Rahel rechtet mit Gott

Stefan Zweig

Rahel rechtet mit Gott

Legenden

FISCHER E-Books

Mit einem Nachwort von Knut Beck.

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Inhalt

Impressum

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012

 

Reihengestaltung: bilekjaeger

Covergestaltung: Ingrid Lutterbeck

Coverabbildung: Archiv S. Fischer Verlag

 

Unsere Adresse im Internet: www.fischerverlage.de

 

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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-400198-2

Die Legende der dritten Taube

In dem Buche vom Anfang der Zeit ist die Geschichte der ersten Taube erzählt und die der zweiten, die Urvater Noah aus der Arche um Botschaft sandte, als die Schleusen des Himmels sich schlossen und die Gewässer der Tiefe versiegten. Doch die Reise und das Schicksal der dritten Taube, wer hat sie gekündet? Auf dem Gipfel des Berges Ararat war das rettende Schiff gestrandet, das in seinem Schoß alles von der Sintflut verschonte Leben barg, und als des Urvaters Blick vom Maste nur Woge und Welle sah, unendliches Gewässer, da sandte er eine Taube, die erste, aus, daß sie ihm Botschaft bringe, ob irgendwo schon Land zu schauen sei unter dem entwölkten Himmel.

Die erste Taube, so wird dort erzählt, hob sich auf und spannte die Schwingen. Sie flog gen Osten und gen Westen, aber Wasser war noch überall. Nirgends fand sie Rast für ihren Flug, und allmählich begannen ihr die Flügel zu lahmen. So kehrte sie zurück zum einzigen Festen der Welt, zur Arche, und flatterte um das ruhende Schiff auf dem Berggipfel, bis Noah die Hand ausstreckte und sie heim zu sich in die Arche nahm.

Sieben Tage wartete er nun, sieben Tage, in denen kein Regen fiel und die Gewässer sanken, dann nahm er neuerlich eine Taube, die zweite, und sandte sie um Kunde. Die Taube flog aus des Morgens, und als sie wiederkam zur Vesperzeit, da trug sie als erstes Zeichen der befreiten Erde ein Ölblatt im Schnabel. So vernahm Noah, daß die Wipfel der Bäume schon über Wasser ragten und die Prüfung bestanden sei.

Nach abermals sieben Tagen sandte er wiederum eine Taube, die dritte, auf Kunde, und sie flog in die Welt. Morgens flog sie aus und kehrte doch des Abends nicht zurück, Tag um Tag harrte Noah, doch sie kam nicht wieder. Da wußte der Urvater, daß die Erde frei sei und die Wasser gesunken. Von der Taube aber, der dritten, hat er niemals wieder vernommen und auch die Menschheit nicht, nie ward ihre Legende gekündet bis in unsere Tage.

Dies aber war der dritten Taube Reise und Geschick. Des Morgens war sie von der dumpfen Kammer des Schiffes ausgeflogen, darin im Dunkel die gepreßten Tiere murrten vor Ungeduld und ein Gedränge war von Hufen und Klauen, ein wüstes Getön von Brüllen und Pfeifen und Zischen und Bellen, sie war ausgeflogen aus der Enge in die unendliche Weite, aus dem Dunkel in das Licht. Da sie aber die Schwinge nun hob in die lichtklare, vom Regen süß gewürzte Luft, wogte mit einemmal Freiheit um sie und die Gnade des Unbegrenzten. Von der Tiefe schimmerten die Wasser, wie feuchtes Moos leuchteten grün die Wälder, von den Wiesen stieg weiß der Brodem der Frühe, und das duftende Gären der Pflanzen durchsüßte die Wiesen. Glanz fiel von den metallenen Himmeln spiegelnd herab, an den Zinnen der Berge brach die steigende Sonne sich in unendlichen Morgenröten, wie rotes Blut schimmerte davon das Meer, wie heißes Blut dampfte davon die blühende Erde. Göttlich war es, dies Erwachen zu schauen, und seligen Blicks wiegte die Taube sich mit flachen Schwingen über der purpurnen Welt, über Länder und Meere flog sie dahin und ward im Träumen allmählich selber ein schwingender Traum. Wie Gott selbst sah sie als erste nun die befreite Erde, und ihres Schauens war kein Ende. Längst hatte sie Noah, den Weißbart der Arche, vergessen und seinen Auftrag, längst vergessen die Wiederkehr.

So flog die dritte Taube, der ungetreue Bote des Urvaters, über die leere Welt, weiter, immer weiter, vom Sturm ihres Glückes getragen, vom Wind ihrer seligen Unrast, weiter flog sie, immer weiter, bis die Schwingen ihr schwer wurden und bleiern das Gefieder. Die Erde zog sie nieder zu sich mit wuchtigem Zwang, immer tiefer senkten sich die matten Flügel, daß sie der feuchten Bäume Wipfel schon streiften, und am Abend des zweiten Tages ließ sie sich endlich sinken in die Tiefe eines Waldes, der noch namenlos war wie alles in jenem Anfang der Zeit. Im Dickicht des Gezweigs barg sie sich und ruhte von der luftigen Fahrt. Reisig deckte sie zu, Wind schläferte sie ein, kühl war es im Gezweige des Tags und warm in der waldigen Wohnung des Nachts. Bald vergaß sie die windigen Himmel und die Lockung der Ferne, die grüne Wölbung schloß sie ein und die Zeit wuchs ungezählt über sie.

Es war ein Wald unserer nahen Welt, den die verirrte Taube sich zur Hausung erkoren, aber noch weilten keine Menschen darin, und in dieser Einsamkeit ward sie allmählich selber zum Traum. Im Dunkel, im nachtgrünen, nistete sie und die Jahre gingen an ihr vorüber und es vergaß sie der Tod, denn alle jene Tiere, jeder Gattung das eine, das noch die erste Welt vor der Sintflut gesehen, sie können nicht sterben, und kein Jäger vermag etwas wider sie. Unsichtbar nisten sie in den unerforschten Falten des Erdkleids und so diese Taube auch in der Tiefe des Waldes. Manchmal freilich kam Ahnen über sie von der Menschen Gegenwart, ein Schuß knallte und sprang hundertfach wider von den grünen Wänden, Holzfäller schlugen gegen die Stämme, daß rings das Dunkel dröhnte, das leise Lachen der Verliebten, die verschlungen ins Abseits gingen, gurrte heimlich im

Einmal aber in diesen Tagen hub der ganze Wald an zu dröhnen, und es donnerte, als bräche die Erde entzwei. Durch die Luft sausten pfeifend schwarze, metallene Massen, und wo sie fielen, sprang die Erde entsetzt empor, und die Bäume brachen wie Halme. Menschen in farbigen Gewändern warfen den Tod einander zu, und die furchtbaren Maschinen schleuderten Feuer und Brand. Blitze fuhren von der Erde in die Wolken und Donner ihnen nach; es war, als wolle das Land in den Himmel springen oder der Himmel niederfallen über das Land. Die Taube fuhr auf aus ihrem Traum. Tod war über ihr und Vernichtung; wie einst die Wasser, so schwoll nun das Feuer über die Welt. Jäh spannte sie die Flügel und schwirrte empor, sich andere Heimstatt zu suchen als den stürzenden Wald: eine Stätte des Friedens.

Sie schwirrte auf und flog über unsere Welt, um Frieden zu finden, aber wohin sie flog, überall waren diese Blitze, diese Donner der Menschen, überall Krieg. Ein Meer von Feuer und Blut überschwemmte wie einstens die Erde, eine Sintflut war wieder gekommen, und hastig flügelte sie durch unsere Länder, eine Stätte der Rast zu erspähn und dann aufzuschweben zum Urvater, ihm das Ölblatt der Verheißung zu bringen. Aber nirgends war es zu finden in diesen Tagen, immer höher schwoll die Flut des Verderbens über die Menschheit, immer weiter fraß sich der Brand durch unsere Welt. Noch hat sie die Rast nicht gefunden, noch die Menschheit den Frieden nicht, und eher darf sie nicht heimkehren, nicht ruhen für alle Zeit.

Keiner hat sie gesehen, die verirrte mythische Taube,

Die Augen des ewigen Bruders

Nicht durch Vermeidung jeder Tat wird wahrhaft man vom Tun befreit,

Nie kann man frei von allem Tun auch einen Augenblick nur sein.

BHAGAVAD-GITA, 3. GESANG

Was ist denn Tat? was ist Nichttun? – Das ist’s, was Weise selbst verwirrt.

Denn achten muß man auf die Tat, achten auf unerlaubtes Tun.

Muß achten auf das Nichttun auch – der Tat Wesen ist abgrundtief.

BHAGAVAD-GITA, 4. GESANG

Dieses ist die Geschichte Viratas,

den sein Volk rühmte mit den vier Namen der Tugend, von dem aber nicht geschrieben ist in den Chroniken der Herrscher noch in den Büchern der Weisen und dessen Andenken die Menschen vergaßen.

 

 

In den Jahren, ehe noch der erhabene Buddha auf Erden weilte und die Erleuchtung der Erkenntnis eingoß in seine Diener, lebte im Land der Birwagher bei einem König Rajputas ein Edler, Virata, den sie den Blitz des Schwertes nannten, weil er ein Krieger war, kühn vor allen andern, und ein Jäger, dessen Pfeile nie fehlten,

Es geschah aber, daß Unheil fiel über den König, dem er diente. Seines Weibes Bruder, den er zum Verwalter gesetzt über die Hälfte seines Reiches, gelüstete es nach der Gänze, und er hatte heimlich die besten Krieger des Königs mit Geschenken verlockt, daß sie ihm dienten. Und er hatte die Priester beredet, daß sie nächstens die heiligen Reiher des Sees ihm brachten, die ein Zeichen der Herrschaft waren seit tausend und tausend Jahren in dem Geschlecht der Birwagher. Elefanten und Reiher rüstete der Feindliche im Felde, sammelte die Unzufriedenen der Berge zu einem Kriegsheer und zog drohend gegen die Stadt.

Der König ließ von morgens bis abends die kupfernen Becken schlagen und aus den weißen Hörnern von Elfenbein blasen; nachts zündeten sie Feuer auf den Türmen und warfen die zerriebenen Schuppen der Fische in die Lohe, daß sie gelb aufglühten unter den Sternen als Zeichen der Not. Aber wenige nur kamen; die Kunde vom Raube der heiligen Reiher war schwer auf die Herzen der Führer gefallen und machte sie zag: der oberste der Krieger und der Hüter der Elefanten, die bewährtesten unter den Feldherren, weilten schon im Lager des Feindes, vergebens blickte der Verlassene nach Freunden

In dieser seiner Not gedachte der König Viratas, der ihm Botschaft der Treue gesandt bei dem ersten Ruf der Hörner. Er ließ die Sänfte von Ebenholz rüsten und sie hintragen vor sein Haus. Virata neigte sich zur Erde nieder, da der König der Trage entstieg, aber der König umfing ihn wie ein Flehender und bat ihn, das Heer zu führen wider den Feind. Virata neigte sich und sprach: »Ich will es tun, Herr, und nicht wiederkehren in dies Haus, ehe die Flamme des Aufruhrs erstickt ist unter dem Fuß deiner Knechte.«

Und er sammelte seine Söhne, seine Sippen und Sklaven, stieß mit ihnen zu dem Haufen der Getreuen und reihte ihn zum Kriegszuge. Den ganzen Tag wanderten sie durch das Dickicht bis zum Flusse, auf dessen anderem Ufer die Feinde in unendlicher Zahl gesammelt waren, prahlend ihrer Menge und Bäume fällend für eine Brücke, daß sie des Morgens kämen und, selbst eine Flut, das Land mit Blut überschwemmten. Aber Virata kannte von der Jagd des Tigers eine Furt oberhalb der Brücke, und als das Dunkel gesunken war, führte er Mann für Mann die Getreuen durch das Wasser, und nachts fielen sie unversehens über den schlafenden Feind. Sie schwangen Pechfackeln, daß die Elefanten und Büffel scheu wurden und die Schlafenden auf ihrer Flucht zerstampften und die Lohe weiß in die Zelte sprang. Virata aber war als erster in das Zelt des Widerkönigs gestürmt, und ehe die Schlafenden aufschreckten, hatte er schon zwei mit dem Schwerte geschlagen und den dritten, als er eben auffuhr und nach dem seinen griff. Den vierten und den fünften aber schlug er Mann wider Mann im

Es dauerte aber nur ein geringes, da ward Gottes Tag wach hinter dem Walde, die Palmen brannten im goldenen Rot der Frühe und funkelten wie Fackeln in den Strom. Blutig brach die Sonne auf, die feurige Wunde im Osten. Da erhob sich Virata, legte das Gewand ab, trat zum Strome, die Hände über dem Haupte erhoben, und neigte sich betend vor Gottes leuchtendem Auge; dann stieg er nieder in den Strom zur heiligen Waschung, und das Blut floß ab von seinen Händen. Nun aber das Licht in weißer Welle sein Haupt anrührte, trat er zurück an das Ufer, hüllte sich in sein Gewand und ging hellen Antlitzes wieder zum Zelte, die Taten der Nacht im Morgen zu beschauen. Schreck in den Zügen starr bewahrend, aufgesperrten Auges und zerrissener Gebärde lagen die Toten: mit gespellter Stirne der Widerkönig und mit aufgestoßener Brust der Ungetreue, der vordem Heerführer gewesen im Lande der Birwagher. Virata schloß ihnen die Augen und schritt weiter, die andern zu sehen, die er im Schlafe geschlagen. Sie lagen, noch halb verhüllt von ihren Matten, zweier Antlitz ließen ihn fremd, es waren Sklaven des Verführers aus dem Südland mit wolligem Haar und von schwarzem Gesicht. Da er aber des letzten Antlitz zu sich wandte, ward es ihm

Bald doch flog Rufen her; wie die wilden Vögel jauchzten von der Verfolgung die Knechte sich heran zum Zelt, reich bebeutet und heiteren Sinns. Da sie den Widerkönig geschlagen fanden in der Mitte der Seinen und geborgen die heiligen Reiher, tanzten sie und sprangen, küßten Virata, der achtlos zwischen ihnen saß, das niederhangende Gewand und rühmten ihn mit neuem Namen als den Blitz des Schwertes. Und immer mehr kamen, sie luden die Beute auf Karren, doch so tief sanken die Räder unter der Last, daß sie mit Dornen die Büffel schlagen mußten und die Barken zu sinken drohten. Ein Bote sprang in den Fluß und eilte voraus, Kunde dem Könige zu bringen, die andern aber säumten bei der Beute und jubelten ihres Sieges. Schweigend indes und wie ein Träumender saß Virata. Nur einmal erhob er die Stimme, als sie den Toten das Gewand rauben wollten vom Leibe. Dann stand er auf, befahl, Balken zu raffen und die Leichname auf die Scheiter zu schichten, damit sie verbrannt würden und ihre Seelen rein eingingen in die Verwandlung. Die Knechte wunderten sich, daß er so tat an Verschwörern, deren Leiber zerrissen werden sollten von den Schakalen des Walds und deren Gebeine verbleichen im Grimm der Sonne; doch sie taten nach seinem Geheiß. Als die Scheiterhaufen geschichtet

Inzwischen haben die Sklaven die Brücke geendigt, die gestern prahlend die Knechte des Widerkönigs begonnen, voran zogen die Krieger, gekränzt mit Pisangblüten, dann folgten die Knechte und zu Pferde die Fürsten. Virata ließ sie voran, denn ihr Singen und Schreien gellte ihm in der Seele, und als er ging, war ein Abstand zwischen jenen und ihm nach seinem Willen. In der Mitte der Brücke hielt er inne und sah lange hinab in das fließende Wasser zur Rechten und zur Linken – vor ihm aber und hinter ihm hielten, daß sie den Raum wahrten, staunend die Krieger. Und sie sahen, wie er den Arm hob mit dem Schwerte, als wollte er es schwingen wider den Himmel, doch im Sinken ließ er den Griff lässig gleiten, und das Schwert sank in die Flut. Von beiden Ufern sprangen nackte Knaben ins Wasser, um es wieder emporzutauchen, vermeinend, es sei ihm versehentlich entglitten, doch Virata wies sie strenge zurück und schritt weiter, unbewegten Gesichtes und dunkelnder Stirne, zwischen den verwunderten Knechten. Kein Wort bog mehr seine Lippe, indes sie Stunde um Stunde die gelbe Straße der Heimat entgegenzogen.

Noch waren sie ferne den Jaspistoren und zackigen Türmen Birwaghas, da stieg schon eine Wolke weiß in den Himmel, und die Wolke rollte heran, Läufer und Reiter, den Staub überjagend. Und sie hielten inne, da sie den Heerzug sahen, und breiteten Teppiche auf die Straße zum Zeichen, daß der König ihnen entgegenkäme, dessen Sohle irdischen Staub nie berührt von der Stunde der Geburt bis zum Tode, da die Flamme seinen geläuterten Leib umfängt. Und schon nahte von ferne auf dem uralten Elefanten der König, umringt von

Aber Virata beugte sein Antlitz zur Erde und hub es nicht auf, indem er sagte:

»Darf ich eine Gnade erbitten von dem gnädigsten und eine Bitte von dem großmütigsten der Könige?«

Der König sah nieder zu ihm und sagte:

»Sie ist gewährt, noch ehe du dein Auge aufschlägst zu mir. Und fordertest du die Hälfte meines Reiches, so ist sie dein eigen, sobald du die Lippe rührst.«

Da sprach Virata:

»So gestatte, mein König, daß dies Schwert im Schatzhause bleibt, denn ich habe ein Gelöbnis getan in meinem Herzen, kein Schwert mehr zu fassen, seit ich heute meinen Bruder erschlug, den einzigen, der mit mir aus

Erstaunt blickte ihn der König an. Dann sprach er:

»So sei ohne Schwert der oberste meiner Krieger, damit ich mein Reich sicher wisse vor jedem Feind, denn nie hat einer der Helden besser ein Heer geführt gegen die Übermacht: nimm meinen Gurt als Zeichen der Macht und dies mein Roß, daß dich alle erkennen als höchsten meiner Krieger.«

Aber Virata beugte noch einmal sein Antlitz zur Erde und erwiderte:

»Der Unsichtbare hat mir ein Zeichen gesandt, und mein Herz hat es verstanden. Ich erschlug meinen Bruder, auf daß ich nun wisse, daß jeder, der einen Menschen erschlägt, seinen Bruder tötet. Ich kann nicht Führer sein im Kriege, denn im Schwerte ist Gewalt, und Gewalt befeindet das Recht. Wer teilhat an der Sünde der Tötung, ist selbst ein Toter. Ich aber will, daß nicht Furcht ausgehe von mir, und lieber das Brot des Bettlers essen, denn unrecht tun wider dies Zeichen, das ich erkannte. Ein kurzes ist das Leben in der ewigen Verwandlung, laß mein Teil mich leben als ein Gerechter.«

Des Königs Antlitz ward dunkel eine Weile, und solche Stille des Schreckens stand um ihn, wie vordem Fülle des Lärmes gewesen, denn noch nie ward es erhört in den Zeiten der Väter und Urväter, daß ein Freier des Königs sich gewehrt und ein Fürst ein Geschenk nicht nahm von seinem Könige. Dann aber blickte der Herrscher auf zu den heiligen Reihern, den Zeichen des Sieges, die jener erbeutet, und sein Antlitz erhellte sich von neuem, da er sagte:

»Als tapfer habe ich dich von je erkannt wider meine Feinde, Virata, und als einen Gerechten vor allen Dienern meines Reiches. Muß ich dich missen im Kriege, so will ich dich nicht entbehren in meinem Dienste. Da du

Virata neigte sich vor dem König und faßte sein Knie zum Zeichen des Dankes. Der König hieß ihn den Elefanten besteigen zu seiner Seite, und sie zogen ein in die sechzigtürmige Stadt, deren Jubel wider sie schlug wie ein stürmendes Meer.

 

Von der Höhe der rosenfarbenen Treppe, im Schatten des Palastes sprach nun Virata im Namen des Königs Recht von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Sein Wort aber war gleich einer Waage, die lange zittert, ehe sie eine Schwere mißt; klar ging sein Blick in die Seele des Schuldigen und seine Fragen drangen in die Tiefe der Verbrechen beharrlich hinab wie ein Dachs in das Dunkel der Erde. Strenge war sein Spruch, doch nie fällte er gleichen Tages das Urteil, immer legte er die kühle Spanne der Nacht zwischen Verhör und Bannung: die langen Stunden bis Sonnenaufgang hörten ihn die Seinen dann auf dem Dache des Hauses oft ruhelos schreiten, nachsinnend über Recht und Unrecht. Ehe er aber ein Urteil sprach, tauchte er die Hände und die Stirne in das Wasser, daß sein Spruch lauter sei von Hitze der Leidenschaft. Und immer, da er ihn gesprochen, fragte er den Missetäter, ob sein Wort ihm Irrtum dünke; doch selten nur geschah es, daß einer dawider redete; stumm küßten sie die Schwelle seines Sitzes und nahmen gesenkten Hauptes die Strafe wie von Gottes Mund.

Niemals aber sprach Viratas Mund Botschaft des Todes auch über den Schuldigsten und wehrte denen, die ihn mahnten. Denn er scheute das Blut. Den runden Brunnen der Urväter Rajputas, über dessen Rand der

Im sechsten Jahre nun, da Virata Recht sprach von der Stufe des Vorhofs, geschah es, daß Kläger einen Jüngling vom Stamme der Kazaren brachten, der Wilden, die über den Felsen hausen und andern Göttern dienen. Seine Füße waren wund, so viele Tagereisen hatten sie ihn hergetrieben, und vierfach umschlangen Fesseln seine mächtigen Arme, daß er niemandem Gewalt anhaben konnte, wie es sein Auge drohend verhieß, das zornig rollte unter den verfinsterten Brauen. Sie stellten ihn an die Treppe und warfen den Gebundenen gewaltsam ins Knie vor dem Richter, dann neigten sie sich selbst und hoben die Hände zum Zeichen der Klage.

Virata sah staunend auf die Fremden: »Wer seid ihr, Brüder, die ihr von ferne kommt, und wer ist dieser, den ihr in Fesseln vor mich bringt?«

Es neigte sich der Älteste unter ihnen und sprach:

»Hirten sind wir, Herr, friedlich wohnende im

Virata hob das Antlitz dem Gefesselten entgegen:

»Ist es wahr, was jene sprechen?«

»Wer bist du? Bist du der König?«

»Ich bin Virata, sein Diener und der Diener des Rechts, da ich um Sühne sorge für Schuld und das Wahre sondere vom Falschen.«

Der Gefesselte schwieg lange. Dann gab er strengen Blick:

»Wie kannst du wissen, was wahr ist und was falsch, aus der Ferne, da dein Wissen sich nur tränkt von der Rede der Menschen!«

»Gegen ihre Rede möge deine Widerrede streiten, damit ich die Wahrheit erkenne.«

Verächtlich hob der Gefesselte die Brauen:

»Ich streite nicht mit jenen. Wie kannst du wissen, was ich tat, da ich selbst nicht weiß, was meine Hände tun, wenn Zorn über mich fällt. Ich habe recht getan an jenem, der ein Weib verkaufte um Geld, recht getan an seinen Kindern und Knechten. Mögen sie klagen wider mich. Ich verachte sie und ich verachte deinen Spruch.«

Wie ein Sturm fuhr Zorn durch die andern, da sie hörten, daß der Verstockte den gerechten Richter schmähte, und der Knecht des Gerichtes hob den dornigen Stock schon zum Schlage. Aber Virata winkte ihren Zorn nieder und wiederholte noch einmal Frage um Frage. Immer wenn ihm Antwort ward von den Klägern, fragte er von neuem den Gefesselten. Doch der preßte die Zähne in ein böses Lachen zusammen und sprach nur noch einmal:

»Wie willst du die Wahrheit wissen aus den Worten der andern?«

Die Sonne stand steil über ihren Häuptern im Mittag, da Viratas Fragen zu Ende war. Und er erhob sich und wollte, wie es sein Brauch war, heimgehen und den Spruch erst künden am nächsten Tage. Aber die Kläger hoben die Hände. »Herr«, sagten sie, »sieben Tage sind wir gewandert vor dein Antlitz, und sieben Tage heimwärts will unsere Reise. Wir können nicht warten bis morgen, denn das Vieh verdurstet ohne Tränke und der Acker will unseren Pflug. Herr, wir flehen, sprich deinen Spruch!«

Da setzte sich Virata wieder nieder auf die Stufe und sann. Sein Antlitz war gespannt wie das eines, der schwere Last trägt auf seinem Haupte, denn nie war es ihm geschehen, Urteil wider einen zu sprechen, der nicht Gnade erbat und sich wehrte im Wort. Lange sann er, und die Schatten wuchsen auf mit den Stunden. Dann trat er zum Brunnen, wusch Antlitz und Hände in der Kühle des Wassers, damit sein Wort frei sei von der Hitze der Leidenschaft, und sagte: »Möge mein Spruch gerecht sein, den ich spreche. Todschuld hat dieser auf sich geladen, elf Lebendige gejagt aus ihrem warmen Leib in die Welt der Verwandlung. Ein Jahr reift das Leben des Menschen verschlossen im Schoße der Mutter, so sei dieser für jeden, den er getötet, verschlossen

»Ich habe dich gerufen, daß du mich zur Milde mahnest und mir helfest wider deine Kläger, doch deine Lippen blieben verschlossen. Ist ein Irrtum in meinem Spruch, so klage vor dem Ewigen mich nicht an, sondern dein Schweigen. Ich wollte dir milde sein.«

Der Gefesselte fuhr auf: »Ich will deine Milde nicht. Was ist deine Milde, die du gibst, gegen das Leben, das du mir nimmst in einem Atemzuge?«

»Ich nehme dir dein Leben nicht.«

»Du nimmst mir mein Leben und nimmst es grausamer, als es die Häuptlinge unseres Stammes tun, den sie den wilden nennen. Warum tötest du mich nicht? Ich habe getötet, Mann gegen Mann, du aber läßt mich einscharren wie ein Aas ins Dunkel der Erde, daß ich faule an den Jahren, weil dein Herz feig ist vor dem Blute und deine Eingeweide ohne Kraft. Willkür ist dein Gesetz und Marter dein Spruch. Töte mich, denn ich habe getötet.«

»Ich habe deine Strafe gerecht gemessen …«

»Gerecht gemessen? Wo aber ist dein Maß, du Richter, nach dem du missest? Wer hat dich gegeißelt, daß du die Geißel kennst, wie zählst du die Jahre spielerisch an den Fingern, als ob sie ein gleiches wären, wie Stunden im

Bleich fuhr dem Schreienden Haß vom Munde, und wieder fielen die andern zornig über ihn. Aber Virata wehrte ihnen nochmals, wandte sein Haupt vorbei von dem Wilden und sagte leise: »Ich kann den Spruch nicht zerbrechen, der auf dieser Schwelle getan wird! Möge er ein gerechter gewesen sein.«

Dann ging Virata, indes sie jenen faßten, der sich wehrte in seinen Fesseln. Aber noch einmal hielt der Richter inne und wandte sich zurück: da standen starr und böse ihm des Hingeschleppten Augen entgegen. Und mit einem Schauer fuhr es Virata ins Herz, wie ähnlich sie seines toten Bruders Augen waren in jener Stunde, da er damals von seiner eigenen Hand erschlagen lag im Zelte des Widerkönigs …

An jenem Abend sprach Virata kein Wort mehr zu Menschen. Des Fremden Blick stak in seiner Seele wie ein brennender Pfeil. Und die Seinen hörten ihn die ganze Nacht, Stunde um Stunde, schlaflos auf dem

 

In dem heiligen Teiche des Tempels nahm Virata das Bad der Frühe und betete gen Osten, dann trat er wieder in sein Haus, wählte das gelbe Gewand des Festes, grüßte ernst die Seinen, die staunend und doch ohne Frage sein feierlich Tun betrachteten, und ging allein zu dem Palaste des Königs, der ihm offenstand zu jeder Stunde des Tages und der Nacht. Virata neigte sich vor dem Könige und berührte den Saum seines Kleides zum Zeichen der Bitte.

Der König sah hell zu ihm nieder und sagte: »Dein Wunsch hat mein Kleid berührt. Er ist erfüllt, ehe du ihm Worte gibst, Virata.«

»Du hast mich zum obersten deiner Richter gesetzt. Sieben Jahre richte ich in deinem Namen und weiß nicht, ob ich recht gerichtet habe. Gönne mir einen Mond lang Stille, damit ich einen Weg zur Wahrheit gehe, und gönne mir, daß ich den Weg verschweige vor dir und allen andern. Ich will eine Tat tun ohne Unrecht und leben ohne Schuld.«

Der König staunte:

»Arm wird mein Reich sein an Gerechtigkeit von diesem Monde zum andern. Doch ich frage dich nicht nach deinem Wege. Möge er dich zur Wahrheit führen.«

Virata küßte die Schwelle zum Zeichen des Dankes, neigte nochmals das Haupt und ging.

 

Aus der Helle trat er in sein Haus, rief Weib und Kinder zusammen: »Einen runden Mond lang werdet ihr mich nicht schauen. Nehmt Abschied von mir und fraget nicht.«

Scheu blickte die Frau, fromm blickten die Söhne. Zu jedem beugte er sich und küßte ihn zwischen die Augen.

Und sie wandten sich, jeder in Schweigen.

Virata tat ab das festliche Kleid und tat ein dunkles an, betete vor den Bildnissen des tausendgestaltigen Gottes, ritzte in Palmblätter viele Schrift, die er rollte zu einem Brief. Mit dem Dunkel machte er sich dann auf aus seinem schweigenden Hause und ging zum Felsen vor der Stadt, wo die Erzgruben der Tiefe waren und die Gefängnisse. Er schlug an des Pförtners Tür, bis von der Matte der Schlafende aufstand und rief, wer ihn fordere:

»Virata bin ich, der oberste der Richter. Ich bin gekommen, nach jenem zu sehen, den sie gestern brachten.«

»In der Tiefe ist er verschlossen, Herr, im untersten Raume der Dunkelheit. Soll ich dich führen, Herr?«

»Ich kenne den Raum. Gib mir den Schlüssel und lege dich zur Ruhe. Morgens wirst du den Schlüssel finden vor deiner Tür. Und schweige zu jedem, daß du mich heute gesehen.«

Der Pförtner neigte sich, brachte den Schlüssel und eine Leuchte. Virata winkte ihm, stumm trat der Dienende zurück und warf sich auf die Matte. Er aber tat das kupferne Tor auf, das die Höhlung des Felsens verschloß, und stieg nieder in die Tiefe des Kerkers. Vor hundert Jahren schon hatten die Könige Rajputas in diese Felsen ihre Gefangenen zu verschließen begonnen, und jeder der Verschlossenen höhlte Tag für Tag tiefer den Berg hinab und schuf neue Gelasse in dem kalten Gestein für neue Knechte des Kerkers nach ihm.

Einen Blick noch warf Virata, ehe er nun die Türe zutat, nach dem aufgetanen Viereck des Himmels mit den weißen, springenden Sternen, dann schloß er die