Auf Reisen

Stefan Zweig

Auf Reisen

Feuilletons und Berichte

FISCHER E-Books

Mit einem Nachwort von Knut Beck.

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Inhalt

Impressum

 

Reihengestaltung: bilekjaeger

Covergestaltung: Ingrid Lutterbeck

Coverabbildung: Archiv S. Fischer Verlag

 

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012

 

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ISBN 978-3-10-400179-1

Fußnoten

›Indische Reisebriefe‹ von Ernst Haeckel, 5. Aufl. Berlin, Verlag von Gebrüder Paetel. 1908.

Pierre Loti: ›Indien (ohne die Engländer).‹ Hupeden & Merzyn, Berlin, Paris. 1905.

Alfred Meebold: ›Indien.‹ R. Piper & Cie. München 1908.

›Beiträge zur indischen Kulturgeschichte‹ von Richard Garbe. Berlin. Verlag von Gebrüder Paetel. 1903.

›Indische Reiseskizzen‹ von Richard Garbe. Berlin. Verlag von Gebrüder Paetel. 1889.

W. Fred: ›Indische Reise. Tagebuchblätter.‹ R. Piper, München.

1902

Saisontage in Ostende

Saisontage in Ostende bedeuten einen ununterbrochenen, farbigen Wechsel von Festen und öffentlichen Veranstaltungen. Bei allen, die gerade dieses größte und eleganteste der belgischen Seebäder aufsuchen, tritt eben jenes Verlangen am meisten in den Hintergrund, das sonst die meisten zum Besuch der Seebäder veranlaßt, nämlich das Bedürfnis nach Ruhe und Erholung. Wer das ganze Jahr sich inmitten des hastigen und erregenden Reigens großstädtischer Vergnügungen fühlt, wer sonst den Pulsschlag des Lebens und seine ganze Spannkraft auf das äußerste gereizt fühlt, gleichsam übersättigt ist mit Kultur und Raffinement, pflegt sonst seine Sommerwochen durch Ausschaltung aller dieser Kräfte, durch harmonische und stillbeschauliche Erholung in der Natur zu genießen. Aber so ist das Publikum in Ostende nicht. Ihm ist ihr Sommeraufenthalt nicht eine Pause, ein Ausschalten, sondern gerade im Gegenteil nur ein schimmerndes Glied in der endlosen Kette mondäner Vergnügungen, ein Ersatz für die sonnenglühenden Boulevards der Großstädte, für ihre Theater, ihre Feste und Gärten, die ihnen der Sommer unzugänglich gemacht. Nach und nach ist Ostende der unverabredete Treffpunkt jener echten und falschen Aristokratie[n] geworden, die wie ein flimmernder Schaum über den Wogen der Residenzstädte immer sichtbar schwimmen, die sich überall begegnen und erkennen, für die eine Heimatsstadt eigentlich nur eine Durchgangsstation ist, von der sie zu den großen internationalen Zentren der Vergnügungen streben. Ostende birgt diese

Von diesen Tagen nun könnte man lange und viel erzählen, ohne auch nur mit einem Wort zu gedenken, wie herrlich die Lage Ostendes ist, denn in dem Gesamtbild ist die Natur dort mehr Staffage. Es ist, als wäre die Natur dort nur so verschwenderisch schön, um den Triumph moderner Kultur zu verherrlichen und einen würdigen Rahmen für die Vollendung zu geben, den dort die menschliche Schönheit und die Errungenschaften menschlicher Kunstfertigkeit feiern. Hier wirkt der Strand weniger als weithinreichender Überblick auf das Meer, das mit seiner würzigen, gesunden Luft entgegenströmt, sondern hier muß man zuerst die erstaunliche Eleganz der Strandhotels und die Pracht der Toiletten der Damen bestaunen, die sich hier wie auf einer großstädtischen Promenade einfinden. Der Pier, der weit ins Meer hinausführt, weist sie auf die grandiosen Errungenschaften moderner Technik, auf den Hafen mit den eleganten Dampfern und Jachten, das Bad selbst interessiert mehr durch die aparten Badetoiletten und ziemlich weitgehende Freiheit der Sitten als durch die Wirkung selbst. Wie gesagt: hier wird die Natur fast klein gegenüber Menschenwerk, weil sich hier die Kultur mit ihren letzten, größten und raffiniertesten Errungenschaften ihr gegenüberstellt.

Die Physiognomie Ostendes spiegelt natürlich die Charakteristik seiner Besucher zurück. Menschen, die im Jahr viel arbeiten, empfinden im Sommer das Bedürfnis nach Untätigkeit; Leute aber, die beruflos sind oder denen ihr Beruf nie eigentlich auf den Leib rückt, haben immer ein Verlangen nach oberflächlicher Beschäftigung, dem hier Sport und Spiel Genüge tun. Wie sehr für Ostende das Spiel Existenzbedingung geworden ist, hat nun jene Tatsache gezeigt, daß der belgische Staat im vergangenen

Den Mittelpunkt der eleganten Welt bildet in Ostende der Kursaal. Das prächtige, umfangreiche Gebäude erhebt sich am Digue, zu beiden Seiten von der Reihe elegantester Häuser flankiert, nach rückwärts hin mit dem Blick auf den Park Leopold und die Stadt. In seinem großen Saal findet sich nachmittags und abends das vornehme Publikum Ostendes zum Konzert ein; insbesondere des Abends, da die Herren nur in Gesellschaftsanzug oder Balltoilette erscheinen dürfen und die Damen aller Nationen in Toilettenpracht und Juwelen miteinander wetteifern, da der ungeheure Saal bis auf das letzte Plätzchen gefüllt ist mit den erlesensten Vertretern der vornehmen Welt und allerdings auch der vornehmen Halbwelt – in solchen Stunden wirkt Ostende geradezu überwältigend, selbst für den Großstädter. Nach dem Konzert ist tagtäglich Ball; die meisten der Besucher ziehen sich dann aber in die andern Säle zurück, die den rückwärtigen Teil des Kurhauses bilden. In den ersten ist das Spiel öffentlich und allgemein zugänglich, allerdings ist auch hier der Umsatz beim Rouge et noir nicht sehr hoch, und als die gewagtesten Einsätze sind 300 Franc fixiert; das eigentliche Spiel findet erst im cercle privé statt, dem größten Spielklub Ostendes, der eine allerdings nicht allzu peinliche Ballotage und ein Entree von 20 Franc verlangt. In diesen Sälen spielen sich nun jene interessanten Szenen ab, von denen am nächsten Tag gewöhnlich schon das ganze Publikum Ostendes weiß: die Verluste und Gewinste von vielen tausend Franc beim Roulette und Rouge et noir; die

Von den zahlreichen andern Vergnügungen sind vor allem die Blumenfeste zu nennen, die Geschmack, Reichtum und Schönheit in gleicher Weise zum Wettkampf herausfordern. In dieser Saison haben sie sich etwas verändert im Vergleich zu den früheren Jahren, sie sind nämlich nur in abgesperrten, gegen Entree zu besuchenden Straßen zu sehn. Dadurch haben sie viel von ihrer einstigen Pracht eingebüßt, denn damals beteiligte sich die ganze Stadt mit ungemeinem Interesse an der Konfetti- und Blumenschlacht, die so ziemlich alle eleganten Straßen in ihr Bereich zog; jetzt allerdings gewinnt der Aufzug der reichgeschmückten Wagen an Intimität, der Kampf atmet mehr Noblesse und entbehrt jener unliebsamen Übertreibungen, die dem vornehmen Publikum in den letzten Jahren die Betätigung erschwert hatten. Jedenfalls hat der Wettbewerb um den schönsten Wagen und den bestgeschmückten Balkon sehr günstige Resultate erzielt.

Der Sport fehlt in Ostende selbstverständlich auch nicht. Ein Automobilrennen wechselt mit Jachtsegeln, Wettlaufen, Taubenschießen, Hunderennen ab, und es vergeht wohl kein Tag, wo insbesondere dem Engländer nicht Gelegenheit zu Spiel und Wette geboten wäre. Am meisten besucht sind die Pferderennen, bei denen Preise im Gesamtwert von 400 000 Franc zum Austrag kommen und die, insbesondere am Tage des »Grand prix d’Ostende«, einen wundervollen Anblick geben durch die

Als Trumpf der Saison aber gilt das große Offiziersreiten, zu dem Anmeldungen aus fast allen Armeen in überreicher Fülle ergehen und das sicherlich den interessantesten Veranstaltungen des Jahres beizuzählen ist. Dann kommt der September und damit das langsame Verblassen dieser leuchtenden Farben. Die Hotels schließen sich, Ostende, die Stadt, tritt mehr und mehr hervor, die Fischer, die sich vom Fang der Seefische recht und schlecht ernähren, der Hafen, von dem die Schiffe nach London und Holland auslaufen, und vor allem die Armut und Dürftigkeit, die man während der Saison, geblendet vom Glanz und Luxus, zu übersehen pflegt. Auch das Sommerpalais des Königs Leopold von Belgien, der seine Vorliebe für internationales Badeleben während des Sommers in Ostende, während der Wintermonate an der französischen Riviera so gern betätigt und der während der letzten Saison einem sehr exotischen Gast, dem Schah von Persien, die Honneurs von Ostende machte, schließt seine Pforten und Rolljalousien wie die Hotels, die nur Sommerverkehr haben. Der kühle Herbstwind bläst von der Nordsee her. Dann kommen acht bis neun traurige Monate, da alles wie in bleiernem Schlafliegt, bis dann wieder