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1. Auflage 2020

© der deutschen Ausgabe:

Crotona Verlag GmbH & Co.KG

Kammer 11 • D-83123 Amerang

www.crotona.de

Amerikanischer Originaltitel:

The Jewish Book of Living and Dying

First published in the United States

by Jason Aronson, Inc. Lanham, Maryland, USA. Reprinted by permission. All rights reserved.

Umschlaggestaltung: Annette Wagner

unter Verwendung von 9817996 © Alexey Zaitsev – 123rf.com

ISBN 978-3-86191-206-4

Inhalt

Vorwort

Kapitel Eins

Einführung

Jüdische Glaubensquellen über das Leben nach dem Tod

Eine universell anwendbare Jenseits-Vorstellung

Kapitel Zwei

Wegweiser zum Leben und Sterben mit dem Spirituellen Judentum

Die Thora neu betrachtet

Gott in unseren Alltag mitnehmen

Ethisch verantwortliches Verhalten

Persönliche Tugenden

Kapitel Drei

Was den Tod überlebt: Die unsterbliche Seele

Der Einfluss des Maimonides

Eine Möglichkeit: Körperliche Auferstehung

Unsere unsterbliche Seele

Kapitel Vier

Die Trennung der Seele vom physischen Körper

Teil I: Der Sterbeprozess und der Moment des Todes

Der Sterbeprozess

Rituale auf dem Sterbebett nach jüdischem Glauben

Der Moment des Todes

Hilfe für Todkranke vor dem Tod

Kapitel Fünf

Die Trennung der Seele vom physischen Körper

Teil II: Visionen im Moment des Todes

Visionen im Moment des Todes

Der Umgang mit Visionen im Moment des Todes

Kapitel Sechs

Die Trennung der Seele vom physischen Körper

Teil III: Der Grabesschmerz

Der Grabesschmerz

Nachtodliche Rituale im jüdischen Glauben

Nachtodliche Rituale, um der Seele ihren Weg im Jenseits zu erleichtern

Vorschläge für spirituell Suchende und andere, die mit der Trauer ringen

Kapitel Sieben

Die Reinigung der Seele im Fegefeuer

Die Reinigung der Seele im Fegefeuer: Ein Überblick

Die biblische Vorstellung von Scheol

Das Fegefeuer nach den rabbinischen Lehren

Die sieben Bereiche des Fegefeuers

Metaphorische Elemente des Fegefeuers

Verweildauer im Fegefeuer

Traditionelle jüdische Rituale

Das Kaddisch der Trauernden sprechen, um der Seele ihren Weg im Jenseits zu erleichtern

Vorschläge für spirituell Suchende und andere, die mit der Trauer ringen

Kapitel Acht

Das Paradies: Die himmlischen Visionen der Seele

Der Weg der Seele im Unteren Paradies: Ein Überblick

Der Eintritt ins Untere Paradies

Der erholsame Weg der Seele im Oberen Paradies

Die Geographie des Paradieses

Das Paradies als Spiegel unseres Bewusstseins

Klassische jüdische Rituale

Mit regelmäßigen Ritualen nach dem Tod der Seele ihren Weg im Jenseits leichter machen

Vorschläge für spirituell Suchende

Kapitel Neun

Spirituelle Vereinigung: Rückkehr zum Ursprung des Lebens und Reinkarnation

Rückkehr zum Ursprung des Lebens

Reinkarnation: Die Wiedergeburt der Seele in einem neuen physischen Körper

Weitere Einzelheiten zur Reinkarnation

Reinkarnation im Realitätstest

Reinkarnation im übergeordneten Zusammenhang: Hilfe bei der Antwort auf schwierige Fragen

Verbindungen zwischen den Lebenden und der Seele eines Verstorbenen außerhalb der Wiedergeburt: Gutartige und böse Besessenheiten

Das höchste Ziel: Vereinigung mit Gott

Traditionelle jüdische Rituale um der Seele ihren Weg im Jenseits leichter zu machen

Vorschläge für Spirituell Suchende

Kapitel Zehn

Die Botschaft des Lebens im Sinn des Todes: Innerer Frieden für das tägliche Leben

Methoden zur Entwicklung von Liebe und Mitgefühl

Methoden um leichter vergeben zu können

Abschließende Gedanken

Ausgewählte Literaturvorschläge

Über den Autor

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Im Gedenken an meine Mutter sowie an unsere Gespräche über Kanarienvögel und das leben nach dem tod.

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DANKSAGUNG

Zwei Menschen schulde ich tiefsten Dank: Erstens meinem Mentor Rabbi Dr. Joseph H. Gelberman, der mich in die Ideenwelt des Spirituellen Judentums eingeführt hat, und zweitens Dr. Simcha Paull Raphael und seinem Werk Jewish Views of the Afterlife, das mit seiner beeindruckenden wissenschaftlichen Brillanz ein Quell kreativer Inspiration für mich war. Alle Leserinnen und Leser meines Buches sollten auch Dr. Raphaels Werk lesen; denn sie werden darin eine detaillierte Darstellung jüdischer Schriften und Erzählungen finden.

Viele Menschen, darunter Robert M. Hausman, Laurence E. Mitchell, Simcha Paull Raphael und Robert E. Sheperd, gaben mir hilfreiche Anregungen, als mein Manuskript seiner Vollendung entgegenreifte. Danken möchte ich auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an meinem Kurs Das Leben nach dem Tod aus jüdischer Sicht am Jewish Study Center in Washington D. C. Ich habe sehr viel von ihnen gelernt.

John Miller und Erica M. Ostlie, Auskunftsbibliothekar bzw. Fernleihe-Koordinatorin an der Jacob-Burns-Bibliothek der Juristischen Fakultät der George Washington University, haben mich bei der Suche nach schwer auffindbaren Materialien mit ihrem unfehlbaren Gespür unterstützt. Mein Sekretär Dale T. Wise jun. hat das Manuskript mit der ihm eigenen großen Sorgfalt abgetippt.

Zu guter Letzt wurde ich bei den Vorbereitungen zu diesem Buch und in meinem Vorhaben, auf der Grundlage jüdischer Quellen eine universell anwendbare Vorstellung vom Jenseits zu entwerfen, sehr ermutigt durch Max I. Dimont und seine Worte in Jews, God and History:

Im Laufe der Jahrhunderte hat die Trinität aus Jehova, Thora und Propheten zufällig oder gezielt zwei Gesetzeskomplexe hervorgebracht, den einen zum Erhalt der Juden als Juden und den anderen zum Erhalt der Menschheit. In den ersten zweitausend Jahren ihrer Geschichte nutzten die Juden jenes Drittel der Thora …, in dem es um Priesterschaft und Opfergaben geht, um sich in einer Welt heidnischer Kulturen als jüdische Entität zu behaupten. In den zweiten zweitausend Jahren ihres Bestehens verwendeten sie jenes Drittel der Thora und des Talmud, welches sich mit Ritualen und Ernährungsvorschriften befasst, um ihre ethnische Einheit auch in einer Zeit zu bewahren, in der sie die universellen Aspekte des jüdischen Humanismus in der ganzen Welt verbreitet haben. Nun sind von der Thora und dem Talmud nur noch die universellen Inhalte übrig – jenes Drittel, in dem es um Moral, Gerechtigkeit und Ethik geht. Deutet dieser Verlauf der Geschichte darauf hin, dass das Judentum nun bereit ist, seinen Glauben einer Welt zu verkünden, die in der Lage ist, seine prophetische Botschaft anzunehmen? Wird dies die Bestimmung der Juden im dritten Akt sein?1

1

Max I. Dimont, Jews, God and History, durchgesehene und aktualisierte Auflage, Signet, New York 1994.

VORWORT

Eine Geschichte über den chassidischen Meister Rabbi Simcha Bunam von Pžysha erzählt von den letzten Augenblicken seines Lebens. Als er auf dem Sterbebett lag, übermannte der Kummer seine Frau, und sie brach in Tränen aus. Ruhig und gefasst sah der sterbende Rebe sie an und fragte liebevoll: „Warum weinst du? Mein ganzes Leben war doch nur dazu da, dass ich Sterben lerne.“ Kaum waren ihm diese Worte über die Lippen gekommen, verschied er friedlich. Er hatte sein Schicksal als endlicher Mensch voll und ganz angenommen.

Immer wenn ich an diese Szene auf dem Sterbebett denke, frage ich mich, was es wohl bedeutet, sein ganzes Leben lang Sterben zu lernen. Schließlich ist das nicht unbedingt eine geläufige Vorstellung. Das Judentum gilt üblicherweise als eine lebensbejahende Religion. Schon sehr früh wird Kindern beigebracht, die Feiertage und heiligen Augenblicke im jüdischen Jahreslauf einzuhalten. Jugendliche werden durch die Vorbereitungen auf Bar und Bat Mitzwa ins jüdische Religionsleben eingeführt, und Familien sind gehalten, aktiv in der jüdischen Gemeinde mitzuwirken. Selbst ältere Menschen erhalten inspirierenden Rat, wie sie länger leben und das Leben genießen können. Die Folge ist ein stillschweigendes Verleugnen der Ängste und Befürchtungen, die wir im Zusammenhang mit dem Sterben haben. Um die Wahrheit zu sagen, abgesehen von Jiskor, der Seelenfeier zum Totengedenken, ist der Tod im jüdischen Leben kein großes Gesprächsthema.

Als eine Gesellschaft, die stolz ist auf ihr Leben und ihre Lebensführung, tun wir im Grunde alles, um das Thema Tod zu meiden. Und doch: Sterben müssen wir! Diese Realität gehört nun einmal zur Natur des menschlichen Lebens.

Wie also können wir lernen zu sterben, oder besser noch, jeden Augenblick im Bewusstsein unserer Sterblichkeit zu leben, damit wir bereit sind, dem Tod gegenüberzutreten, sobald er am Horizont unseres Lebens aufscheint? Wer werden die Lehrer und Führer sein, von denen wir lernen, dem Tod mit Weisheit und Würde zu begegnen?

Diese Aufgabe hat Rabbi Lewis Solomon übernommen, als er Das kabbalistische Totenbuch schrieb. Solomon führt die wissenschaftliche Forschung mit seinen eigenen Erfahrungen in Pastoral und Lehre zusammen und nimmt seine Leserinnen und Leser mit auf eine Entdeckungsreise zu der unendlichen Weisheit, die das Judentum zu den Themen Tod, Sterben und Seelenweg im Jenseits anzubieten hat. Rabbi Solomon verbindet mythische und mystische jüdische Schriften mit modernen psychologischen Erkenntnissen und vermittelt uns so eine einfache, doch zutiefst bedeutende Botschaft: Der Tod ist nicht das Ende des menschlichen Lebens, sondern nur ein Übergang in eine andere Bewusstseinswelt. Wir erfahren mehr über kaum bekannte jüdische Lehren über das Leben nach dem Tod und können dadurch besser vorbereitet in die Begegnung mit Sterben, Tod und Trauer gehen.

Zwar sprechen viele jüdische Lehrer, Schriften und Überlieferungen vom Überleben einer ewigen Seele, doch detaillierte Informationen darüber, was genau nach dem Tod mit dem menschlichen Bewusstsein ge schieht, sind oft nur schwer aufzutreiben. In der Regel entdeckt man leichter, was der Tibetische Buddhismus, die amerikanischen Ureinwoh-ner oder die Römisch-Katholische Kirche über das Leben nach dem Tod lehren, als was das Judentum zu diesem Thema zu sagen hat. Doch in Rabbi Solo mons kabbalistischem Totenbuch finden Sie eine gut lesbare und über sichtliche Karte für den Weg der Seele im Jenseits. Diese Karte fußt auf jener uralten jüdischen Weisheit, die auch in unserem modernen Leben Bestand hat und praktisch anwendbar ist.

Der Tod, so stellt Rabbi Solomon fest, ist kein schmerzhafter Augenblick, sondern eher so, als „zöge man einen Faden aus der Milch“. Die Seele lässt den physischen Körper hinter sich und betritt eine übernatürliche Welt – jenseits aller üblichen Einschränkungen durch Zeit, Raum und Geographie – in der sich das Bewusstsein auf völlig neue Wege begibt. Der Jenseits-Begriff der jüdischen Mystik ist am ehesten als vielstufige Bewusstseinsreise zu verstehen. Zunächst treten verschiedene Visionen auf – strahlendes Licht, Engelwesen, liebe Freunde und Angehörige sowie eine umfassende Schau des eigenen Lebens. Dynamisch und in steter Veränderung begriffen, führt diese nachtodliche Reise das entkörperlichte Wesen durch den Prozess der Ablösung vom physischen Körper in einen Reinigungszustand hinein, in dem ungelöste emotionale Überreste des Lebens entfernt werden. Darauf folgt eine Zeit intellektueller Versenkung in himmlische Glückseligkeit und schließlich die spirituelle Vereinigung mit dem Göttlichen oder die Vorbereitung auf die Wiederverkörperung, die Reinkarnation.

Die meisten Juden wissen ebenso wenig wie die meisten Nicht-Juden, dass das Judentum über ein sehr differenziertes, multidimensionales Modell für das Leben nach dem Tod verfügt. Diese Kartographie der jenseitigen Welt bereits lange vor dem Tod zu kennen, hilft uns, effektiver mit Tod, Sterben und Verlust – und letzten Endes natürlich auch mit dem Leben – umzugehen.

Als praktischer Ratgeber zum Thema Tod bietet Das kabbalistische Totenbuch nicht nur ein Modell des Jenseits, sondern auch konkrete Hilfen für Sterbende und Trauernde. Im Angesicht einer unheilbaren Krankheit und des bevorstehenden Todes fühlen sich die Betroffenen oft alleingelassen und haben Angst. Angehörige kommen sich hilflos und ohnmächtig vor, erst recht in einer erdrückend technisierten Umgebung. Lewis Solomon wendet jüdische Jenseits-Lehren auf die heutige Lebenswirklichkeit an und erschafft damit wirksame jüdische Instrumente, die den Menschen helfen können, bewusst zu sterben: Meditationen für den eigentlichen Moment des Todes und als Hilfe für die Seele auf ihrem Weg im Jenseits.

Ähnliches gilt für die Hinterbliebenen: Auch Sie werden in diesem Buch großen Trost für ihr wundes Herz finden. Der Verlust eines geliebten Menschen, sei er Elternteil, Ehepartner, Kind oder Freundin bzw. Freund, kann eine zutiefst einsame und schmerzhafte Erfahrung sein. Mit dem Tod erscheint die Beziehung auf drastische Weise durchtrennt. Doch dieses Buch betrachtet die uralte jüdische Ansicht, wonach selbst nach dem Tod der Verbindungsfaden zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten fortbesteht, als Tatsache. Basierend auf seinem Verständnis klassischer jüdischer Trauerrituale, stellt Rabbi Solomon besondere Meditationen und andere Übungen vor, mit denen Trauernde den Heilungsprozess mit Verstorbenen fortsetzen und ihren Kummer lindern können.

Es ist wahr, der Tod ist eine Realität des Lebens, die oft einen tiefen Verlustschmerz und den Verzicht auf liebevolle Verbundenheit mit sich bringt. Doch das Band zwischen Menschen überdauert die physische Sterblichkeit. Wenn wir mehr über jüdische Spiritualität erfahren, können wir lernen, in unser Leben ein wachsendes Bewusstsein für jene göttliche Welt jenseits der unseren einfließen zu lassen, in der unsere Lieben sind. Wenn wir Herz und Geist den unsichtbaren jenseitigen Reichen öffnen, dann können wir der Trauer einen Sinn geben, ein wundes Herz heilen und der Seele den Blick für die tieferen Geheimnisse von Leben und Tod erschließen.

Das kabbalistische Totenbuch ist ein wunderbarer Beitrag zur wachsenden jüdischen Literatur über Tod und Sterben. Es ist ein dringend notwendiger moderner jüdischer Ratgeber rund um das Thema Tod. Im Ringen mit der Begegnung des Menschen mit dem Tod muss jeder seinen eigenen Weg gehen. Kosten Sie dabei die Weisheit aus, die dieses Buch Ihnen für ein bewusstes spirituelles Leben schenkt.

Dr. Simcha Paull Raphael

Philadelphia, Pennsylvania, USA.

Kapitel Eins

EINFÜHRUNG

Wir werden alle sterben. Der Tod ist für uns das letzte und schrecklichste Geheimnis. In diesem Buch versuche ich, mich mit eben diesem Geheimnis auseinanderzusetzen, das eines Tages für uns alle gelüftet wird – endgültig. Aus dem jüdischen Glauben schöpfend, vertrete ich die Auffassung, dass der Tod für unsere unsterbliche Seele nicht das Ende des Lebens ist.

Wenn wir todkrank sind, packt uns die Angst. Wir fürchten uns vor dem Schmerz, sowohl beim Sterbeprozess als auch im Moment des Todes, und vor dem nachtodlichen Unbekannten. Außerdem haben wir Angst vor unserer eigenen Bedeutungslosigkeit.

Wenn wir den Tod eines lieben Angehörigen erleben, dann versinken wir in einer Trauer, die nahezu unvorstellbar und unaussprechlich ist. Doch die Begegnung mit Verlust und Leid gehört auf dieser Welt zum Menschsein unmittelbar dazu.

In unserem tiefen Kummer vermögen wir uns kaum vorzustellen, dass wir jemals wieder Freude am Leben empfinden könnten. Wir fragen: Warum ich? Wie konnte Gott so etwas zulassen? Es ist schwer, jetzt einen Sinn oder eine Aufgabe im Leben zu erkennen. Im Angesicht des Todes, sei es unser eigener oder der eines lieben Menschen, zerbricht oft unser Glaube an das Leben oder an Gott. Doch in allem liegt ein Sinn.

Dieses Buch möchte Ihnen helfen, auch mitten in Ihrem Schmerz, Ihrer Angst, Ihrer Trauer und Ihrem Verlust über den Sinn von Tod und Sterben nachzudenken. Es präsentiert die Vorstellung vom Leben nach dem Tod aus der Sicht des Judentums, einer der großen Weltreligionen.

Auch wenn Worte in Zeiten emotionaler Verletztheit den Schmerz kaum zu lindern vermögen, hoffe ich doch, dass ich ein gewisses Maß an Trost spenden kann: Denjenigen, die von einer tödlichen Krankheit betroffen sind; Gesunden, die sich mit dem bevorstehenden Tod eines geliebten Menschen auseinandersetzen müssen; und den Hinterbliebenen, gleich ob jung oder alt, die über den Tod eines Angehörigen oder guten Freundes trauern. Dieses Buch wendet sich auch an Menschen, die mehr über die spirituellen Lehren der verschiedenen Religionen, in diesem Fall des Judentums, erfahren möchten, um im Rahmen ihrer Lebensauffassung ein sinnvolleres Verständnis des Todes zu entwickeln. Daher können also alle spirituell Suchenden, unabhängig von ihrer spirituellen oder religiösen Richtung, die jüdische Jenseitsvorstellung nutzen, um besser mit ihrem Leid zurechtzukommen.

Ich bitte Sie nur um die Bereitschaft, den tröstlichen Glauben, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, zumindest anzuhören oder vielleicht sogar anzunehmen. Die jüdischen Jenseitslehren mögen Ihnen dabei helfen, ein individuelles Glaubenssystem aufzubauen, das Ihnen die Akzeptanz des Todes leichter macht – Ihres eigenen oder eines geliebten Menschen.

Denken Sie einmal darüber nach, wie es wäre, wenn man uns als Kindern beigebracht hätte, dass es auch nach dem Tod möglich ist, mit denjenigen in Verbindung zu bleiben, die diese Welt verlassen haben. Stellen Sie sich vor, wie anders wir wohl über das Leben und den Tod dächten, wenn wir gelernt hätten, uns auf jene unsichtbaren Welten jenseits der physischen, die wir Leben nennen, einzustimmen.

Malen Sie sich aus, wie es wäre, wenn die Menschen offen darüber sprächen, wie sie diese Verbindung zwischen der Welt der Lebenden und den jenseitigen Reichen der Verstorbenen empfinden. Stellen Sie sich vor, wie es wäre, in einer Gesellschaft zu leben, in der der Glaube an ein Leben nach dem Tod und Erfahrungen damit ganz normal sind.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, so glaube ich, sind wir dabei, eine sol-che Welt zu erschaffen, in der das jenseitige Leben als organischer Bestandteil im Kreislauf des Lebens begriffen wird: Leben, Tod, jenseitiges Leben und Wiedergeburt. Der Kreislauf des Lebens, niemals endend und sich stets verändernd: Leben, Tod, jenseitiges Leben und Wiedergeburt.

Wir sind auf unterschiedlichste Weise mit unseren Lieben vereint, sogar nach dem Tod. Die Auffassung, dass es ein Bewusstsein gibt, das den Menschen nach dem Tod erfahrbar ist, erscheint unserem westlichen rationalistischen Denken fremd. Doch der jüdische Glaube, der diesem Buch zugrunde liegt, lehrt seit Langem, dass der Tod des Körpers nicht das Ende unserer Existenz ist.

Die Grundaussage dieses Buches ist recht schlicht. Zu allen Zeiten hatten die jüdischen Weisen viel über das Weiterleben nach dem körperlichen Tod zu sagen. Der jüdische Glaube lehrt, dass der Tod die Existenz der Seele nicht beendet. Das Leben – unsere Essenz, unser Geist – überlebt das Hinscheiden des Fleisches. Der Tod stellt einen Übergang von einem Bewusstseinszustand zu einer anderen Bewusstseinsebene – zu einem entkörperlichten spirituellen Bewusstsein – dar.2 Nach dem körperlichen Tod betritt die menschliche Seele verschiedene nicht-materielle Welten. Dort durchläuft sie eine Reihe transformierender Erfahrungen, durch die sie gereinigt werden soll und die zugleich der Festigung der Lektionen aus dem eben beendeten Leben dienen. Das Leben nach dem Tod stellt also einen Entwicklungsweg des Bewusstseins dar. Dieser besteht aus verschiedenen Lernstufen und bewirkt, dass die Erlebnisse des Verstorbenen aus seinem unmittelbar vorangegangenen Leben integriert werden. Die Kenntnis der besonderen Dynamik dieses Weges kann Ihnen helfen, die rätselhaften Geheimnisse um Leben, Tod und Jenseits besser zu verstehen.

In dieser Phase nach dem Tod und vor der Wiedergeburt in einem neuen physischen Körper wird die Seele der Verstorbenen veredelt und transformiert. Schließlich werden fast alle Seelen wiedergeboren. Daher ist die Vorstellung von der Wiedergeburt also universell auf nahezu jeden Menschen anwendbar.

Kurzum, die jüdischen Lehren vom Leben nach dem Tod enthalten eine dauerhafte Botschaft der Hoffnung, nicht der Verzweiflung. Wir, die Lebenden, sollten den Tod nicht fürchten. Der Tod stellt vielmehr ein Erhobenwerden auf eine andere und höhere Lebensebene dar, die nicht mit den Leiden des physischen Körpers verbunden ist. Der Tod bietet uns die Möglichkeit, in eine Welt aufzusteigen, die frei ist von allem, was uns auf der Erde behindert. Wenn wir weniger Angst vor dem Tod haben, so schwer uns das fallen mag, dann werden wir mitten im Leben neu in die Freude und Fülle des Lebens hineingeboren.

Betrachtet man die jüdische Weisheit über den Tod und das Leben danach, so versichert uns das Judentum, dass zwischen unserer Welt und der Welt der Toten ein Fenster liegt – und keine Mauer. Wenn Sie aus dem Erbe der jüdischen Jenseitslehren schöpfen, werden Sie allmählich erkennen, dass es zwischen unserer Welt der Lebenden und der Welt der Toten ein hauchdünnes, aber wahrnehmbares Kommunikationsfenster gibt. Die Lebenden und die Verstorbenen können miteinander verbunden bleiben und sind dies tatsächlich auch oft. Wird dieser Gesichtspunkt in die moderne jüdische Lehre wieder eingebunden, so vermittelt er die notwendige Weisheit für ein spirituell begründetes Modell von Sterben und Trauer, wie wir es für die Lebenswirklichkeit im 21. Jahrhundert brauchen.

Jüdische Glaubensquellen über das Leben nach dem Tod

Bevor wir nun unsere Rundreise auf dem Weg der Seele im Jenseits beginnen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass der jüdische Glaube seine Auffassung vom Weiterleben der Seele nach dem Tod aus vier Quellen schöpft:

1.

Biblische

2.

Rabbinische

3.

Mittelalterliche

4.

Mystische Quellen3

Biblische Quellen

Zu den biblischen Schriften gehören die fünf Bücher Mose (Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium) sowie die Propheten und verschiedene andere Schriften, wie etwa die Psalmen und die Sprüche Salomos. Diese biblischen Schriften wurden hauptsächlich zwischen dem 10. und dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung verfasst.

Rabbinische Quellen

Das rabbinische Judentum entstand mit der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem vor etwa eintausendneunhundert Jahren. Im Laufe der darauffolgenden fünfhundert bis neunhundert Jahre unserer Zeitrechnung, bis hinein ins europäische Mittelalter, entstand eine umfangreiche Literatursammlung, die sozusagen das schöpferische Ferment der Rabbinen widerspiegelt. Die rabbinische Literatur besteht aus zwei Teilen: Der erste ist der Talmud; er ist hauptsächlich ein rechtlicher Diskurs über alle Aspekte des jüdischen Lebens, enthält aber auch Material, in dem es nicht um die Einhaltung der Gebote und Gesetze, sondern unter anderem um Jenseitslehren geht. Der zweite ist der Midrasch – Deutungen verschiedener biblischer Abschnitte in Allegorien, Parabeln, Analogien und Geschichten, die den Sinn der Bibelverse veranschaulichen sollen.

Im Einklang mit der Überlieferung durch die biblischen Propheten ver traten die Rabbinen übereinstimmend die Auffassung, dass am Ende eine neue göttliche Weltordnung, ein geschichtsübergreifendes irdisches Reich des Weltfriedens, der sozialen Gerechtigkeit und der Einheit aller Menschen an die Stelle der existierenden soziopolitischen Welt treten wird. In den Lehren der Rabbinen ging es hauptsächlich darum, wie man in der Gemeinschaft der Menschen leben soll, und nicht um eine Deutung der Geheimnisse des Kosmos.

Zweitausend Jahre lang vertrat die rabbinische Überlieferung allerdings eine ethische Haltung von Lohn und Strafe. Das göttliche Gericht nach dem Tod brachte demnach Belohnung oder Bestrafung mit sich, je nach den Werken, Worten und Gedanken des betreffenden Menschen, insbesondere im Hinblick auf die Einhaltung einer ganzen Ansammlung jüdischer Gesetze und Rituale. Rechtes Verhalten wurde mit einem glückseligen Leben im Jenseits belohnt, sozusagen mit einer herrlichen Suite mit Meerblick auf einem Kreuzfahrtschiff. Alle diejenigen jedoch, die auf Kosten anderer auf materiellen Profit aus waren, müssen in der Hitze des Maschinenraums schmoren.

Mittelalterliche Quellen

Der mittelalterliche Blick auf das Jenseits zeigt sich hauptsächlich in zwei Quellen: In der mittelalterlichen Literatur (einschließlich des die Bibel auslegenden Midrasch) und in philosophischen Schriften. Die mittelalterlichen Legenden, die im 10. bis 14. Jahrhundert unserer Zeitrechnung entstanden, behandeln ein breites Spektrum jüdischer Themen, darunter auch das Leben nach dem Tod. Diese visionären, fantasievollen Werke, die man mit der Göttlichen Komödie, Dantes epischem Gedicht über Himmel und Hölle, vergleichen könnte, zeichnen die Erfahrungen nach dem Tod anschaulich nach, angefangen vom Grabesschmerz, über die Qualen des Fegefeuers bis zur Glückseligkeit im Paradies.

Neben dem Midrasch entstand in der Zeit zwischen 900 und 1300 u. Z. auch eine Fülle mittelalterlicher jüdischer philosophischer Schriften, in denen sich rabbinisches Judentum und Philosophie, insbesondere das griechische philosophische Denken und dessen Glaube an eine spirituelle Unsterblichkeit, miteinander verbanden. Diese Schriften enthalten Lehren über das Wesen der unsterblichen Seele und ihren Weg im Jenseits. Seit diesen Werken der mittelalterlichen jüdischen Philosophen wird dem Schicksal der Seele in den nachtodlichen Reichen allgemein sehr viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet.

Mystische Quellen

Die jüdischen mystischen Lehren (zusammengefasst in der Kabbala) sind aus Akademien für jüdische Mystik hervorgegangen, wie es sie im 13. bis 15. Jahrhundert in Spanien und Frankreich sowie im 16. Jahrhundert in Palästina gab. Ihre Schriften, insbesondere der Sohar (Das Buch des Glanzes) – ein mystischer Kommentar zu den fünf Büchern Mose, der Ende des 13. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung erschien – enthalten mit die detailliertesten und komplexesten Ansichten des Judentums über das Leben nach dem Tod. Wenn sich diese Schriften – im Rahmen des Interesses ihrer Verfasser am Gesamtbild des Kosmos – mit dem Leben nach dem Tod befassen, dann konzentrieren sie sich auf die Seele; insbesondere ihre verschiedenen Dimensionen, ihre Beziehung zum physischen Körper und ihre Fähigkeit zur transzendenten Wahrnehmung Gottes. Der mittelalterliche Midrasch und später auch der mystische Sohar stellen vielleicht die besten, umfassendsten und vielseitigsten Quellen für das Verständnis der jüdischen Jenseitsauffassung dar.

Zur mystischen Literatur gehören auch die Erzählungen der Chassidim, einer jüdischen Volksbewegung, die Ekstase und Freude an Gebet und Gottesdienst betont. Sie entstand im 18. Jahrhundert und besteht bis heute fort. Die chassidische Bewegung brachte breiten Schichten der jüdischen Bevölkerung die Mystik nahe und verbreitete die Legenden der Chassidim, die in Form von Geschichten über das wundersame Leben und die Werke verschiedener chassidischer Rabbinen (Rebejim oder Zaddikim, weit fortgeschrittener, gerechter spiritueller Führer) berichten, beginnend mit Israel ben Elieser, dem Baalschemtow oder Begründer der chassidischen Bewegung, der von 1698 bis 1760 in Polen lebte. Doch die Erzählungen der Chassidim verherrlichen nicht nur das Leben und die Werke der verstorbenen Rebejim, sondern sind auch eine reiche Quelle für Lehren über das Jenseits sowie insbesondere einen dauerhaften Glauben an die Unsterblichkeit und das Weiterleben der Seele nach dem Tod.

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Eine bestimmte chassidische Legende über den Weg der Seele im Jenseits vermittelt den Kern der jüdischen Lehre von der Seelenwelt. Es ist eine Geschichte über Elimelech von Lisensk, der von 1717 bis 1786 in Polen gelebt hat.4 Rebe Elimelech vertiefte sich ins Studium der Thora, insbesondere in dessen mystische Form auf der Grundlage der kabbalistischen Lehre. Er wurde einer der großen chassidischen Führer.

Rebe Elimelech hatte einen guten Freund namens Chaim, einen nahezu vollendeten, gerechten Menschen. Die Freundschaft zwischen Rebe Elimelech und Chaim war sehr tief.

Plötzlich erkrankte Chaim schwer und war dem Tode nahe. Als Rebe Elimelech ihn besuchte, weinte Chaim, der Witwer war, und bat ihn: „Nimm Abe, mein einziges Kind, zu dir; denn ich werde es bald verlassen.“ An Chaims Sterbebett versprach Rebe Elimelech, Abe zu sich zu nehmen und ihn in jüdischem Denken und Handeln zu unterweisen, allerdings unter der Bedingung, dass „Chaim zu ihm komme und ihm sage, wie es auf der anderen Seite ist“. Mit einem Handschlag besiegelten die beiden ihr Versprechen, und Chaim verschied.

Rebe Elimelech erfüllte seine Pflicht, zog Abe auf, schickte ihn in die besten Schulen und richtete ihm eine üppige Bar Mitzwa aus. Den Gepflogenheiten seiner Zeit entsprechend, arrangierte der Rebe für Abe eine sehr vorteilhafte Heirat mit der Tochter eines reichen Mannes.

Am Tag der Hochzeit warteten die Gäste verzweifelt auf Rebe Elimelech, der die Trauzeremonie halten sollte. Eine Stunde verging, dann eine zweite. Durch das Schlüsselloch seines Studierzimmers erspähten etliche Gäste Rebe Elimelech tief in Gedanken und Meditation versunken.

Nach drei Stunden erschien der Rebe und vollzog die Trauung.

Beim anschließenden Empfang erzählte Rebe Elimelech den Gästen von seiner Vereinbarung mit Chaim. Der Rebe berichtete, er habe sich bereit erklärt, Abe großzuziehen, und als Gegenleistung sollte Chaim ihn wissen lassen, wie es ihm vor dem himmlischen Gericht ergangen sei. Wenige Augenblicke vor dem geplanten Beginn der Trauzeremonie, so erzählte der Rebe, „kam Chaim zu mir. Er erschien mir wie ein vollkommen lebendiger Mensch. Ich fragte ihn: ‚Nun, wie war’s denn?‘“

„Der Augenblick des Todes“, berichtete Chaim, „war ganz schmerzlos. Es war, als zöge man einen Faden aus der Milch.“

Chaim berichtete, er habe zugesehen, wie sein Körper für die Beerdigung hergerichtet wurde, und kam dann darauf zu sprechen, dass er sich am Grab gar nicht bewusst gewesen sei, dass er tot war. „Nachdem man meinen Körper ins Grab gelegt und mit Erde bedeckt hatte, wollte ich den Friedhof verlassen und wieder in mein altes Haus gehen. Ich machte mich also auf den Nachhauseweg und folgte einem Pfad, der über einen kleinen Bach führte. Ich versuchte, den Bach zu durchqueren, aber plötzlich wurde das Wasser sehr tief. Ich bekam Angst und wollte nicht weitergehen. Bei Sonnenuntergang verspürte ich immer noch ein brennendes Verlangen, in mein altes Zuhause zurückzukehren. Sollte ich gehen oder bleiben – dort oder hier – was sollte ich bloß tun?

Dann sah ich ein großes Licht und trat ein in die Welt der Wahrheit. Nach einem Lebensrückblick, bei dem mir noch einmal jeder Gedanke, jedes Wort und jede Tat meines Lebens vor Augen geführt wurde, stand ich vor dem Himmlischen Gericht. Dort wurde meine Lebensgeschichte abgewogen.

Ich sah die Frevler im Fegefeuer. Ich entdeckte alte Freunde und hörte ihr schmerzerfülltes Schluchzen.

Ich sah aber auch die weiten spirituellen Höhen und die Glückseligkeit der Gerechten im Paradies.

Sodann sprach ich mit einem Vertreter des Himmlischen Gerichts“, berichtete Chaim. „Und ich sagte ihm: ‚Sprich zum Himmlischen Gericht und sage ihnen, ich sei ein guter Freund von Rebe Elimelech gewesen, der, wie ich meine, vor Gott Wohlgefallen findet.‘ Sie deuteten an, ich hätte einen Platz im Paradies verdient. Da ich jedoch Rebe Elimelech in die Hand versprochen hatte, dass ich zu ihm kommen und ihm berichten würde, was geschehen sei, würde ich erst ins Paradies gelassen, wenn ich mein Wort gehalten hätte.

Heute bin ich nun zu Rebe Elimelech gegangen, um mein Versprechen zu halten.“

Und Rebe Elimelch schloss seine Erzählung mit den Worten: „Chaim hat mit mir gesprochen und mich gebeten, euch heute, an Abes Hochzeit, seine Geschichte zu erzählen. Ich bat ihn, hier zu bleiben und an der Zeremonie sowie am Empfang teilzunehmen, aber Chaim sagte: ‚Halte mich jetzt, da ich mein Versprechen erfüllt habe, nicht auf. Ich kann dir die unvergleichliche Glückseligkeit im Paradies nicht mit Worten beschreiben. Alles Irdische hat für mich keine Bedeutung mehr.‘“

Eine universell anwendbare Jenseits-Vorstellung

Auf der Grundlage jüdischer Quellen will dieses Buch eine spirituell orientierte, universell anwendbare Vorstellung vom Leben nach dem Tod anbieten, die allen spirituell Suchenden, Juden wie Nicht-Juden, offen steht und für alle Bedeutung haben kann. Es erklärt die jüdische Philosophie über den Weg der Seele im Jenseits und bietet spirituelle Leitlinien zum Verständnis der Begegnung des Menschen mit dem Tod.

Bei meiner Erkundung des Weges der Seele im Jenseits behandele ich in diesem Buch: 1) Wegweiser des Spirituellen Judentums zum Leben und Sterben (Kapitel Zwei); 2) was den Tod überlebt, wobei ich mich auf die unsterbliche Seele konzentriere (Kapitel Drei); 3) die Trennung der Seele vom physischen Körper: den Sterbeprozess und den Moment des Todes (Kapitel Vier); 4) die Trennung der Seele vom physischen Körper: Visionen im Moment des Todes (Kapitel Fünf); 5) die Trennung der Seele vom physischen Körper: den Grabesschmerz (Kapitel Sechs); 6) die Reinigung der Seele im Fegefeuer während eines begrenzten Zeitraums (Kapitel Sieben); 7) die himmlischen Visionen der Seele im Paradies (Kapitel Acht); 8) die spirituelle Vereinigung, bestehend aus der Rückkehr der Seele zum Ursprung allen Lebens und ihrer Wiedergeburt (Kapitel Neun); 9) ein Verständnis des Todes als Hilfe zum Verständnis des Lebens (Kapitel Zehn).

Wie wir über den Tod und das Jenseits denken, hat Einfluss darauf, wie wir unser Leben führen (und wie wir es führen sollten) – und zwar in jedem Alter. Der Tod rückt unser Leben in die richtige Perspektive. Ich möchte Ihnen die Instrumente an die Hand geben, mit denen Sie Ihren Standpunkt im Leben ermitteln und, wenn nötig, verändern können, um eine spirituelle Reinigung und schließlich einen glücklicheren Übergang ins Jenseits zu erreichen.

Auf vier Punkte möchte ich gleich zu Beginn hinweisen.

Erstens: Dieses Buch schöpft hauptsächlich aus der mystischen Überlieferung – wie zum Beispiel anhand der Legende um Rebe Elimelech deutlich wird – wobei diese hier in die Begriffe der universell anwendbaren Konzepte des Spirituellen Judentums gefasst wird.

Wie in Kapitel Zwei noch näher ausgeführt wird, schreibe ich dieses Buch im Kontext des Judentums – des Spirituellen Judentums, wie ich es bezeichne, eines ethischen, werte-orientierten, monotheistischen Systems5 – allerdings fernab jeglicher Einzelheiten traditioneller Gesetzesvorschriften und Rituale, die zur Gestaltung des Alltags erdacht wurden.

Das Spirituelle Judentum will unseren spirituellen Hunger stillen, unserem Leben einen Sinn geben und eine Verbindung zum Transzendenten herstellen. Deshalb ist es ein undogmatischer Weg ohne formelle Gesetze. Es ist ein Weg, auf dem wir über Gott und die spirituellen Tiefen unseres Seins nachdenken, fühlen und glauben – und auf dem es nicht um Regeln, feste Rituale und förmliche Gebete geht. Das Spirituelle Judentum heißt alle Menschen willkommen, die sich auf die Gegenwart Gottes in ihrem Leben einstimmen möchten. Es stellt ein persönliches, intimes Erleben Gottes als Ursprung von Gesundheit, Freude, Liebe, Fülle und Ganzheit in Aussicht. Es ist darauf ausgelegt, uns beim Umgang mit den Krisen, auf die wir im Leben wie im Sterben treffen, zu helfen.

Das Spirituelle Judentum ist auf eine praktische Spiritualität ausgerichtet – auf eine spirituelle Lebensweise, die befreit, die unsere inneren menschlichen Möglichkeiten fördert und entwickelt und uns hilft, in uns und in den Menschen in unserem Umfeld das Beste zu entfalten.

Das Spirituelle Judentum bemüht sich, zwei grundlegende Fragen zu beantworten: Wie finde ich selbst Zugang zu Gott, wie kann ich Ihn erleben und eine Beziehung zu Ihm entwickeln? Wie kann ich durch ethisch verantwortliches Verhalten und die Umsetzung bestimmter Werte und persönlicher Eigenschaften mein Leben und das der Menschen in meiner Umgebung Tag für Tag ein wenig besser machen? Daher kann das Spirituelle Judentum Anregungen für unser Leben, unser Denken, Reden und Handeln geben – gleich ob wir einundzwanzig, dreißig, fünfzig oder achtzig Jahre alt sind. Es ist ein tiefer, inspirierender Glaube, der das Leben schöner macht.

Zweitens: In sechs Kapiteln dieses Buches, nämlich in den Kapiteln Vier bis Neun, werden an bestimmten Stellen Techniken zur Seelenführung angeboten, die der Seele auf ihrem Weg im Jenseits helfen sollen. Diese Seelenführungs-Techniken6 helfen nicht nur der sich lösenden Seele und lindern den Grabesschmerz beim Übergang unmittelbar nach dem Tod – den Rebe Elimelechs Freund Chaim auf dem Friedhof erlebt hat – sondern sie fördern auch die Verbundenheit zwischen den Hinterbliebenen und der Seele des Verstorbenen.

Diese Seelenführungs-Techniken können für Viele, die eine neue Beziehung mit der unsterblichen Seele des Verstorbenen aufbauen oder eine bestehende Beziehung weiter vertiefen wollen, eine große Unterstützung sein, denn sie fußen auf dem Glauben, dass es zwischen den Lebenden und den Toten ein Kommunikationsfenster gibt, wenn es auch durch einen feinen Schleier verhüllt ist.7 Trotz der scheinbaren Endgültigkeit des körperlichen Todes besteht zwischen den Lebenden und der Seele des Verstorbenen weiterhin eine aktive Verbindung, und es gibt keine Mauer des Schweigens.

Die Gedanken, Worte und Werke der Lebenden können auf die Seele des Verstorbenen einwirken. Mit diesen Techniken zur Seelenführung können die Hinterbliebenen, gleich welcher religiösen oder spirituellen Richtung sie angehören, eine Seele auf ihrem Weg im Jenseits unterstützen. Darüber hinaus kann auch die Seele des Verstorbenen den Lebenden helfen. Dies erkläre ich in diesem Buch.

Drittens: Dieses Buch legt aus mehreren Gründen seinen Schwerpunkt auf die universell anwendbaren Aspekte des Judentuns, auf seine Vorstellung vom Weg der Seele im Jenseits sowie auf verschiedene Seelenführungs-Techniken. Unsere Gesellschaft ist Ritualen entfremdeter denn je. Obwohl die Menschen sich im Allgemeinen von Ritualen rund um Tod und Trauer eher abwenden, suchen wir doch neue Möglichkeiten, unsere Gefühle und unsere Spiritualität auszudrücken. Deshalb ist dieses Buch nicht unter dem Gesichtspunkt verfasst, die klassischen jüdischen Rituale um Tod und Trauer zu erneuern oder mit neuem Leben zu erfüllen (obwohl manche Leserinnen und Leser die prägnante Zusammenfassung des Kerns dieser Rituale vielleicht hilfreich finden). Ich möchte vielmehr zeigen, wie spirituell Suchende die Philosophie und die Vorstellungen, die diesen Ritualen zugrunde liegen, nutzen können, um besser mit ihrem Leid zurechtzukommen. Für spirituell Suchende im 21. Jahrhundert sind die Gebete und Rituale jeglicher Religion wesentlich weniger wichtig als die spirituellen Prinzipien, die einem Glaubenssystem zugrunde liegen.

Dieses Buch möchte dem Bedürfnis nach spirituellen Quellen zum Umgang mit Tod und Trauer entgegenkommen. Die Fortschritte in der Medizin und in der biomedizinischen Technik haben unsere Lebenserwartung stark erhöht. In einer immer älter werdenden Gesellschaft werden Krebs, Alzheimer und andere Krankheiten, die uns unserer Kräfte und Fähigkeiten berauben, zunehmend mehr Menschen betreffen. Wir müssen uns auch der Tragik des Abbruchs von Leben stellen sowie Menschen zuwenden, die im Laufe ihres Sterbeprozesses unerträgliche Schmerzen und immenses Leid erfahren.

Außerdem besteht im Zusammenhang mit der zunehmenden gesellschaftlichen Sinnsuche eine verbreitete Sehnsucht nach Informationen über das Leben nach dem Tod und die Beziehung zwischen Lebenden und Verstorbenen. Als eine der großen Weltreligionen hat das Judentum allen spirituell Suchenden, die die Begegnung des Menschen mit dem Tod verstehen wollen und mit ihr ringen, über den Weg der Seele im Jenseits viel zu sagen.

Viertens: Unsere Existenz hat, nach jüdischem Glauben, einen transzendenten Wert. Der Glaube an ein spirituelles Weiterleben, als Essenz unseres Seins, entfaltet für die Lebenden ermutigende und aufrichtende Kraft.

Menschen, die an das Weiterleben der Seele im Jenseits glauben, sind meiner Erfahrung nach lebensbejahend, haben hohe Ansprüche an ihr persönliches Verhalten und setzen sich große Ziele, wodurch sie den Herausforderungen und Versuchungen des Lebens mit mehr Geduld, Mut und Stärke begegnen können. Sie neigen weniger zu Verzweiflung und Depression.8

Unsere eigene Sterblichkeit zu akzeptieren und zu begreifen, dass der Tod zum Menschsein dazugehört, ist ein wichtiger Schritt zur Entwicklung einer positiven Lebenseinstellung und zu einem erfüllten Leben im Heute. Die Entscheidung für ein „gutes“ Leben und die Erkenntnis, dass unsere Gedanken, Worte und Werke jetzt und auch für unsere Seele im Jenseits Konsequenzen haben, bereitet uns darauf vor, den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren. Ich hoffe, dieses Buch wird Ihnen helfen, den Sinn des Lebens zu schätzen und den Tod zu akzeptieren, ob vorhergesehen oder plötzlich, ob schmerzhaft oder ganz ohne Leiden.

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Jeffrey Mishlove bietet in seinem 1993 bei Oak Council Books erschienen (und nicht ins Deutsche übersetzten, d. Ü.) Werk The Roots of Consciousness: The Classic Enyclopedia of Consciousness Studies Revised and Expanded einen ausgezeichneten Überblick über die Bewusstseinsforschung. Das Buch ist eine Einführung in historische und moderne Bewusstseinsstudien auf der ganzen Welt.

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Bezüglich des Hintergrundwissens zum rabbinischen, mittelalterlichen und mystischen Judentum stütze ich mich auf Robert M. Seltzers 1980 bei Macmillan erschienenes Werk Jewish People, Jewish Thought: The Jewish Experience in History und dort auf die Seiten 243-314 bzw. 373-450 sowie auf Edward Hoffman, The Way of Splendor: Jewish Mysticism and Modern Psychology, erschienen 1992 bei Jason Aronson, S. 7-40.

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Nacherzählt nach Simcha Paull Raphael, Jewish Views of the Afterlife, Jason Aronson 1994, S. 394-397.

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Der ethische, werte-orientierte Monotheismus, als wichtigstes dem Judentum zugrundeliegendes Prinzip, wird dargelegt in Leo Baeck, Das Wesen des Judentums, Erstauflage 1948, 1995 erneut erschienen im Marixverlag, sowie in Rabbi Morris Lichtenstein, Judaism: A Presentation of Its Essence and a Suggestion for Preservation, Society of Jewish Science, 1934, S. 21-34, 57-101.

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Dr. Simcha Paull Raphaels ursprüngliches Konzept der Seelenführung als Verbindung zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten stammt aus seiner Dissertation: Simcha Steven Paull, Judaisms Contribution to the Psychology of Death and Dying, Ph.D. diss., California Institute of Integral Studies, 1986, S. 349-350, 355-359, 362-364, 368-371. Weiterentwickelt wird das Thema Seelenführung in Raphael, Afterlife, S. 383, 387-388, 391-392.

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Erkenntnisse über Begegnungen und Kommunikation zwischen Lebenden und Toten in Form von Erscheinungen finden sich in Dr. Raymond A. Moody (mit Paul Perry), Blick hinter den Spiegel: Botschaften aus der anderen Welt, Goldmann 1996. Darin führt Moody aufgrund seiner Beobachtungen und Experimente stichhaltige Argumente dafür an, dass wir tatsächlich zu Verstorbenen Kontakt aufnehmen können.

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Die Vorteile des Glaubens an ein spirituelles Weiterleben werden ausgeführt von Gary Doore in seinem Nachwort „Was sollen wir glauben?“ zu Gary Doore (Hrsg.) Gibt es ein Leben nach dem Tod? Neue Antworten auf alte Fragen, München 1994.

Kapitel Zwei

WEGWEISER ZUM LEBEN UND STERBEN MIT DEM SPIRITUELLEN JUDENTUM

Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, hat das Judentum für viele Juden seinen lebendigen Gehalt verloren.

Bei dem Begriff Judentum stehen uns normalerweise Vorschriften und Regeln vor Augen, die einzuhalten sind. Wir glauben, Judentum stünde synonym für beinahe gedankenlos abgespulte Zeremonien und Rituale. Doch die Zeremonien, Rituale und alle mit ihnen einhergehenden Regeln sind die Seitenwege des Judentums, nicht seine Hauptstraße und erst recht nicht sein Kern. Mir geht es so, dass die Rituale und Regeln, obwohl sie eigentlich dazu gedacht sind, die spirituelle Dimension des Lebens zu erschließen und anzurühren, meine spirituelle Lebendigkeit eher blockieren. Rituale und Regeln um ihrer selbst willen sind für mich kaum von Wert. Sie würgen die Spiritualität ab.

In diesem Kapitel möchte ich das Konzept des Spirituellen Judentums näher ausführen. Seine Schwerpunkte sind folgende: Die Eine Göttliche Gegenwart, das Einhalten ethischer Standards im Umgang mit anderen und das Umsetzen persönlicher Tugenden. Oder wie es der Prophet Micha vor über zweitausendfünfhundert Jahren ausgedrückt hat: „Nur Recht zu tun und treue Liebe und demütig mit deinem Gott zu wandeln!“(Micha 6,8) Wenn Sie versuchen wollen, einen Ansatz für ein „gelingendes“ jüdisch orientiertes Leben und Sterben zu formulieren, wohin können Sie sich dann wenden, um Rat zu finden?

Die Thora neu betrachtet

Ich lehne die Haltung ab, wonach eine „Thora-treue“ Lebensgestaltung ein Wegweiser für unseren Alltag, für Tod und Sterben sowie für die Begleitung der Seele auf ihrem Weg im Jenseits sein soll. Jüdische Fundamentalisten wollen sich einfach nicht mit der praktisch einhelligen Erkenntnis der Wissenschaftler auseinandersetzen, geschweige denn damit abfinden, dass die Thora (die Fünf Bücher Mose) dem Mose nicht auf dem Berg Sinai von Gott eingegeben wurde. Stattdessen erhielt die Thora ihre bekannte Form und ihren Umfang von unterschiedlichster menschlicher Hand. Sie ist das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses. Die Bücher des Alten Testaments wurden zu unterschiedlichen Zeiten und von verschiedenen Schriftstellern verfasst.

Seit vierhundert Jahren stellt die kritische Bibelforschung im Pentateuch zahlreiche Duplizierungen und Wiederholungen, Abweichungen beim Gottesnamen, eine breite Vielfalt an Sprachen und Stilen sowie in den einzelnen Schriften widersprüchliche Ansichten fest.

Die Entdeckung, dass sich die Duplizierungen, angefangen mit den beiden Schöpfungsgeschichten im Buch Genesis, über weite Teile der Schrift erstrecken, führte zu der bis ins 17. Jahrhundert zurückreichenden Behauptung, die Thora habe eine eigene Kompositionsgeschichte. Insbesondere sei sie aus einer Reihe unterschiedlicher Dokumente zusammengestellt worden.

Abweichungen in den hebräischen Gottesnamen Elohim und Jahwe, die in den Fünf Büchern Mose verwendet werden, sind ein weiteres Indiz für unterschiedliche Quellen.

Drei parallele Quellen, bekannt unter der Bezeichnung E, J und P, sowie eine weitere, vierte Quelle D gaben Anlass zur sogenannten „Vierquellen-Theorie“.9 Zwar streiten sich die Gelehrten leidenschaftlich über die Daten und die genaue Art der vier Quellen; die Ansicht jedoch, dass sich die Thora, wie wir sie heute kennen, aus vier Quellen speist, ist unbestritten.

So hat also die moderne kritische Bibelforschung das traditionelle Verständnis der Thora als göttliche Offenbarung an Moses untergraben. Bis heute stellt die Bibelforschung zwei fundamentale Doktrinen in Frage: Erstens die wörtliche Offenbarung und zweitens den Bund zwischen Gott und den Juden, auf dem viele traditionelle jüdische Rituale und Gesetze aufbauen.