Epub cover

Benjamin Stein

Das Alphabet
des Rabbi Löw


»Wir haben in unseren Händen kein Maß,
doch die Namen sind uns offenbart«

Merkawah Rabba, § 655

Editorische Notiz

Es geschieht nicht oft, dass ein Buch ein zweites Leben geschenkt bekommt. Einmal in der Welt, ist es für gewöhnlich dazu verurteilt, zu bleiben, wie es geboren wurde. Keine Entwicklung, kein Reifen. Da haben Autoren es besser. »Das Alphabet des Juda Liva« war mein Debütroman. Als ich begann, ihn zu schreiben, war ich 21 und hätte mit Vehemenz behauptet, dass ich nie auch nur ein Wort an diesem Text würde ändern wollen. Wie man sich irren kann!

Die Originalausgabe ist 1995 im Ammann-Verlag, Zürich, erschienen und seit vielen Jahren vergriffen, ebenso die Taschenbuchausgabe, die 1998 bei dtv erschien. Als ich meinem Verleger vorschlug, eine Neuausgabe zu machen, hatte ich eigentlich nur im Sinn, dass der Text zugänglich bleiben soll. Dann aber begann eine Auseinandersetzung mit dem Roman, wie ich sie nicht erwartet hatte.

Als ich das Buch nach so vielen Jahren noch einmal gelesen hatte, wusste ich, dass ich den Text in der vorliegenden Form nicht erneut publiziert sehen wollte. »Es gibt kein wirkliches Gelingen«, heißt es im Kapitel 16, »nur verschiedene Grade des Scheiterns.« Ich erinnerte mich sehr gut daran, was ich hatte schaffen wollen, und mit dem zeitlichen Abstand fühlte ich mich gescheitert. Ich meine gar nicht die echten Fehler, von denen es einige gab, zu viele! Geschichte und Konstruktion begeisterten mich wieder wie damals, aber was die Sprache betrifft, hätte ich den Autor von damals am liebsten an den Ohren gepackt: Was hast du dir nur dabei gedacht?!

Ich würde den Text überarbeiten müssen. So viel war klar. Aber »redlich«. Ich wollte nichts umstellen, nichts hinzufügen, aber unbedingt kürzen!

Ich arbeite elektronisch, allerdings nur bis zur Abgabe des Typoskripts an den Verlag. Korrekturen mache ich dann lieber auf Papier, in den Fahnen. So war es damals auch beim »Alphabet«. Eine elektronische Version des veröffentlichten Textes ließ sich nicht mehr auftreiben. Zur Verfügung standen lediglich die elektronische Fassung meines Originals, ein Ausdruck dieser Fassung mit sparsamen Korrekturen und natürlich das gedruckte Buch. Ich beschloss, die Bearbeitung auf Basis des Originalmanuskripts zu versuchen. Im Mai 2012 entstand eine erste Neufassung. Die gab ich meiner Lektorin, und als wir einige Monate später ihre Anmerkungen durchgingen, wurde mir klar, dass sie und zuvor natürlich ich selbst noch viel zu zaghaft gewesen waren. Ich würde noch einmal Satz für Satz durch den Text gehen müssen, und zwar schonungslos.

Ich arbeite selbst gern als Lektor mit Autoren, seit ich in meiner Zeit als angestellter Journalist Tag für Tag mit dem Redigieren der Texte von anderen beschäftigt war. Ich wollte versuchen, nun meinen eigenen Text so zu behandeln, als wäre ich lediglich Lektor. Als solcher habe ich meine Autoren nie geschont. Sie hatten, im Gegenteil, einiges auszustehen. Das musste ich mir auch selbst zumuten können.

Eine Zumutung bedeutete das Vorhaben aber zunächst für die Frau, mit der ich, während der Roman 1991/92 entstand, zusammenlebte. Sie ist noch heute eine enge Freundin und erklärte sich bereit, eine Fassung zu erstellen, in der die Korrekturen des Ammann-Lektorats und meine Überarbeitungen aus der ersten Neufassung farblich gekennzeichnet waren. Hinzu kamen wertvolle Anmerkungen. Ihr Gedächtnis funktioniert besser und anders als meines, und sie erinnerte sich im Gegensatz zu mir noch an diverse Debatten auch inhaltlicher Natur. Es muss eine aufreibende Fleiß- und Erinnerungsarbeit gewesen sein, für die ich umso dankbarer bin, da die Auseinandersetzung mit dem Text durchaus auch eine persönliche war.

Egon Ammanns Lektoratshinweise waren, wie ich nun sehen konnte, ausgezeichnet. Wahrscheinlich wäre er damals schon gern weiter gegangen, als wir es dann letztlich taten. Aber ich gehe davon aus, dass es kein Spaß gewesen ist, mit mir zu diskutieren. Jetzt immer­hin durfte ich dem Autor von damals seine Marotten austreiben, seine »Kunststückchen« eliminieren und kürzen, dass es ihn in seinem damaligen Selbstverständnis um den Verstand gebracht hätte.

Die Bearbeitung ist redlich geblieben. Neben den Kürzungen und Korrekturen wurden Rechtschreibung und Zeichensetzung so angepasst, wie ich es auch in meinen anderen Romanen handhabe. Gewissen Scheußlichkeiten der neuen Rechtschreibung werde ich mich auch weiter verweigern, und für die Zeichensetzung in der wörtlichen Rede habe ich gute Gründe.

Der Text dieser Neuausgabe ist also nicht nur gründlich und kritisch durchgesehen. Es ist eine Neufassung, die sich deutlich von der Originalausgabe unterscheidet. Sollte sie nicht also auch aus eigenem Recht einen neuen Titel erhalten? Der Maharal, der Hohe Rabbi Löw von Prag, hieß Jehuda ben Bezalel Löw. Niemand außer dem Autor dieses Romans hat ihn je als Juda Liva erwähnt. Fragen sie mich nicht, warum ich einmal meinte, ihn so nennen zu müssen. Ich weiß es nicht mehr! Und so lautet der Titel nun »Das Alphabet des Rabbi Löw«. Denn ein Löwe war er, der Maharal, ein König unter den Mystikern. Sein Werk und die Legenden um ihn begeistern mich heute noch unvermindert, und gern würde ich ihm oder einer Reinkarnation von ihm begegnen.

Ich weiß, ich sollte vorsichtiger sein mit meinen Wünschen …

Benjamin Stein
München, 22. November 2013

Impressum und Copyright

Erste Auflage

Verbrecher Verlag 2014

www.verbrecherei.de

© Verbrecher Verlag 2014

Lektorat: Kristina Wengorz

Satz und Ebookherstellung: Christian Walter

ISBN Print: 978-3-943167-79-5

ISBN EPUB: 9783943167962

ISBN Mobipocket: 9783943167979

Der Verlag dankt Stefanie Gimmerthal und Philipp Zöhrer.

Prolog


Jacoby kündigt telegrafisch sein Engagement,
beauftragt einen Notar und geht in Flammen auf.

Spätestens als Jacoby begann, sich Nathan ben Gazi zu nennen, und seinen Freund Rottenstein zum Messias erklärte, fürchtete ich um sein Leben. Tatsächlich währte seine Karriere als Prophet nur wenige Wochen. Vor vierzehn Tagen wurde er in die Nervenklinik der Berliner Charité eingeliefert. Und vorigen Dienstag, während Sheary den Morgenkaffee aufbrühte und ich mich rasierte, klingelte der Telegrammbote bei uns.

bin verhindert da tot. notar meldet sich. beste grüße. jacoby

Mehr, glaubte er, uns nicht mitteilen zu müssen.

Der spinnt doch! sagte ich. Schicken Tote Telegramme? Der Kerl ist meschugge!

Und wenn … Sheary sank entgeistert auf den Küchenstuhl und begann, unendlich ausdauernd in ihrem Kaffee zu rühren.

Wenn was? fragte ich zurück. Ich hängte den Bademantel an den Türhaken, ging hinüber ins Schlafzimmer und fluchte, während ich mich anzog, still in mich hinein: Spinner, Schmock verdammter.

Als ich in die Küche zurückkam, rührte Sheary noch immer in ihrer Tasse. Sie schien entschlossen, es nicht zu glauben, um nur nicht zu weinen. Ich wollte sie küssen. Doch sie drehte den Kopf zur Seite und krauste die Lippen, als fände sie es unerhört, ihr in einem solchen Augenblick mit Zärtlichkeit zu kommen.

Ein schlechter Scherz, findest du nicht?

Der ganze Mann ist ein schlechter Scherz, erwiderte ich.

Aber … sagte sie, wir hätten ihn wenigstens besuchen können.

Ach! – Ich zog den Gürtel fest und setzte mich zu ihr an den Tisch. Wer weiß, was er angestellt hat.

Jedenfalls gibt’s keine Geschichte! fuhr sie auf. Sie zog einen Kleinmädchenflunsch; und in diesem Moment war der Tag bereits verdorben. Ein Dienstag ohne Jacoby schien uns beiden undenkbar. Seit gut sechs Monaten zerfielen unsere Wochen in drei Vordienstage und drei Nachdienstage. In ihrer Mitte das Fest: der Tag, an dem Jacoby gegen acht Uhr abends bei uns klingelte. Dann öffnete Sheary die Tür. Jacoby trat ein, hängte den Schirm an die Flurgarderobe, und wir atmeten auf: Er ist wohlauf, bei Stimme und jedenfalls gekommen!

Das Ritual hatte ich vertraglich mit ihm vereinbart. Er küsste Sheary die Hand und überreichte ihr einen von mir bezahlten Blumenstrauß, bevor er mit trockenem Handschlag auch mich begrüßte. Mit einem verstohlenen Blick ins Wohnzimmer vergewisserte er sich, dass sein Honorar bereitstand: eine Flasche Wodka seiner Stammmarke, die er, um seine Stimme gehörig zu ölen, im Laufe des Abends austrinken würde. Er ging voran, warf sich aufs Sofa und schnurpste zunächst etliche Salzstangen, bevor er sich den ersten doppelten Wodka eingoss und ihn ohne Umschweife auf ex hinunterstürzte.

Die darauf folgende zerstreute Geste gehörte ebenso zum Ritual wie die Frage, wo er letzten Dienstag unterbrochen habe. Ein Stichwort genügte ihm, um sich wieder in die Geschichte zu finden. Nach einem weiteren Wodka zündete er sich eine seiner schwarzen Zigaretten an, stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Nach drei tiefen Zügen hielt er inne. Dann drückte er die Zigarette aus und wandte sich uns abrupt zu. Und während er zu erzählen begann, lehnten wir uns zurück.

Ich hatte Jacoby als Geschichtenerzähler engagiert, vor etwa einem halben Jahr. Um genau zu sein: am Sonntag vor Shearys vierundzwanzigstem Geburtstag. Sie war übers Wochenende zu ihrer Mutter gefahren, und ich schlug mich mit germanistischen Faxen herum: mittelhochdeutsche Konjugationen, Thomas Mann in der Schweiz … Es war zum Verzweifeln. Außerdem wusste ich noch immer nicht, was ich Sheary zum Geburtstag schenken könnte.

Gegen Abend beschloss ich, ins Bella Montecatini zu gehen, ein italienisches Lokal in Kreuzberg, zehn Minuten zu Fuß von unserem Hinterhof aus: ein nettes Lokal mit gutem Essen und Plastik-Weinranken über den Tischen. Ich saß vor einem Viertelliter, rauchte und träumte vor mich hin, als er eintrat und zielsicher auf meinen Tisch zusteuerte: verwahrlost, bärtig und o-beinig.

Er roch streng, nach Desinfektionsmittel und Schweiß. Die Bügel seiner Brille mussten irgendwann einmal zerbrochen sein. Er hatte sie mit Unmengen Heftpflaster repariert. Die langen Haare trug er im Nacken zu einem Zopf gebunden, darüber, keck in die Stirn gezogen, ein rotes Barett mit dem Emblem der israelischen Givati-Brigade. Aus der linken Tasche seines Jacketts baumelte das Ende einer Fahrradkette.

Er nahm das Barett ab, warf es neben mein Glas auf den Tisch und setzte sich mir gegenüber. Nachdem er mich einen Moment lang behutsam taxiert hatte, kramte er eine Gitane hervor, drehte den Filter ab und warf ihn in den Aschenbecher. Nach einigen Zügen machte er sich daran, mit der Zigarettenglut den abgedrehten Filter anzukokeln. Als er ihn in Brand gesetzt hatte, lehnte er sich genüsslich zurück, legte die Stirn in bedeutungsvolle Falten und fragte mich, ob ich an Wunder glaube.

Nein, erwiderte ich lustlos.

So, so … Sollten Sie aber, orakelte er, beugte sich zu mir herüber und setzte nach einer kurzen Kunstpause hinzu, dass er mein Problem kenne und lösen würde.

Ach? sagte ich.

Aber ja! versicherte er: Meine Frau sei geschichtensüchtig. Sie wolle Wundergeschichten, und zwar jeden Abend. Sonst könne sie nicht einschlafen.

Was Sie nicht sagen, brummelte ich. Doch er ließ sich nicht irritieren.

Habe ich recht, schwätzte er weiter, dass Ihnen kaum noch was einfallen will? Sie gefährden Ihre Ehe, mahnte er: Glauben Sie mir, Sie könnten ihr nichts Schöneres zum Geburtstag schenken als eine Story: Wunder, Engel, Sex and Crime und Gott und alles wahr, keine Spur erfunden. Was sagen Sie dazu?

Ich war verblüfft und angetrunken genug für einen kleinen Spaß, zumal er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Tatsächlich musste ich mir für Sheary jeden Abend eine Geschichte ausdenken. Fortsetzungen mochte sie am liebsten. Und da sie die wundersamen Ereignisse in der Knopfkiste meiner Großmutter selig schon lange nicht mehr so richtig zu fesseln vermochten, drehte sie sich manchen Abend ernsthaft verärgert auf die Seite: Ohne Wunder kein Wunder …

Sein Angebot interessierte mich also.

Sie können ja nichts dafür, begann Jacoby von Neuem: Es sei halt nicht jedem gegeben. Aber Phantasie hin oder her, sagte er: Die Wahrheit sei noch immer am erstaunlichsten. Er sitze an der Quelle, Ehrenwort! Er zwinkerte verschmitzt, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch durch die Nasenlöcher.

Na, dann schießen Sie mal los, ging ich nun doch auf ihn ein: Ich bin ganz Ohr.

Hey! rief er: keine Tricks! Er drohte mit dem Zeigefinger: Bezahlt wird vorher. Eine Flasche Moskovskaya, bat er sich trocken aus. Und: Die Regeln bestimme ich, falls Sie mich engagieren. Ich überschlug die Rechnung und behauptete, es würde nur für zweihundert Gramm reichen.

Nun, grübelte er: Dafür bekommen Sie, na, sagen wir, den Anfang und das vorläufige Ende der Geschichte. Nicht mehr und nicht weniger.

Seine Unverfrorenheit imponierte mir. Einverstanden, sagte ich, schlug ein und ließ den Wodka kommen.

Seinen Trinkgewohnheiten nach hätte er Russe sein müssen. Den ersten Fünffachen trank er, ohne abzusetzen. Er behauptete allerdings, Orientale zu sein, rein seelisch betrachtet, obgleich in Berlin geboren, was nicht zu überhören war.

Verdorren soll meine Rechte, wenn ich Dein vergesse, o Zion! deklamierte er. Sein Name sei übrigens Jacoby: mit Ceh und Ypsilon. Tue jedoch beides nichts zur Sache. Er spiele in der Geschichte nur eine Nebenrolle, verriet er, nahm eine neue Zigarette, entfilterte auch sie und zündete sie an.

Also? drängte ich. Es war mir gleichgültig, welche Rolle er in der Geschichte gespielt hatte oder spielen würde, wenn er nur endlich loslegte.

Tja … Er räusperte sich. Zunächst, setzte er an, zunächst geschieht gar nichts.

Bitte?

Nun, wir sitzen und plaudern. Nur: Wir sind nicht mehr in Berlin, sondern – in Prag. Um genau zu sein: in einer ziemlich heruntergekommenen Kneipe in der Maiselová. Er griente.

Schauen Sie sich um, sagte er: Sie glauben nicht an Wunder? Bitte, hier haben Sie eins.

Tatsächlich: Die Einrichtung des Lokals hatte sich von einem zum anderen Augenblick verwandelt. Von den Plastik-Weinranken keine Spur mehr. Der Wirt war womöglich tatsächlich Tscheche. Ein schmuddeliges Handtuch um die Hüften, schlurfte er an unseren Tisch und zwinkerte Jacoby, während er den Aschenbecher auswechselte, aus Schweinsäuglein zu.

Jetzt erst bemerkte ich das laute tschechische Plappern um uns herum. Da Jacoby aufstand und offenbar gehen wollte, trank ich meinen Wein aus und folgte ihm. Immerhin hatte ich ihm einen fünffachen Wodka spendiert.

Aber hatte ich das wirklich? Im Gehen rief Jacoby dem Wirt zu, er solle alles auf seine Rechnung schreiben: Wein und Wodka. Bezahlt würde morgen. Der Wirt nickte. Und wir traten hinaus, nicht, wie man hätte erwarten müssen, auf die Skalitzer Straße, Berlin Kreuzberg, sondern auf eine enge Gasse: katzenkopfgepflastert und menschenleer.

Jacoby lächelte. Eine wundervolle Stadt, sage ich Ihnen.

Ich hatte nicht gelogen. Ich glaubte nicht an Wunder und wusste nun nicht, was ich von der unerwarteten Ortsänderung halten sollte. Ein wenig verängstigt vertraute ich Jacoby an, dass ich noch nie das Vergnügen gehabt hätte. Er schien überrascht, ließ sich jedoch nicht beeindrucken.

Macht nichts, versicherte er mir: Er kenne sich aus.

Es wehte kühl durch die enge Gasse, und Jacoby zog den Schal fester.

Ich würde sagen, schlug er vor, wir gehen zunächst einmal in die Kaprová und dann zur Karlsbrücke. Einverstanden?

Ich nickte ahnungslos. Die Karlsbrücke kannte ich von einer Postkarte, die Sheary mir einmal aus dem Urlaub geschickt hatte. Aber Kaprová?

Karpfengasse, half Jacoby mir auf die Sprünge: Und da war sie auch schon.

Wir bogen rechts ab, in eine etwas breitere und besser beleuchtete Straße. Auch hier waren wir allein. Ich sah auf die Uhr. Es ging bereits auf Mitternacht zu, was Jacoby jedoch nicht zu kümmern schien. Wir lägen gut in der Zeit, meinte er, blieb vor einem Schaufenster stehen und winkte mich heran: Schauen Sie mal! Mit leuchtenden Augen zeigte er auf die Auslage eines kleinen Tabakgeschäfts: Zigaretten, Pfeifen, Tabakdosen. Hier habe er seine erste Bruyère-Pfeife gekauft, erzählte er, unterbrach seine Andacht jedoch sogleich mit der Frage, ob ich aus dem früheren Osten käme.

Bitte?

Na, Ostberlin! Ja oder ja?

Ja, antwortete ich.

Dachte ich’s doch, nuschelte er und betrachtete aufs Neue die Pfeifen in der Auslage. Dann wissen Sie vielleicht, dass das damals ein Schatz war.

Bedaure, gab ich entschuldigend zu: Ich rauche Zigaretten.

Tja, hüstelte er: Man sinkt beständig; ich sehe es an mir. Er zuckte die Achseln und hob wie zum Beweis seine rechte Hand, in der wieder eine seiner schwarzen französischen Zigaretten glomm. Aber, fuhr er fort, damals war das ein Kult für mich. Ich sage Ihnen! Ich war so hin und weg beim Anblick dieser hölzernen Kostbarkeiten, dass ich weder den Verkäufer zur Kenntnis nahm, noch das Mädchen, das hinterm Ladentisch auf einem Anglerstühlchen saß und stumm vor sich hin starrte.

Ich verstand überhaupt nichts, tat aber so, als wäre mir sonnenklar, worauf er hinauswollte.

Ich meine nur, sinnierte er weiter: Man hätte es ahnen müssen … Wissen Sie übrigens, wem der Laden gehört?

Nein, lachte ich auf, woher sollte ich das wissen?

Natürlich … Er wandte sich zum Gehen, und ich folgte ihm. Einen Moment lang gingen wir schweigend nebeneinander her, bis er schließlich den Kopf schüttelte, stehen blieb und sagte: dem Hohen Rabbi Löw von Prag, gerecht, wie ein Gerechter nur sein kann! Sie kennen ihn noch nicht. Aber ich wollte Ihnen den Laden zeigen, der Chronologie wegen, Sie verstehen?

Nein, gab ich verärgert zurück. Nannte er das etwa erzählen? Gut, er hatte mich an diesen Ort versetzt, von der Geschichte aber noch kein Zipfelchen preisgegeben. Ich bot ihm noch einen Fünffachen an, wenn er nur endlich zur Sache käme.

Immer mit der Ruhe, versuchte er, mich zu beschwichtigen. Ich komme schon noch in Fahrt. Ich gebe Ihnen mein Wort.

Übrigens, sagte er, sind wir schon am Ort des Geschehens. Nur noch ein paar Schritte, ja, da vorn, sehen Sie: ein nettes Promenadencafé, direkt am Fluss. Rechterhand haben Sie die Karlsbrücke, gegen­über die Burg. Nachts wächst ein Wall aus Licht um sie, ein kitschiges Gleißen, doch alles in allem recht hübsch, nicht wahr?

Ich ließ ihn schwätzen und antwortete nicht, was er wohl auch nicht erwartete. Er hatte sich eine sentimentale Minute gegönnt. Schön, doch nun würde er hoffentlich beginnen.

Jacoby steuerte auf das Promenadencafé zu und redete im Gehen unaufhörlich weiter: Meine Güte, ein Getümmel ist das auf der Brücke, und das zu dieser nachtschlafenden Zeit. Neunundneunzig Prozent Touristen, sage ich Ihnen. Die Einheimischen liegen längst im Bett oder schlafen vorm Fernseher. Mal abgesehen von den nacht­aktiven Studenten. Einer spielt Gitarre, hören Sie ihn?

Jacoby winkte ab, ließ sich geräuschvoll auf einen der Café­stühle nieder und forderte mich auf, mich ebenfalls zu setzen: Was uns erwarte, sei im Stehen schwer zu verkraften.

Die Kulisse, meinte er, hätten wir. Jetzt fehlen uns nur noch die Personen. Jacoby grinste und zeigte hinüber in Richtung Altstadt. Gleich kommen sie die Karlová hinauf: zwei junge Männer mit Käppchen auf dem Kopf. Den einen kennen Sie bereits, meine Wenig­keit; und der andere Kerl, mein Freund Alexander Rottenstein, ist noch merkwürdiger als ich. Er bildet sich ein, Schriftsteller zu sein und möchte Jude werden – schmunzeln Sie ruhig, auch das gibt es!

Tatsächlich entdeckte ich unter dem Torbogen, hinter dem die Brücke begann, zwei junge Kerle mit Käppchen auf dem Kopf. Meine Verwunderung darüber, dass Jacoby zumindest an diesem Ort den Gang der Dinge im Voraus zu kennen schien, freute ihn sichtlich. Er griente übers ganze Gesicht, als ich ihn fragte, woher er gewusst habe, dass die beiden hierher kommen würden.

Sie verstehen rein gar nichts, erwiderte er: Was ich erzähle, geschieht, nicht umgekehrt. Und nun schauen Sie sich den einen Kerl zunächst einmal an. Sein Aufzug ähnelt annähernd meinem heutigen. Nur statt meines adretten Baretts trägt er, wie gesagt, ein schwarzes Seidenkäppchen. Ganze neunzehn Jahre ist er jung, und läuft dennoch schon leicht nach vorn gebeugt, dezent angedeuteter Bechterew, der Ärmste, was ihn wohl im Alter noch Schlimmes erwarten mag …

Jacoby kicherte gehässig, nahm die Brille ab und rieb sein linkes Ohrläppchen. Wirklich neckisch, fuhr er fort: Der Anflug eines Bartes bedeckt seine Wangen, einzig auf der Oberlippe sprießt es schon ansehnlicher. Und dann der künstlich verfinsterte Blick! ­Sicher soll er Reife vortäuschen.

Inzwischen hatten die beiden die Karlsbrücke erreicht und schlenderten an unserem Plätzchen auf der Moldauterrasse vorüber. Leider drangen die Stimmen der beiden nicht bis zu uns. Doch als hätte er mir mein Bedauern von den Augen abgelesen, legte Jacoby mir tröstend die Hand auf die Schulter.

Kein Problem, sagte er, das kriegen wir hin.

Die beiden jungen Männer, wenn Sie gestatten, dass ich in der dritten Person von mir rede, die beiden jungen Männer also sprechen Deutsch miteinander. Sie sind offenbar nicht von hier. Könnten wir sie hören, würden wir erfahren, dass sie geradewegs von der Altneuschul herkommen und nun auf Umwegen zu ihrem für die Dauer ihres Aufenthalts gemieteten Domizil zurückschlendern: einem Zweizimmerappartement in der Leninová, Dejvice, mit großem Balkon, von dem aus sie einen unverstellten Blick über die Stadt haben.

Unterdessen haben sie sich ins Gewühl gestürzt und sind nun schon mitten auf der Brücke. Rottenstein hat sich auf die kalte Steinbalustrade gesetzt, die Arme vor der Brust verschränkt. Die Szene ist ins dürftige gelbe Licht der Brückenlaternen getaucht. Rings­herum Stimmengewirr. Zehn Meter weiter unten fließt die Moldau friedlich dahin.

Sie sollten übrigens wissen, dass diese Nacht eine besondere ist.

Warum?

… fragen Sie mit Recht, erwiderte Jacoby, und ich will es Ihnen verraten. Er beugte sich zu mir herüber und flüsterte, es sei die Nacht vor Hoschanna Rabba; und es gehe die Sage, dass alljährlich in dieser Nacht in Gottes Kanzlei die Quittungen für die Sünden des Vorjahres geschrieben und verschickt würden.

Ein heikles Datum also.

Bei diesen Worten klatschte er laut in die Hände und lehnte sich wieder zurück. Er kramte in seinen Jacketttaschen nach der Zigarettenschachtel und fingerte umständlich eine Gitane heraus. Den abgedrehten Filter schnippte er übers Geländer in den Fluss, bat mich um Feuer und fuhr schließlich fort.

Sehen Sie, sagte er: Um genau dieses Thema kreist das Gespräch der beiden jungen Männer auf der Brücke …

So ist das also, sagt Rottenstein gerade und erwartet offenbar meinen Beifall. Ich aber krause die Stirn. Quittungen hin oder her, sage ich: Es gibt Aufregenderes. Den Mitternachtsblitz zum Beispiel. Rottenstein sieht mich verwundert an.

Hast du noch nie davon gehört?

Nee.

Da kannst du auch von mir mal was lernen, frohlocke ich, stolz, endlich etwas zu unserer Debatte beitragen zu können.

Dabei dachte ich immer, du hast von nichts eine Ahnung, frozzelt mein Freund. Seine Arroganz ist unerträglich. Und ich sage mir: Er hat eine Belehrung verdient.

Also Folgendes, setze ich bedeutsam an: Wenn es vor Hoschanna Rabba um Mitternacht blitzt, kannst du dir was wünschen. Geht garantiert in Erfüllung!

Rottenstein feixt. Er will mir partout nicht glauben. Na gut, sagt er, jetzt ist es viertel vor. Wenn’s nachher blitzt, soll der Golem vor unsern Augen über die Karlsbrücke gehen, und ich werd orthodox …

Jacoby unterbrach. Er nahm einen tiefen Zug und schüttelte den Kopf. Rottenstein, Rottenstein, lamentierte er, das hättest du damals nicht sagen sollen! Jetzt sitzt du in Meah Shearim über einem dicken Talmud-Folianten, studierst und studierst und zergrübelst dir den Kopf darüber, womit dein unvermeidlicher Weg nach Jerusalem begonnen hat. Ich sage es dir: Mit genau diesem losen Spruch. Himmel, du kannst Aufmerksamkeit erregen!

Hey! fuhr ich auf und rüttelte Jacoby aus seinen Gedanken. Immerhin hatte ich bezahlt und wollte keine Stilproben, sondern die Geschichte.

Ich bitte Sie! rief er: Wir sind bereits mittendrin. Wenn Sie mich nur nicht andauernd unterbrechen würden! Also bitte, fuhr er fort: Unterdessen ist es eine Minute vor Mitternacht. Eine kräftige Brise ist aufgekommen. Die beiden jungen Männer halten ihre Käppchen fest, während sie hinauf in den noch immer sternenklaren Himmel starren. Ich zähle die Sekunden: achtundfünfzig, neunundfünfzig …

Und?

Jacoby federte von seinem Stuhl hoch, drosch mir seine Rechte auf die Schulter und brüllte mir ins Ohr: Es blitzt! Das ist ein Ding, was? Aus wolkenlosem Himmel ein Blitz ohne Donner! Rottenstein springt auf und schreit intuitiv: Nein!

In diesem Moment fuhr ich zusammen. Mann Gottes! schoss es mir durch den Kopf: Er wird dich noch killen mit seiner Art zu erzählen.

Rottenstein, raunt er, ist völlig geschockt. Sein Herz rast, und kurz darauf schießt ihm das Blut zu Kopf. Was habe ich getan? denkt er und schaut hektisch um sich: Gleich wird der Riese über die Karlsbrücke kommen, ihn greifen und in hohem Bogen in die Moldau werfen. Es ist um ihn geschehen, es ist aus! –

Ich zitterte. So genau hatte ich es gar nicht wissen wollen. Jacoby setzte sich wieder, rauchte genüsslich weiter; und es geschah – nichts.

Gott sei Dank auch, dachte ich. Jacoby allerdings grinste still in sich hinein, als wäre dies alles noch gar nichts gewesen und der Clou ein ganz anderer.

Wir glaubten beide damals, sagte er, der Blitz sei nur eine Warnung gewesen, dass wir uns künftig mit unseren Wünschen etwas zurückhalten sollten. Weiter ging unser Glaube an Wunder damals wirklich nicht. Aber nein: Blind waren wir, blind! Denn schauen Sie nur: Ungerührt läuft ein Mann auf Filzpantoffeln durch das Getümmel der in den Himmel staunenden Touristen, direkt an uns vorüber. Auf seinen Schultern sitzt ein kleiner Junge mit Stirnband. Im Licht der Brückenlaternen leuchtet es auf wie ein auf einer Chaussee hell angestrahltes Verkehrsschild.

Mein Blick folgte Jacobys Finger, der in die Richtung der beiden Freunde zeigte, und nun entdeckte auch ich den Jungen, ein rothaariges Bürschchen von vielleicht fünf Jahren, das auf den Schultern des Mannes nicht stillsitzen konnte. Es legte den Kopf in den Nacken und zeigte mit ausgestrecktem Arm in die Ferne, genau auf den Punkt hoch über der Burg, wo eben der Blitz grell aufgezuckt war. Und es lachte – schadenfroh und schallend.

Ich bat Jacoby um eine Erklärung. Der zuckte nur mit den Schultern, als wollte er sagen, er könne doch nichts dafür. Weder er noch Rottenstein hätten damals das Zeichen begriffen. Herz­rasen, das sicher, aber doch kein Hinweis auf eine Katastrophe.

Er schnippte die Kippe übers Geländer, hüstelte und meinte: Nach diesem Schreck hätte er Verständnis dafür gehabt, wenn Rottenstein abgereist wäre und sich geschworen hätte, nie wieder einen Fuß auf tschechischen Boden zu setzen. Er selbst jedenfalls habe von Prag genug gehabt. Aber weit gefehlt! Fortan sei der Kerl jedes Jahr zu Hoschanna Rabba nach Prag gefahren und habe sogar seinen Urlaub hier verbracht. Rottensteins Liebe, erklärte mir Jacoby, sei am Ende sogar so weit gegangen, dass er sich im vergangenen März, vier Jahre nach dem mitternächtlichen Blitz, auf eine Annonce hin bei der Direktorin der Jazyková Škola, Praha 4, a. s., gemeldet hätte, die für das Sommersemester dringend einen deutschen Muttersprachler für einen Konversationskurs suchte. Was Rottensteins literarische Ambitionen betrifft, meinte er, mag man unterschiedlicher Anschauung sein. Aber reden könne er, von lax über galant bis gedrechselt.

Er zog also hierher? fragte ich.

Aber ja! erwiderte Jacoby. Nur: Dass er die Stelle bekam, dürfte vor allem daran gelegen haben, dass er der einzige Bewerber war, der sich mit der winzigen Wohnung im Hotelhaus Petřiny zuzüglich mageren eintausend Kronen monatlich zufrieden gab. Jacoby kicherte, und mir kamen langsam Zweifel, ob Rottenstein wirklich sein Freund gewesen war.

Wie Sie über ihn reden! – Sie mögen ihn wohl nicht besonders?

Oh doch, beeilte er sich, mir zu versichern: Wir haben uns lediglich gegenseitig nicht ganz ernst genommen. Eine gesunde Einstellung unter Freunden übrigens, finden Sie nicht?

Ich hatte keine Lust, auf seine Frage zu antworten. Rhetorik, dachte ich, dafür hatte ich nicht bezahlt. Also lehnte ich mich zurück und betrachtete schweigend meine Fingernägel, was ihn zu irritieren schien. Er strich sich über den Bart und überlegte einen Moment, bevor er einlenkte: Ich bitte Sie! Was hätten Sie gesagt, wenn der Kerl, zweieinhalb Monate nach seiner endgültigen Abreise nach Prag, gänzlich unerwartet und sichtlich verstört, mit seinem Koffer wieder vor ihrer Tür stünde und Ihnen erklären würde, dass er eben aus Prag zurück sei und nun nichts Eiligeres zu tun habe, als unverzüglich sein Karlsbrücken-Gelübde einzulösen? Orthodox, hören Sie, orthodox wollte er werden!

Ich beschloss, weiter zu schweigen. Er sollte erzählen und mich nicht raten lassen.

Also gut, meinte Jacoby. Rottenstein, sag’ ich, als er mir das eröffnet hatte: Nun mal langsam. Was ist denn passiert? Und da ich bis dahin, wahrscheinlich ebenso wenig wie Sie, an Wunder glaubte, war ich zunächst der festen Überzeugung, er sei vollends verrückt geworden oder lüge mir zumindest schamlos die Hucke voll. Würden Sie Ihrem besten Freund glauben, dass er nicht nur dem Golem, sondern auch dem wiedergeborenen Rabbi Löw von Prag begegnet sei, sich überdies unwissentlich in seine eigene Cousine verliebt und ihr ein Kind gemacht habe, das aber nie geboren wurde?

Er schüttelte den Kopf und deklamierte: Durch die sieben Himmel sei er gereist und habe beinahe Gott geschaut. Überhaupt sei alles ganz furchtbar gewesen, und ihm bleibe nur noch die Jeschiwa, um herauszufinden, was das alles bedeute.

Ich war mehr als geschockt, sagte Jacoby, das dürfen Sie glauben. Die Reise nach Jerusalem hatte er bereits gebucht. Niemand anders als der Hohe Rabbi Löw habe ihm eine Unterkunft in Meah Shearim nebst einem Plätzchen in einer angesehenen Jeschiwa vermittelt. Es gebe kein Zurück. Punktum.

Versetzen Sie sich bitte in meine Lage: Mein vielleicht etwas spleeniger, aber sonst ganz patenter Freund Rottenstein, vor Kurzem noch arrogant bis in die Haarspitzen – wie ausgewechselt kam er daher, geradezu devot, zuvorkommend und bis zur Selbstverleugnung schicksalsgläubig.

Jacoby schien ihn noch einmal vor sich zu sehen und lächelte. Nett sah er aus, sagte er, nett: mit dem breitkrempigen schwarzen Hut und den kecken Schläfenlocken. Und wahrlich, ich liebe ihn für seine Konsequenz, zu der mir wahrscheinlich auf immer der Mut fehlen wird.

Allerdings – Jacoby griff nach meiner Hand, die ich ihm, leicht schaudernd, entzog – es mag durchaus sein, dass selbst ich, alles Frühere hinter mir lassend, nach Jerusalem umgezogen wäre, um fortan Torah und Talmud zu studieren, wäre ich, wie er, unmittelbarer Zeuge jener erstaunlichen Ereignisse gewesen …

Welcher Ereignisse? fragte ich.

Und sofort wurde Jacoby wieder geschäftig nüchtern. Was weiß ich? Er hob bedauernd die Arme: Sie können nicht erwarten, dass Sie für einen Wodka die ganze Story bekommen.

Schließen Sie die Augen! forderte er barsch.

Es war ihm gelungen, mich zu interessieren. Und da ich den Fortgang der Geschichte erfahren wollte, tat ich ihm den Gefallen. Kurz darauf durchfuhr mich ein warmer Schauer. Und wenn mir dieser Wodka vertilgende Schmock von Jacoby auch nicht besonders sympathisch war, musste ich seine erzählerischen Qualitäten doch anerkennen. Kaum nämlich hatte ich mir mit geschlossenen Augen sein Angebot noch einmal durch den Kopf gehen lassen, stieß er mich an. Ich könne die Augen wieder öffnen. Wir seien zu Hause und könnten nun zum Geschäftlichen kommen.

Er hatte nicht gelogen. Ohne Zweifel saßen wir wieder im Bella Montecatini, vor uns die leeren Gläser und neben uns der Wirt, der, die Rechnung in der Hand, bittend auf seine Armbanduhr wies und lamentierte, dass auch er irgendwann Feierabend machen wolle.

Schon okay, sagte ich und suchte, völlig verwirrt, nach meiner Brieftasche. Dass Jacoby, laut Rechnung, unterdessen stattliche fünfhundert Gramm auf meine Kosten geleert haben sollte, wunderte mich schon nicht mehr. Ich bezahlte und folgte meinem neuen Bekannten, der vor der Tür wartete.

Also, was ist? fragte er, während der Wirt hinter uns die Roll­läden herunterließ: Mein Angebot steht. Eine Flasche Moskovskaya, und ich bestimme die Regeln.

Kommen Sie, wich ich aus.

Wir gingen einige Minuten schweigend nebeneinander her, die Skalitzer Straße hinunter in Richtung Schlesisches Tor. Sicher, dachte ich, für mindestens zwei Abende hätte ich nun wieder eine Geschichte für Sheary. Aber was nützte sie mir? Ich hatte, wie versprochen, den Anfang und das vorläufige Ende gehört. Und das würde Sheary ebenso wenig genügen wie mir.

Was ist Wodka schon für eine Bezahlung? fragte ich. Sie wollen erzählen um des Erzählens willen. Sie brauchen einen Zuhörer, schön, doch warum ausgerechnet mich?

Irrtum, sagte er und blieb stehen: Sie brauchen mich. Das ist die erste Regel. Und die müssen wir in den Vertrag nicht aufnehmen, weil Sie ohnehin nichts dagegen tun werden.

So? Ich versuchte ein Lachen.

Aber ja, fuhr er gewitzt dazwischen. Nur ein Beispiel: Eine Figur verschwindet, Sie wollen wissen, wohin, und nur ich kann es Ihnen sagen. So einfach ist das.

Ich nickte: So einfach. Also schön, lenkte ich ein, Sie bestimmen die Regeln. Nummer eins erübrigt sich, wie Sie meinen. Was noch?

Sie, er tippte mir mit dem Zeigefinger auf die Brust, Sie erzählen Ihrer Frau die Story mit dem Mitternachtsblitz. Und zwar an Ihrem Geburtstag, kommenden Dienstag, wenn ich nicht irre.

Ich holte tief Luft. Doch er ließ mich nicht zu Wort kommen.

Ja, fragen Sie mich nicht, woher ich das weiß. Das ist völlig gleichgültig und tut nichts zur Sache. Sehen Sie? Er lachte: Das wäre das Zweite. Sie wird wissen wollen, wie es weitergeht. Und Sie werden sagen, dass Sie es nicht wissen, aber glücklicherweise würden Sie einen Geschichtenerzähler kennen. Sie hätten ihn engagiert …

Und? unterbrach ich ihn.

Was und? Ich bin das Geburtstagsgeschenk, und zwar eins, das jede Woche aufs Neue pünktlich zum vereinbarten Termin mit einem Blumenstrauß, den Sie bezahlen werden, vor der Tür stehen wird. Wir müssen nur noch Tag und Uhrzeit ausmachen, und wir sind im Geschäft.

Sie haben’s auf meine Frau abgesehen, argwöhnte ich: Ist es das?

Jacoby schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn: Was mache ich falsch? Ich breite ganze Welten vor ihm aus, und er fragt mich, ob mir seine Frau gefällt! – Hören Sie, ich habe diese Sheary noch nie gesehen.

Aber ihren Namen, den kennen Sie schon?!

Ich verlange doch wirklich nicht zu viel, erwiderte er. Außer dem, was ich gesagt habe, nur noch eins: Fragen Sie mich nie, woher ich meine Geschichten habe und dieses oder jenes weiß! Er schien ernsthaft verärgert, und ich beschloss, ihn nicht weiter zu reizen.

Also gut, wiegelte ich ab: dienstags, acht Uhr abends, eine Flasche Moskovskaya, das Geld für den Blumenstrauß gibt’s im Voraus …

Und keine Fragen! setzte er unwirsch hinzu.

Keine Fragen, wiederholte ich.

Sie sind also einverstanden?

Einverstanden.

Gut, sagte er, dann machen wir einen kleinen Vertrag.

Jetzt? Es ist zwei Uhr nachts, wir stehen mitten auf der Straße und …

Was und? Das macht nichts. Ich habe alles dabei. Sprach’s und förderte aus einer der vielen Taschen seines Jacketts einen Notizblock und einen vergoldeten Kugelschreiber hervor. Das wäre das, sagte er und drückte mir beides in die Hand. Dann beugte er sich nach vorn: Und hier, er stützte sich mit den Händen auf den Knien ab, haben Sie den Schreibtisch. Ich diktiere. Also los!

Ich legte den Block auf seinem Buckel ab, klappte ihn auf, und Jacoby begann zu diktieren:

Vertrag. – Ich, der Unterzeichnende, engagiere hiermit … usw. usf. Honorar, wöchentlicher Termin und die vereinbarten Regeln wurden festgesetzt. Spätestens als Jacoby diktierte Gerichtsstand ist Berlin, konnte ich mir ein Kichern nicht verkneifen.

Lachen Sie nicht, sagte er, vielleicht werden Sie den Wisch noch brauchen. Ich musste das Ganze noch einmal abschreiben; und nachdem wir beide Exemplare unterschrieben und jeder eines für sich behalten hatte, verabschiedete sich Jacoby kühl und mit einem Mal wie in großer Eile.

Den ersten Blumenstrauß würde er spendieren, schlug er vor.

Ich lehnte ab und gab ihm einen Zehner.

Meine Visitenkarte brauche er nicht, sagte er noch, schon im Gehen: Er kenne die Adresse. Ich wollte fragen: Woher?! Doch er schwenkte nur sein Exemplar des Vertrages – ich hätte unterschrieben und Schluss! – und war kurz darauf zwischen den am Straßenrand parkenden Autos verschwunden.

Vom Wein und den Geschichten benommen schlich ich nach Hause und fiel, kaum im Bett, in todesähnlichen Schlaf. Am nächsten Morgen brummte mir der Schädel wie nach einem kapitalen Besäufnis. Ich fluchte. Meine Brieftasche war leer. Was ich gehabt hatte, war vor allem für Jacobys Wodka-Rechnung draufgegangen. Und den letzten Zehner hatte er auch noch genommen.

Gewitzter Schnorrer, dachte ich und schrieb mein Geld in den Wind. Dass der Kerl sich je wieder blicken lassen würde, daran glaubte ich nicht. Und da ich nur einen winzigen Teil seiner Geschichte kannte, erzählte ich Sheary zunächst auch nichts davon.

Das Geburtstagsgeschenk, das ich schließlich für sie kaufte, war so wenig originell, dass ich mich heute nicht einmal mehr daran erinnern kann, was es eigentlich war. Die Blamage, es ihr präsentieren zu müssen, blieb mir jedoch erspart. Denn am Vorabend ihres Geburtstages klingelte das Telefon; und ich traute meinen Ohren kaum.

Jacoby hier! kam es undeutlich vom anderen Ende der Leitung. Ich solle mich gefälligst an den Vertrag halten, mein lächerliches Geschenk stecken lassen und ihr stattdessen den Anfang der Geschichte erzählen. Er habe keine Lust, am Dienstag noch einmal von vorn zu beginnen.

Das verschlug mir die Sprache. Ich drückte den Hörer an die Brust und atmete ein paarmal tief durch, bevor ich antworten konnte.

Sie kommen also wirklich? fragte ich, noch immer misstrauisch.

Natürlich, sagte er: Aber Sie müssen schon mitspielen. Sonst fällt die Sache ins Wasser.

Noch schwankte ich. Doch ich versprach ihm, meinen Teil des Vertrages zu erfüllen.

Gut, dann bis Dienstag um acht, sagte er: Ich werde pünktlich sein. Und er legte auf.

Es war der Abend vor Shearys vierundzwanzigstem Geburtstag. Wir sahen fern. Um Mitternacht öffnete ich eine Flasche Wein, machte das Bett, gratulierte ihr mit einem Kuss und fragte sie, ob sie ihr Geschenk nicht gleich haben wolle.

Ferkel! kicherte sie.

Hehe! So war das nicht gemeint.

Sondern?

Nun, tat ich geheimnisvoll: Ich könnte … einen kleinen Teil …

Ooch, bettelte sie nun: Sag schon, was ist es.

Tja, so war’s. Ich erzählte ihr, was ich von der Geschichte schon kannte, und Shearys Freude gab Jacoby recht: Wahnsinnig gespannt sei sie auf seinen ersten Besuch. Und damit schien unsere familiäre Harmonie fürs Erste gerettet. Oder auch nicht, wie man’s nimmt: Sie schlief wie ein Murmeltier.

Jacoby kam am vereinbarten Tag zur vereinbarten Stunde mit dem vereinbarten Blumenstrauß. Und er kam von da an jeden Dienstag mit der vereinbarten Fortsetzung der Geschichte. Durch nichts ließ er sich hindern. Krankheit oder wichtige Besorgungen gab es nicht. Und wenn also weder Sheary noch ich daran glaubten, dass er tatsächlich, wie er uns telegrafiert hatte, tot sei, so war es doch schlimm genug, dass er an diesem Dienstagabend zum ersten Mal seit einem halben Jahr nicht zu uns kommen würde. Mitten in seiner Geschichte hatte er uns mit einem gemütskranken Messias und seinem meschuggenen Propheten allein gelassen.

Was ist ein Weltuntergang? Eine nicht zu Ende erzählte Geschichte!

Wir mussten unbedingt wissen, wie die Story weiterging. Also beschlossen wir, in die Charité zu fahren. Wir fragten uns vom Pförtner bis zur Nervenklinik durch und fanden schließlich durch die düsterkalten Gänge zur verriegelten Tür der Station Nr. 10.

Ich klingelte.

Es dauerte eine Minute, bis die Schwester kam und uns öffnete. Aus ihren großgeschminkten Augen sah sie uns verstört an und wurde noch blasser, als ich nach Jacoby fragte. Da müssten wir mit dem Stationsarzt sprechen, stotterte sie und führte uns einen neonbeleuchteten Flur entlang zu dessen Arbeitszimmer.

Dr. Anthony schien ebenso verwirrt wie die Schwester.

Ja, wissen Sie, setzte er mühsam an: In den dreiundzwanzig Jahren, die ich nun schon hier … Also wirklich, so etwas ist mir noch nicht untergekommen.

Ja, was denn? Sheary klammerte sich an meine Hand. Der Doktor bat uns, Platz zu nehmen, und grübelte eine volle, quälend lange Minute darüber nach, wie er am besten beginnen sollte.

Sind Sie mit Herrn Jacoby verwandt? fragte er zaghaft.

Nein.

Presse?

Herr Jacoby ist …

Ich hob die Schultern.

… unser Angestellter, kam mir Sheary zu Hilfe.

Gut. Er schien erleichtert, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen: Dann können wir ja Klartext reden. Er schlug den hellblauen Aktenordner auf, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag und anscheinend vor allem Zeitungsausschnitte und EEG-Kurven enthielt. Einen Moment lang blätterte er darin herum. Dann zog er die Karteikarte mit Jacobys Krankengeschichte hervor.

Herr Jacoby, sagte er, ohne aufzusehen, ist heute Morgen unter uns allen unerklärlichen Umständen verstorben.

Wie?! Shearys Augen glänzten bedrohlich.

Er ist, stammelte der Doktor, verbrannt.

Das ist nicht ihr Ernst, sagte ich.

Doch, doch, beeilte er sich, uns zu versichern: verbrannt! Es ist unerklärlich, wissen Sie, er hatte gar nichts: Kein Feuerzeug, keine Hölzer, man hat nichts bei ihm gefunden. Ich verstehe es selbst nicht. Er rang die Hände, federte aus seinem Bürosessel und lief hektisch zwischen Schreibtisch und Fenster hin und her. Nachdem er die Strecke einige Male durchmessen hatte, blieb er plötzlich stehen, reckte den Zeigefinger in die Höhe und verkündete seine geradezu visionäre Lesart des Falls: Er muss, flüsterte er, von innen her verbrannt sein.

Er setzte sich wieder, wippte mit dem Fuß und starrte vor sich hin. Die Vorstellung schien es ihm angetan zu haben. Shearys Frage, ob nicht vielleicht ein unangemeldeter Besucher unseren Freund in Flammen gesetzt haben könnte, überhörte er.

Der Fall wird untersucht, sagte er nur. Ich verspreche es Ihnen. Die Polizei war bereits hier. Niemandem ist diese Sache unangenehmer als mir.

Das glaubte ich gern.

Und wie, bitte, fragte ich ihn, erklären Sie sich, dass er uns seinen Tod bereits gestern telegrafisch mitgeteilt hat?