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Des Teufels Schreiber

 

 

Brunhilde Witthaut

 

 

Des Teufels Schreiber

Brunhilde Witthaut

 

© 2014 Sieben Verlag, 64354 Reinheim

© 2014 Covergestaltung: Andrea Gunschera

 

ISBN Taschenbuch: 9783864434525

ISBN eBook-PDF: 9783864434082

ISBN eBook-epub: 9783864434099

 

www.sieben-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Epilog

Historische Details

Danksagung

Die Autorin

Die Rache ist mein; ich will vergelten. Zu seiner Zeit soll ihr Fuß gleiten; denn die Zeit ihres Unglücks ist nahe, und ihr Künftiges eilet herzu.

(5. Mose 32,35)

 

 

 

Kapitel eins

 

Anfang März 1440

 

An diesem Abend rieselte unerwartet Schnee vom Himmel herab und milderte die Dunkelheit durch ein sanftes Leuchten. Einige Mönche, die auf dem Rückweg in ihre Zellen waren, hoben erstaunt ihre Köpfe, als sie die Flocken auf ihren Tonsuren spürten. Es schneite nicht oft an der Loire, denn die warmen Winde des Atlantiks schützten die Herzogtümer Bretagne und Anjou vor einem allzu frostigen Winter. Im Kreuzgang des Klosters St. Quentin les Anges nahe der Stadt Segre schoben die Windböen den weißen Schleier um die Säulen herum, sodass es den Anschein hatte, die in den Tuffstein gemeißelten Schlangen der Kapitelle wären leibhaftig hinabgestiegen und kröchen über den Boden. Gelbliches Öllicht sickerte durch die Fenster des Hauptflügels, während das Gotteshaus sich in friedlichem Schlaf befand. Doch nicht jede Zelle war erleuchtet.

Der Dampf der unterdrückten Schreie, der aus Laurents Mund quoll, stieg nach oben, ohne die Holzdecke der Kammer zu erreichen. Der Atem starb vorher einen langsamen Tod und auch Laurent dachte, bald sterben zu müssen.

Das Wissen, dass sein Mitbruder nicht vorhatte, ihn zu töten, verschaffte ihm keine Erleichterung, denn das, was dieser tat, erschien ihm schlimmer als der Tod. Der Leib Bruder Pierres lag wie ein Stein auf ihm und drückte die Luft aus seinen Lungen, jeder Stoß brachte ihm Schmerz und Pein. Laurent öffnete die Augen und erblickte die Wolldecke des Lagers, auf dem er bäuchlings lag. Über ihm der dicke Mitbruder, keuchend und lustvoll schnaufend. Laurent zwang sich, die Tränen zu unterdrücken. Was hatte er eigentlich erwartet?

Nun bereute er die Einfältigkeit, mit der er auf den Handel eingegangen war. Doch das ihm angebotene Buch über Alchemie, genauer gesagt über das Opus Magnum, war lohnenswert und nur Bruder Pierre als Leiter der Bibliothek durfte es aus einem der Schränke hervorziehen. Es stand ungenutzt und verlassen zwischen all den anderen Kostbarkeiten aus Pergament und Papier, die dort vor sich hin moderten, bedeckt mit Staub und Mäusedreck. Das tröstende Bild des Ledereinbands verblasste jedoch mit jeder Bewegung seines Peinigers. Furcht überfiel Laurent, während er den Atem in seinem Nacken spürte. Ob sein Mitbruder besessen war? Doch dann sagte er sich, dass kein höllischer Geist so schnaufen und pusten würde; ein Dämon konnte einfach nicht so tumb und naiv sein, dass er die Reibung des Geschlechtsteils für so erstrebenswert hielt.

Laurent begann zu zweifeln, ob dieses Buch es wert war, eine solche Demütigung und Schändung ertragen zu müssen, doch der Gehorsam war stärker und auch die Angst vor den Konsequenzen, die Bruder Pierre einleiten konnte, wenn ihm der Sinn danach stand.

„Nein“, schrie er noch einmal, etwas lauter als zuvor, ohne die Wände zu durchdringen. Kaum hatte er den Mund wieder geschlossen, legte sich der Lederriemen einer Geißel um seine Kehle und schnitt ihm in die Haut.

„Halt dein Maul“, hörte er hinter sich. Laurents Kopfhaut prickelte, er wollte von diesem Sodomiten nicht aus Versehen getötet werden. Er quetschte seine Finger zwischen Hals und Riemen, bis es ihm gelang, die Schnur zu ergreifen, was ihm ein wenig Luft verschaffte.

„Das Buch! Was ist mit dem Buch?“, krächzte er und versuchte, unter dem Körper wegzurutschen.

„Wenn du nicht so zappelst kriegst du es“, lockte Bruder Pierre zwischen seinen Bewegungen. „Oder auch nicht.

Die letzten Worte explodierten in Laurents Kopf und beendeten seine Angst. Alles lag klar und offensichtlich vor ihm: Der Bibliothekar hatte ihn getäuscht und ausgenutzt. Der erlittene Schmerz war vergebens. Laurent brach der Schweiß aus. In dem Augenblick, als ihm das Keuchen Bruder Pierres unerträglich wurde, gab er seiner Empörung nach. Er ließ die Schnur los, packte rücklings Bruder Pierres Arme am Stoff der Kutte und hielt sie fest. Mit einem Ruck bäumte er sich auf und stieß seinen Kopf direkt gegen dessen Gesicht. Der Schrei seines Peinigers folgte unmittelbar dem krachenden Geräusch. Die Geißel fiel auf den Steinboden, ebenso Bruder Pierre, der Laurent mit sich riss, sodass er auf dem schwammigen Bauch seines Mitbruders landete. Angewidert sprang Laurent auf, richtete seine Kutte und verließ die Zelle. Der Mönch wimmerte, wiegte seinen Oberkörper und tastete die blutende Nase ab.

Laurent marschierte durch den Gang. Er strich sich über seinen schmerzenden Hinterkopf und merkte, als er sich umdrehte, dass Bruder Pierre sich erholt hatte und ihm nacheilte.

„Du Mistkerl, was hast du vor?“, nuschelte dieser, bevor seine Hände von der Nase zu seinem Mund hinunterrutschten und er sich umsah. Tür reihte sich an Tür, der Flur war lang und das Echo verräterisch. Der Bibliothekar versuchte, den Abstand zu verringern. Mit jedem Schritt entfuhr ihm ein Stöhnen, was Laurent mit Befriedigung erfüllte. Er fand Geschmack an seiner Rache und dachte nicht daran, sich mit einer gebrochenen Nase zufriedenzugeben. Er erinnerte sich ohnehin nicht daran, jemals in diesem Kloster zufrieden gewesen zu sein. Es wurde Zeit, etwas Entscheidendes zu unternehmen.

„Ich gehe zum Abt“, sagte er und konnte es kaum erwarten, sein Herz zu erleichtern.

„So, zum Abt. Und was willst du ihm sagen?“, höhnte Bruder Pierre und schloss zu ihm auf.

„Das könnt Ihr Euch doch denken.“

„Glaub nur nicht, dass du das Buch jetzt kriegst. Da musst du schon an die Bibliothek des Baron de Rais klopfen, um ein solches Exemplar zu finden.“

Laurent stutzte und speicherte den fremden Namen im Gedächtnis. „Wer soll das sein?“, zischte er.

„Ein ebensolcher Dummkopf wie du. Wie kann ein Ritter, der an Jungfrau Johannas Seite gegen die Engländer kämpfte, sich nun auf schwarze Magie einlassen!“, polterte der Bibliothekar.

Besser schwarze Magie als Sodomie, dachte Laurent. Ärgerlich über die penetrante Verfolgung schob er die Tür der kleinen Kirche auf, deren Inneres mit Rücksicht auf die Fastenzeit jeglichen Schmuckes beraubt war und in der Abt Notwenn noch betete.

„Du würdest dem Baron bestimmt gefallen, du mit deinen großen Augen“, kicherte der Mönch noch, doch er schien nervös zu werden, als hätte er nicht damit gerechnet, dass er tatsächlich seine Worte in die Tat umsetzen würde.

„Der Abt wird dir ohnehin keinen Glauben schenken“, verkündete Bruder Pierre und wischte sich mit dem Handrücken das Blut vom Gesicht.

„Ich kann ihm meinen Hintern zeigen, der fühlt sich recht wund an. Und auch die Striemen am Hals. Das wird wohl die Frage klären, wer dafür verantwortlich ist“, gab Laurent zurück und sah sich im Kerzenschein um. Der Geruch von abgestandenem Weihrauch drang in seine Nase, doch nur für wenige Sekunden besann er sich auf die Heiligkeit des Ortes. Er beugte die Knie und bekreuzigte sich hastig, denn er hatte schon die Sandalen und Füße des Abtes erkannt, der in einer Seitenkapelle kniete. Laurent verlangsamte seinen Schritt. Abt Notwenn war ein frommer und gutherziger Abt. Ob er überhaupt verstehen würde, worum es hier ging? Doch im Moment war es ihm egal, bei wem er sich beschwerte, wenn Bruder Pierre ihn nur nie wieder anrührte.

Je näher Laurent dem Abt kam, umso eiliger wurde sein Gegner. Er überholte Laurent und eilte auf den Mann zu, dessen grauer Haarkranz sich um die Tonsur zog und der sich aufgrund der patschenden Geräusche aufgerichtet hatte und seinen Besuchern entgegensah. Bruder Pierre setzte eine ernste Miene auf, das verschmierte Blut verlieh seinem Anblick eine dramatische Note, über die Laurent fast lächeln musste.

„Der Friede sei mit Euch, Vater“, verbeugte sich Bruder Pierre vor Abt Notwenn.

„Gott strafe mich dafür, Euch in Eurer Andacht zu stören. Ein Vorfall von ungeheurem Ausmaß muss auf der Stelle erklärt und bestraft werden. Dieser Bruder hier, er hat

Da schob Laurent ihn mit einer Armbewegung zur Seite und neigte sein Haupt.

„Herr, achtet nicht auf diesen dreisten Menschen

Bruder Pierre schubste ihn fort, um von seinem Vorrecht als älterer Mitbruder Gebrauch zu machen.

„Ihr seht, wie ungezogen er ist, dazu ist er falsch und verdorben.“

Der Abt hob seine Hände. „Haltet ein, hört auf damit.“

Er musterte seine Untergebenen mit einem skeptischen Blick. „Bruder Pierre, Ihr zuerst.“

Laurent lächelte dünn, er fürchtete die Anklage des Bruders nicht, der nun begann, den Abt davon zu überzeugen, dass Laurent sich in schamloser Weise gezeigt hatte, um ihn zu unlauteren Dingen zu verführen. Je länger der Bibliothekar redete, umso ruhiger wurde Laurent. Sein Zorn war abgeflaut, doch eine andere Empfindung bahnte sich ihren Weg zu seinem Herzen. Er hielt still, um in sich hineinzulauschen. Währenddessen beklagte sich sein Mitbruder.

„Schaut nur meine Nase an, sie ist bestimmt gebrochen, so hat er auf mich eingeschlagen, um mich gefügig zu machen. Seht ihn Euch an, diesen sinnlichen Mund, diesen jugendlichen Körper, der noch nicht gestählt ist vom Leben in Gebet und Enthaltsamkeit. Seht die Würgemale am Hals, die er sich beigebracht hat, um die Lust noch zu steigern.“

Bruder Pierres Finger schwebten vor Laurents Gesicht, der nur dachte: Weiter so, mein dummer Bruder, jedes Wort fällt auf dich zurück.

„Mein Vater, schützt mich und auch die anderen Brüder vor diesem vom Teufel fehlgeleiteten Menschen, vor seiner Lasterhaftigkeit und Triebsucht.“

Mit dieser Bitte fiel Bruder Pierre auf seine Knie und faltete die Hände, um die Antwort des Abtes entgegenzunehmen. Dessen Ausdruck wechselte von Irritation zu Bestürzung und anschließendem Bedauern. Mit salbungsvollem Blick fragte er Laurent: „Der Vorwurf wiegt schwer, Bruder Laurent. Könnt Ihr ihn entkräften?“

Inzwischen waren weitere Mönche, deren Gespür für Ungewohntes, Dramatisches und Unheilvolles sehr fein war, auf den Beinen. Die Stimmen auf dem Gang, die Unruhe in der Kirche zogen die Mitbrüder magisch an, Tür auf Tür öffnete sich, ein Bruder nach dem nächsten huschte auf Zehenspitzen herbei, ohne sich Mühe zu geben, ihr Ziel vor den anderen zu verbergen. Man hörte Geraune und Gewisper, die Köpfe steckten in der Kirchentür fest, denn das hölzerne Portal war die Schranke zwischen Neugier und Demut und hielt die Lauscher für einen Augenblick auf.

Laurent rechtfertigte sich. „Ehrwürdiger Abt, glaubt Ihr wirklich, ich würde mir zur Befriedigung meiner Triebe einen derart fetten, hässlichen Kerl aussuchen? In der Tat habe ich ihm die Nase gestutzt, ich konnte mich nicht anders gegen seine Widerlichkeiten wehren.

Seine Worte wanderten mit einem dumpfen Hall an den getünchten Mauern entlang, gelangten in den ganzen Kirchenraum und gingen dann im Getuschel der Mönche unter, die nun dem Ansturm der drängelnden Brüder nicht mehr standhalten konnten und nähergetreten waren.

Der Abt wandte sich um. „Was habt ihr hier zu suchen? Ihr solltet in der Zelle sein, jeder von euch!“

Mit einer wedelnden Handbewegung scheuchte er seine Untergebenen hinaus, doch Laurent kam eine neue Verteidigungstaktik in den Sinn. Er war sicher, dass zumindest seine jungen Mitbrüder ebenso wie er den Verlockungen des Bibliothekars zum Opfer gefallen waren.

„Halt, wartet, ihr könnt bezeugen, dass ich die Wahrheit sage!“

Als sich die entsetzt aufgerissenen Augen auf ihn richteten, verpuffte seine Hoffnung. Die Mönche rangen die Hände und hatten es plötzlich eilig, diesen gottgeweihten Ort, der dermaßen üblen Wortwechseln ausgesetzt war, zu verlassen.

„Bruder Johannes, sag doch, wie es dir ergangen ist!“, flehte Laurent, aber die Locken des Kameraden flogen, als dieser den Kopf schüttelte. Laurent wurde klar, dass sein Leidensgenosse sich eher die Zunge abbeißen würde, als Lasterhaftes zu gestehen.

„Hinaus mit euch“, gebot der Abt erneut und wandte sich Laurent zu.

„Kein Wort mehr, bis die Brüder von dannen sind. Oder wollt Ihr durch Euer bösartiges Gerede ihre Nacht zum Tag machen und ihre Tugendhaftigkeit in Sünde umkehren?“

Laurent schwieg und starrte in die dunkle Kirche. Ärmlich und unbedeutend war sie, so wie er selbst ein armer Kerl war, der nur durch verwandtschaftliche Beziehungen hier eingetreten war. Zu Hause war seine Familie so sehr mit Geldverdienen beschäftig, dass er, der Jüngste und Ungehorsamste, auf der Strecke blieb, so wie dieses kleine Benediktinerkloster im Anjou, das mit Mühe und unter Verlusten die Unruhen des immer wieder auf- und abflauenden Krieges gegen die Engländer überstanden hatte.

Die rauchenden Talgkerzen hatte man bis auf zwei gelöscht. Die schmalen Fenster durchbrachen die Wuchtigkeit der Mauern, doch sie ließen selbst bei Tage nur wenig Licht ins Innere. Man musste schon Dunkelheit und Düsternis lieben, um hier überhaupt sein Leben fristen zu können, dachte Laurent. Und in der Dunkelheit geschehen oft Dinge, die schrecklich sind, führte er seinen Gedanken zu Ende. Mit einem Mal war die Vorstellung, für immer hinter diesen Mauern eingesperrt zu sein, noch unerträglicher. Laurent hatte längst erfahren, dass es in dieser kleinen Welt ebenso zuging wie in der großen Welt dort draußen, nur mit dem Unterschied, dass man von hier nicht fliehen konnte, ohne Schimpf und Schande mitzunehmen, die an einem haften blieben. Er hatte sich nur mit seinem Los abgefunden, weil er hoffte, dass das Kloster ihm etwas bot, das ihn zum Besseren verändern würde. Er erwartete mehr von seinem Dasein, obwohl er nicht genau wusste, was er eigentlich suchte. Nun, da er glaubte, dass dieses besondere Buch ihm einen Anhaltspunkt für einen Neubeginn geben könnte, verschwor sich alles gegen ihn. Nachdenklich betrachtete er das ewige Licht. Der Dachstuhl knackte im Wind, das kleine Gefäß pendelte sachte hin und her, sodass die winzige Flamme eine imaginäre rote Spur über das Altarbild zog. Laurent fand wider Erwarten Trost beim Anblick des unbeirrt flackernden Lichtes. Sein Herz wurde leicht, denn er ahnte plötzlich, dass er dem Wind folgen musste, der ihn rief und lockte.

Schweigend standen die Mönche beisammen, bis der Abt sich räusperte. „Brüder, ihr geht sofort in eure Zellen. Morgen werde ich diese Angelegenheit mit dem Prior und einigen anderen Mitbrüdern besprechen. Haltet nun Frieden und beendet euren Streit.“

Mit einem triumphierenden Grinsen wandte Bruder Pierre sich dem Ausgang zu und stürmte hinaus.

„Wartet“, hielt der Abt Laurent zurück. Er legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Fürchtet nichts, Laurent. Ich merke, dass Ihr mir nicht traut, und doch habe ich Kenntnis von den Taten des unseligen Mitbruders.“

Laurent drehte sich auf der Ferse um und starrte mit offenem Mund in das Gesicht des Abtes.

„Ihr wisst es? Und Ihr duldet es?“

Abt Notwenn presste seine Lippen zusammen, ein Hauch von Verlegenheit lag in seinem Ausdruck, sodass er seinen Kopf dem Tabernakel zuwandte. „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.“

„Pah!“, brach es aus Laurent heraus.

„Bruder Laurent“, sagte da der Abt streng. „Ich habe Euch beobachtet. Ihr seid immer noch hochmütig und stolz und habt erst selten die Qualitäten eines echten Benediktiners gezeigt, obwohl Euer Noviziat schon ein Jahr vorüber ist. So wie Ihr Euch nicht mit Gehorsam und Vergebung abfinden könnt, so kann ich es nicht mit Aufwiegelei und Hetze. Seid still und vergebt Bruder Pierre. Wenn Ihr etwas ändern wollt, so macht es unter Euch aus, nur denkt stets daran, dass der Herr Jesus Christus uns angehalten hat, auch die andere Wange hinzuhalten.“

„Ja, die andere Arschbacke“, brauste Laurent auf und schüttelte den Kopf. Gerechtigkeit würde er hier nicht finden.

„Laurent!“, donnerte der Abt so laut, dass er zusammenzuckte. Abt Notwenn richtete sich auf. „Warum bist du so unzufrieden?“, wechselte er die Anrede mit einer Stimme, die ein Ausweichen unmöglich machte.

„Ich wollte nicht hierher.

Doch der Abt ließ diese Antwort nicht zu. „Das wollten einige nicht und trotzdem fügen sie sich dem Ort, an den Gott sie gestellt hat.“

„Gott hat mich nicht hierher gestellt, sondern mein Vater.

„Dein Vater wurde vom Allmächtigen gelenkt.“

„Dann hat er falsch gelenkt.

„Du denkst wirklich, dass Gott Fehler begeht?“ Abt Notwenn schien allmählich die Geduld zu verlieren. Wahrscheinlich war er der Meinung, Zweifel und Unsicherheit wären die Vorboten von Ketzerei und Häresie.

„Nein, das meine ich nicht“, stellte Laurent richtig. „Aber ich glaube, dass Gott etwas anderes mit mir vorhat, ich weiß nur noch nicht, was.“

„Aber ich weiß es. Du wirst beten und arbeiten, du wirst dich unterordnen und ihm in Demut dienen. Niemand hat das Recht, sich über die Gemeinschaft zu stellen, niemand ist etwas Besseres, nur weil er es von sich glaubt. Wenn Gott besondere Pläne mit dir hat, wird er sie dir offenbaren, und selbst dann solltest du ohne Stolz und Hoffart seinen Weisungen nachkommen.“

Auf diese Weise getadelt, senkte Laurent seinen Kopf.

„Ich werde auf Bruder Pierre einwirken, auf dass er sein lästerliches Treiben beendet und Gott um Vergebung bittet. Mehr kann ich nicht für Euch tun, nein, mehr will ich nicht tun. Geh jetzt“, ordnete Abt Notwenn an.

Bruder Pierre soll lieber mich um Vergebung bitten anstatt Gott, dachte Laurent. Die Worte des Abtes zogen kurz durch seine Gedanken, dann verblassten sie. Als dieser schon die Hand zum Kreuzzeichen hob, fiel Laurent noch eine Frage ein. „Herr, wo residiert der Baron de Rais?“

„In Nantes und südlich davon.“

Daraufhin stutzte der Abt und schlug die Hand vor seinen Mund. „Vergiss diesen Namen, auf der Stelle! Bleib bei der Bibel und misch dich nicht in “ Er verstummte.

Dieser Ausbruch kitzelte Laurents Fantasie und er fragte sich, was an diesem Baron so geheimnisvoll und rätselhaft war, dass der Abt sich gerade zu einer Warnung hatte hinreißen lassen.

Nachdem Laurent den Segen entgegengenommen hatte, machte er sich auf den Weg in seine Zelle. Angetrieben von einer noch nicht greifbaren Gewissheit, stieß er die Tür auf, sodass sie gegen die Wand prallte. In seinem Raum empfingen ihn ein brennendes Öllicht, das auf dem Sims stand, und Bruder Johannes, der sich von der Pritsche erhob, auf der Laurent seine Demütigung hatte hinnehmen müssen.

„Laurent“, flüsterte der junge Mann, dessen Locken und Augen ihm das Aussehen eines dunklen Engels gaben. Kein Wunder, dass er drunter her musste, dachte Laurent, dann umfasste er seinen Freund und drückte ihn an sich. Bruder Johannes schluchzte. „Verzeih mir, ich konnte nicht helfen. Ich weiß, was du durchgemacht hast. Ich kann nicht mehr, ich werde mich aufhängen, bei Gott, das werde ich.“

Laurent hielt ihn vor sich und blickte ihn an. Johannes Lippen zitterten, die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Laurent schüttelte ihn liebevoll. „Nein, das wirst du nicht tun. Dieses Schwein soll nicht triumphieren, niemals. Ich werde es ihm heimzahlen.“

Er starrte aus dem Fensterchen in die Dunkelheit. „Ich weiß nur noch nicht, wie“, raunte er. Die Wut durchdrang ihn von Kopf bis Fuß. Lange genug hatte er stillgehalten. Hier war er nicht derjenige, der er sein wollte. Bruder Pierre hatte dafür gesorgt, dass seine Haut sich von innen nach außen kehrte und mit ihr seine bisherigen Gefühle und Werte. Er musste sich entscheiden zwischen Gott und der Welt. Sollte er den Befehlen seines Abtes nachkommen und ein Leben lang beten? Immer nur Bücher kopieren, anstatt ihr Wissen aufzunehmen und vor allem anzuwenden? Sich jedes Jahr den Nacken von der Sonne verbrennen lassen während der Arbeit im Hof und auf den Feldern? Nach einem tiefen Seufzer legte Laurent sein Leben als Mönch ab und wurde zu einem einfachen Burschen, auf den die Welt wartete. Gott hatte ihn nicht hierher gestellt, das wusste er, trotz der Erklärungen seines Abtes, zu denen dieser aufgrund seiner Stellung schließlich genötigt war.

Die Rache, die er nicht dem Herrgott überlassen wollte, würde sein Abschiedsgeschenk an seine Freunde werden.

„Was hast du vor?“, wisperte Johannes ängstlich.

Laurent lächelte und strich ihm über die Locken. „Ich weiß es noch nicht“, sagte er. „Denk daran, dass vielleicht irgendwann der Nächste kommt. Ich kann nicht auf dich aufpassen, das musst du von jetzt an selbst tun. Denn ich, ich werde von hier verschwinden.“

Johannes nickte und blickte ihn bewundernd an. Laurent ergriff die dünne Decke und legte sie auf den Boden. Dort hinein packte er ein Gebetbuch, ein halbes Brot, das er beim Mittagessen eingesteckt hatte, einen Leibrock, der unter der Pritsche lag und der das Letzte war, das er aus seinem früheren Dasein hatte retten können.

„Wirst du zu deiner Familie zurückgehen?“

Laurent lachte bitter. „Um bei ihren Handelsgeschäften im Weg zu stehen? Ich gehe eben fort, irgendwohin, wo ich nicht mehr gehorchen“, er zog seine Sandalen an, „nicht mehr schuften, er hob das Bündel auf, „und nicht mehr du weißt schon – muss.“

Bruder Johannes zuckte zusammen. Wortlos umarmten sie sich, dann eilte Laurent hinaus. Er nahm den Weg zur Küche, um sich Proviant zu besorgen. Die Küche war ein Ort, der Laurent in dieser Nacht der Inspiration diente, mehr noch als die Kirche. Die große Feuerstelle in der Mitte des Raumes, die Glut, die beruhigend knisterte und der Duft des Abendmahles, der Laurent in die Nase stieg, beruhigten ihn. Die klaren Farben der Wände ordneten seine aufgewühlten Gedanken, das Zögerliche verschwand aus seinem Gewissen. Vor seinem Fortgang würde er es Bruder Pierre heimzahlen. Sollte er Blut an seine Türklinke schmieren? Oder mit Blut einen prallen Penis draußen über seine Tür malen? Vielleicht könnte er dem Schlafenden einen dicken Blutfleck auf den Unterleib träufeln. Ja, all dies würde er tun. Anschließend könnte er ihn fesseln und mit der Geißel peitschen, so fest, dass Narben zurückbleiben würden und nicht nur dünne Schrammen. Zudem könnte er einen Bußgürtel um sein Geschlecht legen und strammziehen. Doch zuerst traf er Vorbereitungen für seine Flucht. Er stöberte hier und da in den Töpfen und Truhen, denn nur etwas Brot war für einen langen Weg zu wenig. Er fand ein Stück kalten Braten, getrocknete Apfelringe, einen Laib Rosinenbrot und einen Stoffbeutel voller harter Erbsen, alle anderen Lebensmittel standen unter Verschluss. An einem Haken hing ein vergessener Wollumhang, den er dankbar annahm. Nachdem er noch einen Becher Wein aus einem Fass abgezapft und geleert hatte, lehnte er sich an einen Schrank und kreuzte die Arme. Eine Weile starrte er in die Glut, dann wanderte sein Blick zu den Küchenmessern, die aufgereiht über einer Anrichte im Schein der Herdglut glitzerten. Bruder Johannes Gesicht kam ihm in den Sinn, er hörte das geile Stöhnen Bruder Pierres und seine Worte, die ihm das Buch verweigerten. Nun, er würde woanders ein ebensolches Buch finden. Er war bereit, sein eigenes Blut zu opfern. Mit Wasser verdünnt, sollte es für sein Vorhaben ausreichen.

Entschlossen stieß er sich vom Schrank ab und betastete die Messer, prüfte mit dem Daumen die Schärfe der Klingen. Ein mittelgroßes Exemplar schien ihm geeignet, er nahm es an sich. Er holte einen Tonbecher vom Regal, in dem er sein Blut auffangen wollte, und stellte ihn auf den Tisch. Dann hielt er das Messer in der rechten Hand und suchte an seinem linken Unterarm nach einer Ader, die ihm ein paar Tropfen schenken würde. Hinter ihm knarrte die Tür, doch er nahm es kaum wahr. Er setzte das Messer an und wollte schneiden, als er plötzlich eine Hand auf seinem Oberschenkel spürte. Er erstarrte in seiner Bewegung, sein Herz lief Sturm.

„Ich war noch nicht fertig, mein Hübscher“, flüsterte Bruder Pierre in seinem Rücken und drückte sich an Laurents Hintern. Angst ergoss sich in Laurents Brust, heißes Blut schoss ihm bis in die Fingerspitzen.

„Nur ruhig, bleib einfach so stehen und bück dich“, sagte sein Mitbruder. Der Stoff der Kutte raschelte, eine Hand legte sich auf Laurents Schulter und wollte ihn niederdrücken.

„Nein!“ Ein Blitz durchzuckte Laurent, er schrie seine Wut und Angst hinaus. Er riss sich los, drehte sich um und stieß willkürlich mit dem Messer zu. Bruder Pierre hatte seine Kutte schon hochgehoben, sodass die Klinge direkt seinen ungeschützten Unterleib traf. Er klappte zusammen, sank gegen Laurents Körper, so nah, dass dieser seinen Atem riechen konnte, und rutschte an ihm hinunter. Wimmernd sackte Bruder Pierre auf die Knie und hielt sich die Hände an die Wunde. Dann fiel er um und gab nur noch ein Röcheln von sich. Seine Augen starrten ihn erstaunt an. Laurents Kiefer taten weh, er lockerte seine verzerrten Gesichtszüge und schaute fassungslos in das bleiche Gesicht. Der Blick des Mönches wurde leer, er schloss die Lider. Rasch kniete Laurent sich hin, legte widerwillig die Finger auf die Brust und spürte das Herz schlagen. Er atmete auf und betrachtete das Gemächt des verhassten Bruders. Unglaublich, dass so ein seltsames Häuflein Fleisch einen Mann derart in den Wahnsinn treiben konnte. Das Blut tropfte vom Hoden herab, der durch die Wucht des Stoßes bereits halb abgeschnitten war. Da blickte er auf das Messer, das auf dem Boden lag, und plötzlich kam ihm ein Gedanke. Um Bruder Johannes und all der anderen willen, die sich nicht wehren konnten, musste er die Rache fortsetzen. Er keuchte vor dem Ansturm seiner Gefühle und wischte sich den Schweiß ab, der ihm auf der Stirn stand. Er musste Böses tun, um des Guten willen, nur so vermochte er seine Mitbrüder vor Bruder Pierre schützen.

„Das hast du nun davon“, sagte er und griff nach dem Messer. Er hob den Hoden hoch, setzte die Klinge an und schickte ein Stoßgebet um Vergebung zum Himmel. Indem er sich den erlebten Ekel und die Demütigung ins Gedächtnis rief, machte er sich Mut und ging ans Werk. Die faltige Haut gab nicht so schnell nach wie erhofft, doch nach einem tiefen Atemzug trennte er mit einem Schnitt sein bisheriges Leben von seiner geplanten Zukunft.

Das erneut austretende Blut machte ihn betroffener, als er es erwartet hatte, und er musste an sich halten, das Messer nicht in die Ecke zu schleudern vor Abscheu und angesichts einer Reue, die er mit Mühe niederrang. Mit dieser Kastration hatte er eine Grenze überschritten, er konnte nicht mehr umkehren, die Tat ungeschehen machen. Nun war er einer von jenen, über die man mit vorgehaltener Hand und mit Kopfschütteln sprach. Mit zitternden Händen hob er seine Habseligkeiten auf und wollte schon aus der Küche laufen, als sein Blick noch einmal auf das Blut fiel, das den Boden bedeckte. Da nahm Laurent ein Tuch von einem Regal, entfaltete es und presste es auf die Wunde. Im Licht der Glut leuchtete ein heller Fleck unter Bruder Pierres Arm, die Ecke eines Dokumentes, das dieser in der Kutte versteckt hatte. Laurent wischte sich die Hände ab, rollte den Körper seines Opfers zur Seite und zog zwei Blätter eines Pergamentes aus dessen Ärmel hervor. Er staunte. Es war offensichtlich Teil einer Beschreibung, um Gold herzustellen.

Er beugte sich zur Feuerstelle und las die ersten Zeilen.

„Sprach das Gold: Möchtest du mit mir streiten? Ich bin der Herr der Steine und feuerbeständig. Antwortet das Quecksilber: Du sprichst die Wahrheit, aber ich habe dich erzeugt, und du nimmst deinen Ursprung von mir, und ein Teil von mir macht viele Teile von dir lebendig. Und du bist geizig, weil du mir nichts schenken willst.“

Laurent deponierte das Schriftstück in seinem Beutel. Wenn Bruder Pierre es für wichtig erachtete, dann konnte er getrost auf dessen Urteil vertrauen, ja, vielleicht hatte Gott selbst ihm ein Zeichen gegeben. Seine Reue verschwand, sein Atem ging ruhiger. Er säuberte das Messer und verstaute es ebenfalls. Mit einem letzten Blick in die Küche nahm er Abschied von diesem Ort, der in den vergangenen drei Jahren nur wenig heimatliche Gefühle erweckt hatte. Er ließ die Tür weit offen und klopfte auf dem Weg zur Umfassungsmauer an einige Zellentüren, auf dass sich die Mönche ihres verwundeten Mitbruders annahmen. Allmählich gewann er seine Kaltblütigkeit zurück. Er hatte alles, was er brauchte: ein Dokument, seine unverhoffte Rache, sein neues Ziel Nantes. Sein Verbrechen war aus Notwehr geboren und wog nicht schwerer als das von Bruder Pierre. Und dieser sollte nicht verbluten, sondern für immer an seiner Schmach zu tragen haben.

Diese Gehässigkeit tat ihm gut. Er stieg vom Apfelbaum auf die Mauer hinüber, sprang hinab in der Hoffnung, dass er sich nicht die Knochen brechen möge und landete im weichen Schnee. Der Wind wirbelte die Flocken um seine Füße. Die Schneewolken hatten sich verzogen, der Mond erleuchtete taghell die weiße Landschaft, die Wiesen und Felder, die Reihen der Weidenbäume und die Rinnen der Bachläufe, aus denen der Nebel aufstieg. Laurent zog sich den Leibrock über die Kutte, schlang den Umhang eng um sich und stapfte mit nassen Sandalen nach Süden, dorthin, wo die Loire das flache Land durchfloss.

Kapitel zwei

 

Auf seiner Wanderung hatte Laurent immer wieder den Auszug der Israeliten aus Ägypten vor Augen. Auch sie hatten die Wahl gehabt zwischen Sicherheit und Unabhängigkeit und waren letztendlich schnell zu einer Entscheidung gekommen. Und am Ende stand der Einzug in das Gelobte Land, von dem niemand sich eine genaue Vorstellung machen konnte, abgesehen von der etwas vagen Verheißung von Milch und Honig. Sein Ziel war die Stadt Nantes, Sitz des Herzogs der Bretagne und Ort der Gelehrsamkeit und schönen Künste. Er schaute sich um, er konnte dieser Landschaft mit den sanften Hügeln, den Wäldchen und zahlreichen Bächen nicht viel abgewinnen außer einer Weitläufigkeit, die in ihm sowohl das Gefühl der Grenzenlosigkeit als auch der Einsamkeit weckte. Immer wieder stieß er auf Wasser, hier ein Bachlauf, da ein Fluss, der mäanderte oder Nebenarme bildete, sodass er fluchte, wenn er erneut eine Furt suchen musste. Das ganze Land schien zu tropfen, zu strömen und zu glucksen, und er wünschte sich manchmal das Wunder vom Roten Meer herbei. Am ersten Tag umging er die seltenen Dörfer und Höfe, vorerst hatte er ja genug zu essen. Am zweiten Tag meinte er, dass die Suche nach ihm wohl aufgegeben worden sei. Mit Mühe hatte er eine Hose von einer Wäscheleine erbeutet und sich seiner Kutte entledigt.

Enten und Blässhühner zogen ihre Bahnen, er hörte das knarzende Rufen von Schnepfen in der Balz. Diese triste Wildnis wurde ihm allmählich unheimlich, von nun an hielt er sich an die Hauptwege. Die Rauchsäule, die er bereits vorhin am Horizont gesehen hatte, wuchs, je näher er kam und er wunderte sich darüber, dass man ein großes Abfallfeuer so lange brennen ließ. Kurz darauf erkannte er seinen Irrtum: Es war ein zerstörtes Dorf, dessen Bewohner offensichtlich geflohen waren.

Laurent kribbelte es im Bauch, er zog den Umhang fester um sich und passierte vorsichtig die Umfassungsmauer des Ortes, die als Schutzwall versagt hatte. Er folgte dem Weg, der mitten durch den Ort führte. Nur wenige Häuser waren dem Brand entkommen, die meisten Gebäude waren zu verkohlten Balken und Schutt zusammengefallen. Ein verrenkter Körper mit abgewinkelten Gliedmaßen, den er erst nach genauerem Hinsehen als den einer Frau identifizierte, lag unter einem eingestürzten Türrahmen. Laurent hielt sich die Nase zu, es stank widerlich nach verbranntem Haar und Fleisch. Dieser Vorfall konnte höchstens vor zwei Stunden passiert sein, als er Gott sei Dank noch weit entfernt gewesen war, doch die Ahnung von Gefahr lauerte hinter jeder Mauerecke.

Totenstille herrschte hier, nicht einmal ein Huhn gackerte, die Trümmer rauchten vor sich hin. Den Umhang vor Mund und Nase gepresst, stand Laurent nicht eher still, bis er außer Atem an einer alten Eiche stehen blieb und sich an ihrem Stamm abstützte. Er sperrte all seine Sinne auf, er lauschte, schnüffelte und spähte, um den Routiers, die wahrscheinlich für diesen Überfall verantwortlich waren, nicht in die Hände zu fallen.

Noch in der gleichen Stunde trieb der Wind ihm Männerstimmen und lautes Lachen zu. Der Weg beschrieb gerade eine Biegung, die ihm die Sicht verwehrte. Pferdegetrappel kam näher und Laurent beeilte sich, die Straße zu verlassen und mitten in einen Schilfgürtel zu springen, der einen schmalen Wasserlauf am Wegesrand säumte. Verborgen hinter den scharfkantigen Blättern duckte er sich und wartete auf das Erscheinen der Reitertruppe. Schon tauchten sie auf, die Routiers oder Ecorcheurs, wie man sie auch nannte, ein Reiter nach dem nächsten, ehemalige Söldner und Soldaten, die sich vor einigen Jahren vielleicht auf gegnerischen Seiten bekämpft hatten und sich nun nicht mehr an ihrer früheren Feindschaft störten, sondern gemeinsam raubten und plünderten.

Offen stellten sie ihre Waffen zur Schau, ihre Schwerter und Messer klapperten gegen glänzende Brust- oder Schenkelharnische, sie trugen bunt zusammen gewürfelte Kleidung, einer trug sogar den roten Umhang eines Geistlichen. Laurent begann zu zählen, es war offensichtlich nur eine kleine Truppe. Als fünfzig dieser Verbrecher vorbeigezogen waren, gefror Laurent das Blut, denn zwei junge Frauen, die mit Stricken an einem Pferd angebunden waren, folgten dem Tross. Ihre Kleider waren zerrissen, die Brüste schimmerten, ihre Haare hingen aufgelöst in den blutigen Gesichtern. Mehr tot als lebendig stolperten sie den Männern nach, sie weinten nicht einmal mehr. Laurent schloss die Augen und murmelte Gebete vor sich hin, einmal für diese beiden Gefangenen und dann für sich selbst. Leider blieben die Worte folgenlos, er zitterte immer noch wie Espenlaub, sodass er befürchtete, dass sich das Beben im Schilf fortsetzte und ihn verriet. Das Zählen gab er auf, zu schrecklich war das Bild, das er nur mit Mühe aus seinem Kopf bekommen würde. Er erinnerte sich an seine Mutter, die bei der Nachricht von der Zerstörung ihres Heimatdorfes in Tränen ausgebrochen war. Viele Frauen und Mädchen waren vergewaltigt und verstümmelt worden. Feuer hatte das Dorf in Schutt und Asche gelegt. Die Männer hatte man geblendet und in einer langen Reihe auf Zäune aufgespießt als Mahnung an den Lehnsherrn, der sich geweigert hatte, der marodierenden Truppe Unterkunft und Verpflegung zu gewähren.

Dies war wohl das Gelobte Land, in das er gern ziehen wollte, er würde kaum ein anderes finden. Nackt und bloß fühlte er sich, wie ein ausgesetztes Findelkind. Ob Gott ihm beistand in diesem Dasein, das so nichtig war und ohne großes Aufheben morgen vorbei sein könnte und das ihm gerade deswegen zu schön und lebenswert erschien, um es hinter Klostermauern zu verbringen? Wer war er denn, dass er glaubte, ihm würde ein anderes Schicksal zuteil als den armen Teufeln in den verkommenen Dörfern? Laurent schluckte und schaute in die Wolken, die das Land fast niederdrückten. Wenn dieses das Gelobte Land war, dann Nein, seine Entscheidung war getroffen, und er durfte sich nicht beirren lassen. Wenn er sich erst einmal bis Nantes durchgeschlagen hatte, würde alles den erwünschten Lauf nehmen. Auch die Israeliten hatten viele Gefahren und Versuchungen überstehen müssen.

 

Als die beängstigenden Reiter längst verschwunden waren, wagte Laurent, nach dem Rechten zu sehen. Steif erhob er sich, schob den Kopf über die gelblichen Stängel und stieß einen schrillen Schrei aus. Was er sah, erschreckte ihn zu Tode, denn er blickte in ein Paar braune Augen. Der Schrei der jungen Frau, die vor ihm aufgetaucht war, kam als Antwort zurück, und so starrten sie sich einige Sekunden an, bevor sie begriffen, dass sie beide aus dem gleichen Grund im Schilf hockten. Als Laurent sich von seiner Überraschung erholt hatte, räusperte er sich und nickte in Richtung Straße.

„Sind wohl alle weg“, murmelte er.

Der Mund der Frau war vor Kälte blau angelaufen, Locken schauten unter ihrer Haube hervor.

„Ihr seid keiner von … von denen?“, fragte sie und drückte einen Stoffbeutel an ihre Brust.

„Ich? Ach was.“ Laurent stapfte die niedrige Böschung hinauf. Die Frau zögerte, dann folgte sie ihm. Sie standen verlegen voreinander und wussten nicht, wohin mit ihren Blicken.

„Kommst du etwa aus dem brennenden Dorf?“, fragte Laurent. Das Wasser tropfte vom Saum ihres grünen Kleides, ihre nackten Füße steckten in Lederschuhen, die bei jeder Regung einen schmatzenden Ton von sich gaben. Dass eine solch hübsche Frau mit mandelförmigen Augen und einem regelmäßigen Gesicht ganz allein unterwegs war, wunderte ihn.

„Die armen Menschen.“ Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich wohne in Montjean, an der Loire.“

Laurents Blick folgte ihrem Zeigefinger. Hinter den Baumstämmen glitzerte der Strom, der das Schmelzwasser seiner bergigen Heimat mit sich nahm und die Ufer überschwemmte. Eine Insel stemmte sich tapfer gegen die Flut. Die Loire, endlich. Er atmete auf, sein Ziel war nicht mehr fern.

„Wohin reist Ihr? Und wie heißt Ihr? Kommt Ihr aus einem Kloster?“, wollte seine neue Bekanntschaft wissen, die ihre widerspenstigen Haare unter die Haube stopfte. Dann schulterten sie beide ihre Beutel und gingen gemeinsam weiter. Ihre Befangenheit schwand.

Wer war er? Eine gute Frage, dachte Laurent. „Laurent Vallon ist mein Name. Ich habe das Kloster verlassen, bin auf dem Weg nach Nantes, wo mein Bruder wohnt.“ Sogleich zuckte er zusammen. Es war gar nicht seine Absicht, seine Familie zu belästigen.

„Nach Nantes?“ Für den Bruchteil einer Sekunde blitzten ihre Augen auf.

„Ja. Es soll eine schöne Stadt sein. Liegt sie nicht fast am Meer?“

„Alles in der Bretagne liegt am Meer“, sagte sie lächelnd. „Ich heiße Loan und muss auch nach Nantes. Da ich Witwe bin und keinen Begleiter habe

Sie blickte ihn vielsagend an, doch Laurent hatte nichts Außergewöhnliches an ihren Worten festgestellt.

„Meine Eltern können mich nicht begleiten. Ihr seid weit und breit der einzige Reisende hier.“ Laurent marschierte weiter. Sie seufzte, dann räusperte sie sich. „Es wäre besser, wenn wir uns zusammentun, nicht wahr?“

Laurent stutzte. Er hatte eigentlich nicht vor, sich mit einer Begleiterin zu belasten. „Ach, ich weiß gar nicht, ob ich bis Nantes komme. Such dir lieber einen Händler mit Geleitschutz.

Sie drehte sich mit einem Lächeln um und ging rückwärts weiter. Ihre Brüste hüpften im Takt ihrer Schritte, sodass sein Blick immer wieder zu ihrem Körper ging. „Seid Ihr denn nicht Manns genug, um mich zu verteidigen?“ Mit einem lockenden Augenaufschlag packte sie seinen Oberarm und drückte die Muskeln. „Na, das sieht doch gut aus.“

„Was glaubst du wohl, warum ich mich eben versteckt habe“, entgegnete er mürrisch, obwohl er sich über ihr Lob freute.

„Vormittags kommen hin und wieder Patrouillen des Herzogs, dann ist es sicherer. Und ich muss nach Nantes.“ Die letzten Worte hatte sie nur geflüstert, ein schmerzlicher Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.

Laurent gab nach und nickte seufzend. Seine Ritterlichkeit befahl ihm, sie mitzunehmen und zu beschützen. So hatte er etwas Kurzweil auf dem Weg, redete er sich die Sache gut. Besser, mit einem freundlichen Mädchen zu reisen als mit einem stummen Bauern. Und diese junge Frau war immerhin angenehmer als die Huren, die sich ihm gestern in einer Ortschaft frech in den Weg gestellt hatten, bis sie bemerkten, dass er kein Geld bei sich hatte.

Nicht, dass er keine Erfahrung mit Frauen gehabt hätte. Bereits vor seinem Noviziat mit fünfzehn Jahren hatte er mit neugierigen Mägden im Heu gelegen, ohne aber, das musste er zugeben, bis zum Letzten gegangen zu sein, jedoch ausreichend genug, um weiblichen Körpern ihre Geheimnisse zu entreißen und sich die Verheißungen einer Liebesnacht lebhaft vorstellen zu können. Trotzdem hatte er diese ganze Sache nicht für wichtig erachtet. Erst in der Klosterzelle hatte das Gebot der Keuschheit ihn gezwickt und gepiesackt, sodass der verbotene Apfel erst recht begehrenswert vom Baum leuchtete. In seiner Not, die ihn manchmal überfiel, hatte er sich selbst befriedigen müssen, und er gab zu, dass er zwar Gottes Apfel nicht gepflückt, sondern direkt am Baum etwas angenagt hatte. Diesen unheiligen Gedanken war er in der Beichte wieder losgeworden, doch seine Reue war immer nur von kurzer Dauer.

Als Loan sich wieder umdrehte und vor ihm herging, musterte er noch einmal ihr Hinterteil und fragte sich, ob verbotene Äpfel wirklich besser schmeckten als frei verfügbare.

Nachdem er Loans Wunsch erfüllt hatte, klangen ihre Schritte im gleichen Takt, die Wiesen und Felder zogen schneller als bisher vorbei, der Horizont veränderte sich mit jeder halben Meile. Hin und wieder versuchte Loan, ein Gespräch in Gang zu bringen. Sie berichtete von ihrem Vater, dem Fährmann von Montjean, und fragte ihn nach seinem Leben im Kloster aus. Doch als sie nur knappe Antworten erhielt, gab sie ihr Vorhaben auf.

 

Am Abend lag Laurent mit Loan in einem Stall, beäugt von Ochs und Esel. Er dachte vergnügt an die vergangene Etappe zurück. Der Wagen eines Kaufmanns hatte sich unterwegs in einem Schlagloch festgefahren. Als die beiden Knechte vergeblich versuchten, ihn flott zu machen, waren Laurent und Loan hinzugesprungen. Mit vereinten Kräften gelang es, den Karren wieder in Bewegung zu setzen. Froh darüber, nicht erst ein Gespann aus einem Dorf anfordern zu müssen, hatte der Kaufmann Laurent einige Münzen in die Hand gedrückt, die in ihrem Wert fast einem viertel ecu d’or entsprachen. Nun konnten sie eine bescheidene Abendmahlzeit in einer Schänke genießen und erhielten sogar ein Strohlager.

Es war die erste Nacht, die er mit einer Frau verbrachte. Sie blieben keusch und anständig, denn durch die anstrengende Wanderung fielen ihnen sofort die Augen zu. Erst um Mitternacht, als es sich erheblich abkühlte, wachten sie auf und rutschten unwillkürlich zueinander auf der Suche nach ein wenig Wärme. Zudem erhoffte sich Laurent einen kleinen Lohn für seine Begleitung, vielleicht einen Kuss oder ein Streicheln. Bei ihrem Anblick an mehr zu denken war leicht, und er empfand diesen Gedanken als verführerisch. Allerdings fühlte er sich nach den Jahren der Abstinenz ungeübt und plump.

„Was hast du in Nantes vor?“, fragte er, streckte seinen Arm aus und legte ihn auf ihre Hüfte, die nach seinem Geschmack noch zu weit von ihm entfernt lag.

„Ich wollte einen Besuch machen.“

„Bei wem?“

„Jetzt frag nicht so viel“, wiegelte Loan ab, die nun keine Scheu mehr zeigte, ihren Weggefährten zu duzen. „Sag mir lieber, wo dein Bruder wohnt. Habt ihr euch lange nicht gesehen?“

Laurent starrte zu den dunklen Balken hinauf und dachte nach. Sein Vater hatte Bastien dazu auserkoren, im weit entfernten Nantes ein zweites Kontor zu eröffnen. Aus den Briefen, die Laurent im Kloster von zu Hause erhielt, war deutlich zu ersehen, dass Bastien sich seiner Aufgabe würdig erwies und einen stetig wachsenden Gewinn erwirtschaftete. „Ich muss dir nicht erklären, was es für mich bedeutet, auch diesen Sohn gut auf den Handel vorbereitet zu haben. Doch dir sind andere Würden bestimmt, und ich bin sicher, dass du in deinen Gebeten uns und unser Wohlergehen einschließt, da wir dir diesen Weg geebnet haben dank Onkel Arnauds Beziehungen.“ So hieß es in einem Schreiben, das Laurent nicht froh stimmte. Sei dir mal bei den Gebeten nicht so sicher, hatte er verärgert gedacht. Während seine beiden Brüder in Freiheit und Wohlstand lebten, musste er zu Gottes Ruhm seinen Rücken krümmen, sein rechtes Handgelenk strapazieren und seine Knie beugen.

„Zwei Jahre nicht“, gab er zur Antwort. Wie Bastien wohl aussah? Hatte er aus purer Völlerei schon einen Bauch bekommen? Und bewohnte er mit seiner Frau ein behagliches Heim? Trug er fein gewebte Beinkleider und Leibröcke mit kunstvoll gelegten Nähten, geziert von einem Pelzumhang? Er würde seinen Bruder erst aufsuchen, wenn er mit ihm gleichstand, und Laurent bezweifelte nicht, dass es nicht sehr lange dauern würde, bis es soweit war. Sobald er das richtige Buch hatte und die richtigen Schlüsse aus den Texten zog, war er ein gemachter Mann. „Vermisst du deine Familie nicht?“

„Nein. Ihre Antwort klang sehr bestimmt.

„Du sagtest, du bist Witwe. Seit wann?“ Laurent merkte deutlich, wie Loan plötzlich schauderte. Er strich ihr beruhigend über den Arm. Noch einmal rückte sie ein Stück näher, drehte sich zu ihm um und seufzte.

„Seit einem Jahr. Im letzten Frühling starb er an irgendeinem Fieber. Ich weiß nicht, was es war.“ Ihre Stimme war so gedämpft, dass er den Kopf hob, um sie zu verstehen.

„Vermisst du ihn?“

Loan zuckte die Schultern. „Er war ein übrig gebliebener Söldner aus dem Norden.“

„Du hast einen von diesen Schlächtern geheiratet?“, fuhr Laurent mit nicht geringem Grauen auf, denn die Vorstellung, neben einem dieser Schurken zu liegen, die im ganzen Land gefürchtet wurden, war beängstigend.

Sie nickte. „Er war das ständige Herumziehen leid.“

Laurent fröstelte, doch er hörte Loan zu.

„Er war eigentlich ein freundlicher Mann, auch wenn er gern mal einen über den Durst trank. Nicht, dass er grob war oder mich geschlagen hat, nein, das nicht. Nur manchmal hatte ich das Gefühl, als kenne ich ihn überhaupt nicht und als sei ich ihm … gleichgültig.“

Laurent lächelte. „Also war er dazu noch ein Dummkopf?“

Loan lachte und strich ihm spielerisch über die Wange mit den ungebührlich langen Bartstoppeln.

„Du siehst wirklich aus wie ein Lumpensack. Kein Wunder, dass ich erst Angst vor dir hatte. Hast du denn kein Rasiermesser?“

Loan grinste, als er nach ihren vorwurfsvollen Worten puterrot anlief, doch dann verstummte sie und wandte den Blick ab. Es schien ihm, als hätte sie Angst vor dem Lachen und der Tändelei. Verbarg sie einen geheimen Kummer? Laurent wunderte sich, als Loan sich in seine Arme drückte und ihn traurig anblickte.

„Halte mich ein wenig fest.“

Gern kam er dieser Bitte nach, Loan lehnte ihren Kopf an seine Brust.

„Du hast ja nicht vor du weißt schon, was?“

„Nein, nein“, stotterte er verlegen, doch er meinte, was er sagte. Er wusste zwar nicht, welcher unbestimmte Kummer sie bedrückte, doch er nahm sich keine einzige Unschicklichkeit heraus. Es war ohnehin viel zu kalt, alles an ihm, nicht zuletzt seine Lust, war durch die Kälte und auch durch die Schwermut, die in ihren Mandelaugen lag, eingefroren. Ihm wurde erst etwas wohler, als Loan sich an ihn kuschelte.

 

*

 

Die Städte nördlich der Loire erstrahlten nach dem unseligen Krieg gegen die Engländer in neuem Wohlstand. Aus den Trümmern der in den Kämpfen zerstörten Gebäude wuchsen die Mauern neuer Häuser, prächtiger als je zuvor. Die Menschen, die in den letzten Jahrzehnten hier Schutz gefunden hatten, nutzten jede Möglichkeit, um sich zu bereichern. Die Kaufleute hielten ähnlich glänzend und stolz wie Edelmänner in ihren Kontoren Hof und sorgten für Nachschub an begehrter Ware: Stoffe, Gewürze, Wein, Schiefer. Der Seehandel hatte sich bis nach Westafrika ausgedehnt und einen wahren Rausch entfacht, von dem auch Nantes, das nur wenige Meilen von der breiten Trichtermündung der Loire entfernt lag, profitierte.