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Ursula Engel • Bernd Ulrich

Mama, Papa, ich werd' Fußballprofi!

Unser neues Leben am Spielfeldrand

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Ursula Engel / Bernd Ulrich

Ursula Engel, geboren 1963, studierte Soziologie und Politikwissenschaften in Marburg. Sie volontierte beim Zeitschriftenableger der WAZ in Düsseldorf und arbeitet seit 1998 als freie Journalistin und Autorin in Berlin.

 

Bernd Ulrich, geboren 1960, ist stellvertretender Chefredakteur und Leiter der Politikredaktion der «Zeit». Er studierte Politikwissenschaften und Philosophie in Marburg. Nach Stationen bei der «Wochenpost» und dem «Tagesspiegel» arbeitete er ab 2003 als stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Berliner Büros der «Zeit». Bei Rowohlt erschien 2011 sein Buch «Wofür Deutschland Krieg führen darf. Und muss».

Über dieses Buch

Wie geht man mit einem Kind um, das ein Talent hat und große Leidenschaft dafür aufbringt? Muss man sein Kind vor zu hohen Erwartungen schützen? Was, wenn der Traum zerplatzt?

Fritz liebt Fußball. Er träumt davon, Fußballprofi zu werden, und die Chancen sind gar nicht so schlecht. Irgendwann schafft er es in die Jugend-Bundesliga. Seine Eltern erzählen in diesem Buch, wie diese Leidenschaft ihr Leben verändert hat, von großen Emotionen auf und neben dem Fußballplatz, Diskussionen mit Freunden über Leistungsdruck, Demütigungen durch Trainer und den Gefahren von elterlichem Stolz.

 

Ein Buch von Eltern für Eltern – und eine Hommage an den schönsten Sport der Welt.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München

Umschlagfoto plainpicture/NTB scanpix

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-499-60348-8 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-49991-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-49991-1

Für Franziska und Luise,

die als Innenverteidigerinnen unseres Familienlebens eine großartige Mannschaftsleistung gezeigt haben

Vorwort

Kinder sind Anarchie. Sie werfen immer zwei Leben über den Haufen. Das Leben, das man vorher geführt hat. Und das Leben, das man sich für die Kinder gewünscht hat. Nichts ist schlimmer, so viel steht fest, als gelungene Erziehung, wenn Kinder so werden, wie man sich das vorher überlegt hat. Lang lebe die Anarchie, jedenfalls diese.

Der Vater und ich, wir haben uns nicht gewünscht, dass unser Sohn Fußballprofi wird. Irgendwann war es sein Wunsch und nicht mehr zu übersehen. Als Eltern haben wir keine Erziehungsbücher gelesen. Über Leistung und Leidenschaft haben wir umso mehr nachgedacht. Jeder macht sich Gedanken über Leistung, für sich selbst und als Elternteil auch für seine Kinder. Unmöglich, dabei das richtige Maß zu finden zwischen Zuviel und Zuwenig. Unmöglich deswegen, weil es kein abstraktes, allgemeingültiges Maß gibt. Was aber, wenn Kinder etwas leisten wollen, wenn sie dafür auf Dinge verzichten möchten, deren Wert sie noch gar nicht ermessen können? Was, wenn sich das Ziel, Profi zu werden, zerschlägt? Und das ist beim Fußball sehr wahrscheinlich, denn von Hundertausenden Jungen, die in Vereinen kicken, landen am Ende 500 in der ersten oder zweiten Liga.

Und was machen wir Eltern mit unseren Träumen? Verwechseln wir sie womöglich mit denen der Kinder? Das kann gut sein, aber auch der Traum von einem ausgewogenen, nicht zu spezialisierten, mittelmäßigen Leben ist ein Traum, das sollte man nicht vergessen.

Was sind wir als Eltern bereit, für unsere Kinder zu geben? Alles? Das wäre gelogen. Aber demütigen lassen, das müssen wir uns vielleicht, auch dazu erzählt der Fußball Geschichten. Was man dafür bekommt, sind unfassbare Glücksmomente.

Und was bedeutet Freundschaft im Fußball? Wenn jeder in der Mannschaft auch Konkurrent ist, wenn die Miteltern am Spielfeldrand auch Gegeneltern sind, konkurrierende Familienkampfgruppen? Ja, es waren Kampftruppen, die von einer Minute zur anderen aber auch solidarisch, mitfühlend und treu sein konnten, ganz besonders, wenn Anfeindungen von außen kamen.

In diesem Buch erzählen wir von dem Traum unseres Sohnes, Fußballprofi zu werden. Ein Traum, den er mit Millionen Jungs in seinem Alter teilt. Dieses Buch ist subjektiv, in vielen Teilen autobiographisch, aber auch von mir, der Mutter, verdichtet, um exemplarisch zu sein. Dabei sind fast alle Namen von Spielern und Trainern fiktiv. Ich erzähle als Mutter und Frau von einem der wenigen Orte, an denen Männerwelt noch funktioniert, und davon, wie dieser Traum das Leben meines Sohns und auch mein eigenes verändert hat. In vielen Punkten sind der Vater und ich uns über die 14 Jahre am Spielfeldrand einig. Dennoch hat er als Vater und ausgewiesener Fußballfan einen anderen Blick auf die Fußballwelt. Im letzten Kapitel dieses Buchs schreibt er eine Innenansicht aus der männlichen Fußballwelt, die anderes und weit mehr zu bieten hat als Machismo und Konkurrenzkampf, zum Beispiel Zuwendung und Zärtlichkeit.

Fritz hat diesem Buch zugestimmt. Er hat manches anders erlebt, aber im Großen und Ganzen stimmt es, sagt er. Unsere Wahrheit. Sein Leben. Eine große Sache war und ist Fußball für ihn. Bis in die Jugendbundesliga hat er es geschafft. Das Spiel geht weiter. Das Leben auch …

Der Ball ist regelkonform, wenn er

kugelförmig ist, aus Leder oder einem anderen geeigneten Material gefertigt ist, einen Umfang von mindestens 68 und höchstens 70 cm hat, zu Spielbeginn mindestens 410 und höchstens 450 g wiegt und sein Druck 0,6–1,1 Atmosphären beträgt, was 600–1100 g/cm2 auf Meereshöhe entspricht.

 

Aus: DFB-Fußball-Regeln 2011/2012

1. Der Urball – erste Liebesbeziehungen

Männern werden besondere Beziehungen zu ihrem besten Freund, zu ihrer Arbeit und zu ihren Autos nachgesagt. Ihre Beziehung zum Ball ist dennoch auf eine außergewöhnliche Art anders und sehr speziell. «Wirft man in eine Schar von Jungen einen Ball, so kann man sicher sein, dass mehr als 90 Prozent versuchen, den Ball mit dem Fuß zu spielen», hat der Fußballlehrer Gerhard Bauer vor über 40 Jahren geschrieben. An diesem fast reflexhaften Verhalten hat sich bis heute nichts geändert. Beim Ballspielen, beim Fußballgucken, im Stadion, wo auch immer Männer auf Bälle treffen, werden viele Gefühle in Bewegung gesetzt. Männer nehmen sich an den Händen, tanzen an Eckfahnen, werfen Küsse in die jubelnde Menge. In Verbindung mit dem Ball kann man Männer in der Öffentlichkeit ungewöhnlich sensibel und zärtlich miteinander sehen.

Was macht diese Mann-Ball-Beziehung aus? Große Leidenschaft ist in jedem Fall im Spiel. In meiner Familie ist das offensichtlich und bei meinem Sohn ganz besonders ausgeprägt. Bälle spielten in seinem Leben von Anfang an eine außergewöhnliche Rolle. Aber wie und wann hatte das bei ihm eigentlich angefangen? Gab es überhaupt eine Zeit ohne Ball? Fritz ohne Ball? Daran habe ich keine Erinnerung. Ball war immer.

Die allererste Begegnung mit dem Ball war eine Innenansicht. In eine riesige pralle Kugel verwandelte das Baby, das ich erwartete, meinen Bauch. Außen prall, innen so weich, dass der kleine Bewohner sowohl mit ersten Kicks von Füßen, Ellbogen, Hintern und Knie als auch mit dem Kopf Bekanntschaft machen konnte. Hier absolvierte er seine allererste Trainingseinheit.

Zu Hause in der Wiege, da wartete der Ball bereits. Sein Name war Siggi, und er erfüllte von Anfang an viele Bedürfnisse. Er war Empfänger und Spender unterschiedlichster Emotionen, klein, kuschelig und rund. Zumindest soweit eine Kugel mit einer weichen Füllung in einer Frottéhülle rund sein kann. Dieser Ball wurde im Laufe der Zeit geliebt und geknuddelt, geherzt und auch geküsst wie der Lederball vom glücklichen Champions-League-Spieler im Fernsehen. Welche Bedeutung die Bälle in Fritz’ Leben einmal haben sollten, das ahnte ich damals allerdings noch nicht.

Glücklicherweise war mein Sohn ein ganz normaler, gesunder Junge. Er war nicht zu groß, nicht zu klein, weder sehr schwer noch leicht. Und für uns Eltern war er natürlich – so wie alle unsere Kinder – etwas ganz Besonderes. Dass es ein Junge werden würde, hatten wir nicht gewusst. Und auch bei dem Namen waren wir uns nicht sicher. Zwei standen zur Auswahl. Der Vater und ich hatten beschlossen, uns noch nicht festzulegen. Wir wollten das Kind erst sehen und dann entscheiden. Als es schließlich so weit war, streckte er den Hals keck dem Neuen entgegen, die Augen suchend aufgerissen sah er uns an. Da will einer was von der Welt!, war mein erster Gedanke. Ich sah den Vater kurz an. Er nickte. Wir hatten einen Fritz.

Der aus dem Ruhrpott stammende Großvater war mit konkreten Vorstellungen über sein zweites Enkelkind weit weniger zurückhaltend. Er war sich sicher, dass es diesmal ein Junge werden würde. Und er hatte schon Pläne für den «Stammhalter» gemacht, lange bevor er ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Genauer genommen zwei Pläne: Erstens, den Namen der Familie, also seinen eigenen, sollte sein Enkel tragen, zweitens Fußballer, also Schalker werden.

Aber die großväterlichen Pläne machten uns keine Sorgen. Unserem Sohn und uns würden sie nichts anhaben können. Der Vater und ich wussten, dass es keinen Sinn hatte, die eigenen Wünsche auf unsere Kinder zu übertragen. Wir hatten bereits eine Tochter. Ich wusste also auch praktisch, was dabei herauskommt, wenn man versucht, den Kindern die Dinge zu ermöglichen, die man selbst als Kind gerne gemacht hätte. Es klappt nicht! Kinder sind von Anfang an Wesen mit eigenem Willen und Neigungen. Sie kommen mit einem gewissen Anteil an Charakter zur Welt. Wir können Angebote machen, ihnen Optionen und Möglichkeiten zeigen und versuchen, Einfluss auf sie zu nehmen, ihnen einen Weg und eine grundsätzliche Haltung zur Welt zeigen. Und natürlich tun sie vieles, weil wir es tun oder weil sie uns eine Freude machen wollen. Aber sie sind glücklicherweise keine Kopien unserer selbst.

Dennoch suchen alle Eltern nach Ähnlichkeiten, nach einem Widerschein von sich selbst in ihren Kindern. Sehen sie uns äußerlich ähnlich? Hat er nicht deine Augen? Meinen Mund? Bei den Äußerlichkeiten gibt es oft frappierende Fälle. Natürlich geben wir vieles an unsere Kinder weiter. Natürlich sind sie uns ähnlich, manchmal glauben wir, uns in ihnen tatsächlich wiederzuerkennen. Aber sie sind auch anders, überraschend und manchmal ganz fremd.

Der Vater und ich hatten uns auf jeden Fall fest vorgenommen, unsere eigenen Wünsche nicht auf unsere Kinder zu projizieren. Aber durften wir uns deshalb jetzt gar nichts für sie wünschen? Kinder und Wünsche hängen schließlich irgendwie zusammen. Im besten und wohl häufigsten Fall sind sie Ergebnis eines Wunsches. Natürlich wünschten wir uns, wie alle Eltern es tun, etwas für unsere Kinder, für dieses Kind. Gesundheit, Segen, eine glückliche Kindheit, Freunde, ein erfülltes Leben. Alles Gute eben und nichts Schlechtes. So abstrakt, da waren wir uns einig, ist Wünschen wundervoll.

Was aber, wenn Wünsche konkret, schlimmer noch, wenn sie zu festen, realen Vorstellungen werden? Plötzlich können aus guten Wünschen und dem Besten fürs Kind ungeliebte Plagegeister werden. Die Kinder unserer Großeltern, also unsere Eltern, können viele Geschichten von diesen «guten Wünschen» erzählen. Viele ihrer Generation sind diesen Wünschen gefolgt, haben Betriebe übernommen, Fächer studiert oder vielleicht auch Partner geheiratet, die sie eigentlich nicht wollten. Mit dieser Sorte Wünsche wollten wir unsere Kinder verschonen. Wir hofften, dass wir früh erkennen würden, was ihnen besondere Freude macht. Wir fragten uns immer früher, welcher Sport, welches Instrument das richtige sein könnte. Viele Eltern beklagen sich darüber, dass ihre Kinder keine Leidenschaften entwickeln, dass sie ihre Hobbys ständig wechseln, sich für nichts interessieren. Damit hatten wir kein Problem. Im Gegenteil. Unser Sohn brachte großes Wollen und große Ausdauer mit. Große Leidenschaften ließen auch nicht lange auf sich warten.

Sollte der Großvater also ruhig von der Weitergabe seines Erbes träumen und von einem Enkel, der für Schalke 04 auf dem Platz stehen würde. Meinen Sohn würden diese Träume nicht belasten. Zudem wohnten wir mit unserer Tochter und dem Neugeborenen damals nicht in der Nähe der zahlreichen Verwandten im Ruhrgebiet, die allesamt Schalke-Fans waren und deren Kinder zum Teil schon bei der Geburt eine Schalke-Mitgliedschaft in die Wiege gelegt bekamen. Wir lebten im toleranten Köln und zogen wenige Monate später in ein kleines Dorf zwischen Mosel und Eifel. Mehr Rand der Republik ging kaum, das nächstliegende Stadion, wo man die 1. Liga live hätte sehen können, war der Betzenberg in Kaiserslautern, circa 200 Kilometer entfernt.

Fritz konnte also – völlig unbelastet von großen Erwartungen – entspannt ins Leben starten. Natürlich wurde er dabei aufmerksam von mir, dem Vater, der großen Schwester und den zweiten Großeltern beobachtet. Die Monate vergingen, und bald ließ es sich nicht mehr ignorieren: Da wollte einer mehr, als vor sich hin wachsen. Der Vater und ich sahen uns immer häufiger verwundert über diese Energie an. Da war ein Junge, der wollte ganz offensichtlich mehr Bewegung, mehr Aufmerksamkeit, mehr können, tun und denken und vor allem – mehr Ball. Mit glasklarem Blick verfolgte er mich, den Vater, seine Schwester und alle anderen in seiner Umgebung, übte Bewegungen und Laute mit großer Beharrlichkeit und stets aufs Beste gelaunt. Und immer wieder war da dieses runde Ding, das eine unglaubliche Faszination auf ihn ausübte. Unser neues Familienmitglied zeigte uns von Anfang an: Hier komme ich.

Dabei ist ja auch ein etwas «fauleres» Säuglingsleben schon unglaublich anstrengend. Was diese kleinen Wesen in den ersten Monaten ihres Lebens leisten, welche Verknüpfungen im Hirn stattfinden, welche Koordinationsfähigkeiten sich entwickeln, übertrifft alles, was unsere Körper im weiteren Leben in der Lage sind zu leisten. Nie wieder werden so viele Dinge in so kurzer Zeit erlernt und vorangetrieben. Jeder Säugling ist in dieser Lebensphase quasi ein Leistungssportler. Mein Sohn war kein Wunderkind. Er war einfach bei vielem ein klein wenig schneller, ein klein wenig ehrgeiziger als andere. Ausdauer und Ehrgeiz besaß er im Überfluss. Er wurde nicht müde, konnte nie genug vom Ball bekommen, vom Hin- und Herschieben, vom Schubsen und Hinterherkriechen. Fast meditativ spielte er mit dem Ball. Er untersuchte ihn peinlich genau auf seine Eigenschaften und probierte sie alle aus.

Fritz wollte den Ball treten, bevor er laufen konnte, und deshalb versuchte er es erst im Liegen und kurz darauf in einer Position zwischen halb aufrechtem Sitzen und Stehen. Mit den Armen zog er sich am Gitter des Bettchens hoch, oder er hielt sich an einem Stuhl fest, um dann ein Bein anzuheben und mit ihm in Richtung Ball zu zielen. Das war weder eine bequeme Stellung noch eine besonders elegante. Bis zum ersten eigenständigen Schritt würde es noch dauern. Aber der erste Schuss gelang schon jetzt.

Parallel zu den rasanten Mobilitätsfortschritten wuchs Fritz körperlich, mit dem Sprechen und Verstehen ging es ebenfalls schnell voran. Und wenn «Ball» vielleicht auch nicht das allererste Wort war, so gehörte es ganz sicher zu den ersten, die er in forderndem Ton hervorbrachte. Mir schien es reine Willenskraft zu sein. Noch bevor er ein Jahr alt war, hatte er alle Tabellen und Normwerte gesprengt. Das beunruhigte uns nicht, es versetzte uns lediglich manchmal in Staunen. Der Vater und ich, wir hatten schon Erfahrungen mit dem Elternsein. Ich orientierte mich nicht an genormten Kurven, sondern daran, ob es den Kindern gutging oder nicht. Und mein Sohn war ganz offensichtlich kerngesund und zufrieden: Er war glücklich. Seine Energie und seine gute Laune waren nahezu ansteckend. Auch deshalb machte es der Schwester und den Erwachsenen um ihn herum Spaß, mit ihm zu spielen. Immer neue Varianten des Werfens, Schießens, Hüpfens wurden ausprobiert, und als Lohn gluckste der Junge vor Vergnügen und strahlte die Mitspieler verschmitzt an. Genügend Aufmerksamkeit war diesem Kind sicher, und damit auch viele Übungsstunden.

Kurz vor seinem ersten Geburtstag fing Fritz an zu laufen. Jetzt gab es gar kein Halten mehr. Ständig lief er nun mit dem Ball herum und oft hinter ihm her. Dass sich seine Lauftechnik schnell verbesserte, verwunderte nicht. Schnell wurde aus dem staksenden Vorwärtsstolpern ein halbwegs passabler Laufstil. Wer kann schon mit einer dicken Windel und gesteppten Winterhosen gut laufen?

Zwischen dem Haus, in dem ich mit meiner Familie damals wohnte, und der angrenzenden Werkstatt befand sich eine gepflasterte und überdachte Fläche von über 200 Quadratmetern. Früher war sie genutzt worden, um Autos abzustellen und Material trocken zu lagern. Jetzt wurde sie zur eis- und schneefreien Spielfläche für meinen Sohn. Da konnte er auch im Winter Ballspielen. Er schoss die dort abgestellten Eimer oder Holzklötze ab oder die Bälle gegen die Hauswand. Dem Bewegungsdrang meines Sohnes waren keine Grenzen gesetzt. Und wenn es draußen zu kalt wurde, gab es ja noch den Hausflur mit je einer Tür am Ende. Der eignete sich perfekt für Torschüsse und Torwarttraining. Fritz trainierte täglich, freute sich über neue Erfolge. Der Vater und ich freuten uns auch.

Endlich kam der Frühling, es war Zeit für das erste öffentliche Training. Das fand nun mit uns, den Eltern, den Großeltern und der Schwester auf einer kleinen Spielstraße statt. Dort kickten auch die Nachbarkinder. Der Winzling jauchzte vor Begeisterung, wenn er den Ball bekam. Und weil er so lustig dabei war, brachten die anderen ihm gerne Neues bei. Wenn Fritz in seinem zweiten Sommer mit einem Ball über die Spielstraße dribbelte, fand er fast immer jemand, der mit ihm spielen wollte. Seine Ballbegeisterung war ansteckend, und die Schüsse wurden immer besser.

Natürlich konnte er mit den großen Jungs nicht mithalten. Aber jetzt kannten die Großen den kleinen Ballverrückten und nahmen ihn als halbe Portion auf. Sie klingelten manchmal und fragten, ob er mit seiner fünf Jahre älteren Schwester zum Kicken rauskommen wolle. So wurden beide Teil der kleinen Straßengemeinschaft im Dorf. Und der Vater, der Auswärtige, der Städter, der, der sein Geld mit dem Kopf verdiente und schon deshalb vielen irgendwie suspekt war, wurde gleich mit integriert. Das gemeinsame Gesprächsthema Fußball machte Unterhaltungen leichter. In der einzigen Dorfkneipe, in der man die Bundesliga damals live sehen konnte, waren Vater und Sohn bald bekannte und gerngesehene Gäste. Insofern leistete der Ball auch in meiner eigenen Familie schon sehr früh einen echten Beitrag zur Integration. Danke lieber (Fußball)gott!

2. Berlin – Einzeltraining, Flure und Bolzplätze

Als Fritz zwei Jahre war, nahm der Vater eine neue Stelle in Berlin an. Der Umzug in die Großstadt, vom Landhaus in die Etagenwohnung war für uns Erwachsene eine radikale Veränderung. Für die Kinder war er ein Kulturschock. Nur meine jüngste, gerade fünf Wochen alte Tochter bekam davon nichts mit. Die Älteste hingegen wechselte in die zweite Klasse. Sie musste von jetzt an mit einer neuen Ausgangsschrift in der Schule und dem rüden Ton der Berliner zurechtkommen. Und Fritz? Er war empört. Um 7 Uhr morgens stand er im Flur unserer Altbauwohnung. Mit dem Ball unterm Arm wollte er zur Tür hinaus, zu Opa, Fußballspielen und zu Charlotte, dem Esel, den Katzen. Aber die Tür war eine Wohnungs- und keine Haustür, und dahinter befand sich kein kleiner Pfad zum Nachbarhaus. Da war weder Opa noch Katze, sondern viele Treppenstufen von der dritten Etage bis auf die Straße.

«Ich will raus», brüllte er, stampfte mit den Füßen und schoss den Ball wütend gegen die Wand. Eine halbe Stunde später war die Älteste mit dem Vater auf dem Weg zur Schule, das Baby schlief im Kinderwagen, und ein aufgelöster Junge lief neben mir her in Richtung Park. Eine kleine Hand presste sich sehr fest in meine, den kleinen Frottéball hielt er in der anderen. Nur ein paar Jogger, Hundebesitzer und Leute, die den Weg durch den Park als Abkürzung zur U- und S-Bahn nutzten, waren schon unterwegs. Die Wiesen gehörten uns. Schnell war der Fußball aus dem Netz unter dem Kinderwagen herausgeholt. Genauso schnell hatte Fritz ihn sich gegriffen und schubste ihn mit dem Fuß. «Pass auf Mama, ich schieße!» Es dauerte nicht lange, bis er ganz auf den Ball, das Hin- und Herschießen konzentriert war. Seine Augen strahlten wieder, und die Wangen unter den blonden Locken glühten vor Eifer und Anstrengung.

Eine ganze Weile ging das so weiter, bis das Baby sich bemerkbar machte. Hunger! Der Ball landete wieder im Netz und der Junge auf der Kante des Kinderwagens. Wenige Minuten später waren wir von unserem ersten Ausflug in der neuen Stadt zurück. Davon, wie mein Leben mit den Kindern in dieser unbekannten Stadt aussehen würde, hatte ich noch keine konkrete Vorstellung. Doch eins war klar: Diese Wiesen hatten uns nicht zum letzten Mal gesehen. Von jetzt an gehörte ein Ball zu meinem ständigen Gepäck. Unser morgendlicher Ausflug mit Trainingseinheit am See wurde zum Ritual. Nichts konnte meinen Sohn körperlich auspowern und zugleich so glücklich machen wie Fußballspielen. Wenn ich jetzt mit den Kindern unterwegs war, suchte ich nach Wegen, die an einem Platz zum Ballspielen vorbeiführten. Ich lernte die Stadt von einer besonderen Seite kennen und lieben. Bald wusste ich, wo Fußballspielen erlaubt war und wo Rasenflächen mit wenig Hundehaufen zu finden waren. In meiner voluminösen Handtasche hatte ich gleichzeitig einen halben Hausstand untergebracht. Neben kleinen und großen Windeln, Trinkflaschen und Tupperdosen mit Notrationen fanden sich darin Turnschuhe, die gegen Gummistiefel oder Sandalen getauscht werden konnten, frische Socken, Bälle für jede Gelegenheit, eine Ballpumpe, ein Taschenmesser und eine Decke, damit sich erschöpfte Fußballspieler ausruhen und ein Baby erstes Krabbeln üben konnte.

Für uns wie für alle Eltern veränderte sich mit dem ersten Kind nicht nur unser Leben, sondern auch unsere Wohnung. Spätestens mit dem Krabbelkind kam eine neue Ebene hinzu. Sie begann auf circa 1,20 Meter. Oberhalb dieser magischen Grenze blieb weiterhin Platz für unsere ästhetischen Vorstellungen in Form von schönen, zerbrechlichen oder für Kinder gefährlichen Dingen. So waren sie unerreichbar für die Kleinen, die uns zwar von nun an das Wichtigste auf der Welt sein würden, von denen wir aber nicht alles annuckeln, runterreißen oder bekritzeln lassen wollten. Nach unserem Umzug stammten große Teile des neuen Mobiliars, das sich unterhalb von 1,20 Meter befand, von einem schwedischen Möbelhaus und hatte runde Kanten. Bodenvasen, Kerzenständer, Geschirr und Zerbrechliches waren darüber oder in Schränken, Wandregalen oder abschließbaren Vitrinen untergebracht. Mit dem zweiten Kind hatten wir keine weiteren radikalen Einschnitte in unsere Wohnkultur erwartet. Doch es kam anders.

Die schönen Tage draußen im Park waren bald vorbei. Auch wenn wir bei jedem noch so grässlichen Wetter draußen waren und Fußball spielten, blieben wir immer kürzer und gingen früher nach Hause. Langsam wurde es richtig kalt. Unser überdachter Spielplatz war Geschichte. Unaufhaltsam wandelte sich unsere Wohnung zum heimlichen Trainingsplatz für Schusstraining und Dribbling. Es war eine schleichende Entwicklung. Erst verschwanden die Bilder mit Glasrahmen im Flur. Denn dort wurde jetzt mit dem Softball gespielt. Plötzlich entdeckte ich einen Lederball im Wohnzimmer. Dann war die Schreibtischlampe im Kinderzimmer umgekippt. Blumenerde zeugte von der Erlösung einer Topfpflanze durch einen gnädigen Ball. Nach und nach eroberten Bälle die ganze Wohnung. Sie waren einfach überall. Freunde und Verwandte sorgten ständig für Nachschub. Sie wussten ja, wie man unserem Sohn eine Freude machen konnte. Der überlegte sich ständig neue Spiele und Herausforderungen zum Training der Balltechnik.

Meistens waren seine Spiele auch Herausforderungen für mich. Wenn ich Einkäufe, Geschirr oder Wäsche durch unseren Wohnungsflur transportierte, wurde mir mit großer Wahrscheinlichkeit von hinten mit einem Softball durch die Beine geschossen. Einmal flog ein vom kleinen Kicker gelupfter Ball über mich. Der nächste Schuss traf den Korb mit dem Leergut neben mir. An manchen Tagen war es mir unmöglich, von einem Zimmer ins andere zu gelangen, ohne mit einem Ball in Kontakt zu kommen. Das ständige Hindernislaufen ging einher mit unangekündigten Zurufen – «Achtung, ich schieße!» – und Bällen, die zwischen meinen Beinen hindurchrollten, mich trafen oder mir zugeworfen wurden.

Die Ballisierung unserer Wohnung schrie nach Regeln! Es mussten dringend weitere Schutzmaßnahmen her. Lederbälle und Fußballschuhe waren jetzt am Wohnungseingang in einem Korb zu verstauen und in der Wohnung strikt verboten. Kein Fußballspielen im Esszimmer und im Wohnzimmer! Der Flur hingegen wurde zur offiziellen Fußballzone erklärt. Ich schaffte noch mehr Softbälle und Noppensocken an. Und nach dem ersten wütenden Auftritt der älteren Dame, die unter uns wohnte, auch einen langen Flurteppich. Unser Verhältnis zu ihr verbesserte sich dadurch leider trotzdem nicht.

Zu Weihnachten bekam Fritz sein erstes Schalke-Trikot und natürlich Bälle und Fußballbücher. In diesem Winter wurde viel gelesen und gemalt, auch damit konnte man unseren Sohn begeistern. Fast vergaß er dann den Ball. Aber jeder Weg zur Toilette oder in die Küche war von mehreren Ballkontakten begleitet. Hier schnell ein Dribbling im Flur, da ein Schuss mit dem Softball. Er konnte einfach nicht anders. Wenn es dann doch zu schlimm wurde, nützte nur noch eins – das Haus verlassen. Und so waren wir im Winter oft die Einzigen, die auch bei Eiseskälte mit ihrem Kind Fußball spielten. Allerdings hatten wir es vom meist nassen Rasen auf die breiten Bürgersteige oder auf gepflasterte Plätze verlegt.

Hin und wieder begegneten wir auf unseren Streifzügen durch die Stadt aber auch anderen Erwachsenen – meist waren es die Großväter – und kleinen Jungs im Trikot, mit einem Fußball unterm Arm, die wie wir nach einem Ort suchten, der zum Fußballspielen geeignet war. «Guck mal, wie fest der Junge schießt», fing meist der Opa ein Gespräch mit seinem Enkel an, um sich dann mit einer Bemerkung wie «Du wirst bestimmt Fußballer» oder der Frage «Willst du denn mal bei Hertha spielen?» an Fritz zu wenden. Mein Sohn mochte diese Unterhaltungen nicht. Er war nicht auf der Suche nach fremden Mitspielern. Noch genügte ihm das Einzeltraining mit mir oder dem Vater. Und Hertha sagte ihm nichts. Von Bayern hatte er schon gehört und natürlich von Schalke. Schließlich waren sein Papa und der Opa leidenschaftliche Schalke-Fans. Dieser Teil der großväterlichen Wünsche schien sich zumindest zu erfüllen.

Insgesamt waren Begegnungen mit anderen ähnlich begeisterten kleinen Fußballspielern selten. Vormittags gehörten die Spielplätze den Müttern mit ihren Babys. Hier spielte niemand Fußball. Stattdessen beobachteten uns vorsichtige, besorgte Mütter, die auf Ruhe und Harmonie bedacht waren. Ich und mein impulsives Kind waren Fremdkörper in dieser Welt, in der die Mütter mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit darauf achteten, dass kein lautes Wort gesprochen wurde, keine Hahnenkämpfe ausgefochten wurden und erst recht keine Rempelei stattfand.

Erst am späten Nachmittag kamen etwas ältere Jungs zum Spielplatz. Durch einen zufällig verschossenen Ball, ein Anrempeln aus Versehen oder die Frage eines Erwachsenen knüpften wir erste Kontakte zu Gleichgesinnten.

Im Laufe dieses Winters entdeckte mein Sohn eine neue Dimension des Ballsports: die Fußballübertragung. Außer für die Sendung mit der Maus, Nachrichten und Politsendungen war unser Fernseher auch Samstagnachmittags zur Bundesligazeit eingeschaltet. Fritz saß dann gerne mit dem Vater und mir auf dem Sofa. Die große Schwester war auch oft dabei. Allerdings blieben die Kinder nie lange. Sie verschwanden spätestens in der Halbzeitpause mit einem der Softbälle im Flur. Echte Bälle waren interessanter.

Im letzten Sommer vor dem Kindergarten gab es immer häufiger Ärger auf dem Spielplatz. Mein Sohn wollte den Ball nicht mehr nur hin und her rollen, er wollte richtig schießen, raste durch die Gegend, wollte sich verausgaben, war voller überschüssiger Energie. Das passte nicht mehr zu den Babys und Kleinkindern im Sandkasten. Wir waren dort nicht mehr gern gesehen. Ich fand uns mittlerweile auch irgendwie unpassend. Also gingen wir jetzt nicht mehr zu dem alten Lieblingsspielplatz mit dem kleinen Café, in dem auch Kugeleis im Hörnchen verkauft wurde. Etwas abgelegen hatten wir einen zweiten Spielplatz entdeckt. Er war zwar kleiner, dafür spielten hier häufig auch größere Kinder. Neben einer Schaukel, einer Rutsche und einem Klettergerüst gab es dort auch eine Sandfläche und einen kleinen hoch eingezäunten Platz, der mit rotem festen Bodenbelag ausgegossen war: einen richtigen Bolzplatz. Das war eine echte Entdeckung.

Heute weiß ich, es gab und gibt viele hundert davon. «Da hab ich vor 30 Jahren schon mit meinen Kumpels gespielt», erzählte mir ein Fußballkenner. Diese Art von Bolzplätzen war seit den Achtzigern eine Westberliner Spezialität. Auf kleiner Fläche konnte man so in der eingeschlossenen Stadt viele Spielstätten für Jugendliche bauen. Heute gibt es in den meisten deutschen Städten solche Käfige, aber nirgendwo gibt es so viele wie in Berlin. Eine geniale Erfindung, die zwar nicht besonders dekorativ war, aber viele Probleme auf einmal löste. Wo sonst in Berlin konnte man jenseits der richtigen Sportstätten so entspannt und ohne Stress mit Nachbarn und Parkbesuchern Fußball spielen? Im Käfig war das Spiel besonders und aufregender als auf normalen Plätzen. Hier gab es keine langen Bälle, keine langen Sprints. «Man musste sich was einfallen lassen, pfiffig und wendig sein», sagte mein Fußballkenner. «Viele Berliner Jungs haben hier das Fußballspielen gelernt.» Über drei besonders prominente Berliner, die in einem dieser Käfige Fußball spielen gelernt haben, hat der Journalist Michael Horeni ein ganzes Buch geschrieben, Die Brüder Boateng (Tropen 2012). Ein Fußballkäfig im Wedding spielt darin eine besondere Rolle. Die Art des Fußballspielens, das die Berliner Jungs in diesen Käfigen lernten und trainierten, wird dort ausführlich beschrieben. Wer dort das Fußballspielen gelernt hatte, spielte oft verrückter, unkonventioneller als andere. Auch in der Bundesliga fielen die Berliner durch ihre eigensinnige Spielweise auf.

So weit war Fritz natürlich damals noch lange nicht. Wir spielten zu zweit. Trotzdem waren mit dem Käfig für uns paradiesische Zeiten angebrochen. Am Morgen hatten wir diesen abgeschlossen Platz oft ganz für uns allein. Den Kinderwagen mit der schlafenden Schwester parkte ich auf der «sicheren» Seite des Zauns. Jetzt mussten wir uns keine Sorgen mehr um ängstliche Mütter und ihre Kinder machen. Ein Käfig schützte nicht nur die da draußen vor uns. Der Zaun war eine Bande, die beim Spielen einbezogen werden konnte. Die Bälle kamen also schneller zurück und waren meistens unvorhergesehener als mein Zuspiel. Noch war mein Sohn mit mir als Fußballpartnerin vollkommen zufrieden. Nur für die kleine Schwester war es drinnen zu gefährlich, und wenn sie nicht schlief, sollte sie natürlich draußen nicht alleine sein. Wenn sie aufwachte, kümmerte ich mich um sie. Fritz blieb dann noch eine Weile im Käfig und schoss Bälle gegen den Zaun, bevor wir uns zusammen auf den Heimweg machten.

So sahen die meisten unserer Vormittage aus. Am Wochenende zogen der Vater, Fritz und die ältere Schwester mit dem Ball unterm Arm los. Manchmal nahmen sie die Jüngste mit, und ich hatte spielfrei. So gerne ich mit meinem Sohn auch Fußball spielte, für diese kurzen Fußball-Auszeiten war ich sehr dankbar.

Schnell ging dieser Sommer vorbei, und für Fritz begann etwas, das er noch nicht kannte: Vormittage ohne Fußball, dafür aber mit vielen Regeln!