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Sebastian Schnoy

Ghostdater

Roman

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Sebastian Schnoy

Sebastian Schnoy, Jahrgang 1969, lebt in Hamburg. Nach dem Studium der Geschichte wurde er Kabarettist, er gibt heute rund 150 Vorstellungen pro Jahr in ganz Deutschland. Mit dem Programm «Hauptsache Europa» brachte er als erster Künstler Geschichte unterhaltsam auf die Bühne. Seine erzählenden Sachbücher «Smørrebrød in Napoli – ein vergnüglicher Streifzug durch Europa», «Heimat ist, was man vermisst – eine Suche nach dem deutschen Zuhause» und «Von Napoleon lernen, wie man sich vorm Abwasch drückt» (alle bei rororo erschienen) standen auf der Bestsellerliste von Spiegel online.

 

Mehr über Sebastian Schnoy unter: www.schnoy.de.

 

Weitere Veröffentlichungen:

Smørrebrød und Napoli

Heimat ist, was man vermisst

Lass uns Feinde bleiben

Von Napoleon lernen, wie man sich vor dem Abwasch drückt

Über dieses Buch

«Dieser Liebesbrief wurde maschinell erstellt und ist auch ohne Unterschrift gültig.»

Zwei Männer. Eine Wohnung. Zwei Welten: David ist Romantiker, Chaot und ständig in Geldnot. Matthias ist ein gestresser, durchgestylter Entscheidertyp. Als «Ghostdater» schlüpft David in die Rolle seines Freundes – denn Matthias will zwar eine Frau, möchte sich aber das Anbandeln per Mail und das Flirten im Chat sparen. Doch dann passiert David beim nächtlichen Chatten mit «Lisa85» etwas, das nicht geplant war: Er verliebt sich. Heftig. Und Matthias kann es kaum erwarten, Lisa endlich zu treffen ...

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

(Abbildung: 2011 Jin Chu-Ferrer/Getty Images)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-26693-5 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-51991-6

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-51991-6

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oder wie Frauen auch sagen:

 

«Du warst online,

hast aber nicht geantwortet!»

<1>

Wahrscheinlich war Matthias nur verrückt geworden, als er bei seinem Profil auf Herzsprung24 die eigenen Fotos allesamt löschte und dafür ein neues hochlud. Darauf war nicht mehr er zu sehen, sondern ein Surfer aus Hawaii. Eine andere Erklärung für diesen Schwachsinn konnte David nicht finden: Sein Mitbewohner Matthias hatte aus purer Verzweiflung den Verstand verloren.

«Wer ist das?», fragte David etwas streng und schaute über Matthias’ Schulter direkt auf das MacBook Air, das auf dem Glastisch stand.

«Das bin ich. Bei meinem letzten Urlaub auf Hawaii.»

«Das bist nicht du. Und du warst auch noch nie auf Hawaii.»

«Ach, komm schon, ich könnte es sein. Der Kerl hat meine Statur.»

«Sag schon.»

«Neil Ansell. Hab ich im Netz gefunden. Der Typ hat letztes Jahr den Betty’s Cup gewonnen, einen kleinen Preis der Jetty Betty Surfschool in einem Dorf namens Haleiwa. Das ist im Norden der größten Insel O’ahu. Also, nicht den Weltcup. Dieser Neil ist kein Star, sondern irgendein Surfidiot. Außerhalb von Haleiwa kennt den doch keine Sau, vor allem nicht hier in Berlin. Mach nicht so eine Welle.»

Auf dem Foto lachte der Surfer mit zugekniffenen Augen in die Sonne, das klatschnasse Haar nach hinten gestrichen. Die Wassertropfen funkelten noch an seinen Unterarmen. Er stand vor einer Strandbar. Sein mit allen Farben des Regenbogens bemaltes Board steckte davor im Sand. Die Hände in die Taille gestützt, schien er erschöpft. Aber glücklich, dachte David. Man musste schon ein absoluter Surfexperte sein, ja, wenn nicht eine Promotion über die Entwicklung dieses Sports im östlichen Pazifik schreiben, um angesichts des Fotos hier in Europa auszurufen: «Hey, das ist doch Neil Ansell! Hat der nicht im letzten Jahr den Betty’s Cup gewonnen? In – wie hieß das noch? – genau, Haleiwa auf Hawaii!»

Matthias klappte sein MacBook Air zu. Dann atmete er aus.

«Ich sehe dem Typen ähnlich. Und auf mein Profil hat sich bisher niemand gemeldet, ich weiß auch nicht warum. Es ist seit drei Wochen im Netz.»

«Du hattest auf deinem Profilfoto ein Weinglas in der Hand», gab David zu bedenken.

«Ja, und? Was sagt das? Der Mann hat Lebensfreude. Er ist ein Genießer.»

«Vielleicht sagt es auch etwas anderes.»

«Nämlich?»

«Der Mann ist Alkoholiker.»

«Schwachsinn.»

«Es ist unmöglich, von ihm ein Foto zu machen, auf dem er nicht säuft. Das sagt es aus.»

Matthias schaute einen Moment angestrengt aus dem Fenster, dann rieb er sich die Augen.

«Ich saufe nicht, das weißt du.»

«Ja, aber ich kenne dich auch persönlich. Wer dein Profil besucht, sieht nur dieses eine Foto und denkt eben …»

«Ach, halt die Klappe.»

Wenn Matthias «Ach, halt die Klappe» sagte, dann nicht erregt oder wütend, eher resigniert. David und er pflegten den herzlichen Umgang zweier Soldaten, die der Zufall in die gleiche Einheit gespült hatte und die nun das Beste daraus machten. Normalerweise schien es David, als hätte Matthias sein Leben besser im Griff. Er hatte mehr Geld, einen richtigen Job, ein Auto, das immer ansprang, und schnelles Internet. Als David daran denken musste, ging er sofort in die Küche und wählte die Nummer der Telekom. Denn gerade, was das Internet betraf, gab es eine große Ungerechtigkeit. Er musste ein bisschen in der Leitung warten und zunächst einwilligen, dass das Gespräch von der Telekom aufgezeichnet wurde. Dann fragte er die Servicemitarbeiterin etwas, was sie vielleicht noch nie jemand gefragt hatte: «Sind sie auch einverstanden, wenn ich das Gespräch aufzeichne?»

Doch sie antwortete nicht, legte einfach auf, obwohl David noch «Es ist auch nur für Schulungszwecke!» hinterherschob. Wahrscheinlich hätte sie ihm eh nur das sagen können, was ihm vorher schon all ihre Kollegen gesagt hatten: «Eine Versorgung mit unserem Produkt Call & Surf Comfort Speed Fiber ist an ihrem Wohnort leider nicht möglich.»

Aber im Nachbarzimmer bei Matthias war es möglich. Verlief durch ihre WG in der Bötzowstraße in Berlin die Linie der ehemaligen Mauer? Die Entwicklungsgrenze zwischen West- und Osteuropa?

Matthias steckte seinen Kopf in die Küche. «Sag mal, kommst du morgen mit zu diesem Singlefrühstück?»

Jeden Sonntag fand im Café Schönbrunn im Volkspark Friedrichshain ein Frühstück für Singles statt. Matthias sprach seit Wochen davon, dass es doch viel natürlicher sei, im echten Leben echte Frauen kennenzulernen, als im Internet nach ihnen zu suchen. Dort würden sich doch alle verstellen, sich jünger machen, ihre Fotos retuschieren. Dabei hatte er selbst mit seiner Fotoaktion gerade ganz neue Maßstäbe gesetzt.

«Warum nicht. Aber ich dachte, das ist für Singles bis dreißig. Du bist vierunddreißig.»

«Ich will aber eine Frau, die noch unter dreißig ist, außerdem könnte ich durchaus … Also, was ist nun?»

David war zwar auch Single, aber er hatte noch nicht die Hoffnung aufgegeben, dass ihm an der Käsetheke im Kaiser’s oder beim Frühstücksbüfett im Café Schiller oder in einem Moment, in dem er überhaupt nicht damit rechnete, seine nächste Liebe begegnen könnte. Für Matthias schien das viel zu initiativlos, er war ein Mann der Tat, sein Motto: Machen. Seinen Audi hatte er bei mobile.de gefunden, als er ein Büro benötigte, fand er sofort eines auf einem Immobilienportal, und jetzt, wo er eine Frau suchte, checkte er halt Herzsprung24.

Und nun das Singlefrühstück. Wo eine Nachfrage war, da musste es auch ein Angebot geben. Das hatte er zumindest David einmal erklärt, dass das auf einem freien Markt nun mal so sei. Und das Singlefrühstück sei eben auch eine Art Angebot, nur regionaler, so wie ein Wochenmarkt mit Gemüse aus Brandenburg. In Matthias’ Augen ging David wohl zu planlos vor – wenn er überhaupt irgendwie vorging. Suchte David eine Wohnung, wartete er, ob im Freundeskreis nicht irgendjemand umzog, und nach einem Auto hatte er auch noch nie gesucht. Erst als Stevie, ein Gitarrist aus Kreuzberg, seinen R5 für eine Kiste Bier anbot, kam David auf die Idee, dass es doch ganz praktisch wäre, ab und zu mal mit dem eigenen Auto raus an den Müggelsee zu fahren. Und nun stand ein R5 vor der Tür, der nur sporadisch ansprang. Irgendwann würde er ihn mal überholen lassen.

David war Journalist bei der Potsdamer Umschau. Dort konnte man auch nicht sagen, so, ich brauche eine Story, bestelle ich mir halt eine. Man musste die Geschichten auf sich zukommen lassen. Sie rechtzeitig zu sehen und zu packen, das war die Kunst. «Journalist bei der Potsdamer Umschau» klang eigentlich nach einem soliden Leben, einem Leben mit einem Job. Aber David war einer jener berüchtigten festen Freien, freien Festen, wie man es auch nennen wollte, also ohne feste Anstellung. Wenn er eine Story hatte, bekam er Zeilengeld. Und zwar ein Zeilengeld, bei dessen Höhe man in Tränen ausbrechen konnte. Eigentlich müsste er mal das Blatt wechseln, dachte David ständig. Er hatte sich immer wieder angestrengt, mit seinen Recherchen Korruption und Verschwendung aufzudecken. Doch sein Chefredakteur Heinz Thomsen bremste ihn stets mit den Worten: «Lass die in Berlin streiten, jeder gegen jeden. Wir hier in Potsdam sind eine Familie, das ist das Gefühl, das wir vermitteln wollen. Und wenn es in einer Familie Probleme gibt, dann werden die …» unter den Teppich gekehrt, hatte David damals gedacht und sich doch brav das Ende des Satzes angehört, «… dann werden die Probleme besprochen und in aller Einvernehmen gelöst. Alle Potsdamer für Potsdam, das ist unser Motto. Und jetzt raus, mach Fotos, ich will wissen, welche Blumen schon blühen.»

Und so zog David jede Woche los und fotografierte Bilder für Storys mit Titeln wie «Potsdam blüht auf», «Die Lieblings-Eissorten der Potsdamer» oder «Potsdamer Feuerwehr rettete Kater von Baukran».

Eigentlich war es tatsächlich höchste Zeit, sich bei einer echten Zeitung zu bewerben. Davids Lebensmotto, ohne dass er es sich eingestehen würde: Eigentlich.

Er setzte sich auf Matthias’ Spinning Bike und tippte auf den kleinen Computer am Lenker.

«Ey, lösch nicht meine Zeiten.»

«Ist das nicht komisch, wenn wir da zu zweit auflaufen? Bei einem Singlefrühstück?», fragte David.

«Was soll daran komisch sein? Wir sind zwei Singles. Glaubst du, die denken, wir seien schwul, nur weil wir zu zweit … Das ist kein Gayfrühstück.»

«Ich mein ja nur. Wir wohnen zusammen. Wir streiten, wir trennen uns trotzdem nicht, wir könnten auch ein Ehepaar sein.»

«Aber wir haben keinen Sex miteinander.»

«Den haben Ehepaare auch nicht.»

«Ach, komm. Zisch ab in den Gazastreifen.»

So nannte Matthias Davids Teil der Wohnung, weil es dort unordentlich war. Da sie sich nicht hatten einigen können, ob eine Putzfrau sinnvoll sei oder nicht, hatte Matthias kurzerhand eine engagiert, die nun ausschließlich seinen Teil der Wohnung saugte und dort den Boden wischte. Damit Izabella aus Aserbaidschan wusste, wo die Grenze war, ab der sie für das Putzen nicht mehr bezahlt wurde, gab es in der Mitte des Flurs einen roten Klebestreifen auf dem Boden. Eine wirklich bescheuerte Idee, aber Matthias hatte darauf bestanden und ihn höchstpersönlich hingeklebt. Einmal pro Woche saugte Izabella nun an dieser Demarkationslinie entlang. Socken, die nur David gehören konnten, da nur er welche rumliegen ließ, schob sie diskret hinüber. Wenn sie ging, glänzte auf der rechten Seite das Parkett so wie das in den beiden Zimmern von Matthias. Während auf der linken Seite des Flurs Kästen voller Leergut unter einer überbordenden Garderobe standen, an der Davids komplette Jahresausstattung – Sommerjacken und Wintermäntel, Schals und Fahrradhelme – an den Dübeln zerrte.

Das Bad und die Küche waren die «UNO-Schutzzone», von beiden benutzt und von Izabella geputzt. Hier galten für David eine Menge von ebenso willkürlichen wie sinnlosen Sonderregelungen, zum Beispiel: «Keine Schuhe in den Kühlschrank». Dabei half gegen heiße Füße im Sommer nichts besser als ein Paar gut gekühlte Schuhe. Was trennbar war, wurde jetzt getrennt genutzt. Seit der Schuhkrise, in der der Frieden akut bedroht war, hatten sie sogar zwei Kühlschränke. Wenn Matthias die Geschichte erzählte, unterschlug er gerne entlastende Fakten. Es kam so rüber, als hätte David seine schmutzigen Schuhe auf Räucherlachs und Camembert gelegt. Dann ergänzte David, wenn er denn dabei war, dass es neue Turnschuhe gewesen waren, die er in eine saubere Plastiktüte und erst dann ins ansonsten leere Gemüsefach gesteckt hatte. Im Übrigen war die wohltuende Wirkung gekühlter Schuhe noch völlig unerforscht, und Davids erste Selbstversuche liefen sensationell. Eigentlich müsste man sich mal mit dieser Idee selbständig machen. Nun besaß er einen alten Bosch vom Flohmarkt, ohne Tiefkühlfach. Unfassbar, wie schwer es war, so ein Ding in den vierten Stock zu schleppen. Das Kühlaggregat wurde noch mit einem Keilriemen angetrieben, sodass man des Nachts aus der Küche immer wieder ein redöredöredö hörte. Irgendwann würde er ihn mal abschleifen und dann klar lackieren, dachte David.

Im Kühlschrank befand sich meist wenig, nur Grundnahrungsmittel: eine Tube Senf, eine Tube Tomatenmark und eine halbe Flasche Sojasauce. Er wartete immer darauf, dass im Fernsehen mal eine Kochsendung gezeigt wurde, in der ein Rezept mit diesen Zutaten vorkam. Wenn David Hunger hatte und in den leeren Bosch starrte, gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder musste er einkaufen gehen oder schauen, was Matthias in seinem zwei Meter hohen Coolmaster XXL lagerte. Eiswürfel aus dem Icemaker durfte David sich nehmen, aber in welchen Drink hätte er sie werfen sollen? In eine Tomatenmarkschorle? Und so schaute er meist nur einen kurzen Augenblick in den mit blauen LEDs erleuchteten Innenraum, sah dort Bekanntes wie den Weißburgunder, den Matthias von einem Weingut bei Freiburg bezog, Serranoschinken, bei dem er wusste, dass die Scheiben abgezählt waren. Auch ein Stück Boursault, ein Weichkäse aus der Feinkostabteilung des KaDeWe, fand sich dort immer. Dann kam wieder der Bosch ins Spiel, denn an seiner Emailletür hing unter einem Magneten die Karte von Peters Pizza Kontor. Eigentlich hatte der ganze Kühlschrank nur die Funktion, Pinnwand für ein paar Bestellbroschüren zu sein.

Die Frage, die zwischen ihnen auf dem Flur stand und mit jedem Jahr lauter wurde, war: Wieso wohnen wir überhaupt noch zusammen? Früher waren sie eine kleine Studenten-WG gewesen, und heute waren sie immer noch eine WG, da der entscheidende Anreiz fehlte, dies zu ändern: eine feste Freundin. Nicht, dass sie chronische Singles waren, sie hatten beide hin und wieder Freundinnen gehabt, es war aber eben nie so weit gekommen, dass man zusammenzog. Allerdings lief bei Matthias schon länger nichts mehr, eigentlich den gesamten letzten Winter, und David hatte dafür eine einfache Erklärung.

«Deine Goofy-Mütze.»

«Was ist mit der Mütze nicht in Ordnung?»

«Nichts, für Goofy ist sie okay, aber wenn man nicht aussehen will wie Goofy, dann sollte man sie nicht aufsetzen.»

«Das ist keine Goofy-Mütze, du Idiot, die ist von Jack Wolfskin, das ist eine Marke.»

«Sie ist von Goofy.»

Aber die Goofy-Mützen-Zeit war zum Glück vorbei, der Winter war zum Glück vorbei, und im Volkspark Friedrichshain gab es am Sonntag ein Singlefrühstück.

«Also gut, ich komm mit», sagte David.

<2>

Der Sonntag begann wie immer. David erwachte davon, dass Matthias demonstrativ in der Dusche sang. Damit war klar: Er hatte schon seine sechs Kilometer abgespult. Was konnte David dafür, dass er trotzdem schlanker war und sportlicher aussah? Als sie zusammen frühstückten, ohne miteinander zu reden, sah David zumindest einen möglichen Grund: Joggen nützte nichts, wenn man hinterher vier Schalen Schokopops mit Milch in sich hineinschaufelte. Matthias war ein Hüne, der es sich zum Spaß machte, Dinge, die David nicht wegnehmen, verbrauchen oder aufessen sollte, einfach so hoch zu stellen, dass er nicht drankam. Doch während der Suche nach einer Frau hatte er auch schon mal resigniert gesagt: «Ich dachte, Frauen suchen Männer, an die sie sich anlehnen können.»

Vielleicht gab es neben seiner Körpergröße tatsächlich ein Speckproblem. Sicher, im Knast oder in der Armee hätte er sich beeindruckende Muskeln ranpumpen können, aber das Laufen schien nicht viel zu helfen.

Groß, blond, blaue Augen, eigentlich ein schöner Steckbrief. Aber Matthias’ blonde Haare waren dünn geworden, seine Stirn floh ein Stück zu weit nach oben, als dass es ideal gewesen wäre. Sein Gesicht war zwar markant geschnitten, aber wenn er sich ganz entspannte oder sich auf eine Sache konzentrierte, dann öffnete er den Mund, und er blieb offen stehen. Ein scheußlicher Anblick, wie David fand. «Mund zu!», rief er manchmal, aber es reichte auch, etwas anderes zu sagen, etwa: «Ich gehe einkaufen, brauchst du noch was?», damit sich der Mund schloss. David selbst hatte dunkelbraune Locken, die ebenso chaotisch waren wie sein ganzes Leben. Auch seine Augen schauten schokoladenbraun, und sein Blick geriet meist versöhnlich. Er hatte selbst beobachtet, dass jeder Mensch ein Grundgesicht hatte, das sich stets zeigte, wenn der Mensch nicht absichtlich eines machte. Allein in der Bötzowstraße begegnete er immer wieder zwei alten Damen, von der die eine stets vergnügt dreinschaute und die andere erschreckt, als habe sie Angst, man würde ihr jeden Moment die Handtasche wegnehmen.

David trank wie immer nur einen Espresso.

«Ich kann so früh nicht essen.»

«Du bist eine Diva. Komm, wir müssen los.»

 

Im Volkspark mussten sie einen Weg entlangspazieren, da das Café in seiner Mitte lag und man das Auto nicht direkt davor abstellen konnte. Das wäre Matthias sicher lieber gewesen: Noch einmal den Motor des Q5 aufheulen lassen und mit dem Allradantrieb den Splitt zerwühlen. Vielleicht drehten sich die Singles an ihrem Tisch ja schon um, wenn die Türen mit einem tiefen, selbstbewussten Wump ins Schloss fielen. Matthias hätte dazu – die Hände schon in den Hosentaschen – auf dem Schlüssel die Zentralverriegelung betätigt, auf dass noch mal alle Blinker aufleuchteten. Leider wurde nun nichts aus der Ich-bin-ein-erfolgreicher-Mann-Show, stattdessen schlenderte er mit David diesen romantischen Weg hinunter, der überwölbt war vom jungen Grün alter Kastanien.

Zwei Lesben kamen ihnen entgegen, jedenfalls zwei Frauen, die Hand in Hand liefen. Eine sah zu David auf, etwas feindselig, wie er fand. Was starrst du uns so an?, schien ihr Blick zu sagen, deshalb schaute er weg, aber dann sah er wieder hin. Was schaust du weg, hä? War es das, was sie dachte? Noch nie zwei Lesben gesehen? David fühlte sich unwohl. Genau denselben Effekt verspürte er immer, wenn Menschen im Rollstuhl auf ihn zukamen. Schaute er sie an, dachte er, sie könnten denken, er starre sie an. Schaute er hingegen weg, dachte er, sie könnten denken, er schaue absichtlich weg, weil er ihr Elend nicht sehen wollte. Es war wie verhext. Aber durfte man Frauen und Behinderte überhaupt in einen Topf werfen? Mein Gott, dachte David, was denke ich hier für einen Mist. Denn eigentlich war es ihm völlig egal, ob die beiden Frauen zusammen waren oder nicht. Wenn sie noch etwas Mut brauchten, um Händchen zu halten, war das ihr Problem und nicht seines. Ihm war es wirklich schnurzpiepegal, aber das konnte er ihnen ja schlecht im Vorbeigehen sagen.

«Hey, was geht? Ihr beide seid zusammen oder? Finde ich völlig in Ordnung, nein, ehrlich, wo die Liebe hinfällt. Ich meine, ist doch nichts dabei. Also, für mich nicht, äh …» Ach, es war sinnlos. Dann fiel David eine Geste der Solidarität ein. Er griff nach Matthias’ Hand. Aber der riss sich sofort los, als hätte er einen elektrischen Weidezaun angefasst.

«Bist du jetzt schwul oder was?»

Das Café Schönbrunn verfügte über einen weitläufigen Biergarten. Ein großes Feld voller Tische und Klappstühle aus Gusseisen mit Sitzflächen aus Holz. Jeder Stuhl war mit einer Kette am Tisch befestigt und jeder Tisch an einer Verankerung im Boden.

Das war halt Berlin. Tat man das nicht, kamen des Nachts Horden von Anwohnern in alten Kombis und schleppten alles mit, was nicht angekettet oder angeschweißt oder in Beton eingegossen war. Jeder Pflanzenkübel vor jedem kleinen Laden dieser Stadt musste im Boden verankert werden. Bei Blumen ging das leider nicht. Und so bückten sich immer wieder alte Damen in Narzissen- oder Tulpenfeldern, die die Stadt auf Verkehrsinseln anlegen ließ, und schnitten sich einen Strauß für daheim.

Es war noch nichts los im Biergarten. Nur vorne saßen mehrere Frauen und Männer an einem Tisch, und Matthias’ Miene hellte sich auf. Zwei hochgewachsene Frauen in weißen Kapuzenjacken und Jeans drehten sofort ihre Köpfe zu ihnen. David und Matthias sahen in grüne und blaue Augen und dann in die besonders warmen dunkelbraunen einer dritten Frau, die eine Baseballmütze trug und deren Vorfahren vielleicht irgendwo in Lateinamerika unterwegs waren. Sie sah von der Getränkekarte auf und lächelte ebenfalls. Matthias’ Gesicht leuchtete, als habe er eine Schatzkammer geöffnet. Gut, es saßen auch drei Männer am Tisch. Das Frauen-Männer-Verhältnis würde sich mit David und Matthias verschlechtern. Aber Verzagtheit, das war sicher nicht Matthias’ Art. Einer der schon sitzenden Männer ergriff die Hände der Latinaschönheit. David sah, wie Matthias’ Blick sofort zu den sich umfassenden Händen herunterrutschte. Na, das war doch mal eine Flirtgelegenheit, noch keine halbe Stunde hockte man hier zusammen, und die Ersten hielten schon Händchen. Was würde dann nach dem zweiten Prosecco los sein? Matthias blieb locker.

«Na, wenn das nicht mal das Singlefrühstück ist», sagte er in die Runde.

Die mit den grünen Augen lächelte entschuldigend. «Da hat eben schon mal jemand gefragt, ich glaube, das ist da hinten.»

«Ach so.» Matthias schaltete für seine Verhältnisse recht schnell, schritt energisch durch den Kies in die angegebene Richtung und riss dabei einen Stuhl um.

«Danke», sagte David und folgte. Er meinte, noch ein Kichern zu hören, und dieses Kichern brannte sich in seinen Rücken. Warum war er bloß mitgekommen? Sie hätten auch einfach abends ins Café Burger gehen können. Vielleicht fand sich für Matthias noch ein Kapuzenpulli, den er anstelle des ewigen Sakkos tragen konnte. So ließ es sich auch mit Frauen quatschen, die dort verkehrten, und ein bisschen tanzen. Und wenn es beim Quatschen blieb – ja, dann war es halt schön zu quatschen, warum musste man sich so einen Stress machen?

Matthias schaute sich suchend um, aber erst in der Mitte des Biergartens gab ein Brunnen den Blick frei auf eine mit Efeu eingefasste Nische, in der tatsächlich noch eine andere Gruppe saß. Ein großer Mann mit Zopf und Kinnbart, in einem schwarzen Ledermantel, lehnte weit vornübergebeugt über der Tischplatte, wie ein Hund, zum Sprung bereit. Vor ihm stand ein Weizenglas, und ihm gegenüber kauerte eine winzige Frau auf der Bank, die noch einen Rucksack aufhatte, an dem irgendein Kuscheltier baumelte. Ihr ängstlicher Blick war auf das Weizenglas fixiert, die diagonale Falte auf ihrer Stirn schien zu fragen: «Bier? So früh?» Eine Frau mit dunkelroten Haaren musste mindestens sechzig sein. Sie war die Einzige, die Matthias und David anschaute. Dabei senkte sie den Kopf und blickte über den Rand einer Brille mit verschiedenfarbigen Punkten. Der Mann mit dem Reinhold-Messner-Bart neben ihr war noch älter. Klar, auch Senioren suchten manchmal einen neuen Partner. Konnte man da mit den Altersbeschränkungen nicht etwas genauer sein? Am Ende des Tisches stillte eine Frau ihr Baby. Sie war die Jüngste am Tisch, sah aber sehr erschöpft aus, als hätte das Baby alles Leben aus ihr rausgesaugt. Natürlich gab es auch alleinerziehende Mütter, die einen Partner suchten. David fasste sich ein Herz.

«Ist das hier das Singlefrühstück?»

Der ganze Tisch lachte, aber nicht mit der dezenten Verachtung der Schönlinge vom anderen Tisch, sondern krachend. Die Frau mit der lustigen Brille zeigte auf den alten Herrn: «Klaus schon! Nicht wahr, Klaus?»

Der Zombie im schwarzen Mantel trank einen Schluck Bier und schüttelte den Kopf, dann sagte die lustige Brille: «Wir sind die Fraktion der Linkspartei in Köpenick.»

Matthias hatte die ganzen langen Sekunden entschlossen über die Gruppe hinweggeschaut, als sei er der Efeubeauftragte der Stadt Berlin. Nun drehte er sich auf der Stelle um und marschierte wieder los. Es war alles in Ordnung mit dem Efeu. Wo war nur der eine Single, der hier angeblich vorhin durchgelaufen war? Hatte er sich schon im Wald aufgehängt? Was sollten sie machen? Wenn es so weiterlief, würden sie noch am Abend in den Kneipen von Tisch zu Tisch gehen und jedes Mal fragen: «Ist das hier der Singletisch?»

Auf jeden Fall mussten sie durch ein Blumenbeet gehen und durch eine Hecke steigen, um nicht wieder beim anderen Tisch vorbeizukommen. Eigentlich hätten sie dort nachhaken können: «Entschuldigung noch mal, der Single, der vorhin bei euch gefragt hat, wo das Singlefrühstück ist. Wo ist der noch genau hingegangen?» David dachte nicht im Traum daran, dies zu tun, und als er Matthias in die Augen sah, schien auch er nicht scharf darauf zu sein, sich erneut vor den schönen Menschen lächerlich zu machen. Wie tief waren sie eigentlich gesunken? Es war entwürdigend, dachte David.

Zu Hause war Matthias wieder ganz der Alte.

«Scheißegal, dann fahre ich halt nach Thailand und lache mir da so eine Taiwanesin an.»

«Wen lachst du dir an?»

«Eine Taiwanesin.»

«In Thailand?» Manchmal war David sich unsicher, ob Matthias ihn einfach verschaukeln wollte oder mit seiner eigenen Schlichtheit kokettierte.

Matthias fuhr seinen Rechner hoch, und auch David zog sich mit seinem Notebook zurück, denn er wollte noch arbeiten. Mehr Geld als mit seinen Artikeln für die Potsdamer Umschau verdiente er mit einer Tätigkeit, für die er sich eigentlich schämte, nämlich als «begeisterter Kunde» oder «Werter». Eigentlich gab es für diesen Job noch keine Bezeichnung, er war ja auch geheim, aber durchaus gut bezahlt. Seitdem immer mehr Leute ihre Waren im Internet bestellten, konnten sie diese auch bewerten, meist mit einem bis fünf Sternen, so wie es Amazon vormachte. Und vor diesen Bewertungen hatten die meisten Hersteller Angst.

So erlebte zum Beispiel der Nasenrasierer NoseControl Revolution der Firma AllDayTec im Internet eine wahre Steinigung. Achtundzwanzig wütende Ein-Stern-Kritiken allein bei Amazon. So schrieb ein J. S. Damer (REAL NAME): «Selbst 8,99 € sind für diesen Mist noch rausgeworfenes Geld! Das Gerät ist sehr schmerzhaft, die Batterie hält nicht mal einen Einsatz lang!» S. Brunner: «Ahhhhh!!! Das tat weh! Erst hat mir das Ding die Haare ausgerissen, dann fing es an zu brennen!!! Wer stellt so einen Scheiß her? Finger weg!!!»

Matthias rief aus seinem großen Zimmer herüber: «David, komm mal rüber.»

Da die Bewertungen für die Kaufentscheidung maßgeblich waren, lag den Herstellern unheimlich viel an guten Feedbacks. Die Firma CSS in Aachen koordinierte die fingierten Kundenbewertungen. Kam ein neues Gerät auf den Markt, schrieben namenlose Homeoffice-Sklaven wie David ein paar positive Kritiken, oft mit Textbausteinen wie «Meine Erwartungen wurden übertroffen. Ein tolles Preis-Leistungs-Verhältnis». CSS informierte David per Mail, welche Produkte neu und vor allem, welche in Seenot geraten waren wie jetzt der Nasenrasierer.

«Komm mal rüber, das glaubst du nicht!»

David wählte eine seiner unzähligen Online-Identitäten und begann die Gegenkampagne. «Top!» Okay, das war kurz, aber auch dafür gab es einen Euro. Copy, Paste: «Meine Erwartungen wurden übertroffen. Ein tolles Preis-Leistungs-Verhältnis.» Aber David gab sich auch Mühe: «Sichtbare Nasenhaare sind heute ein No-Go für den Gentleman. Umso überraschter war ich, dass der NoseControl Revolution für einen unschlagbaren Preis eine Gründlichkeit bietet, die sonst nur sehr teure Geräte leisten können. Ich bin vollends zufrieden!»

Ihm war eh unbegreiflich, was die Leute erwarteten. Unter den Kunden, die den Daumen über den NoseControl Revolution senkten, waren auch zwei Frauen. Susanne12: «Hatte mir mehr versprochen.» Was nur? Die Enttäuschung von Inga S. (REAL NAME) konnte er schon eher verstehen: «Völlig unbrauchbar, habe das Ding zehn Minuten in die Milch gehalten, und es entstand definitiv kein Schaum!»

«David, jetzt komm endlich, das GLAUBST DU NICHT! Ich habe neunzehn neue Kontaktanfragen bei Herzsprung. NEUNZEHN! Nein, ZWANZIG! Wie geil ist das denn?»

Das war nicht länger zu ignorieren. David sprang auf.

«Von wem denn?»

«Hier. Melanie, achtundzwanzig, aus Pankow: ‹Cooles Foto, Hawaii, wie schön, beim nächsten Mal komm ich mit!› Es sind wirklich zwanzig Zuschriften innerhalb eines Tages, nee, warte mal.» Er sah auf seine Fliegeruhr von IWC. «Nein, innerhalb von sechzehn Stunden. Und da: Nicole aus Berlin. Der Stadtteil ist mir auch egal, die ist süß, hat geschrieben: ‹Hey Matt, lustiges Foto, was machst du so, wenn du nicht surfst?›»

«Wer ist Matt?», fragte David.

«Ich bin Matt. Matthias ist doch ein Scheißname, denk an Matt Damon, meinst du, der hätte als Matthias Damon auch Erfolg? Matt ist jetzt mein Spitzname.»

«Wer nennt dich Matt?»

«Ich.»

«Das ist autistisch. Und du hast das Surferfoto dringelassen?»

«Ja, hat geklappt, endlich interessieren sich die Frauen für mich.»

«Sie interessieren sich für diesen Surfer.»

«Von dem ist doch nur das Foto, das war halt in meinem letzten Urlaub, der Rest stimmt ja. Matt Rolfs, zweiunddreißig …»

«Vierunddreißig.»