Das Proust-ABC

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Über dieses Buch

Von ›Abraham‹ und ›Autobiographie‹ über ›Erinnerung‹ und ›Madeleine‹ bis zu ›Zeit, verlorene‹ und ›Zimmer‹: Das Proust-ABC ist ein pointierter alphabetischer Wegweiser durch Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Es lässt Zusammenhänge erkennen, die sonst im Dunkeln blieben, und ist ein »Lustgenerator für die Wissensbegierde«, wie es Alexander Kluge in seinem Vorwort nennt.

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Ein wesentlicher Teil der Moderne entstand und entsteht immer erneut aus der Ernsthaftigkeit von Verhältnissen und der Not. Dabei gibt es auch die Imitatio, die Verschiebung der Notzeit über die Generationen hinweg. Der Vater Marcel Prousts war ein Arzt. Er war verantwortlich für Frankreichs Abwehr der vierten und der fünften Attacke der Cholera. Eine seiner Antworten war die Quarantäne. Diese Abschottung wiederholt sich dann in den Räumen, in denen der Poet Marcel Proust, sein Sohn, lebte und arbeitete. Kork-Täfelung, schwere, schalldichte Vorhänge, Verdunkelung gegen die Werbewelt, Hysterie, die Elektrizität und Unruhe der Gegenwart: Davor schützt das abgeschottete Zimmer den Dichter. In dieser Trennung von der Aktualität gedeiht seine Einbildungskraft.

Die Quarantäne, die wir derzeit erleben, ist nicht freiwillig gewählt. Neben der Spiegelung des Ernstes der Lage ist eine solche Quarantäne aber auch heute ein »literarisch wirksames Instrument«. Die Abschottung begünstigt die Konzentration. Sie potenziert das Organ des Poetischen: die Introspektion. Es geht um die Neuordnung der Eindrücke, das Entstehen neuer Übersichtlichkeiten in den Labyrinthen der Erfahrung. Das ist das Thema von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Für den Dichter ist die Abschottung ein Instrument der Wahrnehmung. Wie eine der Optiken im aufkommenden Zeitalter des Stereoskops, der Fotografie und des Films.

Dem Gehäuse, in dem der Hieronymus Proust dichtet, und auch der Abgeschlossenheit, zu der wir derzeit gezwungen sind, entspricht, wie gesagt, der Cordon Sanitaire, den der Vater Marcel Prousts als Arzt entwarf. Er identifizierte Ägypten als Einfallstor der Erreger der Cholera. Er half, einen Ring der Abwehr zu errichten, reichend über Persien und Südrussland. Die Krankheit tötete die Hälfte der Befallenen.

Der verborgene Ort, die Höhle, die Bibliothek der inneren,

Das Kind Marcel Proust, das kurze Zeit nach der Niederschlagung des Aufstands der Commune von 1871 in Paris geboren wird, ist kein Kind der Revolution. Proust ist konservativ strukturiert. Literarisch bleibt er aufsässig und rebellisch. Nach wie vor gilt meine Aufmerksamkeit dem Raum, in dem er schreibt, seinem Beobachtungsinstrument. Wie Proust arbeitet auch Johannes Kepler. Der Astronom war kurzsichtig. Allein durch das Fernrohr kann er seine Einsichten nicht gewonnen haben. Um die Ellipsenbahnen der Planeten zu bestimmen, kann er nicht auf seine beschädigten Augen vertraut haben, sondern er stützte sich auf seine Kenntnis der platonischen Körper und auf aristotelische und physikalische Bewegungsgesetze. Ähnlich Marcel Proust: Er erahnt, erspäht, kontextualisiert, füllt in Worte, setzt in Zusammenhang, was ihm die lebendige Erfahrung gebot. Er verwandelt die ihm anvertraute Erfahrungswelt (wie Ovid) in dauerhafte Texte.

Die Abwehr gegen die Attacken der Cholera erforderte schwere Schlachten. Den preußischen Behörden war diese Abwehr des tückischen Erregers in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts misslungen. Überall hatten die Behörden die Landesgrenze gesperrt. Die Flüsse und die Kanäle und die dortige Schifffahrt hatten sie übersehen. So drang der Erreger nach Berlin. Ein Strunk kalter Trauben, die der Philosoph Hegel eigentlich gar nicht begierig war zu essen, von denen er aber naschte, brachte den großen Philosophen um. Nur die fromme Lüge der

Das PROUST-ABC von Ulrike Sprenger hat mich schon in der früheren Auflage entzückt. Bei der Einteilung der Genres der Literatur in Epik, Dramatik und Lyrik fehlt immer eine vierte Rubrik. Ist es die Kritik? Ist es etwas Unbekanntes, eine Neuerung? Was ist es? Ich bin überzeugt, dass das vierte Genre der Literatur mit Kommentierung zu tun hat. Kommentar, Sammlung, gründliche Untersuchung (wie sie die Brüder Grimm betrieben – »Das Poetische heißt sammeln«): Das ist das, was zu den drei Grundkategorien hinzutritt. Zu dieser Formenwelt gehört das Alphabet. Es dient nicht bloß der Aufzählung der Buchstaben. Es enthält einen Such-Algorithmus für das Sammeln, eine Chance der Gliederung und der Verkürzung. In den TV-Gesprächen, die ich mit Ulrike Sprenger, dieser eigensinnigen Ausgräberin poetischer Besonderheiten, führte, habe ich den vierten Begriff der Literatur immer wieder studieren können.

Das PROUST-ABC beginnt mit »A« wie Abraham, dann Académie française, Agostinelli, Aimé (das sind Liebhaber von Proust, in seinen Texten ins Weibliche transfiguriert), Akazienallee, Céleste Albaret (die letzte Haushälterin Prousts), Albertine (die erste und letzte Geliebte), Alkohol, Allegorie, Allergie, Alter, …, Angst, Apfelbäume, Aquarium, Arzt … Das ist nur ein Ausschnitt für den Buchstaben »A«. Ihm entspricht im Talmud und in der antiken Tradition Griechenlands das Alpha und somit auch die »dunkle Seite des Alpha«. Das ist der »verlorene

Bei »Z« finden wir in diesem PROUST-ABC nur zwei Eintragungen: »Zimmer« (siehe oben die Stichworte Quarantäne, Wahrnehmungsinstrument der Erfahrung, Cousin des Stereoskops, Dunkelkammer, Korkzimmer) und »Zeit, verlorene«. Das gehört schon zum Titel von Marcel Prousts Hauptwerk. Mit dem Raster des ABC lassen sich weite Ebenen und ganz knappe Grate und Gipfel einer literarischen Landschaft kartographieren. Das Buch, schlage ich vor, sollte der Leser wie eine Landkarte 1:300.000 lesen, der Karte in dem Maßstab, in die sich im ernsthaften Krieg die Generalstäbler und Leiter des Geschehens vertiefen.

Marcel Proust zeigt mir (neben so viel anderem), welche Autorität die Literatur besitzt. Ich illustriere das an einem Detail. Die Tochter des Komponisten Jacques Fromental Halévy hieß Geneviève Halévy. Proust war mit ihr vertraut. Geneviève Halévy wurde später die Frau von Georges Bizet. Nach dessen Tod heiratete sie einen reichen Mann aus dem Hause Rothschild. Das Ehepaar errichtete einen Palast im Zentrum von Paris, im Stil des Fin-de-Siècle. Diese Frau voller Gegenwart wurde bei Proust zur Herzogin von Guermantes und Hauptperson des zweiten Bandes seiner SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT. Es handelt sich um eine Jüdin. Sie ist neureich. Sie ist durch ihre Gegenwart charakterisiert. Bei Proust wird sie zum Juwel des französischen Uradels. Zu einem Diamanten der Vergangenheit, zurückreichend zu den Adelsfamilien, die das Königreich Jerusalem begründeten und später Zypern regierten. Damit schließt sich der Kreis zu der bezaubernden Oper des Vaters der Geneviève, Jacques Fromental Halévy, Die Königin von Zypern. Sie ist zugleich eine »Tochter der Republik Venedig«, eine Gründerin eines Intelligenzkreises der Renaissance. Nur poetische Autorität und textuelle Energie vermag in dieser Weise Namen

Alles das geschieht bei Marcel Proust, wie schon gesagt, in Klausur. Wie ein Hieronymus im Gehäuse sitzt Marcel Proust in seiner kreativen Höhle. Wir Menschen sind Prärietiere, aber auch Höhlentiere. Nur in Verschlossenheit lassen sich Geist, Peripherie und Zentrum einer Zeit gleichzeitig einfangen. Wie Arachne, die Weberin aus Byzanz, die von der neidischen Konkurrentin Athene in eine Spinne verwandelt wurde, weil sie auf Kleidern die Geschichte ihrer Zeit schöner erzählte als die Göttin, »spinnt« Proust – bis zur Erschöpfung, unter Einsatz seines Lebens – in seinen dunklen Räumen.

Ein im positivsten Sinne »dienender« Text wie das PROUST- ABC, das uns diese erzählende Quelle auffindbar macht und in ihr navigiert, ist ein Geschenk. Er ist ein Lustgenerator für die Wissensbegierde. Ein solches ABC ergänzt auf wohltuende Art das, was Literatur von sich aus vermag. Wir erleben heute Literatur im Kontext der Algorithmenwelt von Silicon Valley: einer riesigen Überredungskunst und einer technischen Verfügungsgewalt. Am Gegenalgorithmus zu dieser Algorithmenwelt arbeiten die Patrioten der »Bibliothek von Alexandria«, die Liebhaber der Literatur. Der Gegenalgorithmus ist den allmächtigen Algorithmen nicht feindlich gesinnt, sondern fähig, einzudringen in die gewaltigen Leerräume, die die Algorithmen offenlassen. Algorithmen funktionieren wie die Hofhaltung im Märchen von Dornröschen. Das goldene Geschirr reicht gerade für 12 weise Frauen im Lande. Also wird die 13. Fee ausgeschlossen. Liebhaber der Literatur bleiben Anwälte der 13. Fee.

Ein ABC scheint zunächst ein technisches Instrument unserer Schriftkultur. Als solches ist es komplex, und im Baskischen funktioniert es anders als im Chinesischen. Dem Alphabet verwandt ist aber auch die DNA, die Schrift unseres Genoms. Wir tragen diese SCHRIFT AUS NUR VIER BUCHSTABEN täglich in uns, in unseren Zellen, in unserem Gehirn, in unseren Ohren

Der abgeschottete Raum, in dem Marcel Proust dichtet und lebendig ist, ist wie ein Fernrohr und zugleich wie ein Mikroskop. Wie ein Innenohr verdichtet er die Töne. Wie in der Zelle eines Schreibers im 12. Jahrhundert sitzt der Autor in seinem abgeschlossenen Raum, seinem räumlichen und zeitlichen Erkenntnisinstrument, seiner astronautischen Laube. Ich glaube, dass unsere Zeit uns, auch mit dem Zeichen des Virus, den Gebrauch unserer Sinne und den Gebrauch der Schrift neu lehrt. Ich bin glücklich, das PROUST-ABC hier vorstellen zu dürfen: ein Instrument, so wichtig wie der Bleistift, wie ein Inhaltsverzeichnis, wie ein Notizblock für neue Einfälle.

Alexander Kluge, im Juni 2020

Als der Erzähler im »Drama seines Zubettgehens« zu Beginn von Combray versucht, sich den Kuss der Mutter zu erzwingen, erscheint der drohend herannahende Vater in der Gestalt Abrahams: »Er stand noch vor uns, […] mit der Geste in dem Stich nach Benozzo Gozzoli, den mir Swann geschenkt hatte, als Abraham Sarah befiehlt, von Isaaks Seite zu weichen.« Es zeigt sich deutlich die zwiespältige Rolle, die der  Vater im Roman spielt: Zwar erlaubt er Sohn und Mutter, den versäumten Gutenachtkuss nachzuholen, ja sogar die Nacht gemeinsam zu verbringen; seine willkürliche Entscheidung aber fördert die nervöse Schwäche des Sohnes und untergräbt die Erziehungsprinzipien von  Mutter und  Großmutter, die keine Ausnahmen dulden. Insofern opfert hier der Vater tatsächlich wie Abraham den eigenen Sohn: Er verschafft ihm augenblickliche Erleichterung und beendet seine Angst, leistet aber auch jener Schwäche Vorschub, die Marcel immer wieder an der Verwirklichung seines Romanprojekts hindern wird: »Von jenem Abend her, an dem meine Mutter einen Rückzug angetreten hatte, rührte, zugleich mit dem langsamen Tod meiner Großmutter, der Niedergang meines Willens, meiner Gesundheit. Alles hatte sich in dem Augenblick entschieden …«

Provokant wirkt diese Rollenverteilung im Drama des Zubettgehens auch, weil sie die religiöse Konstellation der Familie Proust umkehrt: Die geliebte jüdische Mutter wird im  Roman zur Christin, der christliche Vater dagegen erscheint als bedrohliche alttestamentarische Figur. Hier findet die Tatsache Niederschlag, dass Proust sich zeit seines Lebens immer wieder damit auseinandersetzen musste, gleich zwei gesellschaftlich verachteten Minderheiten anzugehören: den Juden und den Homosexuellen. Der Roman hält das von Proust persönlich ungelöste Problem in der Schwebe, indem sich der Erzähler nie explizit zu Judentum oder Homosexualität bekennt, aber

Académie française

Die Académie française wurde 1635 unter Louis XIII von Kardinal Richelieu gegründet, mit der Absicht, die schon länger üblichen Zusammenkünfte berühmter Schriftsteller in eine feste Institution zu binden und dieser die Aufgabe zu übertragen, die Regeln der französischen  Sprache verbindlich festzuhalten und ihre Einhaltung zu überwachen. Zu Prousts Zeiten bedeutete es – wie noch heute – die höchstmögliche Ehrung für einen Schriftsteller, Mitglied der Académie zu werden. Proust selbst hat gegen Ende seines Lebens Freunden gegenüber die Hoffnung formuliert, unter die 40 »Unsterblichen« – wie die Mitglieder sich nennen – aufgenommen zu werden. Das hindert ihn aber nicht daran, in seinem Roman die Académie als intrigante Institution zu entlarven, die ihre Mitglieder weniger nach literarischem Talent als nach korrekter politischer Orientierung und gesellschaftlichen Beziehungen auswählt. Einer der ehrfürchtigsten Bewunderer der Académie ist Norpois, der sich, ähnlich dem Vater des Erzählers, durch politischen Opportunismus und mangelndes Kunstverständnis auszeichnet: Er erkennt weder das Talent Bergottes noch das des künftigen Erzählers. In Bergottes Haltung zur Académie spiegelt sich Prousts eigene, die zeigt, dass auch das größte literarische Genie nicht vor Eitelkeit und Snobismus gefeit ist: »Ihm war deutlich geworden, dass er über Genie verfügte, aber er glaubte es nicht, denn er fuhr fort, Ehrerbietung gegenüber mittelmäßigen Schriftstellern zu heucheln, um bald Akademiemitglied zu werden, obwohl die Akademie oder der Faubourg Saint-Germain ebenso wenig mit jenem Teil des unsterblichen Geistes zu tun haben, der Bergottes Bücher geschrieben hat, wie mit dem

Agostinelli, Alfred (1888–1914)

Zunächst Chauffeur Prousts (1907–08) und später sein Geliebter (1913–14); in dieser Zeit stellt Proust ihn als Sekretär ein und besorgt seiner Frau eine Arbeitsstelle. Die Begegnung mit Agostinelli führt zu einer radikalen Umstrukturierung des ganzen Romans, da Proust nach dem Tod des Geliebten in das ursprünglich dreiteilig geplante Werk neue, unter dem Namen »roman d’Albertine« bekannt gewordene Teile einfügt, nämlich Sodom und Gomorrha, Die Gefangene und Die Entflohene. Agostinelli wird zum Vorbild für die Geliebte des Erzählers, Albertine, in deren Eigenschaften sich das wiedererkennen lässt, was Proust an Alfred zugleich reizt und beängstigt: Wie Albertine ist Agostinelli sportlich und fasziniert von der Geschwindigkeit. Als Chauffeur ermöglicht er Proust das völlig neue Erlebnis, die Welt aus der Perspektive eines fahrenden Automobils zu sehen, aus der sie sich in eine flüchtige Abfolge ständig wechselnder Bilder verwandelt. Diese ästhetisch reizvolle Flüchtigkeit überträgt sich aber – wiederum wie bei Albertine – auch auf die Person Agostinellis und wird dann zur Bedrohung des Liebesverhältnisses: Sportlichkeit und Lebenslust entziehen Agostinelli der Kontrolle und den Besitzansprüchen Prousts; es kommt zu Eifersuchtsszenen, zur Flucht Agostinellis und schließlich zum endgültigen Zerwürfnis, als Proust ihn davon abbringen will, Pilot zu werden. Am 30. Mai 1914 stürzt Agostinelli unmittelbar nach Erwerb der Pilotenlizenz bei seinem ersten Flug ins

Aimé

Aimé (wörtlich: der Geliebte) ist Oberkellner im Grand-Hôtel in  Balbec und eine der wichtigsten Figuren im Milieu der Kellner, Liftboys, Chauffeure, Boten, Zimmermädchen und Wäscherinnen, deren erotische Reize den Erzähler immer wieder beschäftigen. Er trägt eine konservative Geisteshaltung zur Schau, ist ehrbarer Familienvater und überzeugt von Dreyfus’ Schuld. Geliebt aber wird er von diversen Figuren des Romans ( Saint-Loup,  Charlus und auch dem Erzähler) vor allem wegen seiner Bereitschaft, für Geld alles zu tun, insbesondere diskrete Spitzeldienste zu leisten. In Aimé verkörpert sich einmal mehr der moralistische Befund, dass man das schätzt, was einem nützlich ist, und dass Liebe immer mit Eigenliebe zusammenfällt: Er gehörte »zu jener Kategorie von Leuten aus dem Volk, die auf ihren Vorteil bedacht sind, denjenigen die Treue

Neben Informationen und Gerüchten liefert Aimé in seinem Versuch, sich gewählt auszudrücken, auch die exquisitesten Sprachschnitzer des Romans.

Akazienallee

Die Allee duftender Bäume im Bois de Boulogne, in dem der Erzähler als Kind Madame Swann, die Mutter seiner geliebten Gilberte, immer wieder beobachtet, erscheint ihm wie die Kulisse eines Tiergeheges, vor der sich erst die aufregende Schönheit der bewunderten weiblichen Kreatur in ihrer ganzen Pracht entfaltet. Die wechselseitige Verstärkung von Schönheit der Natur und Schönheit der Frau in den Augen des (in Mutter wie Tochter) verliebten Kindes illustriert zwei nicht hintergehbare Prinzipien der Wahrnehmung, die immer wieder vom Roman vorgeführt werden: erstens die Abhängigkeit der

Albaret, Céleste (geb. Gineste, 1891–1984)

Langjährige und letzte Haushälterin Prousts. Als Zweiundzwanzigjährige heiratet sie den bereits im Dienst Prousts stehenden Chauffeur Odilon Albaret und arbeitet zunächst als Botin für Proust. Als durch häuslichen Streit und den Krieg alle übrigen Dienstboten ausfallen, übernimmt sie die gesamte Haushaltsführung und sorgt unter geduldiger Inkaufnahme aller Launen Prousts bis zu seinem Tod für ihn, organisiert seinen Tagesablauf und bringt mit ihm seine letzten Manuskripte in Ordnung. 1973 erscheinen ihre auf Interviews mit Georges Belmont basierenden Memoiren unter dem Titel Monsieur Proust.

Céleste (wörtlich: die Himmlische) wird neben früheren Haushälterinnen der Familie Proust zu einem der Hauptvorbilder für Françoise, auch für deren zuweilen überfürsorgliche und herrschsüchtige Eigenschaften in den letzten Teilen des Romans. Unter ihrem eigenen Namen kommt Céleste zusammen mit ihrer Schwester Marie Gineste in Sodom und Gomorrha und in Die Gefangene vor, wo sie besonders durch ihre außergewöhnliche Sprache auffällt, die eine wilde, unverbildete Poesie besitzt: »[Céleste sagte] zu mir, während ich Croissants in meine Milch tunkte: ›O kleiner schwarzer Teufel mit dem Kohlrabenhaar, o schlimmer Schalk!, ich weiß nicht, woran Ihre Mutter

Albertine (Simonet)

Nach Gilberte,  Odette Swann und Oriane de  Guermantes, für die er mehr oder weniger erfolglos schwärmt, die erste und letzte Geliebte des Erzählers. In der Liebesgeschichte – wie man sie wohl nennen darf, auch wenn sich die Forschung darüber streitet, ob ein tatsächlicher Geschlechtsakt angedeutet wird – zwischen Marcel und Albertine wiederholen sich viele Elemente, die man schon aus den früheren Beziehungen im Roman kennt: Ein unbestimmtes Begehren geht dem Kennenlernen voraus, geweckt durch den Zauber des Namens einer Unbekannten (wie bei Gilberte und Mlle d’Éporcheville, die sich wiederum als Gilberte entpuppt); der erste Kontakt zwischen den Liebenden ist nicht unmittelbar, sondern wird über die Kunst hergestellt und verklärt (wie durch die Musik Vinteuils bei Odette, durch Bergotte bei Gilberte, durch das Theater bei Rahel); die folgende Beziehung schließlich ist von Eifersucht und Verzweiflung des Mannes geprägt (wie bei Swann und Odette). Das neue, im ursprünglichen Konzept des Romans nicht vorgesehene Liebesverhältnis verändert und steigert jedoch all diese bereits bekannten Momente, insbesondere das Zusammenspiel von Liebe und Kunst: Albertine wird dem Erzähler von Elstir vorgestellt und erscheint von Anfang an als »impressionistische« Schönheit. Der Erzähler sieht das Mädchen mit dem

Sobald er aber versucht, diese vielfältigen Impressionen in ein Liebesverhältnis zu überführen, bemerkt der Erzähler die negativen Seiten einer flüchtigen Vielfalt, die sich nicht zu einer Person zusammenfügen will: »Diese besagte Albertine war kaum mehr als ein Schattenriss, alles, was sich darübergelegt hatte, stammte von mir, so sehr überwiegt in der Liebe – selbst wenn man einen rein quantitativen Standpunkt einnimmt – das, was wir selber einbringen, gegenüber dem, was das geliebte Wesen dazu beiträgt.« Die Bilder, die Albertine ihm bietet, gehen über flüchtige Eindrücke nicht hinaus, hinter ihnen befinden sich keine Person, sondern die Phantasien des Erzählers. Auch in der Folge kann er keiner »wirklichen« Albertine habhaft werden; schon beim ersten Kuss entzieht sie sich ihm und wiederholt damit das Trauma des verweigerten Gutenachtkusses aus Combray. Die Beziehung wird zunehmend zur Qual und illustriert im Wechsel von besitzgieriger Eifersucht und zufriedener Gleichgültigkeit den tiefen Pessimismus Prousts gegenüber jeder Möglichkeit gelingender Liebe.

Die Verbindung der Liebesgeschichte mit Elstir und der Kunst des Impressionismus ist dabei nicht Ursache für die Erkenntnis des Erzählers, dass wahre Liebe und echte Kommunikation zwischen Personen immer illusorisch sind, schon für Swann und Odette oder Marcel und Gilberte war dies deutlich. Das Zusammenspiel von Malerei und Liebe formuliert hier den neuen Gedanken, dass gerade das, was wir an der Kunst bewundern und genießen, sich im Leben grausam gegen uns wenden

Wollte man Albertine allerdings auf Eifersucht, Schmerz und Vergessen reduzieren, auf eine »femme fatale«, deren unlösbares Geheimnis ihren Geliebten in die Verzweiflung treibt und ihm auch noch die Erinnerung raubt, so würde man Prousts lustvoller Demontage seines eigenen Erzählers nicht gerecht. Immer wieder entlarvt Albertine dessen Obsessionen, und es wird deutlich, dass er sich in seiner grenzenlosen Eifersucht und seinen ständigen Verdächtigungen von jeder Realität entfernt hat – zuletzt benimmt er sich wie ein Gefängniswärter. Und sie weist den Leser nicht nur auf die charakterlichen Unzulänglichkeiten des Erzählers hin, sondern kratzt auch an seinem idealisierten Kunstbegriff. Sie macht sich lustig über seinen Sprachstil und imitiert diesen in einer sprachlich völlig überzuckerten

Alkohol

Angesichts der Tatsache, dass Proust im Laufe seines Lebens fast jede Art der zu seiner Zeit gängigen Drogen ausprobierte und in den letzten Lebensjahren seinen Schlaf-Wach-Rhythmus nur noch künstlich durch die wechselnde Einnahme von Beruhigungs- und Aufputschmitteln steuerte, verwundert die unbedeutende Rolle, die der Alkohol sowohl in seinem Leben als auch in seinem Werk spielt. Proust trinkt gerne kaltes Bier, das

Hinter der negativen Rolle des Alkohols verbirgt sich Prousts Strategie, dem Erlebnis der unwillkürlichen Erinnerung ihren wichtigen und einzigartigen Status als gewinnbringende, zur Offenbarung führende Rauscherfahrung im Roman zu erhalten und sie nicht neben einer durch Alkohol herbeigeführten Euphorie verblassen zu lassen. Im Gegensatz zur unwillkürlichen Erinnerung führt nämlich vom Alkoholrausch kein Weg zur Erkenntnis der Vergangenheit und damit auch kein Weg zum künftigen Roman, der die verlorene Zeit wieder einfangen will. Die »vom Rausch übersteigerten Empfindungen« stehen unter dem »flüchtigen und machtvollen Einfluss des Augenblicks«: »ich war in die Gegenwart eingeschlossen wie Helden, wie Berauschte; vorübergehend verfinstert, warf meine Vergangenheit nicht mehr jenen Schatten ihrer selbst vor mich, den wir

Allegorie

In bildender Kunst und Literatur die Darstellung eines abstrakten Begriffs durch eine Figur, zum Beispiel die der Gerechtigkeit durch eine Frau mit verbundenen Augen und einer Waage in der Hand. Vom Mittelalter bis zum Barock war die Allegorie sehr beliebt bei der Verbildlichung christlicher Tugenden und Laster, geriet aber später als künstlerisches Verfahren in Misskredit. Baudelaire entdeckt sie für die französische Dichtung wieder, und auch Proust schätzt die antiquierte, aber reizvoll verschlüsselte Art der allegorischen Darstellung, die viele Anspielungen aufnehmen kann. Im Roman vergleicht Swann das blasse Küchenmädchen aus  Combray mit der Figur der Nächstenliebe (Caritas) auf den mittelalterlichen Fresken der Arena-Kapelle in Padua. Auf den ersten Blick scheint er damit nur dem Mädchen zu schmeicheln und ein altehrwürdiges Bild zu zitieren, auf den zweiten verbirgt sich aber in diesem Vergleich zusätzlich noch eine raffinierte Gegenallegorie: Françoise nämlich erweist sich als das genaue Gegenteil christlicher Nächstenliebe, da sie das Mädchen zum Spargelschälen zwingt, obwohl es eine schwere Allergie auf Spargel entwickelt und mit Asthmaanfällen reagiert. Wie bei den mittelalterlichen Kirchenfenstern in Combray oder den Legenden der Merowinger entlockt Proust hier der Allegorie neben einer archaischen Schönheit und Einfachheit einen verborgenen Unterton von Gewalt und Grausamkeit.

Prousts heftige Asthmaanfälle wurden durch bestimmte Pflanzen und Düfte ausgelöst. Er selbst pflegte den Ruf seiner Anfälligkeit, so dass Anekdoten kursierten, er bekomme bereits einen Anfall, wenn er nur das Gemälde einer Rose betrachte, oder er habe einem Freund vorgeworfen, dieser habe zuvor einer Dame die Hand gegeben, welche ein Rose berührt hatte, oder er verwehre bestimmten Damen wegen ihres starken Parfums den Zutritt zu seiner Wohnung. In späteren Jahren war seine Lichtempfindlichkeit legendär, wegen der er erst nach Einbruch der Dämmerung das Haus verließ. Im Roman erscheinen die Empfindlichkeit äußeren Reizen gegenüber und die Notwendigkeit, diese im Zimmer abzuschirmen, als wesentliche Bedingungen poetischer Schöpfungskraft.

Alter

Das Alter ist neben dem sozialen Auf- und Abstieg die wichtigste Triebkraft der erstaunlichen Verwandlungen, denen Prousts Figuren immer wieder unterliegen. Die Personen scheinen sich im Alter nicht bloß zu verbrauchen oder dahinzuschwinden, ihr Verfall ist vielmehr mit einem körperlichen oder moralischen Identitätswechsel verbunden; charakteristische Eigenschaften verschwinden und neue, ungeahnte bahnen sich ihren Weg. Der elegante, weltgewandte Charlus wird dick, unansehnlich und zuletzt gesellschaftlich geächtet, Saint-Loup wird homosexuell, Odette doch noch wahrhaft elegant, bei Swann schälen sich durch Alter und Krankheit jene jüdischen Gesichtszüge heraus, die sein Leben lang unauffällig waren, und der Erzähler stellt an sich selbst plötzlich Ähnlichkeiten mit seinem Vater fest, mit dem ihn kaum etwas verband. Am Ende des Romans treffen sich alle gealterten Figuren zu einem makabren Maskenball; die

Das Altern der Figuren und ihre Metamorphosen weisen nicht nur auf die Vergänglichkeit des Lebens hin, sondern auf die grundsätzliche Inkonstanz und Flüchtigkeit dessen, was man eine Person nennt. Diese besteht eigentlich nur aus wenigen, willkürlich herausgegriffenen und unverlässlichen Eindrücken, die man unter einem Namen zusammenfasst: »Ein Name, das ist oft alles, was für uns von einem Menschen bleibt, und zwar nicht erst, wenn er tot ist, sondern auch schon zu seinen Lebzeiten. Und unsere Vorstellungen von ihm sind so undeutlich, oder so absonderlich, und entsprechen so wenig denjenigen, die wir von ihm gehabt hatten, dass wir völlig vergessen haben, dass wir uns um ein Haar mit ihm duelliert hätten, uns aber daran erinnern, dass er als Kind eigenartige gelbe Gamaschen in den Champs-Élysées trug, während er sich umgekehrt trotz aller unserer Beteuerungen nicht erinnern kann, jemals dort mit uns gespielt zu haben.«

Auch dem Entschluss des Erzählers, seinen lange geplanten Roman zu schreiben, geben erst die erschreckenden Spuren des Alters echte Dringlichkeit. Der Erzähler wird sich bewusst, dass er jetzt gegen sein eigenes Altern und den Tod anschreiben muss, aber auch, dass er die Zeit und ihre Wirkung zum eigentlichen Hauptthema seines Romans machen kann: »Da kam mir plötzlich der Gedanke, dass in meinem Werk, so ich noch die Kraft hatte, es zu vollenden, diese Matinee – wie auch bestimmte Tage in Combray, die einst ihre Wirkung auf mich gehabt hatten –, die mir gerade heute zugleich die Idee für mein Werk eingegeben als auch die Furcht eingeflößt hatte, es nicht verwirklichen zu können, vor allem anderen in diesem Werk jene Gestalt kennzeichnen würde, von der ich schon damals in der Kirche in Combray eine Vorahnung hatte und die für uns gemeinhin unsichtbar bleibt, nämlich die der Zeit.«

In den ersten Skizzen zum Roman hieß Albertine noch so, später wird eine Andrée dann Anführerin der kleinen Bande junger Mädchen, die dem Erzähler in Balbec begegnet. Gleich bei ihrem ersten Auftreten führt sie ein übermütiges Akrobatenstück vor, das die Mädchen als gesellschaftliche und sexuelle Aufrührerinnen darstellt und jene Probleme vorwegnimmt, die später der Erzähler mit der unbändigen Albertine haben wird. Andrée setzt mit einem Sprung über einen alten Bankier hinweg, der sich auf der Mole sonnt, und setzt sich mit dieser Geste stellvertretend für die anderen Mädchen über alle Regeln hinweg: über die Ehrfurcht vor Alter, Reichtum und Macht und über die guten Sitten, die es verbieten, den weiblichen Körper so zur Schau zu stellen.

Nachdem der Erzähler Albertine aus der kleinen Bande zu seiner Geliebten erkoren hat, wird Andrée zu seiner Rivalin und immer wieder Anlass seiner obsessiven Eifersucht. Erste Quelle dieser Eifersucht ist der Tanz im Casino von Incarville, wo Cottard den Erzähler darauf aufmerksam macht, dass Andrée und Albertine sehr eng tanzen und ihre Brüste aneinander reiben; das hier gesäte Misstrauen beginnt zu gedeihen und bringt den Erzähler dazu, auch ursprünglich unverdächtige Szenen als Beweise für ein Verhältnis zwischen den Mädchen zu deuten. Wie bei allen anderen hetero- oder homosexuellen Verhältnissen, derer er Albertine verdächtigt, erfahren wir nie zweifelsfrei, ob Andrée und Albertine tatsächlich mehr als nur Freundschaft verbindet. Nicht die lesbischen Neigungen der Freundinnen sind das eigentliche Thema, sondern die Unmöglichkeit, die wirkliche Identität eines geliebten Menschen vollständig zu erfassen, und die andauernde Qual, die diese Unmöglichkeit dem Liebenden beschert. Andrée verkörpert diese grundsätzliche Qual, die das Liebesverhältnis des Erzählers zu Albertine ständig begleitet, so dass nach deren Tod der Name

Angst

Nahezu jede Veränderung im Leben des Erzählers – sei sie nun positiv oder negativ – löst Angst aus, sie ist der Gegenpol zum beruhigenden und vertrauten Gefühl der Gewohnheit. Urszene dieser Angst vor dem Verlust des Gewohnten ist der Besuch Swanns in Combray, der dem kleinen Marcel den