatten das Gefühl, bestenfalls als notwendiges Übel geduldet zu werden. Sie wohnten am Ortsrand und beschränkten ihre Kontakte zu den Einheimischen auf ein Minimum, was diesen nur recht war.
Als Meister Baetz die Pulverhütte betrat, erschütterte eine ohrenbetäubende Explosion den stillen Wald und ließ die Erde erbeben; ihr Echo war im Umkreis von vielen Kilometern zu hören.
Martha hörte die Explosion und wusste sofort, dass ihrem Mann etwas Schreckliches zugestoßen war. Obwohl fast im achten Monat schwanger, rief sie rasch die drei jüngsten ihrer acht Kinder, Bertha, Frieda und Karl, und rannte mit ihnen in den Ort, um Hilfe zu holen. Aber einige Steinbrucharbeiter, aufgeschreckt durch die für einen Sonntag ungewöhnliche Detonation, waren bereits auf dem Weg zur Pulverhütte. Martha wollte ihnen nacheilen, wurde jedoch von einigen Arbeiterfrauen zurückgehalten. Gemeinsam mit ihnen und den Kindern wartete sie ängstlich auf die Rückkehr der Männer. Die Nachricht, die ihr schließlich von den Arbeitern überbracht wurde,war noch schlimmer, als Martha befürchtet hatte. Da, wo früher die Pulverhütte gewesen war, hatten sie nur noch einen riesigen Krater gefunden und einige Reste der Hüttenbalken. Von Meister Baetz war nur ein Perlmuttknopf seiner Weste und der schauerliche Überrest eines abgetrennten großen Zehs übrig geblieben.
Bei der Untersuchung des Unglücks am nächsten Tag wurde festgestellt, dass Meister Baetz einem Mord zum Opfer gefallen war. Die Explosion war in dem Augenblick ausgelöst worden, als der Steinbruchmeister die Pulverhütte betrat. Wer den Anschlag verübt hatte, konnte nie endgültig geklärt werden. Nachdem sich das Entsetzen über die Tat gelegt hatte, kehrte in Uftrungen wieder der Alltag ein. Für Martha und ihre Kinder jedoch bedeutete die Explosion an jenem Sonntagmorgen im Februar 1905 eine Katastrophe. Einen Tag nach der Trauerfeier für ihren Mann musste sie das firmeneigene kleine Häuschen räumen, um Platz für den neuen Steinbruchmeister mit seiner Familie zu machen. Als auch noch ihre Tochter Clara auf die Welt kam, erhöhte sich ihre ohnehin schon stattliche Kinderschar auf neun. Trotz scheinbar unüberwindlicher Schwierigkeiten ließ sich die damals knapp vierzigjährige Martha nicht unterkriegen. Sie zog von Ort zu Ort und blieb dort, wo sie Arbeit und eine bezahlbare Wohnung fand. Sie ging putzen, wusch Wäsche und half bei Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen aus. Schließlich ließ sie sich mit ihren Kindern in Nordhausen nieder, einem malerischen mittelalterlichen Städtchen. Dort besann sie sich auf ihren erlernten Beruf als Hebamme und konnte sich mit der Zeit ein recht gutes Auskommen sichern, indem sie kleinen Nordhausenern auf die Welt half.
Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Juli 1914 hatte Martha, die auf die fünfzig zuging, ihr selbst gestecktes Lebensziel nahezu erreicht, nämlich alle ihre Kinder zu anständigen Menschen zu erziehen, die für sich selbst sorgen konnten. Anna, die Älteste, war gut verheiratet und hatte schon eigene Kinder, Hermann war Aufseher auf einem Gut, Martha arbeitete als Näherin, Hedwig als Köchin im Haushalt einer reichen Familie, Paul hatte gerade seine Lehre als Konditor abgeschlossen, und Karl würde bald seine Prüfung zum Schneider ablegen. Die Einzigen, die noch bei ihr zu Hause wohnten, waren die drei jüngsten Töchter, die vierzehnjährige Frieda, die elfjährige Bertha (meine zukünftige Mutter) und die neunjährige Clara.
Die Baetz-Jungen wurden nacheinander in die kaiserliche Armee eingezogen und dienten im Krieg. Als sie 1918 nach der deutschen Kapitulation wieder ins Zivilleben zurückkehrten, herrschte in Deutschland große Arbeitslosigkeit, und die Zukunftsaussichten waren schlecht. Hermann, der Abenteuerlustigste von ihnen, beschloss, sein Glück in den Vereinigten Staaten zu suchen. Sobald er in der Neuen Welt Fuß gefasst hatte, wollte er den Rest der Familie nachkommen lassen. Anfang der zwanziger Jahre reiste Hermann also mit dem Schiff nach New York und dann weiter nach Chicago, wo er als Mädchen für alles in einem deutschen Restaurant arbeitete. Drei Jahre lang sparte er jeden Dollar, und schließlich hatte er genug Geld beisammen, um Paul, Martha, Hedwig und Clara nachkommen zu lassen. Karl und Frieda sollten die Nächsten sein, doch inzwischen hatten sie beide geheiratet und beschlossen, bei ihrer Mutter zu bleiben, die so schwer an Zucker erkrankt war, dass eine Emigration in die USA nicht mehr in Frage kam. Bertha hatte derweil ihre Ausbildung als Hilfskrankenschwester beendet und wollte eigentlich zu ihren Geschwistern nach Amerika, doch plötzlich änderte sie ihre Meinung. Als sie von einer freien Stelle in einem kleinen Privatkrankenhaus in Hamburg hörte, sagte sie ihrer Mutter und dem Kleinstadtleben Lebewohl und bestieg den nächsten Zug nach Hamburg. Schon bald sollte sie feststellen, dass dieser Schritt weitreichendere Folgen haben würde, als sie es sich je hätte träumen lassen.
Die Weimarer Republik, in der der neu ernannte Generalkonsul Massaquoi im Frühjahr 1922 sein diplomatisches Debüt gab, war gleichsam ein brodelnder Vulkan kurz vor der Eruption. Auf Grund der Unzufriedenheit über die hohe Arbeitslosigkeit und eine galoppierende Inflation waren Straßenunruhen an der Tagesordnung. Immer wieder kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der politischen Linken und Rechten. Nationalisten machten ihrem Zorn über den Versailler Vertrag Luft und beschuldigten die Juden als Verräter und Verschwörer. Kurz nach Massaquois Amtsantritt in Hamburg wurde der jüdische Außenminister Walther Rathenau, der sich für die Erfüllung der Reparationsforderungen der Siegermächte eingesetzt hatte, auf der Fahrt ins Auswärtige Amt von antisemitischen Rechtsradikalen erschossen. Der Münchner Putsch im November des Jahres 1923, mit dem ein unbekannter Österreicher namens Adolf Hitler versuchte, die bayerische und die Berliner Regierung zu stürzen, war nur einer von vielen Versuchen, das Ende der bereits schwankenden Weimarer Republik herbeizuführen.
Trotz dieser nicht eben verheißungsvollen Bedingungen machte sich der liberianische Diplomat mit frischem Elan an seine neue Aufgabe in der hanseatischen Metropole. Als erster offizieller Repräsentant eines unabhängigen afrikanischen Staates wurde Momolu Massaquoi innerhalb weniger Jahre zu einem der bekanntesten und beliebtesten Mitglieder des konsularischen Korps. Außerdem galt er unter prominenten und renommierten Bürgern und Besuchern Hamburgs als vorzüglicher Gastgeber. Für afrikanische Nationalisten wie Jomo Kenyatta aus Kenia, die aus ihrem europäischen Exil heraus gegen den Kolonialismus kämpften, bot die freundliche Atmosphäre in Massaquois Villa nahe der Alster an der Johnsallee im gediegenen Stadtteil Rotherbaum die ideale Umgebung für ihre geheimen Strategiebesprechungen. Auch Bürgerrechtler, Künstler, Intellektuelle und Sportler aus den Vereinigten Staaten genossen gelegentlich die Gastfreundschaft des Hauses. Zu den bekanntesten unter ihnen zählten der Lyriker Langston Hughes, Jazzstar Louis Armstrong, der ehemalige Schwergewichtsmeister Jack Johnson, der Sänger Roland Hayes und der Philosoph Alain Locke.
Neben seinen zahlreichen konsularischen Aufgaben fand Momolu noch Zeit, um zu schreiben, an der Hamburger Universität Vorträge über afrikanische Sprachen zu halten, die Bibel ins Vai zu übersetzen und ein wunderbar illustriertes Buch über Liberia zu verfassen, das Liberia eigentlich erst ins Bewusstsein der Deutschen brachte.
Unterdessen wurden für meine zukünftige Ankunft auf Erden die ersten notwendigen Schritte eingeleitet. Das Schicksal brauchte ein paar kleinere Anstöße, um die »Merkwürdigkeit« meiner deutschen Geburt zu Wege zu bringen. Ein solcher Anstoß kam in Form einer Mandelentzündung, an der mein Großvater in spe erkrankte. Er ließ sich die Mandeln entfernen, und während des dafür erforderlichen kurzen Krankenhausaufenthaltes wurde der vornehme und charmante VIP-Patient von Ärzten und Schwestern über Gebühr hofiert und verwöhnt. Nach seiner Entlassung gab der Exkönig, um sich für die angemessen königliche Behandlung erkenntlich zu zeigen, in seiner Villa ein kleines Fest für die Ärzte und Krankenschwestern, die ihn umsorgt hatten.
Auf diesem Fest – und das war ein weiterer kleiner Anstoß des Schicksals – war auch Momolus ältester Sohn anwesend. Der sechsundzwanzigjährige Al-Haj, der am Trinity College in Dublin studierte, hatte nämlich gerade Semesterferien. Seit seiner Geburt war Al-Haj der Liebling seiner Eltern gewesen, und so nahm es nicht wunder, dass er sich zu einem verwöhnten, egoistischen jungen Beau entwickelt hatte, der es gewohnt war, seinen Willen zu bekommen. Er konnte sich jedoch glücklich schätzen, dass er nicht nur einen beträchtlichen Teil der intellektuellen Fähigkeiten seines Vaters, sondern auch dessen Charme geerbt hatte, der ihm besonders im Umgang mit Vertreterinnen des anderen Geschlechts zugute kam. Während er auf der Party zwischen den Gästen seines Vaters umherschlenderte, fiel ihm eine hübsche, brünette junge Frau auf, kaum älter als zwanzig, die allein in einer Ecke stand. »Ich bin Al-Haj Massaquoi«, stellte er sich auf Englisch vor und bemerkte amüsiert, dass die junge Frau verunsichert war, weil ein Fremder sie ansprach. »Do you speak English?«
Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid. Ich verstehe nicht.«
»Dann muss ich mich wohl mit meinen wenigen Brocken Deutsch behelfen«, erwiderte er in flüssigem Deutsch mit einem starken Akzent. »Wie heißen Sie?«
»Bertha«, antwortete sie und musterte dabei verstohlen den eleganten jungen Afrikaner, seinen maßgeschneiderten Anzug, sein markantes, dunkles Gesicht, das kurz geschnittene, schwarze afrikanische Haar und den gepflegten Schnurrbart. Besonders angenehm fielen ihr seine schlanken und doch kräftig aussehenden Hände und die makellosen, unglaublich weißen Zähne auf. Sie musste daran denken, wie sehr er sich doch von den unbeholfenen, derben jungen Männern in ihrer Heimatstadt Nordhausen abhob, mit denen sie ab und zu mal tanzen gegangen war.
»Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben«, sagte Al-Haj.
»Ich beiße nicht. Ich weiß ja nicht, was man Ihnen über uns Afrikaner erzählt hat, aber ich kann Sie beruhigen, ich bin kein Kannibale.«
Dass er ihre Zurückhaltung für Angst hielt, war ihr peinlich, und sie versicherte ihm hastig, dass sie nichts dergleichen gedacht hatte. Deshalb sagte sie auch sofort Ja, als er sie für den nächsten Tag zu einer Spritztour mit seinem neuen Auto einlud, einem Geschenk seines Vaters.
Die Autofahrt, auf die noch viele folgen sollten, war der Beginn einer Werbephase, in der Al-Haj das Herz der unerfahrenen Bertha im Sturm eroberte, so dass sie sich schließlich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen konnte. So oft wie eben möglich kam Al-Haj von Dublin nach Hamburg, ging mit ihr in Varietés, zum Tanzen auf die Reeperbahn, zu Pferderennen, ins Theater, in die Oper und sogar zu Boxkämpfen. Doch bei den vielen Aktivitäten zögerte Al-Haj irgendwie immer wieder den lang versprochenen Gang zum Altar hinaus. Wenn Bertha das Thema ansprach, erklärte er stets, seine Prüfungen ließen ihm nicht genug Zeit, eine so große Hochzeit zu planen und auszurichten, wie sie für den Sohn eines liberianischen Generalkonsuls angemessen sei. Aber das Schicksal hatte bereits den letzten Anstoß gegeben. Ungestüm und nicht gewillt, meine Ankunft noch länger hinauszuschieben, erblickte ich zwei Monate früher als erwartet, am Dienstag, dem 19. Januar 1926, im Eppendorfer Krankenhaus das Licht der Welt. Meine Mutter nannte mich Hans-Jürgen, entsprechend der damals vorherrschenden Neigung zu Bindestrichnamen. Nur sechs Monate später gebar Momolus Ehefrau Rachel ihm einen weiteren Sohn – und mir einen kleinen Onkel –, den sie Fritz nannten.
Momolu, der meine Mutter ins Herz geschlossen hatte, bestand darauf, dass sie und ich zu den Massaquois auf die Johnsallee zogen, während mein Vater die meiste Zeit in Irland war, um sein Jurastudium abzuschließen. Von Stund an war das Haus sprachlich geteilt. Mit meiner Mutter und mir sprachen alle Deutsch, untereinander sprachen sie Englisch. Schon bald schallte das Gekreische zweier Kleinkinder durch die stattliche Villa, und meine Mutter, die ihre Arbeit im Krankenhaus aufgegeben hatte, versuchte, die ständigen Zankereien zwischen »Onkel« Fritz und mir zu schlichten, damit wir Momolu, um dessen Aufmerksamkeit wir beide wetteiferten, nicht störten.
Die Tatsache, dass ich als Kind in dem Glauben lebte, der Mittelpunkt des Universums und etwas ganz Besonderes zu sein, hat mit meinen ersten Kontakten zur Außenwelt zu tun. Es verging kein Tag, an dem die Leute sich nicht nach mir umsahen und hingerissen »Wie niedlich!« oder »Ist der nicht süß?« oder dergleichen mehr riefen. Manchmal nahm diese Begeisterung handfeste Formen an, wenn Passanten mir Süßigkeiten, Obst oder sogar Geld schenken wollten. Zu meinem größten Bedauern durfte ich nichts davon annehmen. Mir fiel bald auf, dass anderen Kindern nicht so viel Aufmerksamkeit zuteil wurde wie mir, und als ich meine Mutter fragte, wieso, erklärte sie mir, das läge daran, dass alle meine »schöne braune Haut und das schwarze Kraushaar« bewunderten. Bis dahin war mir nie aufgefallen, dass ich mich körperlich von anderen Menschen und auch von meiner Mutter unterschied. Doch von da an nahm ich die Unterschiede zwischen den rassischen Merkmalen von Europäern und Afrikanern deutlich wahr. Da mein Großvater – ein sehr dunkler Mann – die alles beherrschende Figur in meinem Universum war und die meisten Weißen untergeordnete Rollen spielten, betrachtete ich dunkle Haut und krauses Haar als Kennzeichen von Überlegenheit. Demzufolge nahm ich die mir zufallende Bewunderung als selbstverständlich entgegen.
Großvater Momolu war ein Kindernarr, der so viel Zeit mit uns Kindern verbrachte, wie er nur konnte. Tatsächlich sah ich ihn häufiger als meinen Vater, der kurz vor dem Abschluss seines Studiums stand und bereits in verschiedenen Hamburger Unternehmen arbeitete, um praktische Erfahrungen im Im- und Export zu sammeln. Da Momolu, Fritz und ich im Gegensatz zu den anderen Familienmitgliedern Frühaufsteher waren, frühstückten wir drei morgens allein im Wintergarten mit Blick auf den baumbestandenen Park. Während wir aßen – es gab zwei Melonen und eine Schale Haferbrei –, ergötzte sich der alte Gentleman an den deutschen Kinderversen, die ich ihm beispielsweise aus dem Struwwelpeter vortrug. Meine Mutter las mir oft daraus vor, und ich kannte ihn auswendig. Die größte Begeisterung erntete ich mit der Geschichte von den »drei Tintenbuben«, die vom Nikolaus zur Strafe, weil sie sich über einen »kohlpechrabenschwarzen Mohr« lustig gemacht hatten, in ein Fass mit schwarzer Tinte getunkt werden. Jedes Mal, wenn ich diesen überheblichen, versteckt rassistischen Kinderbuchklassiker zitierte, schüttelte sich mein Großvater vor Lachen. Zur Belohnung erzählte er mir Geschichten von uralten afrikanischen Königreichen und von ihren mächtigen Herrschern. Er erzählte mir auch, dass er früher selbst König gewesen war, was ich ihm nicht glauben wollte, bis er mir ein Foto von sich zeigte, auf dem er mit einer Königsrobe und -krone zu sehen war. Er erklärte mir, dass er die Krone in Liberia gelassen hatte, und versprach, mich eines Tages dorthin mitzunehmen, um sie mir zu zeigen. Ganz gleich, wie oft er mir erläuterte, dass er Krone und Königswürde an einen jüngeren Vetter abgetreten hatte, weil er es leid gewesen war, König zu sein, ich konnte einfach nicht begreifen, wie jemand keine Lust mehr haben konnte, König zu sein.
Jeden Sonntagnachmittag ging Momolu mit Arthur, Fritz und mir an der Alster spazieren. Wir boten ein eindrucksvolles Bild: mein Großvater mit Homburg auf dem Kopf, pelzbesetztem Ulstermantel und modischen Gamaschen, wir Jungs in Matrosenanzügen und -mützen, die damals groß in Mode waren. Diese Spaziergänge fanden ihren krönenden Abschluss stets in einem kleinen, vornehmen Café, wo es köstlich nach Kakao, frischem Kaffee und Gebäck duftete. Unter den diskret neugierigen Blicken der anderen Gäste wurde »Seine Exzellenz« mit der kindlichen Entourage beflissen an einen der besten Tische geführt, wo mein Großvater mir zu meiner großen Freude die Aufgabe übertrug, die verschiedenen Köstlichkeiten – Kuchen und Torten mit gewaltigen Bergen Schlagsahne – zu bestellen. Die Ehre wurde mir deshalb zuteil, weil weder Arthur noch Fritz, die zu Hause überwiegend Englisch sprachen, sich mit meinem Deutsch messen konnten, und nichts schien meinen Großvater mehr zu erfreuen als die verblüfften Mienen der anderen Gäste, wenn ich meine Aufgabe mit begeistertem Narzissmus bravourös meisterte.
Manchmal ließ Momolu mich sogar spätabends aus dem Bett holen, damit ich seinen afrikanischen und deutschen Dinnergästen meine sprachlichen Fähigkeiten vorführen konnte. Bei diesen Gelegenheiten bat er mich, deutsche Kinderlieder wie beispielsweise »Hänschen klein« zu singen, ein Wunsch, den ich ihm nur allzu gern erfüllte. Der Lohn war die verwunderte Begeisterung der Erwachsenen, die über mein akzentfreies Deutsch mit dem unverkennbaren Hamburger Einschlag ganz aus dem Häuschen gerieten. Außerdem steckten sie mir immer Silbermünzen zu, die postwendend in mein Sparschwein wanderten.
Eines Tages verkündete mein Großvater, dass er Fritz, Arthur und mir einen großen afrikanischen Schatz zeigen wolle, der per Schiff nach Hamburg gekommen sei. Wir fuhren zum Hafen, wo gerade ein Schiff aus Liberia eingelaufen war, das eine große Ladung Elefantenstoßzähne an Bord hatte. Vor den Augen einer riesigen Menschenmenge wurde das kostbare Elfenbein mit Kränen entladen. Fritz und ich waren die Einzigen, die unbeeindruckt blieben, weil wir Berge aus Gold und Silber erwartet hatten und nicht diese, wie wir fanden, »dreckigen Pfeifen«.
Für mich war Momolu einfach der »Opa«, ein sanfter und nachsichtiger Mann, dessen Hauptlebenszweck in meinen Augen darin bestand, dafür zu sorgen, dass mir jeder Wunsch erfüllt wurde. Erst sehr viel später konnte ich gebührend würdigen, was für ein bedeutender und angesehener Staatsmann er war und welch wichtige und bahnbrechende Rolle er als Vertreter Afrikas im Allgemeinen und Liberias im Besonderen spielte.
Währenddessen nahm ein internationaler Skandal seinen Lauf, in den Liberia verwickelt war und der weitreichende Konsequenzen für meinen Großvater und letztlich für alle Massaquois, also auch für mich, haben sollte. Seit den ausgehenden zwanziger Jahren hatte es Gerüchte gegeben, dass die liberianische Regierung unter Präsident King aktiv an der Verschleppung von Liberianern zur Zwangsarbeit auf der spanischen Inselkolonie Fernando Póo (heute Bioko) beteiligt war. Anders ausgedrückt, Liberia, das Land, das von befreiten amerikanischen Sklaven mit dem erklärten Ziel gegründet worden war, Freiheit und Schutz vor Unterdrückung zu garantieren, und dessen Motto lautete: »Die Liebe zur Freiheit hat uns hierher gebracht«, stand unter dem Verdacht, Sklaverei zu betreiben.
Obwohl ein von Präsident King geforderter Untersuchungsausschuss des Völkerbundes zu dem Schluss kam, dass der Vorwurf der Sklaverei ungerechtfertigt sei, wurde Liberia für die im Land verbreitete Praxis getadelt, vor allem Kinder von »Eingeborenen« an reiche Ameriko-Liberianer, Nachkommen der Staatsgründer und die herrschende Kaste, auszuleihen. Sie arbeiteten bei schlechter Unterkunft und Verpflegung im Haushalt, was als »Ausbildung« getarnt wurde. Diese Praxis war zwar in ganz Westafrika verbreitet, also auch in den riesigen britischen, französischen, belgischen und portugiesischen Kolonien, doch nur die winzige, von Schwarzen regierte Republik Liberia wurde international verurteilt. Als Folge erhoben sich vor allem in Amerika und England immer mehr Stimmen, die den Rücktritt von Präsident King forderten.
Natürlich brach schon im Vorfeld ein Kampf um die mögliche Nachfolge aus, und dieser Machtpoker fand nicht nur in Monrovia statt, sondern auch im liberianischen Generalkonsulat in Hamburg, direkt vor meiner kindlichen Nase. Eine nicht abreißende Flut von liberianischen Besuchern versuchte, meinen Großvater davon zu überzeugen, dass er der Einzige sei, der Liberia in dieser schweren Stunde führen könnte. Er zögerte zunächst, die Präsidentschaft anzustreben, auch weil er gegen seinen langjährigen Freund Edwin Barclay würde antreten müssen, doch als Präsident King ihn bat, nach Liberia zurückzukommen, um dort Postminister zu werden, betrachtete er das Angebot als ein gutes Omen. Am 8. Dezember 1929 fuhr Momolu Massaquoi an Bord der S. S. Livadia nach Monrovia ab. Vor ihm lag eine ungewisse politische Zukunft, doch er war entschlossen, sich jeder Herausforderung zu stellen.