Eine Schule ohne Noten

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Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

  1. John Hattie (2009): Visible learning. London, New York: Routledge, S. 135.

  2. Vgl. dazu ausführlicher Felix Winter (2020): Leistungsbewertung. Eine neue Lernkultur braucht einen anderen Umgang mit Schülerleistungen. 5. Auflage. Hohengehren: Schneider Verlag, S. 34ff.

  3. https://www.zsz.ch/panorama/leben/der-ewige-stress-mit-den-noten/story/15313020

  4. Dietrich Benner und Jörg Ramseger (1985): Zwischen Ziffernzensur und pädagogischem Erfahrungsbericht: Zeugnisse ohne Noten in der Grundschule. Zeitschrift für Pädagogik 31, S. 151–174.

  5. Vgl. zu diesem Abschnitt Susan Debra Blum (2020): Ungrading. Why Rating Students Undermindes Learning (And What To Do Instead). Morgantown: West Virginia University Press, S. 4 f.

  6. Schulgesetz Berlin § 58 (4).

  7. Nina Schnatz unterrichtet an der Obersee Bilingual School.

  8. John Biggs (1996): Enhancing teaching through constructive alignment. Higher Education,32(3),
    S. 347 – 364.

  9. https://twitter.com/EthicsInBricks/status/1394576657747529730

  10. https://twitter.com/BentFreiwald/status/1391795698467807237?s=20

  11. Anton Strittmatter (2001): «Alles Motivieren ist Demotivieren.» Traktat über Anreizsysteme in Schulen. In: Journal für Schulentwicklung, 5/2001 (4), S. 16.

  12. Karlheinz Ingenkamp (Hg.) (1971): Die Fragwürdigkeit der Zensurgebung. 3. Auflage. Weinheim: Beltz. Hier S. 59–68.

  13. Felix Winter (2018): Lerndialog statt Noten. Neue Formen der Leistungsbeurteilung. Weinheim: Beltz, 2. Auflage.

  14. Wolfgang Klafki (1974): Sinn und Unsinn des Leistungsprinzips in der Erziehung. In: ders.: Neue Studien zu Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim: Beltz, S. 209–247, hier S. 232.

  15. Brandenburger Schulgesetz § 57 (2).

  16. Hans Brügelmann (2014), S. 30.

  17. Edward L. Thorndike und Arthur Gates (1930): Elementary Principles of Education. New York: MacMillan.

  18. Gustav Lienert und Ulrich Raatz (1998): Testaufbau und Testanalyse. Weinheim: Beltz.

  19. Stefan Kuß (2003): In diesen Tagen gibt es Zeugnisse: Zur Geschichte der Noten. In: FAZ. 06.07.2003.

  20. Nina Verheyen (2018), S. 13.

  21. Vgl. Steffen Mau (2017).

  22. Jerry Muller (2018), S. 16.

  23. Vgl. Jerry Muller (2018), S. 100: «many teachers perceive the regimen created by the culture of testing and measured accountability as robbing them of their autonomy, and of the ability to use their discretion and creativity in designing and implementing the curriculum of their students.» «viele Lehrer empfinden das Regime, das durch die Kultur des Testens und der gemessenen Rechenschaftspflicht geschaffen wurde, als Raub ihrer Autonomie und der Fähigkeit, ihren Ermessensspielraum und ihre Kreativität bei der Gestaltung und Umsetzung des Lehrplans ihrer Schüler zu nutzen.» (Übersetzt von den Autoren).

  24. Jerry Muller (2018), S. 101. «Nicht alles, was gemessen werden kann, kann auch verbessert werden – zumindest nicht durch Messung.» (Übersetzt von den Autoren).

  25. Vgl. Jerry Muller (2018), S. 96.

  26. Vgl. für eine Zusammenfassung wichtiger Forschungsergebnisse dazu https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2008/mythos-leistung/das-lohn-dilemma

  27. Vgl. Sylvia Beutel und Hans Pant (2020), S. 78.

  28. Vgl. Sylvia Beutel und Hans Pant (2020), S. 80.

  29. Vgl. Hans Brügelmann (2014), S. 35.

  30. Vgl. Helmut Klein (2009), S. 59.

  31. Susan Debra Blum (2020), S. 7, kritisiert die gängige Orientierung an der Normalverteilung, sie sei durch empirische Forschung nicht gedeckt: «that this applies to human learning is a claim and an assertion, not a finding.»

  32. Vgl. dazu diesen Tweet einer Lehrerin aus dem Juli 2021: Ich hasse es, ernsthaft. ‹Der Klassenschnitt muss ca. eine 4.5 sein, das war schon immer so.› – ‹Ja, aber …› – ‹Mach deine Prüfungen einfach schwieriger.›; https://twitter.com/fraujoller/status/1412357936169558020?s=20

  33. Vgl. zuletzt zusammenfassend Sylvia Beutel und Hans Pant (2020), S. 33–45.

  34. Vgl. für diese Unterscheidung Daniel Kahnemann, Oliver Sibony und Cass Sunstein (2021): Noise. A Flaw in Human Judgement. London: William Collins.

  35. Ebd., S. 287.

  36. Vgl. dazu Douglas Ready und David Wright (2011): Accuracy and inaccuracy in teachers’ perceptions of young children’s cognitive abilities: The role of child background and classroom context. American Journal of Education Research (48), S. 335–360.

  37. Vgl. Sylvia Beutel und Peter Pant (2020), S. 36.

  38. Sylvia Beutel und Peter Pant (2020), S. 42.

  39. Vereinfachte Darstellung aus https://www.schul-in.ch/myUploadData/intranet_redaktion/Tagung-Heterogenitaet_2012/Unterlagen/2_Praesentation_Prof_Dr_Franz_Baeriswyl.pdf

  40. Hans Brügelmann (2014), S. 59.

  41. Hans Brügelmann (2014), S. 60.

  42. Nina Verheyen (2018), S. 204.

  43. Helmut Klein (2009), S. 65.

  44. https://www.zsz.ch/panorama/leben/der-ewige-stress-mit-den-noten/story/15313020

  45. Vgl. Daniel Jeseneg (2021), S. 84.

  46. Vgl. grundlegend Paul Black u.a. (2003).

  47. Eine Lerngruppe, die über zwei Jahre mit diesem Instrument des Formative Assessment gelernt hat, konnte beispielsweise den Klausuren-Notenschnitt in diesem Zeitraum um gut 4 Notenpunkte in den abschließenden Abiturklausuren anheben.

  48. Im Interview äußern ehemalige Schülerinnen und Schüler, die jahrelang mit «Master or Die» gelernt haben, dass es sehr wichtig sei, dass die Hinweise die Schülerinnen und Schüler zur weiteren Arbeit anstoßen. Keinesfalls dürfe es so sein, dass die Lehrkraft die «Lösung» vorgibt oder Teile der Arbeit sozusagen für die Schülerinnen und Schüler schreibt.

  49. Vgl. Björn Nölte 2021b.

  50. Vgl. Kerstin Rabenstein (2021), S. 33.

  51. Interview mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern zur Methode «Master or Die», Transkript einer Videoaufzeichnung, Mai 2021.

  52. Dylan Wiliam (2016), S. 10; «Finally, talk to your students. Ask them, ›How are you using the feedback I’m giving to help you learn better?‹ If they can give you a good answer to that question, then your feedback is probably effective. And if they can’t, ask them what they would find useful. After all, they’re the clients.» (Ebd., S. 17).

  53. Interview mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern zur Methode «Master or Die», Transkript einer Videoaufzeichnung, Mai 2021, hier Pauline.

  54. Interview mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern zur Methode «Master or Die», Transkript einer Videoaufzeichnung, Mai 2021, hier Leon.

  55. Vgl. Felix Winter (2018), S. 124ff.

  56. Felix Winter (2018), S. 129.

  57. Vgl. Felix Winter (2021b), S. 32: «Sobald eine Person mit der Bearbeitung einer Aufgabe fertig ist, legt sie ein leeres Blatt neben ihre Arbeit und steht auf. An den freien Platz setzt sich dann jemand anderes, liest die Arbeit und schreibt auf das Blatt eine kurze Rückmeldung. Danach schaut sie, wo ein anderer Platz frei ist. Die Lehrperson lässt das so lange laufen, bis möglichst alle einige Rückmeldungen auf ihrem Blatt haben.»

  58. Z.B. Brandenburger Schulgesetz § 57 (2): «Die Leistungen bei der Mitarbeit im Unterricht sind für die Beurteilung ebenso zu berücksichtigen wie die übrigen Leistungen.»

  59. Kerstin Rabenstein (2021), S. 34.

  60. Vgl. Margrit Liedtke-Schöbel, Liane Paradies und Frank Wester, S. 94.

  61. Ebd., S. 106.

  62. Christian Albrecht (2021), S. 134.

  63. Vgl. https://noelte030.medium.com/leistungsbewertung-zu-hause-a19ab199de9f (Juli 2020) oder mehrere Beispiele auf www.pruefungskultur.de

  64. Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf ein bereits publiziertes Beispiel, vgl.: https://noelte030.medium.com/portfolios-im-referendariat-553eaf22bf8e

  65. https://www.youtube.com/watch?v=9–2EFVgHXVo

  66. Andreas Schleicher (2010): The Case for 21st-century learning. Vortrag, Manuskript online: https://www.oecd.org/general/thecasefor21st-centurylearning.htm

  67. Felix Stalder (2019). Den Schritt zurück gibt es nicht. Interview mit Irena Sgier. In: Haberzeth, E. und Sgier, I. (Hg.): Digitalisierung und Lernen. Gestaltungsperspektiven für das professionelle Handeln in der Erwachsenen- und Weiterbildung, S. 44–50. Bern: HEP, hier S. 46.

  68. https://www.youtube.com/watch?v=fe-SZ_FPZew, übersetzt von Ph.W.

  69. Niklas Luhmann (2002): Sozialisation und Erziehung. In: Ulrich Bauer et al. (Hg.): Systemtheoretische Bildungssoziologie: Gesellschaftstheoretische Beiträge und das offene Programm einer allgemeinen Sozialtheorie. Wiesbaden: Springer VS, S. 283–301, hier S. 294ff.

  70. Vgl. Daniel Kahneman, Oliver Sibony und Cass Sunstein (2021): Noise. A Flaw in Human Judgement. London: William Collins.

  71. Felix Winter (2018): Lerndialog statt Noten. 2. Auflage. Weinheim: Beltz, S. 76.

  72. Ebd., S. 77f.

  73. Vgl. Susan Debra Blum (2020): Ungrading. Why Rating Students Undermindes Learning (And What To Do Instead). Morgantown: West Virginia University Press, S. 6f.

  74. Felix Winter (2018): Lerndialog statt Noten. 2. Auflage. Weinheim: Beltz, S. 82.

  75. Vgl. z.B. https://www.zhdk.ch/studium/design/bachelordesign/anmeldung-bde

  76. https://twitter.com/fraujoller/status/1374004379292950533?s=20

  77. Wolfgang Klafki (1974): Sinn und Unsinn des Leistungsprinzips in der Erziehung. In: ders.: Neue Studien zu Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim: Beltz, S. 209–247.

  78. Urs Ruf und Peter Gallin (1999): Dialogisches Lernen in Sprache und Mathematik. Band I. Seelze: Klett/Kallmeyer, S. 60.

  79. Daniel Jeseneg (2021), S. 85.

  80. Vgl. zu den Begriffen Philippe Wampfler (2021): Digitale und argumentative Positionalität. In: Pädagogische Rundschau 75/21, S. 339–350. https://doi.org/10.3726/PR032021.0030

  81. Vgl. Eiko Jürgens und Udo Lissmann (2015), S. 83–87.

  82. Vgl. Felix Winter (2014), S. 338–354 und ders. (2018), S. 189–198.

  83. Vgl. Elisabeth Green (2014), S. 118f.

  84. Vgl. Harry Fletcher-Wood (2018).

  85. Einige dieser Mythen wurden im Frühling 2021 auf Twitter diskutiert, vgl. für einen Einstieg in die Diskussion https://twitter.com/phwampfler/status/1388078676533780483

  86. Bent Freiwald (2021): Wieso dein Gehirn sich freut, wenn du etwas falsch machst. Krautreporter, 12. Mai 2021. https://krautreporter.de/3873-wieso-dein-gehirn-sich-freut-wenn-du-etwas-falsch-machst

  87. Vgl. dazu Ulrich Trautwein und Franz Baeriswyl (2007): Wenn leistungsstarke Klassenkameraden ein Nachteil sind. Referenzgruppeneffekte bei Übertrittsentscheidungen. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 21 (2), S. 119–133.

  88. Ulrich Trautwein und Franz Baeriswyl (2009): Wie gut prognostizieren subjektive Lehrerempfehlungen und schulische Testleistungen beim Übertritt die Mathematik und Deutschleistung in der Sekundarstufe I? In: Baumert, Jürgen, Maaz, Kai und Trautwein, Ulrich (Hg.): Bildungsentscheidungen. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften, S. 352–372.

  89. Alfie Kohn (2020): Foreword. In: Susan Debra Blum (2020): Ungrading. Why Rating Students Undermindes Learning (And What To Do Instead). Morgantown: West Virginia University Press, S. xii–xx.

  90. Philippe Villiger (2021), S. 87.

  91. Vgl. Harry Fletcher-Wood (2018), S. 4: «We should plan what students are to learn based on what success looks like in our subject, not the exam mark scheme.»

  92. Alfie Kohn (1995): Punished by Rewards: The Trouble with Gold Stars, Incentive Plans, A’s, Praise, and Other Bribes. New York: Anchor Books, S. 552.

  93. Laura Gibbs (2020), Position 44 Prozent der Kindle-Ausgabe; übersetzt von den Autoren.

John Maynard Keynes: Allgemeine Theorie der Beschäftigung,des Zinses und des Geldes (1936)

Einleitung: Lernen muss nicht bewertet werden

Erinnern Sie sich daran, wie Sie lesen gelernt haben? Oder jonglieren? Programmieren, kochen, joggen oder fischen? Wenn ja, dann sind damit sicher auch Erinnerungen an Fehlschläge, Erfolgserlebnisse und Freude über das eigene Können verbunden. Aber wohl kaum Bewertungen. Wirksame Lernprozesse haben viel mit Entwicklungen, Förderung, Fehlerkultur und Kompetenzerleben zu tun – und praktisch nichts mit Bewertungen. Fällt der fünfte Ball beim Jonglieren immer und immer wieder auf den Boden, dann wissen wir, dass wir unser Ziel noch nicht erreicht haben. So ist es mit allem nachhaltigen Lernen: Wer wirklich lernt, holt sich in den richtigen Momenten Rückmeldungen ein, denkt über das eigene Lernen nach – aber weiß letztlich selbst, ob und wann die gesetzten Ziele erreicht sind.

Wenn das jemand von außen feststellt, führt das zum Abbruch des Lernens. Eine Note markiere das Ende des Lernens, stellt der Bildungsforscher John Hattie in seiner großen Studie über wirksamen Unterricht fest.[1] Noten oder auch verbale Beurteilungen würden von Schülerinnen und Schülern schnell durchschaut: Sie helfen ihnen nicht, ihr Lernen voranzubringen. Die wichtigen Prozesse, die Lernende voranbringen, erfolgen alle, bevor eine Arbeit abgegeben, eine Prüfung geschrieben oder ein Lernprodukt bewertet wird.

Lernen ist nicht auf Bewertungen angewiesen. Wenn also Unterricht gute Umgebungen für Lernprozesse schaffen soll, dann muss er sich auf das beschränken, was vor Abgabe und Klausur liegt; auf all das, was Lernenden hilft, ohne dass sie bewertet werden. Auf den Punkt gebracht: Unterricht wird ohne Prüfungen und Noten besser.

Diese Vorstellung ist aber vielen Lehrerinnen und Lehrern fremd. Sie befürchten, dass Lernen an Verbindlichkeit verliert, wenn keine Prüfungen mehr nötig oder möglich sind. Ihr Argument: Auch wenn die entscheidenden Aktivitäten vor einer Leistungsüberprüfung stattfinden, so sind Kinder und Jugendliche nur deshalb motiviert, diesen Aktivitäten nachzugehen, weil es eine Leistungsüberprüfung gibt. Lehrkräfte, die so denken, stützen sich oft auf ihre Erfahrungen in Fächern, Kursen oder Phasen ohne Prüfungen. Sie beobachten, dass Schülerinnen und Schüler da Aufgaben aus dem Weg gehen und nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit an ihren Lernprozessen arbeiten.

Diese Erfahrungen werden aber alle in einer Prüfungskultur gesammelt, welche Unterricht an Prüfungen und Noten ausrichtet. Haben Schülerinnen und Schüler verinnerlicht, dass Noten Lernprozesse beurteilen, dann werden sie beim Wegfall von Beurteilungen sofort den Eindruck erhalten, der Unterricht habe wenig Bedeutung, wenn keine Noten gemacht werden. Die Motivation von Lernenden, ohne Noten aktiv zu sein, kann nur beurteilt werden, wenn konsequent auf Noten verzichtet wird. Entscheidend ist, dass man nicht einfach Noten entfernt und das alte System beibehält. Diese Veränderung muss sich auch auf die Lernkultur erstrecken. An die Stelle des Noten-Bewertungssystems muss eine Form von Verbindlichkeit und Feedback treten, die von allen Beteiligten (Lernenden, Lehrenden, Eltern, weiterführende Bildungsinstitutionen und Betrieben) ernst genommen wird. Das erste Kapitel, «Wo es Unterricht ohne Noten gibt», zeigt anhand konkreter Beispiele, dass in diesem Fall die hier skizzierten Befürchtungen nicht begründet sind.

Gleichwohl muss Lernen in einen verbindlichen Dialog eingebunden werden. Auch wenn Prüfungen und Notengebung Lernprozesse abrupt beenden, so stellen sie doch eine Art Antwort auf das dar, was Schülerinnen und Schüler machen. Allerdings eine falsche Antwort – die richtige führt zu einem Lerngespräch. Sie beschreibt, fragt nach, denkt weiter, fordert heraus. All das tun Prüfungen nicht: Sie brechen ein Gespräch ab, statt es in Gang zu bringen. Eine sinnvolle Antwort ist Feedback, eine Rückmeldung. Sie zeigt Schülerinnen und Schülern, dass ihr Lernen wichtig ist, dass andere Menschen sich dafür interessieren, dass Probleme besser gelöst werden können, wenn mehrere Menschen gemeinsam darüber sprechen. Gespräche über Lernen sind motivierend und führen zu einer Verbesserung und Entwicklung des Lernens, weil sie auch zu einer Reflexion dessen führen, was überhaupt gemacht wird. Nehmen wir das Beispiel des Lesens vom Anfang: Kinder, die lesen lernen, lesen anderen Kindern und Erwachsenen vor, die darauf reagieren, ihnen zuhören, ihnen Tipps geben. Sie erleben sich als kompetent, erhalten Reaktionen, die mit ihren Fähigkeiten und ihren Aktivitäten zu tun haben.

Prüfungssituationen brechen mit etablierten Vorstellungen von Lernkultur. Unterstützen und begleiten die Lehrenden Lernende im Alltag, so treten sie bei Prüfungen in die Rolle einer kontrollierenden und bewertenden Instanz. Der dabei auftretende Rollenkonflikt ist erheblich.[2] Schülerinnen und Schüler erleben eine Person, die ihnen beim Lernen hilft, wohlwollend mit Schwächen umgeht und eine motivierende, verbindliche Bezugsperson ist, plötzlich von einer anderen Seite: Sie streicht Fehler an, bewertet Leistungen auch dann, wenn sie aus nachvollziehbaren Gründen nicht so gut ausfallen, und vergleicht Lernende untereinander, die sich möglicherweise gar nicht miteinander messen sollten, weil sie einen ganz anderen Lernstand aufweisen.

Noten führen zu Frustration. Das hat mehrere Gründe: Zunächst orientieren sie sich an teilweise willkürlichen, immer einseitigen Kriterien, die nicht alle Aspekte eines Lernprozesses abbilden. Stellen wir uns eine Schülerin vor, die sich intensiv auf eine Mathearbeit vorbereitet und dabei beträchtliche Fortschritte macht. Sie freut sich, dass sie Aufgaben lösen kann, die sie vorher nicht verstanden hat. Bei der Prüfung kommt aber nur eine dieser Aufgaben, bei der Lösung macht sie einen Flüchtigkeitsfehler. Viele andere Aufgaben entstammen Bereichen, in denen sie sich nicht verbessert hat; ihre Note ist entsprechend schlecht. Die Frustration lässt sich einfach erklären: Die Note kann die reale Verbesserung der Schülerin nicht abbilden.

Ein zweiter Grund für die Frustration liegt beim Vergleichscharakter von Noten: Wenn jemand Surfen lernt, dann tut das diese Person nicht, um sich mit anderen zu messen. Es geht selten darum, überdurchschnittlich gut zu sein, wenn Können entwickelt wird, sondern es geht um dieses Können. Noten führen aber sofort zu einem Vergleich mit anderen. Psychologisch passiert dann etwas gleichermaßen Einfaches wie Verheerendes: Menschen sind bei Vergleichen nur dann zufrieden, wenn sie etwas besser sind als die direkten Nachbarinnen und Nachbarn. Ihr eigener Leistungsstand ist dabei nicht mal mehr entscheidend. Aufs Surfen bezogen: Werden hier Noten gesetzt, interessieren sich Lernende nicht mehr für Surfgefühle oder -technik, sondern nur für die Note. Sie sind dann zufrieden, wenn ihre Note ihnen sagt, sie könnten etwas besser surfen als die Vergleichsgruppe. Aus statistischen Gründen können aber nur wenige besser sein als alle anderen – was dazu führt, dass viele frustriert sind.

Eine dritte Frustrationsquelle ist die Auswirkung, die Bewertungsprozesse auf pädagogische Beziehungen haben. Lehrerinnen und Lehrer sollten Kinder beim Lernen unterstützen, ihnen durch Unterricht und Feedback helfen, Können zu entwickeln. Notengebung liegt quer zu dieser Aufgabe: Plötzlich müssen die Unterstützungspersonen verletzen, selektionieren, Fehler und Defizite markieren. So entsteht eine widersprüchliche Beziehung, welche die Schulerfahrung vieler Kinder belastet. Ihr Vertrauen in eine Lehrperson und ihre Freude am Lernen treffen auf eine oft verletzende Bewertung. Wie problematisch das ist, zeigt ein einfaches Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, ihre besten Freundinnen und Freunde würden sie immer wieder für ihre Freundschaftsleistungen bewerten.

Das Bewusstsein für die fehlerhafte Steuerung, die von Noten ausgeht, steigt: Besonders bei jungen Kindern und bei erfolgreichen Studierenden intensivieren sich Tendenzen im Bildungssystem, von Noten wegzukommen. Sie scheinen weder ein gutes Instrument zu sein, um Lust auf Lernprozesse zu machen, noch eigenen sie sich für die Qualifikation von beruflich erfolgreichen Menschen. Lediglich in der Mitte, dort wo Schülerinnen und Schüler an Schule gewöhnt sind, aber noch nicht in direkten Kontakt mit der Arbeitswelt getreten sind, dort halten sich Noten.

Auch das vorliegende Buch ist nur ein kleiner Schritt – viele andere wurden vorher unternommen, viele weitere werden folgen. Die hier nachgezeichneten Überlegungen verdanken sich der Inspiration vieler Mit- und Vordenkenden, den mutigen Experimenten von Pionierinnen und Pionieren, differenzierten Forschungsergebnissen aus der Wissenschaft und dem beharrlichen Einsatz zahlloser Lehrenden in der Praxis.

Besonderen Dank möchten wir folgenden Menschen aussprechen:

Institut für zeitgemäße Prüfungskultur

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