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eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014

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Die isländische Originalausgabe, »Ég um mig frá mér til mín«,

erschien zuerst 1978 bei Iðunn.

Der Text wurde von Pétur Gunnarsson für die deutsche Ausgabe leicht bearbeitet.

Deutsche Printausgabe: © Weidle Verlag 2012

Lektorat: Wolfgang Schiffer

Korrektur: Stefan Weidle

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

Erscheinungsdatum: 3.3.2014

ISBN: 978-3-944818-35-1

cover

II

7 Morgens lief Ásta von Zimmer zu Zimmer und weckte sie abwechselnd: Wenn Andri sich im Bett auf­gesetzt hatte, legte sich Sista wieder lang und umgekehrt. Schließlich war Ásta zu spät und eilte hinaus. Andri verbrannte sich am Tee, stopfte sich den Rachen voll mit Brot und rannte zur Tür. Sista lag immer noch in ihrer Höhle, eine Frage der Zeit, wann man sie rausschmeißen würde. Vor einigen Tagen hatte sie mit irgendeinem Kerl aus der Versicherung angebändelt. Keli lauerte ihnen auf, eine Schlägerei, und Sista lief ins Haus. Sie und Ásta stritten sich und Sista keifte: »Verdammt, bin ich kein Mensch?!«

Am Hauseingang lagen die Zeitungen heillos durcheinander, Andri mußte sich unbedingt noch über die Welt informieren:

      Heringsfischerei erfolgreich.

Mönch in Vietnam steckt sich in Flammen.

Untersuchung in der Umsatzsteuersache eingeleitet.

Wird Island Dänemark bezwingen?

Unsere liebe Mutter, Frau und Schwester starb ...

Leute liefen aus dem Haus: eine piekfeine Dame mit Pelerine, ein junges Mädchen in Nylonsocken, ein Herr mit ausdruckslosem Gesicht. Andri hätte schwören können, daß diese Leute hier nicht zu Hause waren, der Block mußte geheime Wohnungen haben.

Magnea und Ágústa kamen die Treppe herunter und nahmen Morgunblaðið und Þjóðviljinn mit. Sie waren Zwillingsschwestern und arbeiteten im Kühlhaus, Ágústa eine eiserne Konservative, Magnea linientreue Kommunistin.

Es blieb nur noch das Bauernblatt Tíminn übrig, Andri überflog die Berichte über Frostschäden auf den Feldern, bis Dóra herunterkam und mit der Zeitung wieder nach oben lief. Sie wohnte im Stockwerk über ihnen und ließ keine Gelegenheit aus, Andri zu schmeicheln: »Toller Kerl, sich bei diesem Unwetter zur Schule durchzukämpfen.«

Dann war nichts mehr da außer einer Postkarte. Von einer Frau, die meinte, sie werde wohl länger bleiben. In diesem Moment stürmte Sista die Treppe herunter. Als hätte man eine Seite aus der Elle gerissen. Andri schlug den Kragen hoch und lief los. Zum Glück hatte er Turnen in der ersten Stunde. Die Kälte umarmte ihn, und die Ohren fielen ihm ab. Hannes kam angewankt, O-beinig, in Anzugjacke, das Hemd bis zur Brust offen.

»Teufel, ist das kalt.«

»Ja.«

So trotteten sie durch die Eiseskälte, und es fehlte ihnen eigentlich nur noch ein Holzkoffer auf dem Rücken, um zwei ewige Isländer auf der Winterreise über das Hochland zu sein.

Im Turnunterricht spielten sich die wichtigsten Angelegenheiten in der Umkleide und unter der Dusche ab. Steinn, der Aufseher, war ein alter Sportsmann und hatte früher im Speerwerfen Erfolge gefeiert. Er fand, sie seien alle zu lasch, alles war zu lasch. Zu viel Laschheit in allem. Selbst war er starr wie eine Eisenstange. Sein grauer, kümmerlicher Oberlippenbart ragte in die Luft. Unter der Dusche hörten sie nicht auf, bevor die kleinen Speere steif standen und Steinn damit drohte, das Wasser abzustellen.

Bjössi ging von einem zum anderen und kontrollierte Stärke, Länge und Bewuchs. Manche kamen in Turnhosen unter der Jeans und Badehosen unter der Turnhose an.

»Angst, daß er einläuft?« fragte Bjössi entnervt.

Während sie sich anzogen, zogen sich die Mädchen in der Nebenkabine aus.

»Später gehen sie in die gleichen Duschen wie wir«, sagte Bjössi und kratzte an der Wand. »Ich wünschte, ich wäre ein Duschkopf!«

Als sich die anderen angezogen und gekämmt hatten, trocknete sich Bjössi immer noch ab. Mit einemmal stürzten sie sich auf ihn, öffneten die Tür zur Turnhalle und warfen ihn hinein. Hilferufe durchschnitten die Luft, kurz darauf ertönte ein schriller Pfiff aus der Pfeife der Turnlehrerin Fríða. Alles befand sich auf einem verklemmten Höhepunkt, während die Jungen die Tür zuhielten, bis die Duschaufsichten Steinn und Soffía die Sache in die Hand nahmen. Bjössi griff sich den nächstbesten und schlug ihm aufs Maul, brach dann zusammen und weinte, während er sich anzog. Die Jungen versuchten mit bemühter Ausgelassenheit ihre Schuldgefühle zu überdecken. Steinn fand keine Worte, buchstäblich, schnaubte nur und schnaubte. Am nächsten Tag erfuhren sie, daß man ihnen zur Strafe die Handballstunden streichen würde. Die meisten Mädchen hatten gar nicht mitbekommen, wer zu ihnen hineingeworfen worden war. Sie hatten sich nur auf eines konzentriert. Das, was alle haben, zu dem sich aber niemand bekennen kann. Ganze Kulturen stehen und fallen damit, daß es verborgen bleibt. Folglich steht es überall im Brennpunkt.

8 In den Pausen liefen sie zum Lebensmittelladen Kostakjör und stopften Vínarbrauð und Milch in sich hinein. Das »Kümmer dich selbst um dein Zeug«-Modell war gerade dabei sich durchzusetzen: Bezahlen an der Kasse. Die Atmosphäre erinnerte an Westernkneipen, jeden Augenblick mußte man damit rechnen, daß irgend jemand einen Revolver hervorzöge und ein Schußwechsel begänne. Alle waren schon darauf vorbereitet, abzudrücken oder sich flach auf den Boden zu schmeißen.

Neben dem Kostakjör war ein Eisladen. Das Mädchen, das bediente, schloß sich zu den Schulpausen immer ein. Wenn sich ein gewöhnlicher Kunde näherte, war sie genötigt zu öffnen, und schon zwängte sich der Mob hinein. Alles wie gehabt: Sie nahmen Úlfur und steckten ihn durch die Luke. Úlfur war so herausragend, daß es absolut ideal war, ihn zum Spielball all ihrer Albernheiten zu machen. Das Mädchen hatte schon längst aufgegeben und rief nun die Polizei. Der Form halber versuchten sie und Úlfur zu entkommen, sahen sich aber einer Übermacht gegenüber. »Diese Eisdiele ist zu klein für euch alle.«

Mitten hinein platzte Vilhjálmur von Skálholt, die Fleischwerdung des isländischen Dichtersäufers. Es war, als wären alle erleichtert, nun jemanden zu haben, der es wagte, Grenzen zu überschreiten und das Leben beim Namen zu nennen.

»Oh, ihr Jugendscharen!« rief er mit einer dramatischen Handbewegung und bestellte Eis für die Gruppe.

Als das Mädchen nicht darauf einging, schaufelte er Geldscheine aus seinen Taschen, mehrere Handvoll, und lud sie auf die Theke.

»Welche Soße?« fragte das Mädchen skeptisch.

»Preiselbeere.«

»Gibt’s nicht.«

»Wacholder.«

»Leider. Wir haben nur Erdbeere, Schokolade und Ananas mit Schuß.«

»Was für ein Schuß?« fragte der Dichter neugierig.

In diesem Augenblick erschien die Polizei und interessierte sich mehr für den Dichter als für den Mob. Seit wann haben isländische Dichter die Taschen voller Geld?

»Islands erwachsene Söhne!« rief Vilhjálmur und versuchte die Polizisten in die Eisgruppe einzugliedern.

Die Polizei hatte sich schon mit ihm auf den Weg gemacht, als jemand darauf hinwies, daß er jüngst einen Kunstpreis erhalten habe, ob er für sein Geld kein Eis kaufen dürfe, sind wir vielleicht in der Sowjetunion?

Der Dichter bestand darauf, daß auch die Polizei Eis bekäme, und fragte voller Eifer: »Welcher Geschmack? Mit Waffel?«

»Mit Waffe«, sagte einer.

»Und Schuß«, fügte ein anderer hinzu, und die Polizei begann die Eisdiele zu räumen. Der Dichter und die Eis­prinzessin blieben allein zurück und versuchten vereint auf den Geschmack zu kommen.

9 Währenddessen saßen die Lehrer im Lehrerzimmer wie Götter in der Pause und nutzten die Waffenruhe, um einzelne Feldzüge zu besprechen und über ihre Strategie zu beraten. Als die Glocke läutete, zogen sie wieder in die Schlacht.

Wie nun Oberstudienrat Ingólfur auf den Gang hinaus eilte, weckte Radau auf dem Mädchenklo seine Aufmerksamkeit. Bei genauerer Prüfung stellte sich heraus, daß Frevler im Heiligtum zugange waren: Die Jungen waren eingefallen und versuchten über die Bretterwand zu spähen. Andri stand auf Bjössis Schultern, kurz davor, die verbotenen Früchte zu sehen. Ingólfur zog ihn herunter und lief mit ihm geradewegs zum Direktor.

Wie schon gesagt, der Direktor war ein großer Redner, der Menschen reihenweise in die Bewußtlosigkeit reden konnte, aber nicht ausgelastet war, wenn er mit jemandem unter vier Augen sprach. Die gesamte Flügelspanne kommt in der Enge nicht zur Entfaltung. Deshalb war er ganz einfach sauer und zog das Protokoll der letzten Lehrerversammlung aus einer Schublade: Nicht mehr und nicht weniger als drei Lehrer hatten sich beklagt über jenen, der nun niedergeschlagen vor ihm saß, und berichtet, er störe den Unterricht beträchtlich mit ständigem Herumgealbere.

Was sollte dieses Benehmen bedeuten? Glaubte er etwa, er könnte sich solch ein Verhalten erlauben? In diesem Zusammenhang holte er Andris Notenspiegel hervor, aber als er sich gerade die Brille aufsetzen wollte, um die Ergebnisse der letzten Prüfungen vorzulesen, was geschieht da? Der Direktor geriet völlig aus der Fassung, er hatte gerade das Gefecht eröffnen wollen und geglaubt, gegen einen unbeugsamen Rebellen kämpfen zu müssen. Nun herrschte verlegenes Schweigen, denn leider war in Andri irgendein Damm gebrochen, und es kam nichts anderes aus ihm heraus als Schluchzer. Dies geschah, bevor Schulpsychologen auf den Plan traten, und der Direktor war vollkommen überfordert mit solch einer Situation. Kannte sich hingegen recht gut mit Pferden aus und tätschelte dem Jungen Widerrist und Mähne. Die Glocke läutete.

Andri wartete, während die Schüler davongingen, trabte zu seiner Tasche und dann hinaus. Er war fest entschlossen, sich umzubringen. Er war nichts, hatte keine Freunde, war nicht vorzeigbar. Am besten, man brachte es zu einem Ende. Er fühlte sich erleichtert durch diese Entscheidung, plötzlich bekam das Leben einen Sinn: sich töten.

Mit Tränen in den Augen entwarf er Nachrufe, »in meinem Namen und allerhand Verwandter, Blumen und Kränze willkommen.« »Andri Haraldsson war ein begabter Junge« (in der sechsten Klasse erzielte er in der Winterklassenarbeit in Naturkunde die beste Note), »um so schmerzlicher ist unsere Trauer in dieser Abschiedsstunde ...«

Unten in der Werft standen zwei an Land gezogene Schiffe wie die Stiefel eines Riesen und Arbeiter beim Schweißen, Schleifen und Streichen. Vielleicht sind wir nur Mikroben auf einem Troll, so klein, daß wir hin und wieder jucken. Am Hafen war das Be- und Entladen in vollem Gange. Warum nicht blinder Passagier werden? Sich aus dem Land stehlen. Rettungsmannschaften würden nach ihm suchen, sein Name wäre in aller Munde. »Der Andri«, würden alle sagen. Bilder in Zeitungen. »Ja, der!« Sæmi: »Ein wirklich sympathischer Junge.« Dann würde man ihn für tot erklären. Ein Gedenkgottesdienst im Dom, Totenrede siehe oben.

Er aber wäre auf hoher See, unendlich weit weg, und irgendwo in der Ferne schliche er sich im Schutze der Nacht an Land. Marseille. Dort würde er ein völlig neues Leben beginnen, irgend etwas Großartiges tun und weltberühmt werden. Erst dann würde er sich zu erkennen geben und heimkehren. Die Menschenmenge am Kai (im Kopf hatte er Bilder von Laxness, wie dieser mit dem Nobelpreis nach Hause kam). Auf einem mit Blumen dekorierten Podest würde eine Blaskapelle spielen. Die Massen würden jubeln, während er den Steg hinunterschritte. Die Nationalhymne. Er stünde neben dem Ministerpräsidenten und würde sich verneigen. Der Ministerpräsident hielte eine Rede. Dann würde Andri eine Rede halten, eine gute Rede, und während er redete, würden seine Augen bekannte Gesichter in dem Getümmel suchen. Dort standen seine Mutter und Sista, Doddi, sein Vater und Björg ... es war, als wären sie in Formalin konserviert worden, sie sahen noch genauso aus wie damals, als er sie verlassen hatte. Dort waren auch Gesichter, die schon längst unter die Erde hätten gekommen sein müssen: sein Opa und seine Oma, Nachbar Jón ...

Er hatte sich derart in seine großartigen Phantasien hineingesteigert, daß er geradewegs den Landesteg der Dettifoss hinaufstieg. Er zögerte erst, als er an Bord war: Sollte er direkt ins Rettungsboot kriechen? Zuerst wollte er das Schiff inspizieren und herausfinden, wohin es fahren würde, mißlich, in Eskifjörður an Land zu schleichen ... Er lief durch schmale Gänge und begegnete niemandem. In der Kombüse stand der Koch und schnitt Brot wie in Trance. Der Tisch war voll mit Brotscheiben, und als der Nachschub ausgegangen war, schnitt die rechte Hand mechanisch das, was die linke reichte: Würstchenpackungen, eine Zahnpastatube, eine Klopapierrolle und ... Andri schlug sich die Hand vor den Mund, Blut färbte die Brotscheiben ... Er rannte wieder an Land, wollte nicht mit einem verrückten Koch abhauen, nicht einmal als blinder Passagier.

10 Als er heimkam, war die Küche in Blut getaucht. Der Tisch, die Spüle, der Boden. Magnea, Ágústa und Dóra schnitten Talg, rührten Blut und nähten Pansen. Ásta platzte herein, blutig bis über die Ellbogen:

»Dein Vater möchte, daß du ihn anrufst.«

Haraldur und Björg wollten auf den Presseball und baten Andri, auf das Kind aufzupassen. Sogar das Telefon war voller Blutspritzer. Aus der Sicht des Schafes muß der Mensch das vollkommene Untier sein.

Als das Blutvergießen zu Ende war, goß man Kaffee auf. Sie hatten kaum ihre erste Tasse getrunken, da stellte Ágústa diese schon umgedreht auf den Herd, um sich sagen zu lassen, ob irgendwo Herren in Sicht waren.

Keine Frauenzeitschrift hätte sich damit rühmen können, diese Frauen zu kennen. Dóra war Witwe, Ásta geschieden, Ágústa kinderlos, hatte aber etwas mit einem Mann, Magnea hatte ein Kind, aber keinen Mann ...

»Gústa und dieser Unsinn«, schimpfte Magnea, »nie kann man in Ruhe mit ihr Kaffee trinken.«

»Also bei mir ist kein anderer Herr in Sicht als der von gegenüber«, sagte Ásta.

»Ja, ist er etwa nackt, der Kerl?« fragte Dóra und meinte einen Mann aus dem Block gegenüber. Dieser neigte dazu, splitternackt im Fenster zu erscheinen, wenn der Mond voll war.

Magnea teilte vorsichtig die Gardinen, aber der Mann im Fenster war nicht zu sehen. Allerdings war in Ástas Tasse ein Mann, ein Auto in Magneas und eine Reise in Dóras.

Dóra: »Warum konntest du mir nicht den Mann überlassen, jetzt, wo ich endlich keine Kinder mehr kriegen kann!«

Ásta: »Du kannst meinen haben, bei Gott, ich hätte lieber eine Reise als einen Mann.«

Magnea: »Was glaubst du, soll ich bitte mit einem Auto anfangen, ich kann nicht mal fahren.«

»Schrecklich, wie undankbar ihr seid«, sagte Ágústa beleidigt, »du kannst es doch wohl lernen.«

»Ach, das ist kein Problem«, sagte Dóra, »Vorfahrt links, Pferd rechts.«

»Juliana ist mittlerweile sechzig«, sagte Ágústa gedankenverloren.«

»Und willst du hin?«

»Nach Holland?«

»Ach, die verdammte Königin«, seufzte Magnea, sie war nie aufmerksam bei diesem Königspack, das Ágústa ihr permanent aufzuschwatzen versuchte und auf das sie ebenso selbstverständlich zu sprechen kam wie auf die Leute bei der Arbeit.

»Da ist er!« rief Ásta, und beinahe hätten sie Tisch und Tassen umgeschmissen im Wettlauf zum Fenster.

Dort stand er, nackt und unwirklich, der Mann im Fenster. Dóra fand ihre Brille nicht, die anderen reihten sich am Fensterbrett auf.

Ásta: »Die Kinder!«

Magnea: »Die Polizei!«

Ágústa: »Der Block wird an Wert verlieren.«

Endlich hatte Dóra die Brille gefunden:

»Schau dir den Zapfen an!«

11