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Eine Ernährungsform sollte kein Dogma sein

Stefan ist groß, drahtig und hat ein sehr sympathisches, etwas entrücktes Lächeln. Ich treffe ihn an einem sonnigen Frühlingsmorgen im April 2008 im spanischen Malaga. Er steht zwischen üppig gewachsenen Tomatenstauden und drallen Kohlköpfen und zieht geduldig Karotten aus der Erde.

Stefan lebt seit vielen Jahren in Spanien und arbeitet als Koch in einem kleinen Bio-Berghotel. Meine Mutter arbeitet an einer Reportage darüber. Sie ist Journalistin und Buchautorin und führt Interviews in der ganzen Welt – diesmal in Malaga. Weil sie mich für drei Tage vom Unistress in Bayreuth erlösen wollte, hat sie mir ein Flugticket nach Andalusien geschenkt. Ein Wochenende am Mittelmeer. Wunderbar!

Jetzt stehe ich mit ihr im weitläufigen Hotelgarten und Stefan erzählt uns mit vor Begeisterung blitzenden Augen, dass er Rohköstler sei. Er spricht ruhig, bedächtig, überlegt sich jedes Wort ganz genau. Fast schon liebevoll legt er die geernteten Möhren in einen Weidenkorb und schlendert damit hinüber zur Terrasse seines nahe gelegenen kleinen Häuschens. Er zieht zwei Stühle für uns heran, setzt sich auf eine Bank und erzählt. Dass er seit Jahren Rohköstler sei und dies in seinen Augen die einzig gesunde Ernährungsform. Er isst morgens, mittags und abends Salat, Gemüse und Obst, sortiert nach Farben, immer in einer bestimmten Reihenfolge. »Und nichts anderes?«, frage ich ungläubig dazwischen. Er lächelt mich jetzt freundlich an und sagt in mildem Tonfall: »Was denn Kriss? Etwa Brot? Niemals. Brot ist tot!«

Ich werde neugierig. Wie hält er das denn durch? Wie viel Disziplin und Überzeugung müssen in ihm stecken? Ich bin fasziniert. Es ist das erste Mal, dass ich einen Rohköstler treffe.

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Eine Pizza als Trennungsgrund

Und während Stefan jetzt herzhaft in eine Möhre beißt, erzählt er uns auch, dass es ihm gerade nicht gut gehe. Er habe sich von seiner Freundin getrennt, nach drei glücklichen gemeinsamen Jahren. Bei einem Strandspaziergang habe es einen heftigen Streit gegeben. Plötzlich sei sie in die nächste Strandbar gegangen und habe sich eine Pizza bestellt. Als er das Wort Pizza ausspricht, schließt er die Augen. Getroffen von der Vorstellung an Essen, das er niemals mehr herunterbekäme, weil es in seinen Augen viel zu ungesund ist. Aber auch von der Missachtung seiner Freundin, die seine Grundsätze Bissen für Bissen verraten hat. Angeblich genüsslich. Für Stefan war das zu viel an Aggression. Es hat danach einen schlimmen Streit gegeben. Jetzt ist sie weg und er ist einsam.

»Sie wollte mich damit verletzen, oder?«, will er wissen und sieht meine Mutter fragend an. Die nickt mitfühlend, ergreift tröstend seine Hand. »Ich glaube, sie hatte einfach nur Lust auf Pizza. Geben Sie ihr noch eine Chance!«, meint sie leise und Stefans Augen flackern hoffnungsvoll.

Macht Salat intolerant?

Meine Mutter liebt Menschen und ihre Geschichten und hört immer zu. Geduldig und einfühlsam. Sie versteht jeden und alles. Natürlich auch Stefan, der sich angegriffen fühlt, weil seine Freundin »einfach eine Pizza gegessen« und damit sich selbst geschadet und die gemeinsamen Ziele verraten hat. Ich bin ratlos! Für mich ist das alles fremd. »Verändert man sich immer so, wenn man nur auf Salatblättern herumkaut?«, dachte ich damals.

Ich ahne nicht, dass Stefan in Wirklichkeit ein echter Trendsetter ist, ein Avantgardist der Ernährungsbewussten. Gut, beim Thema Pizza hat er mit seinem Enthusiasmus über das Ziel hinausgeschossen. Etwas Toleranz wäre besser gewesen. Eine Ernährungsform sollte kein Dogma sein. Aber wir schrieben das Jahr 2008 und Stefan hat damals schon auf die heilende Kraft von Frischkost vertraut, zu einer Zeit, als »raw« und »roh« in Amerika, Deutschland und dem Rest der Welt höchstens ein paar Tausend Fürsprecher hatte. Rohkost war eine absolute Nischenernährung.

Rohköstler werden nicht immer verstanden

Ich denke in letzter Zeit oft an Stefan. Immer dann, wenn ich mit meiner Ernährungsform auf Unverständnis stoße. Oder ich gar anecke, wenn ich sage, dass ich Rohköstlerin bin und »Brot tot und ohne Nährstoffe« ist. Dann sehe ich ihn im Kohlfeld stehen: schlank, gesund, mit dicken braunen Locken, samtweicher, faltenfreier Haut und lebendigen, wachen Augen. Ich hätte nie gedacht, dass er damals bereits 55 Jahre alt war, er sah aus wie Mitte dreißig. Ich denke dann daran, dass ich auch einmal etwas irritiert auf sein klares Ja zur Rohkost und dessen Folgen reagiert habe. Doch dies geschah nur aus Unwissenheit.

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