Biblisches Arbeitsbuch für Soziale Arbeit und Diakonie

Inhalt

Vorwort

Wir freuen uns sehr, dass nun das Biblische Arbeitsbuch für Soziale Arbeit und Diakonie vorliegt (BASAD). Es entstand im Kontext praxisorientierten Forschens und Lehrens an der Evangelischen Hochschule Nürnberg (EVHN). Der Studiengang Diakonik ist erfreulicherweise nicht nur mit dem Studiengang Religionspädagogik und Kirchliche Bildungsarbeit eng vernetzt, sondern auch mit den Studiengängen Soziale Arbeit und Sozialwirtschaft korreliert. Das hängt mit der für Diakon*innen erforderlichen Doppelqualifikation zusammen. Seit geraumer Zeit gibt es für Religionspädagog*innen ein alt- und ein neutestamentliches Arbeitsbuch (1987 / 52019; 1993 / 42014). Für diakonisch besonders relevante biblische Themen gibt es für Studierende und Mitarbeitende in Sozialer Arbeit, Kirche und Diakonie kein Pendant. Diese Lücke füllen wir mit BASAD.

 

Jörg Lanckau vertritt an der EVHN die Bibelwissenschaft in Religionspädagogik und Diakonik. Es trifft sich gut, dass er Alttestamentler ist und den Studiengang Religionspädagogik und Kirchliche Bildungsarbeit leitet, während Thomas Popp als gelernter Neutestamentler nun Praktische Theologie lehrt sowie den Studiengang Diakonik leitet. Er gab den ersten Anstoß zu diesem Projekt. Jörg Lanckau verantwortet nicht nur mehrere inhaltliche Beiträge, sondern auch die Buchwerdung.

Anni Hentschel ist als Neutestamentlerin ausgewiesene „Diakonia“-Kennerin. Sie ist Direktorin des Rudolf-Alexander-Schröder-Hauses (Evangelisches Bildungszentrum Würzburg) und Lehrbeauftragte für Neues Testament am Institut für Evangelische Theologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Klaus Scholtissek ist Vorsitzender der Geschäftsführung der Diakoniestiftung Weimar Bad Lobenstein gGmbH und apl. Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

 

Nicht nur die vier Herausgebenden stehen mit ihren jeweiligen Perspektiven für eine Diversität, die der Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten biblischer Texte entspricht. Wir danken herzlich den vielen, fachlich hochqualifizierten Autor*innen, die sich der Herausforderung gestellt haben, wissenschaftlich fundiert und zugleich verständlich Themen zu beleuchten, die für Soziale Arbeit und Diakonie besonders relevant sind. Dass dabei keine Vollständigkeit möglich ist, versteht sich angesichts der Themenfülle von selbst. Je nach Thema und Schwerpunkt der Autor*innen differieren die Anteile des Alten und Neuen Testaments. Wir beabsichtigen, Einstiege zu eröffnen, erste Einblicke zu ermöglichen und Impulse zur Weiterarbeit zu geben.

Wir freuen uns daher sehr, dass BASAD im Verlag Narr Francke Attempto in der Reihe der utb Lehrbücher erscheint. Die Bände dieser Reihe bieten den jeweiligen Stoff kompakt, gut lesbar und didaktisch aufbereitet. Frau Kristina Dronsch, Frau Corina Popp, Frau Elena Gastring, Herrn Stefan Selbmann und dem Lektorat sei herzlich gedankt. Die Evangelische Hochschule Nürnberg hat das Projekt im Rahmen der Forschungsförderung finanziell unterstützt.

Für die Arbeit mit BASAD steuerte Johannes Haeffner zu Beginn des Buches dankenswerterweise didaktische Überlegungen bei. Er ist Diakon, Pädagoge, Professor für Diakoniewissenschaft/Pädagogik an der EVHN und bildet mit Thomas Popp die Ausbildungsleitung der Rummelsberger Diakone und Diakoninnen.

Die in ihrem Umfang variierenden Impulse im Anschluss an die jeweiligen Artikel werden von den Herausgebenden verantwortet. Für inhaltliche und methodische Resonanzen sowie neue Ideen sind wir sehr dankbar.

 

Wir wünschen Ihnen eine gewinnbringende, dem Leben in Sozialer Arbeit und Diakonie dienende Lesereise. Dabei hat BASAD nicht zuletzt das Ziel, zum Lesen der biblischen Texte und deren Übersetzung in den Alltag zu animieren. Oder wie Martin Luther es auf den Punkt gebracht hat (sprachlich angepasst): In der Bibel sind „Lebeworte, nicht zum Spekulieren und Grübeln, sondern zum Leben und Tun.“

 

Jörg Lanckau

Thomas Popp

Anni Hentschel

Klaus Scholtissek

Wie Sie mit BASAD arbeiten können

Johannes Haeffner

Dieses Arbeitsbuch ist für alle gemacht, die sich im Feld von Sozialer ArbeitArbeit und DiakonieDiakonie bewegen – von der Ausbildung bis zur Leitungsebene. Wir denken z.B. an Studierende in theologisch orientierten, sozialpädagogischen, managementbezogenen und pflegerischen Studiengängen sowie an Fach- und Leitungskräfte. Sie können sich wissenschaftlich fundiert einen Überblick über für sie bedeutsame Themen aus biblischer Perspektive verschaffen. Folgende Methode ist eine Möglichkeit, um die Artikel dieses Buches in Gruppen zu lesen und ins Gespräch zu kommen:

Tauschen Sie sich zunächst über die Fragezeichen, dann über die Blitze und schließlich über die Ausrufezeichen aus. Daraus können sich weitergehende Gespräche entwickeln.

 

Jeder Beitrag bietet Ihnen einen oder mehrere Impulse und Literaturverweise, die weitgehend durch die Herausgebenden verantwortet wurden. Darüber hinaus ermöglichen weitere Nachschlagewerke einen kompakten Überblick, z.B. das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (siehe Literatur).

Die Beiträge können keine umfassende und abschließende Darstellung leisten. Sie haben aber den Anspruch, den Einstieg in die mit dem Thema angesprochenen Fragen zu ermöglichen und wichtige biblische Aspekte des Themas zu reflektieren. Die VielfaltVielfalt der Interpretationen soll nicht überdeckt, sondern sichtbar werden und so den Diskurs anregen.

Diakonisches Kongruieren

DiakoniewissenschaftDiakoniewissenschaft nimmt helfendes Handeln in Kirche und DiakonieDiakonie in den Blick. Dies geschieht durch Einbeziehung der TheologieTheologie mit ihren Teildisziplinen und Bezugnahme auf die Human-, Pflege-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Diakoniewissenschaft ist interdisziplinär konzipiert: Unterschiedliche Disziplinen begegnen sich, um ihre Erkenntnisperspektive und fachliche Kompetenz einzubringen.

Die in der DiakoniewissenschaftDiakoniewissenschaft etablierte Methode des „Diakonischen Kongruierens“ lässt sich gut mit BASAD verknüpfen. Dabei steuert BASAD die bibelwissenschaftliche Perspektive zu dieser multiperspektivischen Methode bei. Das diakoniewissenschaftliche Proprium, diakonische TheologieTheologie mit allen Fachwissenschaften in Beziehung zu setzen, fassen wir in dem Begriff des „diakonischen Kongruierens“ (Rainer Merz). Er meint ein „In-Übereinstimmung-Bringen“ von unterschiedlichen wissenschaftlichen Handlungslogiken, Zugängen und Perspektiven zu einem Thema, z.B. Theologie und Pädagogik, Theologie und Ökonomie, Theologie und Pflege (MERZ 2007:71). Wir sind uns bewusst, dass das diakonische Kongruieren in Einrichtungen der DiakonieDiakonie seit langem zum Alltag diakonischen Handelns gehört. Diakonische Einrichtungen sind multirationale Organisationen, in der täglich unterschiedliche Handlungslogiken von beispielsweise Verwaltung, Betriebswirtschaft, Medizin, Pädagogik und Psychologie zum Wohle der Klient*innen ausgelegt werden müssen. Dies tun Fachkräfte immer wieder in Konferenzen und Einzelfallbesprechungen. BASAD hilft dabei, zu bestimmten Themen und Anliegen die bibelwissenschaftliche Perspektive zu berücksichtigen.

In der interdisziplinären DiakoniewissenschaftDiakoniewissenschaft geschieht Wesentliches im Zwischen: Kommunikation und Vernetzung stehen im Blickpunkt diakonischen Nachdenkens und Handelns. Es geht nicht nur darum, für die Menschen sozial-karitativ zu wirken, sondern mit den Menschen zu handeln und zwischen ihnen und ihren jeweiligen persönlichen und fachlichen Perspektiven im Sozialraum zu vermitteln. Gefragt ist also das Brückenbauen durch Beraten, Befähigen und Begleiten. Soziale und diakonische ArbeitArbeit „wirkt im Dazwischen, um dort zwischen Laie und Fachkraft, Disziplin und Disziplin, Unwissen- und Informiertheit, Einsamkeit und GemeinschaftGemeinschaft, Angst und Geborgenheit – letztlich zwischen Mensch und Mensch – Gräben zu vermeiden, zu überwinden und Brücken zu schlagen“ (KARG 2019: 32).

Diakonisches Kongruieren ist somit eine Methode wechselseitigen Verstehens. Beispielsweise sind nicht nur sozialarbeits- und pflegewissenschaftliche Erkenntnisse theologisch zu interpretieren und zu transformieren. Auch theologische Perspektiven brauchen Zuspitzung, Ergänzung und Transformierung durch soziale, pflegerische und andere Wissenschaften.

Diakonisches Kongruieren stellt also keine Einbahnstraße dar: Es geht um einen interdisziplinären Dialog zwischen diakonischer TheologieTheologie und anderen relevanten Fachwissenschaften für Kirche und DiakonieDiakonie. Die Art und Weise, wie Mitarbeitende in Sozialer ArbeitArbeit, Kirche und Diakonie soziale Wirklichkeit wahrnehmen und beurteilen, entscheidet maßgeblich über ihr berufliches Handeln. Wie Soziale Arbeit ist auch die DiakoniewissenschaftDiakoniewissenschaft eine Hybridwissenschaft. Sie ermöglicht einen multiperspektivischen Blick auf helfendes Handeln in Kirche und Diakonie. Wahrnehmen, Urteilen und Handeln im Kongruieren wird damit zur Kernkompetenz diakonisch-professionellen Handelns. Die Aufgabe des diakonischen Kongruierens ist keine einmalige Aufgabe. Vielmehr stellt sie sich mit jedem fachlichen Konzept, mit jeder neuen Methode, aber auch in jeder individuellen Handlungssituation in kirchlich-diakonischen Kontexten neu. Sie stellt somit eine nie abgeschlossene Aufgabe für Berufsgruppen und ehrenamtlich Engagierte in Kirche und Diakonie dar. BASAD steuert, wie bereits erwähnt, die bibelwissenschaftliche Perspektive zu diesem multiperspektivischen Ansatz bei.

Methodik

Folgende Schritte zeigen, wie Sie mit den BASAD-Artikeln im Sinne des diakonischen Kongruierens arbeiten können.

Stellen Sie sich vor, dass Sie als Mitarbeitende einer Berufsgruppe in Kirche und DiakonieDiakonie einen Impuls in einem Kirchenvorstand oder bei einer Mitarbeitendenklausur zum Thema InklusionInklusion verantworten.

Literatur

ALKIER, Stefan, BAUKS, Michaela & KOENEN, Klaus (Hg.) 2007ff: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet: https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/.

FRIEDRICH, Norbert u.a. (Hg.) 2015: Diakonie-Lexikon. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

KARG, Franziska 2019: „Und er starb alt und lebenssatt.“ Würdevolles Sterben in Altenpflegeheimen – ein Beitrag der Sozialen Arbeit zu einer diakonischen Abschiedskultur. Bachelor-Thesis, Evangelische Hochschule Nürnberg, Studiengang Soziale Arbeit.

MERZ, Rainer 2007: Diakonische Professionalität. Zur wissenschaftlichen Rekonstruktion des beruflichen Selbstkonzeptes von Diakoninnen und Diakonen; eine berufsbiographische Studie. Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg 33. Heidelberg: Winter.

RUDDAT, Günter & SCHÄFER, Gerhard K. (Hg.) 2005: Diakonisches Kompendium. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

1 Einführung

1.1 Begriffsklärungen

Anni Hentschel

Die Begriffe „DiakonieDiakonie“ und „diakonisch“ sind nicht nur im protestantischen Kontext geprägte Lehnworte für das soziale Engagement der Kirche, für den nächstenliebenden DienstDienst von Christinnen und Christen. VerkündigungVerkündigung (martyría), GottesdienstGottesdienst (leitourgía), GemeinschaftGemeinschaft (koinōnía) und der Dienst an den Nächsten (diakonía) werden mit Bezug auf im Neuen Testament verwendete griechische Begriffe konfessionsübergreifend als Wesensmerkmale von Kirche angesehen.

Doch sowohl mit dem Begriff „DiakonieDiakonie“ als auch mit den damit verbundenen Phänomenen verbinden sich zahlreiche Anfragen: Unterscheidet sich das helfende Handeln von Christ*innen vom Helfen anderer Menschen? Stellt die Rede vom christlichen (Liebes-)DienstDienst nicht eine Überhöhung dar, die mit der Verschleierung des Machtgefälles zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen, mit der Gefahr der Selbstausbeutung durch grenzenlose Hilfeleistung und mit der sachlich unangemessenen Abwertung anders motivierten Helfens verbunden ist? Und wird der griechische Begriff diakonía im Neuen Testament wirklich im Sinne eines spezifisch christlichen, sich ganz den Bedürfnissen der Nächsten widmenden (Liebes-)Dienstes verwendet, wie Hermann W. Beyer in seinem Artikel im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament (1935) grundlegend festhält?

Bedeutung und Rezeptionsgeschichte von "diakonía"

Das deutsche Lehnwort „DiakonieDiakonie“ kommt vom griechischen Nomen diakonía und seinen Ableitungen, die im Neuen Testament hundert Mal belegt sind. Sie werden in deutschen Bibeln v.a. mit „DienstDienst“, „Versorgung“ oder „AmtAmt, Ämter“ übersetzt. Die Wortgruppe steht im Altgriechischen neben weiteren Dienstbegriffen wie z.B. dem SklavendienstSklavendienst (douleía), der Verehrung oder FürsorgeFürsorge (therapeía) oder dem öffentlichen Dienst (leitourgía), die jeweils ihr eigenes, spezifisches Bedeutungsspektrum haben. Die verbreitete Übersetzung all dieser Begriffe mit „Dienst“ lässt die zwischen ihnen vorhandenen Bedeutungsunterschiede in deutschen Bibelübersetzungen nicht deutlich werden. Da Sklav*innenSklav*innen in der Antike rechtlos waren und zum Eigentum zählten, stellt der Sklavendienst zum Beispiel eine grundsätzlich verachtete Form des Dienstes dar. Kein freier Mensch wollte wie ein Sklave anderen Menschen dienen müssen oder gar – zum Beispiel aufgrund von Überschuldung – selbst zum Sklaven oder Sklavin werden. Wenn vermögende Bürger (selten Bürgerinnen) jedoch mit einer „Liturgie“ das öffentliche Leben unterstützten und zum Beispiel den Unterhalt eines Gymnasiums oder eine kulturelle Veranstaltung ermöglichten, so vergrößerte diese oft als finanzielle Zuwendung gestaltete Dienstleistung ihr Ansehen. Eine Übersetzung mit „Dienst“ oder „Dienen“ für die Wortgruppe diakonía ist zwar semantisch richtig und bei den meisten klassisch-griechischen oder biblischen Belegstellen problemlos möglich, gibt jedoch das spezifische Bedeutungsspektrum des griechischen Begriffs oft nur unzureichend wieder.

In der SeptuagintaSeptuaginta ↗︎ LXXLXX finden sich nur sieben Belege dieser Wortgruppe in späten Texten (Est 1,10Est1,10; 2,2Est2,2; 6,3.5Est6,3.5; 1Makk 11,581Makk11,58; 4Makk 9,174Makk9,17; Spr 10,4Spr10,4; → 1.2 Was ist die Bibel?). Deshalb lässt sich der alttestamentliche Wortgebrauch für das Verständnis der neutestamentlichen Wortverwendung nicht auswerten. Der jüdisch-hellenistischeHellenismus, hellenistisch Historiker Josephus (ca. 37–100 n. Chr. ↗︎ HellenismusHellenismus, hellenistisch) verwendet die Wortgruppe jedoch relativ oft, wiederholt auch in Paraphrasen der hebräischen biblischen Texte. Wortstatistische Untersuchungen zeigen, dass diakonía und seine Ableitungen in den Schriften der klassisch-griechischen und auch der jüdisch-hellenistischen Literatur von Verfasser zu Verfasser unterschiedlich häufig verwendet werden, was vermutlich mit den sprachlichen Vorlieben der jeweiligen Übersetzer*innen oder Autor*innen zusammenhängt.

Die Arbeiten von Wilhelm Brandt (1931) und vor allem von Hermann W. Beyer (1935) haben ein Begriffsverständnis von diakonía geprägt, das für das Diakonieverständnis im 20. Jh. einflussreich wurde. Neuere Arbeiten zur Semantik von John N. Collins (1990) und Anni Hentschel (2007) stellen diese Deutung jedoch in Frage und haben eine Diskussion um die Interpretation der neutestamentlichen Wortverwendung ausgelöst, die weit über die Übersetzung neutestamentlicher Belege hinausgeht und das Diakonieverständnis insgesamt betrifft.

Hermann Wolfgang Beyer (1935) sah im Tischdienst – verstanden als eine niedrige Frauen- oder Sklavenarbeit – die Grundbedeutung von diakonía. Davon leitete er ein allgemeines Verständnis von diakonía im Sinne eines Dienstes ab, der oft zugunsten anderer zu deren Versorgung geleistet werde und üblicherweise aus einer untergeordneten oder niedrigen Position heraus geschehe. Im Neuen Testament werde diese Wortverwendung weiter entwickelt zu einem Verständnis des selbstlosen Dienstes an den Nächsten. Diesen zur Selbsthingabe bereiten Liebesdienst an den Nächsten sah er vorbildlich von Jesus verwirklicht, der nach Mk 10,45Mk10,45 gekommen ist, „nicht um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen (diakonéō) und sein Leben als Lösegeld für viele zu geben“. Auf dieser Grundlage interpretierte Beyer die Wortverwendung von diakonía im Neuen Testament als eine spezifisch christliche, die den DienstDienst im Sinne eines selbstlosen Liebesdienstes gegenüber den Nächsten verstehe. Er grenzte das im Neuen Testament seiner Meinung nach spezifisch christlich geprägte Wortverständnis damit sowohl vom jüdischen als auch vom klassisch-griechischen Sprachgebrauch ab – dort sei diakonía eine minderwertige, verachtete Tätigkeit. Damit hat Beyer die problematische Annahme gesetzt, dass es nur im christlichen Kontext eine selbstlose Hingabe, eine „wahre“ DiakonieDiakonie gebe, während es zur Zeit Jesu und der Entstehung der neutestamentlichen Texte einen vergleichbaren Liebesdienst im griechisch-römischen Kontext nicht und im Judentum nicht mehr gegeben habe. Nach diesem Wortverständnis ist der sich selbst hingebende Liebesdienst das Zentrum und der Maßstab christlicher Lebenspraxis, was sowohl für das Individuum als auch für die christliche Gemeinde gilt. Im Anschluss an Brandt und Beyer entwickelte sich in der protestantischen neutestamentlichen ExegeseExegese ausgehend von 1Kor 12,51Kor12,5 die Überzeugung, dass jedes AmtAmt, Ämter oder EhrenamtEhrenamt in den frühchristlichen Gemeinden nur als (Liebes-)Dienst an der christlichen GemeinschaftGemeinschaft unter Verzicht auf Autorität oder Ehre verstanden werden könne.

Neuere Forschungen zur Wortverwendung von diakonía (COLLINS 1990 und HENTSCHEL 2007) stellen dieses Begriffsverständnis in Frage. Weder kann der Tischdienst als Grundbedeutung angesehen werden, noch bezeichnet die griechische Wortgruppe schwerpunktmäßig Versorgungsleistungen als verachtete DiensteDienst von Frauen oder Sklav*innenSklav*innen. Vergleicht man die Vorkommen der Wortgruppe, die in der klassisch-griechischen und jüdisch-hellenistischenHellenismus, hellenistisch Literatur ebenso wie im Neuen Testament in auffallend vielfältigen Kontexten und Situationen benutzt wird, zeigt sich, dass sie ganz unterschiedliche Tätigkeiten bezeichnen kann, die vor allem von Männern und manchmal auch von Frauen, von Sklav*innen ebenso wie von freien Bürger*innen, von Königen (selten Königinnen) oder Gottheiten durchgeführt werden. Als Gemeinsamkeit zwischen den Belegen lässt sich feststellen, dass es sich oft um Aufgaben handelt, die im Namen eines Dritten oder auch angesichts einer besonderen Situation erledigt werden. Wenn zum Beispiel eine MahlzeitMahlzeiten besonders feierlich sein soll, verrichten gerade nicht die Sklav*innen oder anderes Dienstpersonal den Tischdienst, sondern der Gastgeber bzw. die Gastgeberin oder deren Familienmitglieder oder auch eigens für diesen Anlass beauftragte diákonoiDiakon*in (vgl. z.B. Philo, Über das kontemplative Leben 70–75; Lukian Saturnalia 17f; Lk 10,40Lk10,40; Joh 12,2Joh12,2). Wenn die Überbringung z.B. von Geldspenden, Botschaften oder auch Strafen erforderlich ist, kann man vertrauenswürdige Personen, zum Teil auch Institutionen, als diákonoi einsetzen (vgl. Apg 11,29Apg11,29; 12,25Apg12,25; 20,24Apg20,24; Röm 13,4Röm13,4; 2Kor 3,62Kor3,6; 5,182Kor5,18; vgl. Testament Abrahams Rez. A 9Testament AbrahamsRez. A 9; Philo, Über den Dekalog, 177). Je nach Auftraggeber und Inhalt der Beauftragung kann die Tätigkeit mit mehr oder weniger VerantwortungVerantwortung, Autorität und Ansehen verbunden sein. Deshalb ist diakonía geeignet, unterschiedlichste Aufgaben als Beauftragungen zu beschreiben, deren konkreter Inhalt sich erst durch die Situation oder den literarischen Kontext erschließt. Diese eher funktionale Wortverwendung lässt sich sowohl in antiken griechischen Texten als auch bei den hundert neutestamentlichen Belegen beobachten. Im Neuen Testament werden zum Beispiel die Verkündigungstätigkeit im Namen Gottes oder Christi (Röm 11,13Röm11,13; 2Kor 5,182Kor5,18; 6,32Kor6,3), alle Aufgaben in der christlichen Gemeinde (1Kor 12,61Kor12,6; Apg 12,1–6Apg12,1–6), die grundlegende, oft auch als ApostolatApostolat (Sendung) bezeichnete Mission im Namen Christi (Apg 1,25Apg1,25; 20,24Apg20,24; Röm 11,13Röm11,13; 12,7Röm12,7; 2Kor 11,13–15.232Kor11,13–15.23) sowie Botengänge z.B. zur Überbringung der Kollekte im Namen der spendenden Gemeinden (Apg 11,29Apg11,29; 12,25Apg12,25; 2Kor 8,42Kor8,4; 9,1.12f2Kor9,1.12f; vgl. 2Kor 8,19f2Kor8,19f) als diakonía bezeichnet. Die Wortgruppe findet sich weder in der Briefliteratur noch in der Apostelgeschichte im Kontext von Abendmahl oder GottesdienstGottesdienst. Abgesehen von Apg 6,1f wird die Wortgruppe nur in den Evangelien für die Aufwartung bei Tisch verwendet, wobei der lukanischen Vorliebe für Mahlszenen wirkungsgeschichtlich eine besondere Bedeutung zukommt (Mt 8,15Mt8,15  Mk 1,31Mk1,31; Lk 4,39Lk4,39; 12,37Lk12,37 (2x); Lk 17,8Lk17,8; Lk 22,27Lk22,27 (2x); evtl. auch Mt 4,11Mt4,11  Mk 1,13Mk1,13). Apg 6,1–6Apg6,1–6 zur Einsetzung der Sieben dürfte der Text sein, der die Vorstellung von Armenhelfern in den frühchristlichen Gemeinden am meisten geprägt hat, doch bezüglich der Wortverwendung bleibt nur die nüchterne Feststellung, dass die Sieben in der Apg nicht als diakonoi bezeichnet werden und dass in Apg 6,1–6Apg6,1–6 zudem von zwei Arten von diakonía gesprochen wird: einmal mit Bezug auf die Tische (Apg 6,1fApg6,1f) und einmal mit Bezug auf die Wortverkündigung (Apg 6,4Apg6,4; vgl. Apg 1,17.25Apg1,17.25; 20,24Apg20,24; 21,19Apg21,19).

Nach diesem Wortverständnis beschreibt diakonía auch im Neuen Testament unterschiedliche Tätigkeiten als DiensteDienst im Sinne einer Beauftragung, charakterisiert diese aber nicht automatisch als (Liebes-)Dienst an den Nächsten. Nur wenn Personen wie in Apg 6,1fApg6,1f explizit mit karitativen Tätigkeiten beauftragt werden, handelt es sich in dieser Situation um eine karitativ ausgerichtete Dienstleistung. Das Lehnwort „DiakonieDiakonie“, das im Sinne der praktischen NächstenliebeNächstenliebe verstanden wird, nimmt zwar ein wichtiges Anliegen der neutestamentlichen Texte auf, kann sich nach dieser Interpretation aber nicht auf das Bedeutungsspektrum und die Vorkommen des griechischen Begriffs diakonía und seinen Ableitungen im Neuen Testament berufen. Dem entspricht, dass in neutestamentlichen Texten, die von karitativem Engagement handeln, die Wortgruppe in der Regel nicht verwendet wird – nur zwei der hundert Belege beziehen sich auf karitative Tätigkeiten (vgl. Mt 25,44Mt25,44; Apg 6,1fApg6,1f), wo Menschen explizit zur Barmherzigkeit beauftragt oder zur Rechenschaft gezogen werden. Bei der – karitativ motivierten – Kollektensammlung der paulinischen Gemeinde für Jerusalem bezeichnet diakonía wohl die Überbringung der Geldspende (Röm 15,25.31Röm15,25.31; 2 Kor 8,42Kor8,4.19f.19f; 9,1.12f2Kor9,1.12f; vgl. Apg 11,29Apg11,29; 12,25Apg12,25), während das karitative Engagement der spendenden Gemeinden im Begriff „Gnade“ bzw. Gnadengabe“ (cháris 2 Kor 8,4.6f.192Kor8,4.6f.19) enthalten ist, die in der Gnade Christi ihr Vorbild findet (2 Kor 8,92Kor8,9).

Angesichts dieses differenzierten Befunds lässt sich von den vielfältig verwendeten neutestamentlichen Belegen von diakonía nicht einfach auf das eine neutestamentliche Diakonieverständnis schließen, auch wenn dies in manchen diakoniewissenschaftlichen Ansätzen zum Beispiel im Sinne einer prophetischen DiakonieDiakonie oder im Sinne einer vermittelnden, kommunikativen Diakonie kreativ und mit wichtigen Anregungen diskutiert wird.

NächstenliebeNächstenliebe im Kontext von Gottes- und SelbstliebeSelbstliebe

Im ↗︎ TanachTanach wird sowohl die Gottes- als auch die NächstenliebeNächstenliebe mit dem hebräischen Verb ’āhav ausgedrückt (210 Belege), von dessen Wurzel ’hb auch das fem. Nomen ’ǎhavāh für LiebeLiebe abgeleitet wird (37 Belege). Andere hebräische Verben für „lieben“ wie etwa „begehren“, „anhangen“ (dāvaq) „gernhaben“, „Gefallen haben an“ (ḥāpaš) oder „zugetan sein“ (ḥāsaq) spielen im Zusammenhang der Gottes- und Nächstenliebe kaum eine Rolle. Die SeptuagintaSeptuaginta übersetzt ’hb und seine verbalen Ableitungen mit dem griechischen Verb agapáō bzw. dem Nomen agápē. Diese Wortgruppe ist auch zentral für die neutestamentliche Liebesvorstellung (insgesamt 320 Belege). Die griechischen Begriffe mit den Bedeutungsaspekten „freundschaftlich lieben“ (philéō, philía; 26 Belege) oder „Bruderliebe“ (philadelphía, philadelphós; 7 Belege) finden sich schwerpunktmäßig in johanneischen und paulinischen Texten. Das Verb „lieben, begehren“ mit seinen Ableitungen (eráō, erōs) kommt im Neuen Testament nicht vor.

In der Umwelt Israels gibt es die Vorstellung von Liebesverhältnissen zwischen Gott und König bzw. König und Volk, wobei die LiebeLiebe sowohl in juristischen als auch in emotionalen Kategorien beschrieben wird. Die Liebe des übergeordneten Partners äußert sich als Gunst, Schutz und FürsorgeFürsorge, der untergeordnete Partner ist verpflichtet zu Treue, Gehorsam und Dankbarkeit. Im Alten Testament gilt die Liebe Gottes üblicherweise jedoch nicht dem König, sondern unmittelbar dem Volk Israel, das entsprechend allein seinem Gott, nicht jedoch anderen Herrschern oder Gottheiten zu Gehorsam, Treue und Verehrung verpflichtet ist. Grundlegend ist die Vorstellung der Liebe Gottes zu seinem Volk: Gott hat Israel erwählt und aus Ägypten gerettet (Dtn 7,7fDtn7,7f; 10.15Dtn10.15; Hos 11,1–4Hos11,1–4). Die Liebe Gottes gilt auch den FremdenFremde (Dtn 10,19Dtn10,19; Ps 146Ps146,9Ps146,9). Dies wird ausgeweitet zur Vorstellung, dass die Liebe Gottes allen Menschen bzw. der ganzen SchöpfungSchöpfung, Geschöpf gilt (Jes 2,2–4Jes2,2–4; Mi 4,1–5Mi4,1–5; Weish 11,23–26Weish11,23–26; Ps 145,9Ps145,9). Das Volk Israel wird aufgefordert, Gott zu lieben, was sich als (Ehr-)Furcht (hebr. Wurzel jr’, nominal jir’āh), DienstDienst bzw. Verehrung (‘bd, nominal: ‘ǎvodāh) und Befolgung seiner Gebote konkretisiert (Dtn 6,4–9Dtn6,4–9; 10,12fDtn10,12f). Zu diesen Geboten gehört zentral das Nächstenliebegebot (Lev 19,18Lev19,18), das auch Fremde einschließt, die als ausländischer Mitbürger*innen im Land Israel wohnen und wie jene vom eigenen Volk gelten sollen (Lev 19,33fLev19,33f → 4.3 AsylAsyl, AusländerAusländer und Fremde). „Nächste“ sind zu verstehen als Nahestehende oder Mitmenschen, zu denen im Rahmen der engen sozialen Beziehungen der Antike ein Bezug besteht. Wichtig ist, dass in Lev 19Lev19 der oder die Nächste gerade auch in einer konflikthaften oder sogar feindlichen Beziehung zu den Angesprochenen vorgestellt werden, denn es wird gefordert, auf Zurechtweisung, Hass oder Rache zu verzichten (Lev 19,17fLev19,17f; vgl. auch Ex 23,4fEx23,4f; Spr 20,22Spr20,22; 24,17.29Spr24,17.29). In das Gebot der NächstenliebeNächstenliebe ist folglich die Feindesliebe eingeschlossen. Die Liebe- und Fürsorgepflicht gilt – nach dem Vorbild der Liebe Gottes – vor allem den bedürftigen Mitmenschen (personae miserae), zu denen auch Fremde gezählt werden (Dtn 10,17–19Dtn10,17–19; Lev 19Lev19). Das Gebot der Nächstenliebe ist eine Grundnorm für ein gutes Leben im Sinne Gottes, welche die soziale VerantwortungVerantwortung nach dem Vorbild Gottes betont. In der Liebe zu den Mitmenschen realisiert sich die Liebe zu Gott (vgl. Hos 6,6Hos6,6; Spr 14,31Spr14,31). Daran knüpfen die neutestamentlichen Liebesvorstellungen an.

Die Gebote der LiebeLiebe Gottes (Dtn 6,5Dtn6,5) und der Nächsten (Lev 19,18Lev19,18) werden nach der Darstellung der synoptischenSynoptiker, synoptisch Evangelien von Jesus verbunden (Mk 22,35–40Mk22,35–40; Mk 12,28–32Mk12,28–32; Lk 10,25–27Lk10,25–27) und gelten für ihn als Zusammenfassung der ↗︎ ToraTora bzw. des göttlichen Willens. Auch Paulus versteht das Nächstenliebegebot als Erfüllung der ganzen Tora und Grundnorm aller Gebote Gottes (Röm 13,9Röm13,9; Gal 5,14Gal5,14). In Jak 2,8 gilt das Nächstenliebegebot als das „königliche Gesetz“. Vor allem in der johanneischen Tradition wird die Bruderliebe – heute würden wir von „Geschwisterliebe“ sprechen – nach dem Vorbild der Liebe Jesu betont, die sich in gegenseitiger Liebe innerhalb der Nachfolgegemeinschaft zeigt (Joh 13,34Joh13,34; 1 Joh 2,3–111Joh2,3–11; 3,16–241Joh3,16–24; 4,20f1Joh4,20f; 2 Joh 52Joh5). Mt 7,12Mt7,12 und Lk 6,31Lk6,31 erläutern die NächstenliebeNächstenliebe mit Hilfe der Goldenen Regel. Mt 5,43–48Mt5,43–48 und Lk 6,27–36Lk6,27–36 fordern explizit die Feindesliebe, die mit der umfassenden Liebe Gottes zu allen seinen Geschöpfen begründet wird (Mt 5,45Mt5,45; Lk 6,36Lk6,36). Die Liebe Gottes, die der Liebesforderung vorausgeht, zeigt sich in der Sendung Jesu, in seinem Leben und SterbenSterben für die Menschen (Joh 3,16Joh3,16; 13,1Joh13,1; 15,13Joh15,13).

Die LiebeLiebe Gottes zu den Menschen und die Forderung von Gottes- und NächstenliebeNächstenliebe gehören zusammen. Jesu Liebe zu den Menschen, in der sich die Liebe Gottes zeigt, wird zum Maßstab für die von den Menschen geforderte Liebe (Mt 5,17–20Mt5,17–20; 22,36–39Mt22,36–39; Joh 13,34Joh13,34; Kol 3,13Kol3,13 → 2.4 Ansätze biblischer Ethik). Die Liebe der Menschen zu Gott konkretisiert sich in der Liebe zum Mitmenschen (Mt 22,37–39Mt22,37–391Joh4,20f1Joh3,171Joh4,8Jak2,15–17