Nation 2012?

Was bedeutet Nation heute und welchem Wandel unterliegt sie?

Herausgegeben von Andreas H. Apelt, Heide Gebhardt und Eckhard Jesse im Auftrag der Deutschen Gesellschaft e. V.

mitteldeutscher verlag

Inhalt

COVER

TITEL

IMPRESSUM

ECKHARD JESSE

Einleitung

ERIC BUCHMANN

Deutsche Nation – ein Widerspruch in sich?

GEORG DIETLEIN

Nation der Freiheit

JULIA HEYDEMANN

Die moderne Nation im Spannungsfeld zwischen Staat, Souveränität und Demokratie

INNA HIRSCH

Nation versus Biodiversität – eine psycholinguistische Auseinandersetzung

HENNING HOFMANN

Nation & Transformation

CORINNA HÖFEL

Nationale Zugehörigkeit muss man fühlen

LEONIE JANDECK

Von der Wiederkehr nationaler Emotionen

MARCUS CHRISTOPHER KLEIN

Vereint und doch gespalten

Die deutsche Frage in Europa

DANIEL KLISA

Die deutsche Nation – Plädoyer für eine Renaissance

EKKEHARD KNOPKE

„Und plötzlich war sie eine andere …“

Zum Konzept der situativen Nationen

SANDRA KOLLER UND MATTHIAS MENDA

Nation und Emanzipation

AMANI EL KURDI

Die Bi-Nation

ANSELM KÜSTERS

Ein klassischer Athener zu Besuch in Berlin

Europa als Lösung der Krise der Nation im 21. Jahrhundert

LAETITIA LENEL

„In Vielfalt geeint“ – warum Europa seine Nationen braucht

EDITH LUPPRICH

Wir werden nicht als Ausländer geboren, wir werden dazu gemacht

ULRIKE MADEST

Mehr Nation denken!

ANNA MOHN

Größer als der Kiez – kleiner als die Welt

JUDITH MÖLLHOFF

Es gibt Pizza!

Bei Großmutter Rosemarie zum Sonntagsessen

HEIDRUN MÜHLBRADT

Was wollen Nationen wirklich?

VANESSA PFAU UND ALMUTH WAMBACH

Utopia

Unterwegs auf der Suche nach der europäischen Nation

MARTIN RENGHART

Das Wir-Gefühl als Grundlage unseres staatlichen Zusammenhalts

LUKE DIMITRIOS SPIEKER

Deutsche Identität im Kontext der europäischen Integration

BENJAMIN TRILLING

Nation, Individuum und globale Medienkultur

Versuch einer kopernikanischen Wende des Nationenbegriffs

MIRIAM VENNEMANN

Existenz und Wirklichkeit des Abstraktums „Nation“ im Wandel der Zeit

URSULA WINTERP

Nationen in Europa: Auslaufmodell oder Erfolgsgarant?

SOPHIA WISTEHUBE

Der liberale Nationenbegriff

KURZBIOGRAFIEN

DIE HERAUSGEBER

DIE DEUTSCHE GESELLSCHAFT E.V.

ENDNOTEN

Eckhard Jesse

Einleitung

Vor über 25 Jahren machte in Deutschland, nicht lange vor der Wiedervereinigung, eine in mancher Hinsicht bizarre Auseinandersetzung die Runde, die unter dem Namen „Historikerstreit“ in die Annalen eingegangen ist. Diese Großkontroverse, die politische Deutungshoheiten ebenso betraf wie wissenschaftliche Interpretationen, hatte viele Facetten.1 Dazu gehörte die Frage der Wünschbarkeit der deutschen Einheit wie die Frage nach der Wünschbarkeit von Patriotismus.2 Heinrich August Winkler sprach davon, die „Logik der Geschichte“ gebiete es, keinen souveränen deutschen Nationalstaat mehr anzustreben. Imanuel Geiss stellte die Forderung auf: „keine Wiedervereinigung als neuer Nationalstaat“. Jürgen Habermas verzichtete „relativ leichten Herzens auf Wiedervereinigungsträume“. Jürgen Kocka wollte mehr Schritte in Richtung Freiheit – unter „voller Anerkennung ihrer autonomen staatlichen Existenz“. Und Barbara Sichtermann schrieb: „Gäbe es eine historische Gerechtigkeit, so gäbe es kein Deutschland mehr.“ Robert Leicht verkündete, ein Denken in nationalstaatlichen Kategorien sei „anachronistisch“ und „reaktionär“. Peter Glotz bezeichnete den Nationalstaat als „gescheitert“, und nach Karl Dietrich Bracher war die Bundesrepublik eine „postnationale Demokratie unter Nationalstaaten“.3 Das alles – und vieles mehr – ist längst Vergangenheit. Heute wird weithin nicht nur die deutsche Einheit akzeptiert, sondern auch ein entspannter Patriotismus. Der Großteil der jüngeren Generation steht diesem Thema unbefangen (nicht: unkritisch) gegenüber.

Zum dritten Mal hat die Deutsche Gesellschaft e.V. 2012 einen Ideenwettbewerb für Studenten veranstaltet. Lautete 2010 die Preisfrage „20 Jahre Wiedervereinigung – Wie lässt sich die deutsche Einheit gemeinsam gestalten?“4 und 2011 „Werte und Wertewandel in Deutschland. Was hält die Gesellschaft zusammen?“5 so hieß sie diesmal: „Nation 2012? Was bedeutet Nation heute?“ Weit über 100 Einsendungen erreichten die Jury, die erneut die Qual der Wahl hatte.

1882, also vor 130 Jahren, hatte der französische Schriftsteller Ernest Renan in der Sorbonne einen Vortrag mit dem Titel „Was ist eine Nation?“ gehalten.6 Er warf dabei eine Reihe von Fragen auf: „Warum ist Holland eine Nation, während Hannover oder das Großherzogtum Parma es nicht sind? Wie kommt es, dass Frankreich weiter eine Nation bleibt, auch wenn das Prinzip, durch das es geschaffen wurde, verschwunden ist? Wie kommt es, dass die Schweiz mit drei Sprachen, zwei Religionen, drei oder vier Rassen eine Nation ist, während beispielsweise die so homogene Toskana keine ist? Warum ist Österreich ein Staat, aber keine Nation? Worin unterscheidet sich das Nationalitätenprinzip von dem der Rasse?“7

Eine Nation könne ohne Dynastie auskommen, ebenso ohne Rasse, auch ohne eine bestimmte Sprache, ohne eine spezifische Religion, die das Gewissen betrifft, ohne Interessen; sie ist ferner nicht durch die Geografie bestimmt. Eine Nation, so Renan, „ist eine Seele, ein geistiges Prinzip“8 –, „eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem fasst sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Das Dasein einer Nation ist […] ein tägliches Plebiszit, wie das Dasein des einzelnen eine andauernde Behauptung des Lebens ist.“9 Mit einfachen Worten: Nation zeigt sich im Zusammengehörigkeitsgefühl.

Renans Prognose lautete – weit- oder kurzsichtig – je nach Perspektive: „Die Nationen sind nichts Ewiges. Sie haben einmal angefangen, sie werden enden. Die europäische Konföderation wird sie wahrscheinlich ablösen.“10 Bestimmt? Wahrscheinlich? Vielleicht? Unter Umständen? Eher nicht? Ausgeschlossen? Wer weiß das schon?

Kommen wir zu den Preisträgern, die sich dazu ihre Gedanken gemacht haben. Der dritte Preis geht an zwei Personen für ihren gemeinsamen Essay, Vanessa Pfau und Almuth Maria Wambach. Sie schildern bei einer Reise durch einige westeuropäische Länder ihre „Suche nach der europäischen Nation“, zeigen Skepsis gegenüber der europäischen Nation, heben den massiven Unterschied zwischen der europäischen und der nationalen Identität hervor.

„Die Differenz zwischen der europäischen Identität und der nationalen ist nicht überraschend. Die nationale konnte schließlich über Jahre heranwachsen. Die bestehende europäische Identität ist zu schwach: Sie könnte die nationalen Identitäten kaum verdrängen oder gar aufheben. Als ob man mit einer russischen Matroschka-Puppe spielen würde: Öffnet man die größte Puppe, kommt eine kleinere hervor und in dieser steckt wieder eine kleinere – es ist demnach möglich sowohl Stuttgarter und Deutscher als auch Europäer zu sein und sich als Teil der entsprechenden Gruppe zu fühlen. Eine Identität ist in der nächsten enthalten. Identitäten müssen sich nicht ausschließen, sondern können nebeneinander existieren und sich gegenseitig ergänzen. Wir alle besitzen multiple Identitäten. Fest steht jedoch, dass die nationale Identität trotz aller EU-Romantik stärker ausgeprägt ist. Die Basis für eine belastbare kollektive Identität auf EU-Ebene ist daher nicht gegeben und wenn doch, dann bewegt sie sich auf sehr dünnem Eis.“

Vanessa Pfau, Jahrgang 1987, und Almuth Maria Wambach, Jahrgang 1983, sind seit ihrem 1. Semester Freundinnen. Sie haben an der Universität Stuttgart im Fach Sozialwissenschaft einen Bachelor erworben, und sie sind nun daselbst im Masterstudiengang für empirische Politik- und Sozialforschung eingeschrieben.

Vanessa Pfau, zunächst vier Jahre in Korea, dann ein Jahr in Italien lebend (ihre Mutter ist Koreanerin), hat vor dem Studium ein freiwilliges „soziales Jahr“ in Friedrichshafen abgeleistet. Für ihre Bachelor-Arbeit erhielt sie als beste Studentin ihres Jahrgangs einen Preis. Sie ist Tutorin und ehrenamtlich in einem Verein zur Förderung von Nachwuchsmusikern tätig. Ihr Lieblingsautor: Hermann Hesse, ihr Lieblingsbuch: Narziss und Goldmund.

Almuth Maria Wambach, in Großsanktnikolaus geboren, absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Sortimentsbuchhändlerin. Da diese Tätigkeit sie weder ausgefüllt noch erfüllt hat, entschloss sie sich zu einem Studium. Sie ist eine „Leseratte“ geblieben, ihr Lieblingsautor ebenso ein Schweizer: Martin Suter. Gespannt wartet sie auf sein jeweils neuestes Werk. Ihr Lieblingsverlag ist der Diogenes Verlag. Den Ausgleich zum Lesen und zum Arbeiten findet sie in der Natur.

Den zweiten Preis erhält Heidrun Mühlbradt. Die Autorin nimmt bei ihrer frechen Abrechnung mit dem „Begehren der Nation“ und ihrem „Minderwertigkeitskomplex“ kein Blatt vor den Mund. Der Mut, Ernest Renan den geistigen Kampf auf hohem Niveau anzusagen, verdient Anerkennung, zumal Heidrun Mühlbradt es sich bei ihrer fulminanten, metaphernreichen Kritik nicht einfach macht und keinesfalls Opportunismus frönt.

Der Text hat etwas Suggestives. Eine Kostprobe: „Es ist ein absurdes Gefühl, das mich jedes Mal überkam, wenn ich nur einen Gedanken an die Worte des französischen Historikers Ernest Renan verschwendete „Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Es ist mir ein Rätsel, wie ein so gebildeter Mann, der auch noch Franzose war, sich dermaßen irren konnte. Schließlich ist es unerträglich absurd, eine Nation auf diese Weise zu feiern, ist sie doch wie ein böser Drache, der eine mittelalterliche Dorfgemeinschaft bedroht und von ihr Menschenopfer verlangt. Während sich der böse Drache in den meisten Märchen wenigstens mit einer Königstochter begnügt, ist die Nation unersättlich und fordert immer neue Opfer, zumeist in Form junger, kräftiger Burschen. Die Nation muss aber keinen Ritter fürchten, dazu lieben die Dorfbewohner ihren Drachen viel zu sehr und selbst die Auserwählten lassen sich im festen Glauben, dass es nichts Schöneres gebe, genüsslich von ihrem Drachen verspeisen.“ Immerhin würdigt die Autorin, dass die Nation für Renan nicht einfach da war, sondern sich als Willensgemeinschaft stets behaupten muss.

Heidrun Mühlbradt, 1987 in Oldenburg geboren, absolviert nach dem Bachelorstudium in der Geschichtswissenschaft und der Slawistischen Philologie an der Universität Göttingen nun ein Masterstudium der Geschichtswissenschaft in Hamburg, momentan ein Auslandssemester im Rahmen des Erasmus-Programms in Irland. Theorie- und Methodenfragen der Geschichte widmet sie sich mit Leidenschaft, ohne dass es bei ihr Leiden schafft. Sie hat Lust am Schreiben, liest viel und gerne (u.a. Albert Camus, Oscar Wilde), frönt dem Sport (Handball, Hockey).

Der erste Preisträger heißt Daniel Klisa. Der Titel seines Essays ist Programm: „Die deutsche Nation – Plädoyer für eine Renaissance.“ Ich verrate ein – kleines – Geheimnis. Fast alle Jury-Mitglieder hatten diesen Text ganz vorne platziert. So viel Einigkeit war nie. Die Kernthemen des Essays: Das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation sei gestört, die Alternative der europäischen Identität bzw. der europäischen Nation nur „eine politische Utopie“, die „deutsche“ indes das „Zukunftsmodell“. Dieser in jeder Hinsicht überzeugende und originelle Blick eines Vertreters der jungen Generation mit Urteilskraft ist ideologisch ungetrübt, weithin unbeeinflusst von vergangenen Kämpfen um die intellektuelle Deutungshoheit. Der Autor bringt Probleme auf den Punkt (wie etwa die vielfältigen Ressentiments in Europa) und besticht durch leise Ironie („Deutsche ohne Migrationshintergrund“). Die Sprache ist geschliffen, der Einstieg fasziniert:

„Sie kamen in der Nacht, die Deutschen, und sie waren meist vermummt. Youssef Bassal wirkt gefasst, wenn er davon erzählt, aber er ist müde: Die Angriffe raubten ihm den Schlaf. Er versteht nicht, was diese Menschen antreibt. Als er in den 1980-Jahren als Kriegsflüchtling aus dem Libanon nach Deutschland kam, hätte er im Traum nicht damit gerechnet, dass ihm hier einmal ein derartiger Hass entgegenschlagen würde. Im Gegenteil: Bassal hatte Deutschland immer als ein offenes, großzügiges und hilfsbereites Land empfunden. Doch mit dieser Harmonie war es schlagartig vorbei, als er sich aus Sicht einiger Deutscher ohne Migrationshintergrund eine Ungeheuerlichkeit herausnahm: Er hisste während der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 eine schwarz-rot-goldene Flagge über seinem Elektro-Shop in Berlin-Neukölln. Mit den gigantischen Ausmaßen von 17x5 Metern war es die größte Deutschlandfahne in der Hauptstadt. Bis auf das Blut gereizt, bliesen daraufhin linksradikale Aktivisten und Autonome zur Attacke und rissen die Fahne in nächtlichen Aktionen vom Dach herunter, schnitten sie ab, legten sogar Feuer. Bassal ließ sich dadurch nicht entmutigen, sorgte stets für Ersatz und erklärte trotzig: ‚Ich werde diese Fahne verteidigen!‘“ Diese bizarre Auseinandersetzung ist als „Neuköllner Flaggenstreit“ in die Zeitungsspalten gelangt.

Der Autor liegt damit quer zum Mainstream. Weder der Verfassungspatriotismus noch eine europäische Nation könne ein Ersatz für die deutsche Nation sein. So stellt er eine gemeinsame europäische Kultur infrage. „Ausgerechnet der militärische Triumph über eine andere europäische Nation wirkt für das Nationalgefühl zahlreicher europäischer Staaten geradezu sinnstiftend.“ Auch wenn Daniel Klisa die Realität der deutschen Nation keineswegs als anachronistisch ansieht, liegt ihm daran, diese nicht gegen den Europagedanken auszuspielen, wie das zuweilen geschieht.

1985 in Steinfurt nahe der holländischen Grenze geboren, schloss er sein erstes juristisches Examen an der Bucerius Law School in Hamburg mit einem Prädikatsexamen ab. Nun steht die Promotion an: „Betrug durch Abofallen im Internet und PING-Anrufe“. Unser Preisträger, der sich im Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge engagiert, ist ein bodenständiger junger Mann. Sein Interesse gilt der deutschen Geschichte, insbesondere der des Nationalsozialismus, die von ihm geschätzten Autoren passen dazu: Sebastian Haffuer, Ernst Jünger, Michael Wildt. Daniel Klisa ist weder „Fachidiot“ noch Stubenhocker, joggt oft und spielt gerne Fußball, wobei er als Torwart die Hände benutzen darf – wie beim Schreiben.

Wer einen solchen Preis erhält, kann zufrieden sein. Aber Selbstzufriedenheit ist gefährlich. Sie führt nicht nur zur Überheblichkeit, sondern auch zum Müßiggang – dieser ist bekanntlich aller Laster Anfang. Die Ehrung soll Ansporn sein, die nächsten Aufgaben beherzt in Angriff zu nehmen und sich nicht auf den Lorbeeren auszuruhen.

In dem Band sind weitere aufschlussreiche Beiträge versammelt – mit originellen Thesen, unkonventionellen Ideen und neuartigen Einsichten. Mancher Leser wird vielleicht meinen, dieser oder jener Essay sei eine Augenweide und hätte ebenso eine Auszeichnung verdient. Die Juroren können einem solchen Gedanken viel abgewinnen, doch waren ihnen die Hände gebunden: Mehr als drei Preise standen leider nicht zur Verfügung.

Last, but not least: Aller guten Dinge sind diesmal nicht drei. 2013 gibt es erneut einen bundesweiten Ideenwettbewerb, den vierten. Das Thema lautet: Zivilgesellschaft gestern & heute. Die Jury ist gespannt auf neue literarische Kleinodien. Zunächst mögen die Leser sich an den Beiträgen in diesem Band erquicken – und sich davon vielleicht inspirieren lassen.

Eric Buchmann

Deutsche Nation – ein Widerspruch in sich?

Es könnte so schön sein, als Deutscher in Deutschland zu leben, wenn man nicht ständig selbst daran erinnert würde. Immer wieder wird man mit den Begriffen konfrontiert: Nation, Leitkultur, Patriotismus, Vaterland. Man verfolgt die Diskussionen gern, aber die Wenigsten wollen sich selbst daran beteiligen, aus Furcht, man könnte etwas Falsches sagen, etwas, das historisch belastet ist. Stattdessen schauen die Deutschen lieber beschämt zu Boden, wenn man sie nach ihren Gefühlen für ihr Vaterland fragt, es sei denn, sie geben frank und frei zu, dass diese gar nicht existieren.

Zuzugeben, dass man keine Beziehung zu dem Land hat, in dem man lebt, ist für die meisten kein Problem. Das Verhältnis der Deutschen zu sich selbst ist wahrlich belastet und überaus schwierig. Als „typisch deutsch“ zu gelten, ist eine Gratulation, der sich die meisten lieber entziehen, wo doch viele Unarten und Geschmacksverirrungen ähnlich betitelt werden. Als „kerndeutsch“ bezeichnete dereinst auch Thomas Mann den kollektiven „Hang zur Selbstkritik, der oft bis zum Selbstekel, zur Selbstverfluchung“1 gehe. Andere Europäer können darüber nur den Kopf schütteln. „Be british“ oder „être français“ sind geradezu Selbsthuldigungen, eine größere Auszeichnung kann man sich kaum denken, wenn es nach den Briten oder Franzosen geht. Woher kommt dieses merkwürdige Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation? Sind sie überhaupt noch eine Nation?

Die Definition des Konstrukts „Nation“ von Ernest Renan hat heute immer noch Gültigkeit. Demnach ist die Nation eine im Geist und Verstand der Menschen vorkommende Idee, eine Fiktion, die sofort aufhört zu existieren, wenn die Menschen sie aus ihren Herzen und Köpfen verbannen.2 Aber würde man denn so weit gehen, zu sagen, es gebe heute keine deutsche Nation mehr? Es muss doch ein gewisses Grundgefühl bei den Deutschen geben, sie gehören doch irgendwie zusammen und werden nicht bloß von einem Staat zusammengehalten? Laut einer Umfrage von Soziologen der Universität Hohenheim im Auftrag der Identity-Stiftung aus dem Jahr 2009 gaben zwar 80 Prozent der Befragten an, sich als Deutsche zu fühlen, doch nur 30 Prozent zeigen dies öffentlich – zum Beispiel: indem sie die Nationalhymne mitsingen.3 Zweifelsohne gibt es immer einen mehr oder weniger ausgeprägten Patriotismus. Die Bilder von der Fußball-WM 2006 haben dies bewiesen. Doch ist der Patriotismus bei den meisten Deutschen nicht national gemeint, denn dazu würde auch Geschichte, Kultur, Staat oder Sprache gehören. Stattdessen erleben wir eher einen pragmatischen, individualistischen oder regionalen Patriotismus mit Autofähnchen und schwarz-rot-goldenen Perücken. Was ist von einem Patriotismus zu halten, der einen Bastian Schweinsteiger mehr verehrt als einen Adenauer oder Brandt?

Es gibt eine eigenartige Spaltung hierzulande. Den meisten fällt es nicht schwer, sich als Deutsche zu „outen“, jedoch mögen viele damit kein Urteil verbinden. Stattdessen bekennt man sich lieber zu einem „Spaß-Patriotismus“ oder am besten gleich zum „Weltbürgertum“. Das klingt progressiv – damit liegt man ohnehin immer richtig. Die nationale Leidenschaft der Deutschen, möglichst wenig deutsch zu sein, macht uns auf der Welt so schnell keiner nach. Welches sind die Ursachen für die scheinbar fehlende Zugehörigkeit der Deutschen zu ihrer Nation? Deutsche Nation – ein Widerspruch in sich?

Die „Nation“ im Wandel der Zeit

Der englische Nationalismusforscher Ernest Gellner bemerkte einst, dass die Nation nicht den Nationalismus hervorbringe, sondern die Ideenwelt des Nationalismus sich die Nation schaffe.4 Doch, wie hat sich das in Deutschland entwickelt? Wagen wir einen Blick zurück in die deutsche Geschichte, um die Anfänge des deutschen Nationalgefühls auszuloten.

„Der Krieg ist der Vater aller Dinge“, bemerkte einst Heraklit. Wie bei anderen Völkern ist auch das deutsche „Wir-Gefühl“ erstmals im Krieg entstanden, genauer: in den Befreiungskriegen gegen Napoleon und während seines Besatzungsregimes. Der Korse hatte in so manchen Ländern die erste nationale Euphorie ausgelöst, und das war nicht ganz verkehrt: Dass Europa nach dem Vierteljahrhundert von Französischer Revolution und Napoleonischen Kriegen nicht wieder – oder nicht sofort wieder – zurückfiel in eine Orgie des Wütens gegen sich selbst wie nach der Reformation, verdankt es vermutlich diesem neuen Gemeinschaftssinn: „Wir sind eine Nation!“ Das war fortan das Schlagwort jedes fortschrittlich denkenden Menschen. Napoleon rief bei den Deutschen zwei Gefühle hervor. Erstens: „Das soll nie wieder jemand mit uns machen können!“ Und zweitens: „Das wollen wir auch mal machen!“5 Für die Deutschen waren mit der neuen Idee „Nation“ vor allem Hoffnungen verbunden: Man werde es künftig besser haben.

Heute wissen wir, welche Sprengkraft sich daraus entwickelte. Die Nation konnte letztlich weder das eine noch das andere verwirklichen. Ist sie deshalb heute veraltet? Das Besondere an der deutschen Situation damals war – man erinnere sich an Gellners Aussage – , dass es zwar ein Nationalgefühl gab, aber keinen Nationalstaat. Es gab lediglich einen Flickenteppich, bestehend aus vielen unabhängigen deutschen Fürstentümern. Daher war der deutsche Gemeinschaftssinn nicht an eine Staatsnation gebunden, sondern an kulturell-subjektive Eigenheiten wie Abstammung, Kultur oder Sprache. Ehrfürchtig sprach man fortan von der Kulturnation Deutschland. Dieses Identitätsgefühl bewirkte, dass Menschen, ohne gefragt zu werden, plötzlich zur deutschen Nation hinzugerechnet wurden. Wessen Muttersprache Deutsch war, der war von nun an Deutscher, ob er wollte oder nicht: „So weit die deutsche Zunge klingt“, wie Ernst-Moritz Arndt in seinem „Was ist des Deutschen Vaterland?“ dichtete. Andererseits wurden dadurch Menschen, die bisher auf deutschen Boden lebten, ausgeschlossen, weil sie zu einer anderen Kultur oder Sprache gehörten. Dieses Schicksal traf die Juden. Die Zugehörigkeit zur deutschen Nation war fortan keine Glaubensfrage, sondern eine Schicksalsfrage.

Zeitgleich mit der Idee der Nation entwickelte sich auch der deutsche Frühnationalismus – beide Aspekte galten bis ins 20. Jahrhundert hinein als zwei Seiten ein und derselben Medaille. Schon früh klang bei den Deutschen eine gewisse Selbstüberheblichkeit durch. Die Vorstellung, die Deutschen als Urvolk, den mythisch verklärten germanischen Stämmen entsprungen, seien das wichtigste Volk von allen Völkern der Erde, war für viele Deutsche bereits im 19. Jahrhundert eine selbstverständliche Annahme. Auch die strikte Abgrenzung gegenüber den anderen Nationen in Europa schlug bisweilen in radikalen Hass um. Das Schlagwort „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ erfand Emanuel Geibel zwar erst 1861, das Gefühl, das hinter diesem Ausdruck stand, gab es allerdings schon längst. Was die Deutschen damals besonders prägte, war ihre eigene Legendenbildung, die mythische Verklärung ihrer Vergangenheit. Die Geschichte steht immer auch im Mittelpunkt des Nationalgefühls, doch deckt sie weniger die Realität ab – ihr Ziel ist vielmehr die Konstruktion und Erfindung einer nationalen Heilsgeschichte.

So bastelten auch die Deutschen an ihren Ahnen, an stolzen Recken und großen Gefahren, die man nur gemeinsam bewältigt habe. Die Mythen und Legenden werden heute nicht mehr kolportiert und große Ahnen wie Arminius, Barbarossa oder der Alte Fritz weitgehend nüchtern betrachtet. Zwölf Jahre Hitler-Diktatur überstrahlen alle großen Ereignisse und Figuren der deutschen Geschichte. Auschwitz steht für die grausame Umkehrung der deutschen Tugenden, auf die man einst so stolz war, in eine perverse Vernichtungsmaschinerie. Daher verwundert es nicht, dass Debatten über das deutsche Nationalempfinden heute immer mit Aufforderungen einhergehen, keinen Schlussstrich unter die Geschichte zu ziehen. Die Gefahr, einige könnten an alte mythische Verklärungen anknüpfen, scheint für viele noch immer groß zu sein. Die NS-Jahre sind heute der Hauptgrund für das verkrampfte Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation.

Doch, wenn die Geschichte für das Nationalgefühl so zentral ist, wie können sich die Deutschen überhaupt noch zu ihrer Nation mit Freude und Stolz bekennen? Nationalstolz und Erinnerung an deutsche Verbrechen – wie geht das?

Vielleicht ist es notwendig, für das Nationalgefühl ein Ideal zu finden, das sich jenseits von Geschichte, Vergangenheit und Abstammung ansiedelt. Hier könnten die Franzosen als Beispiel dienen. In Frankreich hat sich eine völlig andere Idee von Nation entwickelt, obwohl diese mehr oder weniger zeitgleich mit dem Nationalgefühl der Deutschen entstand. Die Franzosen sind von einem politischobjektiven Nationalstolz erfüllt. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass die Franzosen im Gegensatz zu den Deutschen bereits eine Staatsnation waren, als sich ihr „Wir-Gefühl“ entwickelte. So konnten sie problemlos ihre Vorstellung von der Nation mit dem Staat und der Politik verknüpfen. Das Schlagwort der Politik nach 1789 war: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Zur französischen Nation gehörten fortan nicht zwangsläufig Menschen, die französisch sprachen oder in Frankreich geboren waren, sondern alle, die sich zu diesem Ideal bekannten und für dieses eintraten. So konnte beispielsweise Friedrich Schiller Ehrenbürger Frankreichs werden, obwohl er Deutscher war. Das französische Nationalgefühl ließ eine größere Toleranz gegenüber Nicht-Franzosen zu, die sich an französischen Idealen orientierten.

Vielleicht wäre dies auch ein Modell für Deutschland. Doch, mit welchen Idealen kann die deutsche Nation locken? Ist dies überhaupt notwendig? Das französische Nationalgefühl hatte schließlich auch Schattenseiten – Menschen, ob Franzosen oder nicht, die sich nicht mehr zu den Idealen der Republik bekannten, wurden ausgegrenzt, verfolgt, ja sogar vernichtet. Der große Terror der Jakobiner gegen Andersdenkende ist bekannt. Jeder Nationsbegriff hat sein Für und Wider; jedes Volk hat die Wahl, für welchen Glanz und welchen Schatten es sich letztlich entscheidet.

Nation und Europa

Aktuelle Umfragen scheinen neuerdings zu belegen, dass das schwierige Verhältnis von Volk und Nation kein „typisch deutsches“ Phänomen ist; in Deutschland zeigt es sich nur etwas stärker als anderswo. Auch in vielen anderen europäischen Ländern ist die Identifikation mit der Nation nicht mehr so stark. Kein Wunder: Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Europa – Ost wie West – eine spürbare Abnahme der Nationalbindung. Grund dafür war, dass die Nation die beiden großen Hoffnungen, welche Menschen einst im 19. Jahrhundert mit ihr verbanden, nicht einlösen konnte: einerseits die Gleichheit aller Bürger, andererseits die friedliche Koexistenz der Nationen zu sichern. Stattdessen erlebten Angehörige von Minderheiten Ausgrenzung; es gab soziale Ungleichheit, Weltkriege und Vernichtungsfeldzüge.

Enttäuscht wandten sich nach 1945 viele von dem Konstrukt „Nation“ ab und konzentrierten sich auf das, was übrig geblieben war: Europa. Die Idee der europäischen Integration ist älter und reicht Jahrhunderte zurück. Ernest Renan prophezeite, dass der Glaube an Europa den Glauben an die Nation irgendwann ablösen werde. Zunächst konnte mit dem Ende des Krieges das Projekt der europäischen Einigung ganz praktisch angegangen werden: Die Idee eines europäischen Vaterlands zog viele Bürger in ihren Bann, sie waren bereit, sich dafür starkzumachen, zumindest auf einige Freiheiten oder ihnen lieb gewordene Einrichtungen zu verzichten. Für viele Europäer war es geradezu eine Erleichterung, sich von ihrer Nation abwenden zu können und sich ein neues gemeinschaftsstiftendes Konstrukt zu suchen.

Gleichzeitig lebte auch die Idee der Nation fort: Eine Idee, die in vielen Ländern bereits Hunderte Jahre alt war und viele Generationen begeistert hatte, lässt sich nicht sang- und klanglos beerdigen – das ist auch nicht notwendig. Hätte es je eine friedliche Revolution in Polen, Ungarn oder im Baltikum gegeben, wenn die Menschen dort nicht ihre nationale Kraft wiederentdeckt hätten und sich gemeinsam der sowjetischen Besatzung entledigt hätten? Wohl kaum. Trotzdem hat sich die Vorstellung von der Nation verändert. Die Nation wurde plötzlich nicht mehr als einsamer Wolf wahrgenommen, der sich in einer rauen Welt gegen die anderen zu bewähren hat, die Nation wurde als kollektiver Akteur verstanden, der sich zusammen mit anderen Akteuren auf europäischer oder globaler Ebene zu behaupten hat. Teamplayer zu sein, war das Gebot der Stunde und nicht mehr Einzelkämpfer. Die Hoffnungen der vergangenen Jahrhunderte blieben trotzdem weiter bestehen: Gleichheit nach innen und Frieden nach außen. Sie sollten sich allerdings fortan nicht mehr unilateral, sondern multilateral verwirklichen lassen.

Die große Kunst unserer Zeit ist es, eine Balance zwischen Europa und der Nation zu schaffen. Beide sind wichtig, beide sprechen die Menschen an, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise. Hätte es nach dem Weltkrieg sofort eine Auflösung der Nationalstaaten gegeben und ein europäisches Vaterland, wären wohl die wenigsten Menschen bereit gewesen, diesen radikalen Schritt mitzugehen. Europa braucht die Nation – zumindest als Brücke. Gleichzeitig braucht die Nation Europa, denn Europa hat ihr einen neuen Sinn gegeben und eine neue Legitimation. Europa hat ihr wieder Leben eingehaucht. 1945 lag die Idee der Nation – bei Siegern wie Verlierern – praktisch am Boden. An ihrer größten Aufgabe, dem Schutz ihrer Bürger, sind die Nationen gescheitert. Europa ist die Gelegenheit der Nationen, sich erneut im Frieden zu versuchen – bislang mit Erfolg. Beunruhigend wird es, sollten die nationalistischen Tendenzen in Europa wieder zunehmen – auch derzeit befindet sich die europäische Integration in einer Krise. In Krisenzeiten erleben alte Ideen oft ihre Renaissance, so auch der Nationalismus, da er eine verunsicherte Gemeinschaft integriert und die politische Ordnung legitimiert. Dennoch ist Vorsicht geboten. Europa kann nicht allzu viel Nationalismus vertragen. Wird die Idee der Nation wieder stärker als der Glaube an Europa, so wird es die Europäische Gemeinschaft in Zukunft schwer haben.

Versuch einer Synthese

Das Problem heute liegt nicht so sehr im Nebeneinander von Nation und Europa, sondern in der alten Auffassung von der Nation als in sich geschlossener Raum mit eigener, völlig unabhängiger Geschichte, Kultur und Sprache – diese Vorstellung schließt Europa aus. Stattdessen brauchen wir die Nation als kollektiven Akteur, als Teil eines großen Ganzen. Diese Idee schließt Europa ein. Ist es möglich, aus der Geschichte zu lernen? Wenn ja, werden die Menschen von der Idee der Nation als von der Außenwelt isolierter Bereich früher oder später Abschied nehmen. Denn dieses Ideal ist gescheitert und endete mit einer zutiefst selbstmörderischen Abgrenzung gegenüber anderen. Gleichzeitig erleben wir heute, in Zeiten der Globalisierung, eine nahezu unbegrenzte Vernetzung der Nationen untereinander. Die Nation als Insel der Seligen gegen alle anderen war schon im 19. Jahrhundert eine romantische, aber unrealistische Vorstellung – heute ist sie es erst recht. Je mehr sich diese Erkenntnis bei den Menschen durchsetzt, desto größer sind die Chancen für Europa.

In Anlehnung an den Historiker Hagen Schulze bleibt festzuhalten, dass die Idee der Nation heute vor allem die Herzen anspricht, nicht die Köpfe.6 Mit Europa verhält es sich hingegen umgekehrt: Europa ist in erster Linie rational aufgebaut, kein Konstrukt, das große Emotionen fördert. Insofern ergänzen sich beide sehr gut, und vielleicht werden eines Tages die Menschen die Europa-Fahne während einer Kundgebung des europäischen Präsidenten oder bei einem Spiel der europäischen Fußballmannschaft schwenken. Die spannende Frage kann heute nicht abschließend beantwortet werden: Wird Europa irgendwann die Nation als unmittelbaren Bezugspunkt für den einzelnen Menschen ersetzen? Oder werden sich die Nationen auch künftig behaupten? Vorerst bleibt zu konstatieren: Europa ersetzt die Nation nicht, sondern ergänzt sie. Wir erleben einerseits die Einheit der europäischen Kultur und andererseits die Vielheit der europäischen Nationen. Das ist ein guter Anfang.

Georg Dietlein

Nation der Freiheit

„Freiheit ist das höchste Gut. Alles Andere nur als Mittel dazu, gut als solches Mittel, übel, falls es dieselbe hemmt. Das zeitliche Leben hat darum selbst nur Werth, inwiefern es frei ist: durchaus keinen, sondern ist ein Übel und eine Qual, wenn es nicht frei seyn kann. Sein einziger Zweck ist darum, die Freiheit fürs Erste zu brauchen, wo nicht, zu erhalten, wo nicht, zu erkämpfen; geht es in diesem Kampfe zu Grunde, so geht es mit Recht zu Grunde, und nach Wunsch; denn das zeitliche Leben – ein Kampf um Freiheit.“1

Diese Worte des deutschen Idealisten Johann Gottlieb Fichte, verfasst in seinem vorletzten Lebensjahr und damit zu Beginn der Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich, lassen sich gleichsam als eindrucksvolles Plädoyer für die Freiheit lesen – für die Freiheit des Einzelnen, aber auch für die Freiheit der Nation. Fichte spricht der deutschen Nation den Glauben an „Freiheit“ und „Selbständigkeit“ zu – als Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen Nationen, insbesondere gegenüber Frankreich. Das Streben nach „Freiheit“ im eigentlichen Sinne habe die französische Nation bereits aufgegeben. Die Ideen der Französischen Revolution, darunter die Freiheit, seien – gerade in der Person Napoleons – der Unfreiheit geopfert worden. Das Streben nach Freiheit sei damit gerade ein Wesens- und Identifikationsmerkmal der Deutschen. Man könnte sagen: Deutschland will und soll an erster Stelle „Nation der Freiheit“ sein.

Fast 200 Jahre nach Fichtes Vorträgen „über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche“ aus dem Sommer 1813 stellen wir uns erneut die Frage: Ist es wirklich die Idee der Freiheit, die – neben kulturellen und sprachlichen Gemeinsamkeiten – die „deutsche Nation“ ausmacht? Kann man an solch einer abstrakten Idee, die ja zu Fichtes Zeit ganz konkrete historische Assoziationen auslöste, noch die kulturelle Identität einer Nation festmachen, die im Wandel und in kultureller Öffnung und Pluralisierung begriffen ist?

Die Sprache?

Als Leitfaden für den Begriff „Nation“ bietet sich heutzutage die „Kulturnation“ an, die sich im deutschen Recht niedergeschlagen hat. § 6 des Bundesvertriebenengesetzes definiert so: „Deutscher Volkszugehöriger im Sinne dieses Gesetzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird.“ – Einer Kulturnation gehört man also gar nicht primär durch Abstammung an, die „leiblich“ (ius sanguinis) oder „örtlich“ (ius soli) begründet werden kann. Das Entscheidende ist nicht die „formale“ Abstammung, die für die Staatsangehörigkeit erheblich sein kann. Zentral ist das materielle Bekenntnis zum „deutschen Volkstum“. Dieses kann in der Abstammung und der Erziehung gründen sowie sich in deutscher Sprache und Kultur ausdrücken. Der etwas schwierige Terminus „deutsches Volkstum“, den der Gesetzgeber explizit verwendet, lässt möglicherweise Assoziationen aus der Vergangenheit wach werden, die man lieber nicht erwähnen möchte. Schließlich lässt sich ein solch offener Begriff leicht für negative Diskriminierungen und Ausgrenzungen missbrauchen. Trotzdem muss man sich – frei von jeder politischen Ideologie – Gedanken darüber machen: Was macht denn das „Deutsche“ am „deutschen Volkstum“ aus? – Die Sprache? – Selbstverständlich. Sie ist aber nicht das einzige Wesensmerkmal. Schließlich wird auch in Österreich, Liechtenstein sowie in Teilen der Schweiz, von Italien, Belgien und Luxemburg deutsch gesprochen. Muttersprachler finden sich sogar in weiteren mittel- und osteuropäischen Staaten bis nach Zentralasien, Afrika und Amerika. Die Sprache ist ganz entscheidend, um in Deutschland überhaupt Fuß fassen zu können. Sie alleine macht allerdings eine Person nicht zu einem oder einer „Deutschen“. Knüpft man an das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland an, so wird man auch dies als Engführung abtun müssen.

Deutsche findet man auch außerhalb des Bundesgebietes – „in ihrer Heimat“, wie das Bundesvertriebenengesetz formuliert. Solche Minderheiten erklären sich hauptsächlich durch die Vertreibungen, Um- und Aussiedlungen des 20. Jahrhunderts. So findet man Deutsche in Polen (Oberschlesien), Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Rumänien, Israel, Namibia, Brasilien, Chile und den USA. Diese allein aufgrund ihrer deutschen Sprache als Deutsche kennzeichnen zu wollen, würde, wie oben gezeigt, in die Irre führen. Es muss etwas hinzutreten.

Die Kultur?

Angesichts der kulturellen, sozialen und konfessionellen Zersplitterung in Deutschland selbst kann man mit Fug und Recht infrage stellen, ob „deutsche Kultur“ als Identifikationsmerkmal für Deutsche gelten darf: Schließlich gibt es in Deutschland einerseits ein West-Ost-Gefälle, andererseits einen breiten kulturellen Graben zwischen Nord- und Süddeutschland, ja selbst noch einmal klar unterscheidbare kulturelle Ausprägungen in Norddeutschland und in Süddeutschland – etwa eine regelrechte Trennung von Bayern und Franken, eine sprachlich und kulturell bedingte Differenzierung zwischen Badenern und Schwaben. Deutschland ist überaus pluralistisch. Es gibt klare sprachliche Differenzen (Dialekte), eine recht plurale bzw. überwiegend „bipolare“ konfessionelle Landschaft (katholische und evangelische Christen, aber auch Juden und Muslime) sowie unterschiedliche kulturelle Eigenheiten (Festtage, Brauchtum, Trachten, Küche) – und zwar in jedem Land und jeder Region anders. Eine solche kulturelle Vielfalt kann für eine Nation ein großer Segen sein. Bei unserer Suche nach dem Wesen der „deutschen Nation“ hilft sie uns allerdings recht wenig weiter. Man könnte eine solche kulturelle Vielfalt in diesem Kontext auch als „Kulturzersplitterung“ bezeichnen. Denn bei den vielen kulturellen Eigenheiten – neben der schon unterschiedlichen Sprache – ein gemeinsames „Drittes“, ein „tertium comparationis“, zu finden, fällt schwer. Es besteht die Gefahr vor den vielen Bäumen den „Wald“ nicht mehr zu sehen – das, was alle Deutschen verbindet.

Wein, Bier, Schweinshaxen, Lübecker Marzipan, Dirndl, Meißner Porzellan, Schnitzereien aus dem Erzgebirge oder Schwäbische Spätzle gehören zu Deutschland dazu. Aber Deutschland würde wohl auch ohne sie auskommen. Sie machen nicht die „deutsche Kultur“ aus. Es gibt sicherlich auch Deutsche, die sich in Deutschland heimatlos fühlen würden und sich gerade nicht mit solchen regionalen Besonderheiten identifizieren können. Und im Übrigen gibt es die genannten „Spezialitäten“ heute nicht mehr nur in Deutschland. Sie machen Deutschland nicht mehr „speziell“. Insbesondere sind sie nicht so „speziell“, dass uns andere Länder darum beneiden müssten.

Ein Blick in die Geschichte

Viele der heutigen touristischen Attraktionen, die für uns typisch „deutsch“ sind, werden gerne überstrapaziert. Die Kultur Bayerns auf Weißwurst, Weißbier, Sauerkraut und Laugenbrezeln zu reduzieren, wäre oberflächlich und verfehlt. Will man die Zusammengehörigkeit einer Nation erforschen, sollte man sich weniger an lokalem Brauchtum orientieren als an der gemeinsamen Geschichte dieser Nation. Die gemeinsame Geschichte Deutschlands reicht zurück bis in die Zeit Karls des Großen, möglicherweise sogar weiter. Wir erinnern uns an die lange Geschichte des Heiligen Römischen Reiches, das ab dem 15. Jahrhundert den bezeichnenden Zusatz „Deutscher Nation“ trägt. Ob man die Einwohner des Heiligen Römischen Reiches schon als „Deutsche“ bezeichnen kann, erscheint fraglich.

Wir können uns heute zumindest rückblickend nur noch wenig mit den Kaisern des Alten Reiches identifizieren. Aus ihrem Leben und Wirken lernen wir für unseren Alltag zu wenig. Deutschland fehlt ein echter „Gründervater“. So wird Karl der Große sowohl von den Deutschen als auch den Franzosen „beansprucht“. Ihm wird man eher mit der Bezeichnung „Stammvater Europas“ als mit einer Reduzierung auf Deutschland gerecht. Und auch die Stilisierung anderer Personen zu den ersten „Deutschen“ (Ludwig II., der Deutsche) erscheint historisch unzutreffend. Im Lauf der Geschichte schwindet die Einheit des Heiligen Römischen Reiches zunehmend dahin. Die Zersplitterung des Reiches in viele kleine Territorien schlägt sich auch heute noch im deutschen Lokalkolorit nieder. Einige der „kulturellen“ Eigenheiten haben sich erhalten – vor allem die Sprache und die unterschiedliche konfessionelle Prägung der jeweiligen Territorien. Erst mit Napoleon und den Entwicklungen des 19. Jahrhunderts wird der Zersplitterung Deutschlands ein Ende bereitet. In diese Zeit wird man wohl am besten die „Idee Deutschland“ zurückdatieren können. Damit sind wir wieder bei der Zeit Johann Gottlieb Fichtes angelangt, aus der wir uns Klärung erhoffen.

Was eint Deutschland?

Die Ideen der französischen Aufklärung, die Feldzüge Napoleons im Alten Deutschen Reich und die gemeinsamen Befreiungskriege haben die „deutsche Idee“ wach werden lassen. Dieser Zeit – der Zeit der Befreiungskriege und des Vormärz – entstammen auch die „deutschen“ Symbole, die wir heute als Nationalsymbole kennen: die deutsche Flagge und die deutsche Nationalhymne, das Lied der Deutschen. Die Farben Schwarz-Rot-Gold und „Einigkeit und Recht und Freiheit“ sind keine Symbole des Zweiten Deutschen Reiches. Sie werden erst mit der Weimarer Republik eingeführt – und scheitern 1933. Erst mit der Bundesrepublik Deutschland wurden sie neu „belebt“ und fruchten. Die Ideen, die Deutschland bis heute in Form einer „Leitkultur“ bzw. einer gelebten Verfassungskultur prägen, stammen aus der Zeit der deutschen Einigungsprozesse im frühen 19. Jahrhundert: Man übernimmt mit der Idee der Freiheit eine Forderung der Französischen Revolution (liberté) – allerdings in „deutscher“ Prägung. Denn wie bereits Fichte betont, darf die Art und Weise, wie die Forderung nach Freiheit in der Französischen Revolution vorgetragen wurde, nicht mit dem Freiheitsbegriff des deutschen Idealismus und der ersten deutschen Verfassungen gleichgesetzt werden.

Das deutsche Streben nach Freiheit und Einheit verläuft grundsätzlich anders als in Frankreich: Die deutschen Einigungsbemühungen „von unten“ bleiben erfolglos. Es gibt keine „Deutsche Revolution“ – zumindest zunächst nicht. Die Einheit wird schließlich „von oben“ hergestellt – und dies auch eher ungewollt. Schließlich haben die deutschen Monarchen nur ein geringes Interesse daran, Kompetenzen an ein übergeordnetes Reich abzugeben. Die Bevölkerung in Deutschland hingegen ist vom nationalen Einheitsgedanken überzeugt – er bietet entscheidende Vorteile beim staatsüberschreitenden Handel und Rechtsverkehr – , muss aber noch lange um ihre Freiheit kämpfen.

Die Ideen des Nationalismus und Liberalismus gehören im 19. Jahrhundert eng zusammen: In erster Linie geht es um politische Freiheit, um Partizipation, um Gleichheit vor dem Gesetz und einen regulierten Staat, der sein Gewaltmonopol kontrolliert ausübt. Zu dieser Freiheit kommt die Einheit hinzu. Einheit dient der Freiheit. Und die Idee der Freiheit ermöglicht die Einheit. Langsam definiert man so auch, wer alles zu Deutschland dazugehören soll. Diskutiert wird die „deutsche Frage“ etwa in der Frankfurter Nationalversammlung (1848/49). Die Länder, die noch bis 1806 ein „gesamtdeutsches“ Reich gebildet hatten, entscheiden sich schließlich dafür, die „deutschen“ Teile der Habsburgermonarchie nicht einem neuen Deutschland einzuverleiben. Sie sollen nicht zu Deutschland gehören. Diese Entscheidung wird durch die Spannungen zwischen Preußen und Österreich im Lauf des 19. Jahrhunderts weiter verfestigt. Die Entwicklung zeigt: Ein nationaler Findungsprozess verläuft geschichtlich – zufällig, zum Teil sogar willkürlich.

Eine Nation wird nicht nur durch Sprache und Kultur „erfunden“, sondern auch durch politische Einzelentscheidungen, die langfristige Prozesse der Trennung und Abgrenzung begünstigen können. Wie etwa hätte sich Deutschland entwickelt, wenn Bayern 1871 nicht für ein Deutsches Reich hätte begeistert werden können? Die Geschichte zeigt im Übrigen auch, dass einzelne Staaten einer ganzen Nation ihr Gepräge geben können. Was wäre etwa aus Deutschland geworden, wenn sich Preußen durch fortschrittliche Militärtechnik nicht durchgesetzt hätte? – Dann wäre die Geschichte Deutschlands vermutlich anders verlaufen. Dann hätten wir heute ein grundsätzlich anderes Bild davon, was „deutsch“ ist. Die Zugehörigkeit zu einer Nation, einem Staat, einer Gemeinschaft lässt sich nicht anhand von abstrakten Ideen zu einem „Volkstum“ bestimmen, sondern ganz konkret anhand des kulturellen Erbes.

Nation als Geschichts-Gemeinschaft

Während man Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, Polen und andere europäische Nationen im Groben bereits am Kriterium der Sprache festmachen kann, tritt bei Deutschland etwas hinzu: Die „deutsche Nation“ hat sich – langsam und recht spät – durch die Fügungen der Geschichte herausgebildet – und zwar in ihrem Streben nach Freiheit und Einheit. Man könnte sie als Geschichts-Gemeinschaft bezeichnen. Sie ist Solidar- und Schicksalsgemeinschaft, da sie dieselbe Vergangenheit teilt: Zunächst politisch oktroyiert, also ohne demokratische Nationalversammlung, etabliert sich die deutsche Einheit von 1871 im Lauf der Zeit und wird fortentwickelt. Was durch einen politischen Bund rechtlich zusammengefügt wird, wird abhängig voneinander und angewiesen aufeinander. Wie im realen Leben gilt: Mit wem man etwas „durchgemacht“ hat, gemeinsam Geschichte erlebt hat, mit dem kann man sich leichter anfreunden, mit dem versteht man sich. Dies ist ganz elementar für eine Nation – in einer Nation entsteht viel schneller Vertrauen: Habe ich eine Person vor mir, die mit mir kulturelle Werte und eine Vergangenheit teilt, so fällt das Verständnis füreinander viel leichter.

Das Verständnis der deutschen Nation als Geschichts-Gemeinschaft hat sich über die Krise des Ersten Weltkriegs, die Zeit der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs hinweg gehalten: Auch hier führte Zusammen- und Auseinanderwachsen zur Identifikation mit oder zur Abgrenzung von der Geschichte Deutschlands. Die Vorstellung einer deutschen Nation als geschichtlich gewachsener Gemeinschaft haben auch die Grenzverschiebungen des 20. Jahrhunderts nicht beendet. Wer sich plötzlich nicht mehr auf „deutschem Boden“ befand, konnte weiterhin ein „Deutscher“ bleiben. Dies gilt auch heute noch. Die Hauptsache ist die Identifikation mit Deutschland, die historisch gewachsene Anbindung an Deutschland.

Nation – kontur- und profillos?

Das 19. Jahrhundert ist das große Jahrhundert der Nationen. Bereits in dieser Zeit zeigt sich aber auch, dass man einen Menschen nicht nur anhand seiner nationalen Zugehörigkeit beschreiben kann: Welcher Nation ich angehören möchte, ist nicht nur eine Frage meiner Abstammung, sondern auch eine Frage meines eigenen Selbstverständnisses. Moderne Verkehrsmittel beschleunigen die Dynamik der „Nationalität“. Länder wachsen immer schneller zusammen. Dies führt zum verstärkten Austausch, zu Vermischungen und Vermengungen. In der deutschen Sprache finden wir so etwa eingedeutschte Begriffe aus anderen Sprachen. Dasselbe gilt für andere Sprachen, die Begriffe aus dem Deutschen übernommen haben.