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Für die Patienten, die mir ihre Geschichte anvertraut haben – in meiner Praxis, in meiner Kolumne und in diesem Buch.

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Die Kolumnen in diesem Buch erschienen ursprünglich im New York Times Magazine.


Für Fragen und Anregungen

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1. Auflage 2020

© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096


Die englische Originalausgabe erschien 2019 bei Broadway Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York, unter dem Titel Diagnosis. Solving the Most Baffling Medical Mysteries. Copyright © 2019 by Lisa Sanders. All rights reserved. The translation published by arrangement with Broadway Books, an imprint of Random House, a divison of Penguin Random House, LLC.


Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.


Übersetzung: Martin Rometsch

Redaktion: Silke Panten

Umschlaggestaltung: Michael Morris, Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildung: GrandeDuc/Shutterstock

Layout: Susan Turner, Daniel Förster

Satz und E-Book: Daniel Förster


ISBN Print 978-3-7423-1441-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1102-0

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1103-7


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Inhalt

Einführung
Des Rätsels Lösung

Teil 1
Glühendes Fieber

Nur ein Fieber

Die Grippe, die stur blieb

Nächtliche Glut

Krank auf der Hochzeitsfeier

Vergessene Auslöser

Eine tödliche Grippe

Teil 2
Schmerzen im Bauch

Qualvolle Episoden

War der Fisch schuld?

Magenbeschwerden verschlimmern sich

Ein Hockeyschläger im Darm

Peinliches Alter

Das tut so weh

Messerattacken

Plötzlich krank, schon wieder

Teil 3
Fürchterliches Kopfweh

Das sehe ich anders

Es begann mit Nebenhöhlenschmerzen

Der Elefantentrainer bekommt Kopfweh

Ein Meer aus Grau

Alle lügen

Das schlimmste Eiscreme-Kopfweh, ohne die Eiscreme

Ein Eispickel im Kopf

Teil 4
Atemnot

Ein tödlicher Juckreiz

Ich fließe über

Muskelbepackt

Ein harter Kampf

Ein gebrochenes Herz

Kollabiert

Teil 5
Wahn­vorstellungen und Sinnes­täuschungen

Flitterwochen in der Hölle

Ein anderer Mensch

Unerwartet betrunken

Totale Verwirrung

Anzeichen für Traurigkeit

Ein schrecklicher Wahnsinn

Unter Hochdruck verrückt

Teil 6
Bewusstlosigkeit

Ohnmächtig an einem Samstagabend

Häufige Ohnmachten

Kälteschock

Der tiefste Schlaf

Ein ermattetes Herz

Ohne Puls

Teil 7
Ein seltsamer Ausschlag

Roter Schrecken

Nahtod in den Händen der Ärzte

Altmodische Haut

Überall rot und entzündet

Ein schwarzer Daumen

Line Dance

Teil 8
Extreme körperliche Schwäche

Eine schreckliche Stille

Totaler Zusammenbruch

Sturzangst

Eine überwältigende Schwäche

Ein langer Weg

Unaufhaltsames Siechtum

Übersehene Anzeichen

Danksagung

Über die Autorin

Einführung

Des Rätsels Lösung

Das Licht in der Arztpraxis war für die fünfzigjährige Frau fast unerträglich hell, aber sie zwang sich, die Augen zu öffnen. Eine junge Ärztin klopfte kurz an die Tür, trat dann ins Untersuchungszimmer und stellte sich vor. Sie schien mitfühlend und interessiert zu sein, als ihre Patientin von ihrer grauenhaften Woche und von der Reise, die ihr vorausgegangen war, erzählte.

Sie hatte sich nicht wohlgefühlt, seit sie und ihre Kinder nach ihrer zweiwöchigen Reise zu den Eltern in Kenia zurückgekehrt waren. Es war ihr erster Besuch seit fast zehn Jahren gewesen – seit der Geburt ihrer Kinder. Und da sie jetzt alt genug waren, wollte sie ihnen unbedingt zeigen, wo sie selbst aufgewachsen war. Sie hatte alle wichtigen Impfungen veranlasst und darauf geachtet, dass die Kinder jeden Tag das Medikament einnahmen, das Malaria verhindern sollte. Sie wollte nicht, dass die Reise oder die Erinnerungen an den Ort, den sie so sehr liebte, durch eine Krankheit getrübt würden. Es war eine wunderbare Reise. Aber die Rückkehr war schlimm gewesen. Die Kinder hatten sich nach ein, zwei Tagen vom Jetlag erholt, sie nicht.

Sie wartete eine Woche, fühlte sich aber jeden Tag schlechter. Sie war müde, als hätte sie wochenlang nicht geschlafen. Ihr war übel und sie fühlte sich heiß und verschwitzt, als hätte sie Fieber. Außerdem tat ihr der ganze Körper weh, als litte sie an Grippe. Sie rief in der Praxis ihrer Ärztin an, aber die war nicht in der Stadt. Darum versuchte sie es bei einer anderen Ärztin, und die gab ihr einen Termin am folgenden Tag – ein Wunder. Und jetzt war sie da.

»Ich glaube, das ist mir schon einmal passiert«, sagte die Patientin. Als sie sieben Jahre alt gewesen war – sie lebte damals in Kenia – hatte sie einen Malariaanfall gehabt. Hatte sie jetzt wieder einen? Zumindest fühlte es sich ganz danach an.

Die Ärztin nickte. Das war eine vernünftige Annahme. Malaria ist eine endemische Krankheit in Regionen südlich der Sahara und die häufigste Ursache für Fieber bei Reisenden, die von dort zurückkehren. Da sie diese Krankheit schon einmal gehabt hatte, kannte sie die schmerzhaften, grippeähnlichen Symptome, die der blutgierige Parasit auslöst.

Trotzdem brauche sie einige weitere Informationen, erklärte die Ärztin. Sonstige gesundheitliche Probleme? Überhaupt nicht. Vor ihrer Reise war die Patientin völlig gesund gewesen. Sie nahm keine Medikamente. Sie rauchte und trank nicht. Sie arbeitete in einem Büro. Sie war geschieden und lebte mit ihren beiden Kindern zusammen. Die Arzneien, die der Vorbeugung dienten, hatte sie jeden Tag eingenommen und zwei Wochen vor dem Antritt der Reise damit begonnen – wie verordnet.

Die Ärztin führte die Patientin zum Untersuchungstisch. Sie hatte kein Fieber, doch sie hatte früher am Tag Paracetamol eingenommen. Sie schwitzte ein wenig und ihr Puls war hoch; doch sonst war die Untersuchung unauffällig.

Malaria ergab für die Ärztin Sinn. In Teilen Kenias findet man einen Malariatyp, vor dem die üblichen vorbeugenden Medikamente nicht schützen können. Und da die Patientin die Infektion schon länger als eine Woche gehabt hatte, war es wichtig, mit der Behandlung sofort zu beginnen. Die Ärztin gab ihr ein Rezept für eine dreitägige Kur mit Antiparasitika. Die Patientin nahm das Rezept dankbar entgegen. Endlich würde es ihr wieder besser gehen. Sie freute sich darauf.

Das ist die übliche Diagnosegeschichte. Eine Patientin fühlt sich krank. Sie merkt, dass etwas nicht stimmt, aber sie wartet einen oder zwei Tage, ehe sie Hilfe sucht. Oft bessert sich der Zustand von selbst. Wenn nicht, geht sie oft zu ihrem Arzt.

Von da an ist es Aufgabe des Arztes, das Rätsel zu lösen. Es ist wichtig, sich die Geschichte der Patientin anzuhören. In fast 80 Prozent aller Fälle* finden sich darin die wichtigsten Anhaltspunkte. Eine Untersuchung liefert mitunter weitere Hinweise. Es ist Aufgabe des Arztes, alles zusammenzufügen und die Diagnose zu stellen.

Bevor ich Medizin studierte, wusste ich über Diagnosen nur das, was ich im Fernsehen gesehen hatte. Es waren kurze Begriffe, die in einem dramatischen Augenblick fast sofort formuliert wurden – gleich nachdem die Patienten über ihre Symptome und Beschwerden berichtet hatten und kurz bevor sie zu einer lebensrettenden Behandlung geschoben wurden. Ich hielt Diagnosen für Rätsel, die ich, sobald ich Ärztin war, mühelos lösen würde.

Während des Studiums verbrachte ich Stunden damit, die Bausteine einer Diagnose zu erlernen: Chemie und organische Chemie, Physik, Physiologie, Pathologie und Pathophysiologie. Als ich nach dem Studium mit dem praktischen Teil meiner Ausbildung begann, stellte ich eine Reihe von »Krankheitsskripten« zusammen, wie Ärzte es ausdrücken. Das sind detaillierte Sammlungen von Symptomen und ihren Varianten, von Verläufen und Vorgehensweisen, die zusammen ein Bild einer bestimmten Krankheit liefern. Sobald man sich diese Szenarios eingeprägt und verstanden hatte, konnte man sie bei Bedarf nutzen. Übelkeit, Erbrechen und Durchfall, die sich rasch in einer Familie ausbreiten, sind eine virale Gastroenteritis. Plötzliches Fieber, Schmerzen im Körper und verstopfte Atemwege während der Grippesaison deuten auf Grippe hin. In dem zuvor beschriebenen Fall sind sie wahrscheinlich ein Zeichen für Malaria, weil die Patientin gerade aus Kenia zurückgekehrt war. Wir sehen die Symptome. Wir erkennen das Muster und deshalb kennen wir sofort die Diagnose.

Zum Glück ist dies der Normalfall, einer Studie zufolge in bis zu 95 Prozent aller Fälle.** Diese Skripte helfen uns meist weiter. Aber was ist mit den anderen Fällen? Mit den 5 Prozent, auf die der Arzt keine Antwort weiß? Oder schlimmer noch: die falsche Antwort?

Die kranke Frau glaubte Malaria zu haben. Auch ihre Ärztin dachte das. Doch nachdem die Patientin drei Tage lang Tabletten geschluckt hatte, ging es ihr noch schlechter. Sie war so schwach, dass sie sich kaum bewegen konnte. Sie erbrach sich ständig und fühlte sich fiebrig. Sie schwitzte und ihr Herz schlug heftig. Sie konnte tagelang nicht essen und zwei Tage lang nicht einmal das Bett verlassen. Schließlich rief sie ihre Ärztin an, die sie prompt in die Notaufnahme schickte.

Dort zeigte eine Untersuchung, dass das Herz der Frau raste und der Blutdruck zu hoch war. Die Zahl der weißen Blutkörperchen war gefährlich hoch und es gab Hinweise auf einen Leberschaden. Es war nicht klar, was ihr fehlte, deshalb wurde sie ins Krankenhaus aufgenommen.

Die Ärzte dort gaben ihr ein Medikament gegen das Erbrechen. Es half. Doch nach mehreren Tagen war immer noch unklar, was die Patientin so krank gemacht hatte. Malaria war es nicht. Man hatte drei Blutausstriche im Labor untersucht. Und obwohl sie kein Fieber hatte, als das Blut entnommen wurde – was der beste Zeitpunkt für einen Malariatest ist –, wies keiner dieser Ausstriche Anzeichen für den Parasiten auf, der diese potenziell tödliche Krankheit verursacht.

Ihre Ärzte vermuteten, dass die Symptome eine Reaktion auf die Medikamente waren, die ihr gegen die Malaria verordnet worden waren, die sie, wie man jetzt wusste, gar nicht hatte. Das schien möglich zu sein, zumal es ihr jetzt etwas besser ging. Sobald sie essen konnte, wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen.

Doch als sie wieder zu Hause war, begann sie erneut, sich zu übergeben. Sie hielt eine Woche durch, schleppte sich dann aber in dieselbe Klinik zurück. Die Ärzte dort waren so besorgt, dass sie die Frau ins Rush University Medical Center überwiesen, wo viele von ihnen ausgebildet worden waren. Sie waren sich sicher, dass ihre Kollegen dort das Rätsel lösen konnten.

Die Ärzte im Rush konsultierten einen Infektiologen. Was sonst konnte diese Frau haben? Sie blieb eine Woche im Krankenhaus, begegnete vielen Ärzten und wurde zahlreichen Tests unterzogen. Als das Erbrechen aufhörte und sie wieder essen konnte, schickte man sie nach Hause und wies sie an, für die Nachbehandlung den Infektiologen aufzusuchen. Doch nach wenigen Tagen wurde sie wieder ins Rush gebracht, so krank, wie sie beim ersten Mal gewesen war.

Mehr Ärzte, mehr Tests. Ihr Urin, ihr Stuhl und ihr Blut wurden untersucht. Dann folgten Computer- und Kernspintomografien, sogar eine Leberbiopsie. Nicht alle Werte waren normal, aber sie ergaben auch keine klare Diagnose. Man gab ihr ein halbes Dutzend Antibiotika und Medikamente gegen Viren und Parasiten. Wenn die Ärzte schon nicht herausfinden konnten, woran die Patientin litt, konnten sie wenigstens versuchen, sie wegen einer Krankheit zu behandeln, die sie möglicherweise hatte. Doch keines der Medikamente half. Was konnte sie sich in Kenia eingefangen haben? Die etwa ein Dutzend Ärzte, die sie untersucht hatten, stellten alle die gleiche Frage.

Das Schlimmste, was es in der Medizin gibt, ist wohl Ungewissheit. Sie ist unangenehm für die Patienten, denn sie ­leiden weiter unter den Symptomen, deretwegen sie gekommen sind, und sie kennen ihre Ursache nicht. Werden sie von selbst verschwinden? Bei unserer Patientin war das nicht der Fall. Gibt es einen Test dafür? Bei ihr waren Dutzende von Tests – manchmal sind es mehr – unergiebig. Würde sie daran sterben? Wie kann man ohne Diagnose eine Prognose geben?

Für den Arzt ist diese Situation ebenfalls ungemütlich. Einer der Gründe dafür, dass Ärzte bisweilen mehrere Versuche brauchen, bevor sie zur richtigen Diagnose gelangen, liegt darin, dass ungewöhnliche Krankheiten anfangs oft ihren banalen Gegenstücken ähnlich sind. Der Körper hat nur ein paar fundamentale Möglichkeiten, uns zu zeigen, dass etwas nicht stimmt. Wir sprechen dann von Symptomen. Doch diese Symptome können viele Ursachen haben. Es ist wie mit der Beziehung zwischen Buchstaben und Worten. Wir haben nur 26 Grundbuchstaben, aber es gibt viele Millionen Wörter. In der Medizin gibt es Dutzende von Symptomen; doch der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten zufolge gibt es fast 90 000 Diagnosen.

Natürlich kennt kein Arzt alle 90 000 – obwohl viele Ärzte viel mehr wissen als andere. Sobald eine ungewöhnliche Diagnose als möglich erscheint, gibt es mehrere Methoden, das Wissen zu erlangen, das dem Arzt fehlt. Eine altmodische, aber oft erfolgreiche Methode besteht darin, einen Kollegen zu fragen. Oder man wendet die viel neuere Methode an und fragt das externe Gehirn – das Internet.

Doch selbst wenn wir über alle Informationen verfügen, kann eine Krankheit ohne Diagnose bleiben. Eine Krankheit, die auf einer Buchseite oder in einer Datenbank steht, sieht oft ganz anders aus als die Krankheit im lebenden Patienten. Die ersten Studien über Diagnosen, die in den 1970er-Jahren durchgeführt wurden, belegten, dass der Arzt, dem eine schwierige Diagnose gelingt, meist derjenige ist, der die Krankheit schon gesehen hat. Die persönliche Erfahrung kann wichtiger sein als Bücherweisheit.

Nach mehreren Wochen im Krankenhaus und zu Hause war die Patientin zu schwach, um ihre Kinder zu versorgen. Sie rief ihre beste Freundin an und bat sie, bei ihr und den Kindern zu bleiben, während sie versuchte, gesund zu werden. »Natürlich«, versicherte ihr die Freundin und packte sofort einen Koffer. Als sie bei der Frau ankam, erschrak sie über deren Aussehen. Ihr Gesicht war eingefallen und grau, die Lippen waren blass. »Du musst deine Ärztin rufen«, sagte die Freundin, sobald sie die Geschichte der Frau gehört hatte. »Dr. Brown wird wissen, was zu tun ist.«

Dr. Marie T. Brown war seit über zwanzig Jahren die Ärztin der Frau. Die Kranke rief in der Praxis an und vereinbarte einen Termin in derselben Woche. Dr. Brown war ebenfalls entsetzt vom Aussehen der Frau, die sie so gut kannte. Normalerweise kam sie einmal im Jahr zu einer Routineuntersuchung. Sie sprachen über das Leben und die Gesundheit der Frau und verabschiedeten sich dann bis zum folgenden Jahr. Sie hatte immer gesund und robust ausgesehen. Aber jetzt nicht.

Als Dr. Brown das Zimmer betrat, fand sie die Patientin über ein Waschbecken gebeugt vor und der scharfe Geruch von Erbrochenem erfüllte den Raum. Sie war stark abgemagert und ihre Augen und Wangenknochen ragten aus ihrem nun viel zu dünnen Gesicht. Ihr linkes Bein zitterte und zuckte unwillkürlich. »Was in aller Welt ist mit Ihnen passiert?«, fragte die Ärztin.

Die Patientin berichtete ihr mit Unterstützung ihrer Freundin von den Ereignissen der vergangenen Wochen. Dr. Brown hatte keinen Zugang zu den Krankenhausakten; darum wusste sie nur, was die Patientin ihr sagen konnte: dass sie sich seit ihrer Rückkehr aus Kenia nicht mehr wohlgefühlt hatte, dass die Ärzte anfangs an Malaria gedacht hatten, sich jetzt aber nicht mehr sicher waren. Und dass sie in ihrem ganzen Leben noch nie so krank und schwach gewesen war.

Die Ärztin bat sie, sich auf den Untersuchungstisch zu legen. Sie und die Freundin halfen der Frau hinauf.

Dr. Brown begann am Kopf und arbeitete sich dann systematisch nach unten. Am Hals hielt sie inne. Die Schilddrüse der Patientin war viel größer als normal. Sie war nicht druckempfindlich, aber sie war dick. Dr. Brown war sich ziemlich sicher, dass das neu war.

Sie beendete die Untersuchung rasch. Die Reflexe der Patientin waren wild. Ein kleines Antippen setzte Arme und Beine in Bewegung. Und das linke Bein schien ein Eigenleben zu haben: Es zitterte und zuckte. Die Ärztin entschuldigte sich und ging hinaus, um »etwas nachzuschlagen«.

Als Dr. Brown ein paar Minuten später zurückkam, war sie sich ihrer Diagnose ziemlich sicher: Die Frau litt an Hyperthyreose – an einer Überfunktion der Schilddrüse. Vielleicht sogar an einer thyreotoxischen Krise, der schwersten Form der Krankheit. Alles passte ins übliche Krankheitsbild: der rasende Puls, die Schweißausbrüche, das Zittern, der Juckreiz, das gelegentliche Fieber und die Gewichtsabnahme. Alles außer dem Erbrechen. Sie hatte sich entschuldigt, um sich zu vergewissern, dass Erbrechen ein Teil der Diagnose »Hyperthyreose« sein konnte, und sie fand heraus, dass es zwar ein ungewöhnliches Symptom war, aber auch bei anderen Patienten mit Hyperthyreose vorkam. Am Spätnachmittag bestätigte sich die Diagnose und Dr. Brown sorgte dafür, dass die Patientin sofort einen Endokrinologen konsultieren konnte.

Wenn man die Lösung kennt, wird einem oft klar, warum sie übersehen wurde. Sicherlich spielte die Annahme der Patientin, dass ihre Krankheit während ihrer Reise nach Kenia begonnen hatte, eine Rolle. Ihre Deutung ihrer Symptome – dass sie fieberte und dass sie sich so fühlte wie vor vierzig Jahren während ihrer Malariaerkrankung – führte die Krankenhausärzte auf den falschen Weg. Doch die Schuld lag nicht allein bei der Patientin. Als die Ärzte erkannten, dass es nicht Malaria war, beschränkten sie die möglichen Diagnosen weiter auf Infektionskrankheiten.

Keiner der Ärzte im Krankenhaus befasste sich mit der Schilddrüse. Vielleicht haben sie die Vergrößerung schlicht übersehen? William Osler (1849–1919) zufolge – er gilt als Philosophenkönig der frühen inneren Medizin – kommt es häufiger vor, dass Ärzte etwas übersehen, als dass sie etwas nicht wissen. Andererseits ist ein Kropf (so nennen wir eine vergrößerte Schilddrüse) in Amerika ungewöhnlich, während er in Gebieten wie der Subsahara sehr häufig vorkommt, weil dort Jodmangel herrscht. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation bekommt mehr als ein Viertel der Kinder, die in Afrika aufwachsen, einen Kropf.*** Und wenn die Schilddrüse einmal vergrößert ist, bleibt sie es meist. Deshalb ist ein Kropf bei einer Frau, die in Kenia aufgewachsen ist, für einen durchschnittlichen Arzt vielleicht nicht ungewöhnlich. Die Hausärztin der Frau erkannte hingegen sofort, dass die vergrößerte Schilddrüse neu war.

Solche Fälle, die sich einer sofortigen Diagnose entziehen, können am erschreckendsten sein. Aber sie können auch am faszinierendsten und lehrreichsten sein. Sie enthüllen, wie Ärzte über ihre Patienten denken und wie sie ihr Wissen anwenden, und sie zeigen, wie Ärzte und Patienten zusammenarbeiten können, um die entscheidende Frage des Patienten zu beantworten: »Was fehlt mir?«

Über solche Fälle schreibe ich in meiner Kolumne »Diagnosis« im New York Times Magazine. Einige von ihnen stelle ich in diesem Buch vor. Jeder einzelne Fall ist eine Detektivgeschichte. Hier ist der Einsatz hoch und das Risiko groß. Hier muss die Ärztin ihre Sherlock-Holmes-Mütze aufsetzen und versuchen, das Rätsel zu lösen. Wenn wir die Entwicklung dieser Fälle verfolgen, verstehen wir, wie schwierig es ist, eine Diagnose zu stellen, die vom Skript abweicht und nicht auf der Liste der üblichen Verdächtigen steht. Dabei werden zugleich die Fehler in den Systemen enthüllt, die unsere medizinische Praxis anleiten – Fehler, die nur sichtbar werden, wenn die Maschinerie stark belastet wird.

Ich habe die folgenden Kapitel nach Symptomen geordnet – acht der häufigsten Probleme, die einen Patienten in die Arztpraxis oder in die Notaufnahme führen. Jede Geschichte in einem Kapitel beginnt zwar mit dem gleichen Grundsymptom – mit Fieber, mit rasenden Kopfschmerzen, mit Übelkeit –, aber alle entwickeln sich fast sofort in ihre eigene, unerwartete Richtung. So wenige Symptome, so viele Diagnosen.

In diesem Buch versuche ich, Sie als Leser an die Stelle des Arztes zu setzen. Ich möchte, dass Sie sehen, was der Arzt sieht. Ich möchte, dass Sie die Ungewissheit einer rätselhaften Störung spüren – und die freudige Erregung, wenn das Rätsel gelöst ist.


* Hampton, J. R., Harrison, M. J. G., Mitchell, J. R. A., Prichard, J. S., Seymour, C., British Medical Journal, 1975, Bd. 2, S. 486–89.

** Singh, H., Meyer, A. N. D., Thomas, E. J., BMJ Qual Saf, 9/2014, Bd. 23, S. 727–31.

*** Andersson, M., Takkouche, B., Egli, I., Allen, H. E., de Benoist, B.: »Iodine ­Status Worldwide«, WHO Global Database.