Stefanie Taschinski

Die kleine Dame in den Blauen Bergen

Weitere Titel in dieser Reihe:

Die kleine Dame (Band 1)

Die kleine Dame und der rote Prinz (Band 2)

Die kleine Dame auf Salafari (Band 3)

Die kleine Dame melodiert ganz wunderbar (Band 4)

Die kleine Dame feiert Weihnachten

Die kleine Dame und Du – Ein Salafari-Buch

zum Entdecken, Staunen & Mitmachen

Auch als Hörbücher bei Arena audio.

Stefanie Taschinski

Die kleine Dame in den Blauen Bergen

Mit Bildern von Nina Dulleck

Für

Josefina   Pauline   Jasmin   Sophie   Philip

Der Brief mit dem Fliegenpilz

Nun blieb die kleine Dame schon wieder stehen. Und da vorn war das Brezelhaus! Lilly tippelte von einem Fuß auf den anderen. »Kleine Dame, wir müssen weiter.«

Aber die kleine Dame reagierte nicht. Sie zückte ihr aufrollbares Maßband und trat an einen Straßenbaum. Einen ganz gewöhnlichen Straßenbaum!

»Chaka, was meinst du?«, fragte die kleine Dame das Chamäleon, das auf dem Stamm saß und das feine Silbergrau der Rinde angenommen hatte. Zentimeter für Zentimeter zog sie das Maßband aus und hielt es an einen dünnen Zweig, der weit unten aus dem Stamm wuchs. »Wusste ich’s doch.«

Lilly seufzte. »Ich auch. Das ist ein Zweig.«

»Fagus Silvatica, um genau zu sein, meine Liebe.« Mit einem Schnipps ließ die kleine Dame das Maßband wieder einrollen. »Und dieser Buchenzweig ist, seit wir hier letzte Woche vorbeiflaniert sind, um exakt einen Zentimeter gewachsen!«

Einen Zentimeter? Das war nicht besonders viel. Aber als Lilly genauer hinsah, fiel ihr auf, dass die grauen Knospen sich in zarte hellgrüne Blätter verwandelt hatten. Lilly hätte die kleine Dame zwar gern gefragt, wie Bäume ihre Blätter auspacken, aber im Brezelhaus wartete nun mal Mama Bär auf sie. Sie hatte Lilly zum Einkaufen geschickt, und wenn sie nicht ganz schnell zurückkam, würde Bruno, ihr Minibruder, bestimmt wieder den King Kong geben und mit hochrotem Kopf brüllen, bis Herr Leberwurst bei ihnen klingelte, um zu fragen, ob alles in Ordnung wäre. »Bist du fertig?«

»Lilly, wie oft waren wir zwei gemeinsam auf Salafari?« Nun zog die kleine Dame auch noch das Notizbuch aus ihrer rechten Tasche und zückte den Bleistift. »Messwerte müssen sorgfältig noteriert werden, bevor sie sich verwirbeln.«

Ja, mit der kleinen Dame verwandelte sich sogar der kurze Weg zum Lädchen an der Ecke in eine Entdeckungs-Salafari. Und statt fünf Minuten war man schwuppdich einen halben Tag unterwegs!

Endlich waren sie am Brezelhaus! Oben im Nest auf der goldenen Brezel landete flügelschlagend die schokobraune Taube.

Die kleine Dame zog den Helm. »Gutnäsen Tagnäs!«

»Hallo«, rief Lilly nach oben und zog Mamas Haustürschlüssel aus der Tasche. »Sehen wir uns gleich?«, fragte sie die kleine Dame, die hinter ihr die Stufen zum Brezelhaus hochkam.

»Wieso? Wir sehen uns jetzt, wir sehen uns gleich und später, denn ich werde dich noch ein Stückchen begleiten.«

»Bis nach oben?«

»Heute leider nicht. Aber es gibt etwas, das ich den Fegerich fragen möchte.«

Da erst bemerkte Lilly Herrn Leberwurst, den Hausmeister des Brezelhauses. Er war groß. So groß, dass er von oben auf die Briefkästen hinabschauen konnte, die in einer Reihe an der Flurwand hingen. Heute hatte er seinen Besen gegen eine Zahnbürste eingetauscht. Rischelwischpisch. Rischelwischelpisch, polierte Herr Leberwurst die Namensschilder der Briefkästen in kreisenden Bewegungen. »Ranzig!«, grummelte er.

»Holodriho, Herr Leberwurst«, grüßte die kleine Dame.

Der Kopf des Hausmeisters ruckte herum. »Und wer macht den ganzen Dreck weg? Wer macht das?« Aufgebracht fuchtelte er mit der Zahnbürste vor Lillys Gesicht. »Wer macht hier alles sauber?«

Lilly wich einen Schritt zurück. »Sie, Herr Leberwurst.«

»Sie sind unbedingt der beste Fegerich der Welt«, sagte die kleine Dame und ließ ihren Schirm hin- und herschwingen. »Wissen Sie womöglich, ob …«

Herr Leberwurst tauchte die Zahnbürste wieder ins Wasser und putzte weiter. Rischelwischelpisch, rischelwischelpisch. »Ganz genauso ist es! Barbara sagt, es sei mein Werk.« Ein schiefes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Lilly unterdrückte ein Kichern. Barbara Schnacksel war Mamas Kollegin aus der Backstube. Seit Lilly zusammen mit der kleinen Dame den Brezelhauschor gegründet hatte, waren die Leberwurst und Frau Schnacksel ein Liebespaar.

Der Hausmeister streckte die Brust raus und fuhr sich mit der Zahnbürste durch die dünne Haartolle. »Mein Lebenswerk sozusagen«, sagte er zufrieden. Die kleine Dame nickte. »Ein Meister seines Fachs. Ihnen entgeht nichts, und deshalb wollte ich mich erkundigen, ob vielleicht ein kleiner Brief für mich abgegeben wurde?«

»Ein Brief?«, fragte der Hausmeister. »Nein, der Postbote hatte nichts für Sie.«

Da kam Lilly auf die Idee, auch schnell in ihren Briefkasten zu schauen.

»Seltwürdig«, sagte die kleine Dame. »Herr Kreideweiß ist sonst immer sehr zuverlässig. Nun, dann kommt der Brief sicher in den nächsten Tagen.«

»Herr Kreideweiß? Wer ist das?«, fragte Lilly, während sie den Briefkasten aufschloss.

»Ein alter Freund von mir. Er ist auf einer mächtigen Bergsalafari quer durch Europa, und ich erwarte seinen Bericht.«

Lilly hörte nur mit einem Ohr zu, denn in ihrem Briefkasten lag ein Brief! Die untere Ecke war umgeknickt, und es klebte eine Fliegenpilz-Briefmarke darauf. »Der ist von Oma!«, rief sie.

»Ich hab mich wohl verhört«, krächzte die Leberwurst, steckte sich die Zahnbürste ins linke Ohr und begann, rischelwischelpisch, zu putzen.

»Bäh!« Lilly verzog das Gesicht.

Da wechselte Herr Leberwurst schon das Ohr und putzte rechts weiter. Mit einem Plopp zog er die Zahnbürste aus dem Ohr. »Was hast du gesagt?«

»Ich … ich meinte, dass der Brief von meiner Oma ist.«

Nun klopfte die kleine Dame gegen ihren Schirm. »Chaka, hast du jemals von einer OMA im Brezelhaus gehört?«

Der Schirm wechselte seine Farbe von Pfefferminzgrün zu Butterblumengelb, und Chakas Schwanz, der unten aus dem Schirmoberteil ragte, formte ein Fragezeichen.

Lilly schüttelte den Kopf. »Oma ist eben einfach Mamas Mama.«

»Ts, ts, ts, eben einfach?«, wiederholte die kleine Dame mit einem Lachen.

»Karlchen und ich kennen sie auch fast gar nicht. Aber jetzt kommt sie uns endlich besuchen, weil sie Bruno sehen will.«

»Seit wir gemeinsam die geheimsten Winkel des Hinterhofs erforschen, war sie noch kein einziges Mal hier, oder kann sie sich etwa unsichtbar machen?«, fragte die kleine Dame.

»Ich glaub, irgendwie schon. Aber anders als du.« Lilly sah wieder auf den Brief. »Ich muss hoch. Kommst du mit?«

Doch die kleine Dame war bereits auf dem Weg zur Haustür. »Wir haben noch einige Messungen vorzubereiten.« Schon war sie mit Chaka aus dem Haus spaziert. »Bis später!«

Lilly flitzte die Treppe zum Hochparterre hinauf. Vor ihrer alten Wohnungstür wurde sie ein bisschen langsamer, denn nach drei Monaten hatte sie sich noch nicht ganz daran gewöhnt, dass sie, Mama und Papa, Karlchen und Bruno und Pim, ihr schwarzer Hund, jetzt auf der anderen Flurseite in Leberwursts Hausmeisterwohnung wohnten. Die hatte nämlich zwei Zimmer mehr als die alte Wohnung der Familie Bär und war für eine Familie mit drei Kindern viel besser geeignet.

Mithilfe der kleinen Dame war es ihnen gelungen, den nasenhaarigen Hausmeister dazu zu bringen, seine Wohnung mit ihnen zu tauschen. Darüber war Lilly sehr froh, denn um nichts in der Welt wollte sie aus dem Brezelhaus ausziehen – nicht einmal für ihren süßen Minibruder.

Lilly schloss auf und schlüpfte in den Flur. Neben der Garderobe standen einige Umzugskartons. Nach Brunos Geburt waren sie noch nicht dazu gekommen, sie alle auszupacken.

»Bin wieder da«, rief Lilly.

Rechts neben ihr ging die Badezimmertür auf, und Karlchen winkte ihr zu. »Kannst du heißes Wasser aufsetzen? Und Mama Bescheid geben, dass Papa Brunolein gleich fertig gebadet hat.«

Hinter Karlchen hörte Lilly ein leises Quengeln und Platschen.

»Er bekommt Hunger!«, rief Papa durch die Tür.

Das Quengeln wurde lauter.

»Mach ich!«

Keine zehn Minuten später saßen Karlchen und Lilly neben Mama auf dem großen Mama-Papa-Bett. Auf dem Nachttisch dampfte der Tee, den Lilly gekocht hatte, und Bruno lag zufrieden nuckelnd in Mamas Arm.

»Darf ich den Brief vorlesen?«, fragte Karlchen und sah neugierig auf den Umschlag. »Was ist denn das für eine Briefmarke?«

»Ein Fliegenpilz.« Mama strich den Mädchen über den Kopf. »Wechselt euch doch ab.«

»Aber ich mach ihn auf«, sagte Lilly, und noch bevor Karlchen protestieren konnte, hatte sie den Umschlag aufgerissen.

Sie faltete das Papier auseinander und hielt es so, dass Karlchen mit reinschauen konnte. »Du darfst anfangen.«

»Danke.« Karlchen runzelte die Stirn. »Griaß eich mit-a-nand.«

Sie sah fragend zu Mama. »Was schreibt Oma denn da?«

Mama lachte. »Na, das heißt so viel wie ›hallo, meine Süßen‹.«

Neben Mama machte Papa ein grunzendes Geräusch. »Von ›meine Süßen‹ hab ich aber nichts gehört.«

»Ich les weiter«, sagte Karlchen. »I konn … ned … keman.«

»Sie kommt nicht?«, fragte Lilly und zupfte Karlchen den Brief aus der Hand.

Mama schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Du hast dich bestimmt verlesen. Lilly, lies du mal weiter.«

Lilly las. »Die Sissi ist schwer erkrankt und tut kein Futter nehme. I mua noch ihr schaun. I kimm, sobald i vamog. Pfiat eich, Oma Anni.«

Papa Bär schloss die Augen. »Ich versteh ja nur die Hälfte, aber …«

Mama legte Bruno auf die andere Seite. »Das kann alles nicht wahr sein.«

»Wer ist Sissi?«, fragte Karlchen.

»Die ist sehr krank, schreibt Oma«, sagte Lilly.

Mama sah zur Decke. »Sissi ist Omas Lieblingskuh.«

»Ihre Kuh?«, fragten Lilly und Karlchen gleichzeitig.

Papa schüttelte den Kopf. »Deine Mutter wollte in zwei Tagen hier sein. Sie hat uns seit fünf Jahren nicht mehr besucht und jetzt sagt sie ab, weil ihre Kuh krank ist!«

»Hat Oma ihre Kuh lieber als uns?«, fragte Lilly.

Mama legte Bruno an ihre Schulter und klopfte sanft auf seinen Rücken, bis er ein ordentliches Bäuerchen machte. »Bestimmt nicht. Nein! Mit der Oma und mir … ist es nicht so einfach.«

Papa schnaubte. »Schatz, mit dir ist alles einfach. Aber deine Mutter …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.

»Es war nicht leicht für sie, dass ich ausgerechnet nach Hamburg gegangen bin«, sagte Mama.

»Als wenn das das Ende der Welt wäre«, widersprach Papa.

»Für meine Mutter schon.«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Lilly.

Papa kam um das Bett herum und nahm Mamas Hand. »Ich denke, wir verschieben den Besuch, bis die Kuh deiner Mutter wieder munter ist.«

Mama schüttelte den Kopf. »Wer weiß, wie lange das dauert«, sagte sie. »Was haltet ihr davon, wenn wir zur Oma fahren?«

»Aber sie mag doch kein Remmidemmi«, sagte Papa.

»Tja, da muss sie jetzt durch«, meinte Mama. »Ich habe Sehnsucht nach den Blauen Bergen.«

»Die Blauen Berge«, wisperte Karlchen und machte große Augen.

»Sie muss Bruno kennenlernen, Papa«, sagte Lilly.

Papa schwieg.

»Mit der Bahn sind wir blitzschnell da«, sagte Mama.

Papa lachte. »Mit der Bahn? Mit drei Kindern und einem Hund!?«

»In unser Auto passen wir nicht alle«, sagte Mama. »Und für Pim finden wir schon eine Lösung.«

»Bitte, Papa, wir wollen Oma sehen«, flüsterte Karlchen.

»Und wenn wir bei der Reise Hilfe brauchen, kann ich die kleine Dame fragen, ob sie mitkommen will«, schlug Lilly vor.

»Auf gar keinen Fall!«, entfuhr es Papa. »Oma ist auch so schon knurrig genug. Da braucht es nicht noch eine kleine Dame, die chamäleonisiert und ihre Späßchen treibt.«