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Bent Ohle, 1973 in Wolfenbüttel geboren, wuchs in Braunschweig auf und studierte zunächst in Osnabrück, bis er an die Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg wechselte, wo er als Film- und Fernsehdramaturg seinen Abschluss machte. Heute lebt er mit seiner Familie wieder in Braunschweig.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

 

© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: lookphotos/Wohner, Heinz

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-671-5

Insel Krimi

Originalausgabe

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When I die let my ashes float down the Green River
Let my soul roll on up to the Rochester Dam
I’ll be halfway to Heaven with Paradise waitin’
Just five miles away from wherever I am.

And daddy, won’t you take me back to Muhlenberg County
Down by the Green River where Paradise lay
Well, I’m sorry, my son, but you’re too late in asking
Mister Peabody’s coal train has hauled it away.

John Prine, »Paradise«

Teil 1

Vor der Kaserne, vor dem großen Tor
Stand eine Laterne
Und steht sie noch davor
So wollen wir uns da wiedersehen
Bei der Laterne wollen wir stehen
Wie einst Lili Marleen

Lale Andersen, »Lili Marleen«

Amrumer Hafen, 23.12.2019, 13:40 Uhr

Nils und Elke standen am Rande des Kais und blickten hinüber zu der sich nähernden Fähre, die einen weißen, sprudelnden Streifen auf dem glatten Wasser hinter sich herzog. Es war vollkommen windstill. So windstill, dass die Schreie der Möwen in der Luft über ihnen kaum nachhallten, als befänden sie sich in einem geschlossenen Raum. Föhr lag klar erkennbar und scheinbar näher als sonst im Osten; ein gelbgrüner Streifen, auf dem man vereinzelt einige Gebäude ausmachen konnte. Bald würde man davon nichts mehr sehen können, bald wäre die Stille zu Ende und der Hafen kaum mehr betretbar.

»Die typische Ruhe vor dem Sturm«, sagte Elke, drückte die Hände in die Taschen und lächelte der Fähre entgegen, die ihre Tochter über die Weihnachtsferien zu ihnen brachte.

»So schlimm ist sie doch gar nicht«, entgegnete Nils. Elke trat ihm vors Schienbein und lächelte breiter.

»Endlich ist die Familie wieder zusammen«, sagte sie. »Ob sie uns auch so vermisst?«

»In Prozent ausgedrückt, werden es so um die vier bis sechs sein.«

»Ehrlich?«

»Schatz, sie ist achtzehn Jahre alt. Niemand ist in dem Alter überflüssiger als die Eltern.«

Elke seufzte tief. Ihre Tochter besuchte auf Föhr das Gymnasium und wohnte in dieser Zeit bei Freunden, sie kam nur an den Wochenenden und den Feiertagen nach Hause.

Das Schiff schob sich fast bedrohlich groß dem Landungssteg entgegen. Der Bug öffnete sich, und ein Schiffsarbeiter mit einer Fernbedienung in den Händen tauchte auf, hinter ihm Dutzende Menschen, die zu Fuß auf die Insel kamen.

»Siehst du sie schon?«, fragte Elke ernst und ging näher. Nun senkte sich auch die Landungsbrücke herab und kam mit einem lauten Krachen auf dem Deck zum Stehen. Eine junge Frau scherte aus der Menge aus und lief an dem Mitarbeiter vorbei auf Elke zu. Anna rannte in die offenen Arme ihrer Mutter und kreischte vor Freude. Dann streckte sie einen Arm aus und winkte ihren Vater zu sich. Nils legte seine Arme um seine beiden Frauen und hielt sie einen Moment lang ganz fest, während die Touristen an ihnen vorbeiströmten.

»Schön, dass du endlich hier bist«, murmelte Elke, und sie lösten sich aus ihrer Umarmung.

»Habt ihr mich vermisst?«, fragte Anna keck und wippte ungeduldig auf und ab.

»Kaum«, sagte Nils grinsend und nahm ihre Tasche.

»Komm, wir gehen nach Hause.« Elke hakte ihre Tochter unter, und sie schlossen sich dem Menschenstrom an.

Gleich nachdem sie zu Hause angekommen waren und Anna nur rasch ihre Tasche ins Zimmer geworfen hatte, machten sie sich auf den Weg zum Strand. Nils wusste, dass es vorerst das letzte Mal war, dass sie ans Wasser gehen konnten. Die nächsten Tage würden rau werden. Zu Weihnachten würde man wegen des Sturms kaum das Haus verlassen können.

Nun jedoch schien die Sonne von einem klaren blauen Himmel, als sie die Strandstraße von Nebel hinunterradelten. Es war ein gutes Gefühl, endlich wieder zu dritt zu sein. Nils sah seiner Frau an, wie glücklich es sie machte. Diese Momente würden immer seltener werden. Kaum waren die Kinder auf der Welt, verließen sie auch schon wieder das Haus. Nils konnte kaum glauben, wie schnell Annas Kindheit quasi vorbeigeflogen war. Auf dieser Straße war er mit ihr im Kinderwagen gegangen. Ihre ersten Schritte hatte sie auf dieser Straße gemacht, und Nils hatte ihr das Fahrradfahren auf dieser Straße beigebracht. Wie oft würden sie diesen Weg noch zusammen gehen? Bald war sie aus der Schule, würde studieren, viel weiter weg, als sie jetzt schon ohnehin war. Vielleicht war es Zeit, noch ein Kind zu bekommen. Sie waren zwar nicht mehr die Jüngsten, und Elke würde ihn wahrscheinlich nur schief angucken, wenn er diesen Vorschlag machte, aber er konnte sich vorstellen, noch ein Kind zu haben. Irgendwie war er noch nicht bereit, diesen ominösen, schicksalsergebenen Satz zu sagen: Die Kinder sind aus dem Haus.

Vor ihnen lichtete sich der Kiefernwald und gab den Blick auf die Dünen frei. Selbst das Dünengras, das eigentlich immer in Bewegung war, stand vollkommen reglos da, als sei es erstarrt. Das kleine Restaurant »Strandpirat« war geschlossen, und im Fahrradständer standen nur wenige Fahrräder. Entsprechend menschenleer war der Strand. Der Bohlenweg ragte einsam in den sandigen Küstenstreifen hinein. Die Strandkörbe waren bereits in den Hallen verstaut. Sonne spiegelte sich in den Pfützen und Prielen im Watt. Es war Ebbe und das Wasser weit entfernt.

Sie spazierten zunächst weit ins Watt hinein bis zur Wasserkante und dann in Richtung Norden. Die Muscheln knackten unter ihren Schritten, während Anna erzählte, was in der Schule so passiert war. Nils musste nach einer knappen halben Stunde seine Jacke ausziehen, so warm war es in der Sonne. Irgendwann konnte er nicht mehr widerstehen, legte einen Arm um seine Tochter und zog sie an sich. Er wollte sie beschützen, um alles in der Welt. Sie hatte in so großer Gefahr geschwebt in den Händen dieses Killers. Das alles schien jetzt weit, weit weg und lange her. Doch das war es nicht. Er wunderte sich immer noch, wie gut sie sich wieder erholt hatten, sie alle drei. Sie hatten viel durchmachen müssen. Aber die Insel schien sie zu heilen. Jedes Mal, wenn er hier draußen war, hatte er das Gefühl, Kraft zu bekommen und Zuversicht. Er konnte nicht sagen, wie es gewesen wäre, wenn sie in einer Stadt leben würden, aber er bezweifelte, dass sie sich so rasch erholt hätten. Das lag nun hinter ihnen, und vor ihnen lag Weihnachten. Alles würde ruhig und friedlich sein. Bis auf das Wetter.

Hamburg-Fuhlsbüttel, Justizvollzugsanstalt, 14:53 Uhr

»Ich werde dich vermissen, Herr Jensen«, sagte Brockhaus. Er war hier drin immer bei seinem Nachnamen gerufen worden, weil er so belesen war und scheinbar auf alles eine Antwort wusste. Das hatte ihm einen unerwünschten Spitznamen erspart. In der Schule hatten sie ihn »Brocki« oder »Bröckchen« genannt. Aber das passte nun schon aufgrund seiner äußeren Erscheinung nicht mehr. Er war einen Meter fünfundachtzig groß, mit kräftigem Unterkiefer, kantigen Wangenknochen und kleinen, listigen schwarzen Augen. Er war trainiert. Jetzt, nach seiner Zeit im Knast, mehr denn je. Was soll man schon machen in so einer Zelle? Körperliches Training war der beste Zeitvertreib. Es hielt einen fit, machte einen stärker, klar im Kopf, und es setzte Glückshormone frei. Hinter dicken Mauern konnte man jedes einzelne dieser Hormone gebrauchen.

Jensen und Taubner waren die beiden Beamten, die ihn bis zum Tor geleiteten. Sie waren die meiste Zeit in der Tagesschicht, und beide waren wirklich anständige Männer. Aus diesem Grund sprach er sie auch höflich mit »du, Herr Jensen« an. Jensen war groß und schlaksig, mit einem dünnen Oberlippenbart und einem ebensolchen Haarkranz, der ihm im Nacken lag wie eines dieser Schlafkissen fürs Flugzeug. Taubner war älter als sein Kollege, etwas über fünfzig, schätzte Brockhaus, und hatte dichtes lockiges, von grauen Strähnen durchsetztes Haar. Er besaß quasi keine Lippen, nur einen breiten Schlitz im Gesicht, der sich aber sympathisch und einnehmend krümmen konnte, wenn er lachte.

»Wir wollen dich nie wiedersehen«, sagte Taubner, der eben eine Tür aufschloss, mit gesenktem Kopf. Jensen schmunzelte.

»Das sagt ihr doch zu jedem. Habt ihr nicht etwas Persönliches, das ihr mir mitgeben wollt?«, fragte Brockhaus.

Taubner drehte sich zu ihm um. »Auf Nimmerwiedersehen, versprochen?«, fragte er und hielt ihm die offene Hand hin. Brockhaus sah sie einen Moment lang an und überlegte. Er trug seine Tasche in der rechten Hand. Und er wollte ihn eigentlich nicht anlügen, denn er mochte ihn.

Brockhaus ließ seine Tasche fallen. »Versprochen.« Er schlug ein, und sie schüttelten sich die Hände.

Auch Jensen reichte er die Hand.

»Ihr zwei seid in Ordnung«, sagte er und hob seine Tasche wieder auf. »Im Gegensatz zu den meisten anderen Wichsern hier drin.«

»Nun, es ist ein Gefängnis, da sollte man nicht allzu viel Menschlichkeit erwarten«, meinte Jensen. »Und unschuldig warst du ja auch nicht hier.«

»Vollkommen korrekt, ihr zwei.« Brockhaus klopfte Jensen auf den Arm. Taubner stieß die schwere Tür auf, und graues Tageslicht spülte herein.

Sie gingen in den kleinen Innenhof vor dem letzten Tor, dem »Turm«, durch den alle zweimal gehen mussten. Wenn sie ankamen und wenn sie wieder gingen. Egal ob auf ihren Beinen oder mit den Füßen zuerst. Ja, Mord gab es auch hier drin und so ziemlich alle anderen Verbrechen, die man draußen begehen konnte. Vor einem hatten die meisten Insassen sicherlich die größte Angst, doch dieser Kelch war an Brockhaus vorbeigegangen. Er war kein Kinderschänder, und seine körperliche Statur zeigte deutlich, dass man sich auf Gegenwehr gefasst machen musste, sollte man versuchen, sich ihm zu nähern.

Taubner verschloss die Tür hinter ihnen und riegelte die nächste auf. Der graue Himmel über dem Hof war merkwürdig diffus und kaum merklich in Bewegung. Jetzt war es nicht mehr weit. Nur noch wenige Meter, ein paar Schritte auf von Mauern umgebenem Boden, bis er in die Freiheit entlassen wurde. Ob er sich freute, konnte er zu seiner Überraschung kaum sagen. Ja, sicherlich war da so etwas wie Freude, aber er war auch sehr fokussiert und konzentriert auf das, was nun kommen würde.

Sein Blick glitt über die rot-weiße Fassade. Taubner rasselte wieder mit seinen Schlüsseln und ging vor.

»Noch merkt man nichts vom Sturm«, sagte Jensen mit einem abschätzenden Blick in den Himmel.

»Nein«, bestätigte Brockhaus. »Noch ist alles ruhig.«

Und dann klackte es laut, als Taubner das Schloss entriegelte. Ein Quietschen folgte, als er die schwere Eisentür aufzog.

»Werden Sie abgeholt?«, fragte Jensen.

Brockhaus grinste innerlich. Nein, den Gefallen wollte er ihnen nicht tun. Sie würden ihn mit Sicherheit die erste Zeit überwachen, das stand außer Frage. Daher musste er sehr vorsichtig sein, bei allem, was er vorhatte. Und er hatte viel vor. Zum Glück hatte er schon einiges von hier drinnen organisieren können. Der Rest würde kein Spaziergang werden, aber es war machbar.

»Ich hab niemanden mehr«, entgegnete er nur.

»Na, dann … alles Gute«, sagte Jensen zum Abschied und nickte.

»Bleiben Sie sauber«, fügte Taubner an, und sein Schlitzmund verzog sich keinen Millimeter dabei.

»Macht’s gut.« Brockhaus trat durch den Torbogen hinaus in die Freiheit und inhalierte die Luft. Es konnte schwerlich eine andere sein als auf der Hofseite, doch er hatte das Gefühl, dass sie süßer roch, vielversprechender.

Die Tür fiel mit einem Krachen zurück ins Schloss, der Schlüssel wurde umgedreht. Das Gefängnis war wieder rundum verschlossen. Und er stand davor. Es war kaum zu glauben. Sechs Jahre. Sechs lange Jahre, die sich wie sechzehn angefühlt hatten, lagen hinter ihm. Er blickte auf seine Armbanduhr. Nun galt es, keine Zeit mehr zu verschwenden.

Hamburg-Altona, Wohnung von Simon Hagelands Mutter, 15:03 Uhr

Simon saß mit den Händen im Schoß da, und man konnte bereits an seiner Körperhaltung erkennen, dass er nicht lange bleiben wollte. Seine Mutter Anette goss ihm Kaffee in die alte, abgewetzte Tasse. Armin, der Lebensgefährte von Anette, saß zurückgelehnt und mit glasigen Augen auf dem Sofa und starrte auf den Fernseher. In den Nachrichten wurde über den Sturm berichtet, der die deutsche Nordseeküste bald erreichen sollte.

»Wird das Wetter schlecht?«, fragte Anette und stellte ein paar Spekulatiuskekse auf einem Teller auf den Tisch.

»Hochwasser«, antwortete Armin und hustete. Armin war krank. Er hatte so ziemlich alle Krankheiten, die man sich vorstellen konnte, und eine Beinprothese. Er war mit Abstand der kränkste von allen Männern, mit denen Simons Mutter zusammen gewesen war. Ein absoluter Pflegefall. Und seine Mutter war mehr eine Krankenschwester oder Pflegerin als seine Frau. Aber wenigstens war er nicht aggressiv ihr gegenüber. Solche Männer hatte sie genug gehabt und Simon so seine Auseinandersetzungen mit ihnen. Wenn es sein musste, auch körperliche. Einem hatte er so schlimm zugesetzt, dass der jetzt ähnlich wie Armin auch nur noch schlecht laufen konnte. Aber Simon fand, er konnte von Glück reden, dass er überhaupt noch am Leben war.

Da Simons freundliches, hübsches Äußeres nicht auf seine aggressive Ader schließen ließ, hatte er den Überraschungseffekt immer auf seiner Seite gehabt, wenn er in Kämpfe geraten war. Im Gerichtssaal hatte ihm das leider nicht geholfen. Er war schon dreimal wegen Körperverletzung angeklagt worden und einmal in den Bau gegangen.

Was nun kam, konnte keiner vorhersehen. Ihr Vorhaben ließ seine Zukunft nur noch nebulöser erscheinen, als sie ohnehin schon war. Aber in jedem Fall würde es ein Abschied werden. Das hier war für lange Zeit sein letztes Kaffeetrinken bei seiner Mutter. Sie wusste davon natürlich nichts. Er hatte sie noch einmal sehen wollen, bevor es losging. Armin war ihm egal. Er war einfach nur eine Figur, die hier herumsaß wie eines von diesen Weihnachtstieren, die seine Mutter in der Weihnachtszeit auf die Fensterbank stellte. Simon konnte sich noch daran erinnern, wie er als Kind damit gespielt hatte, so alt waren sie. Alt und angestaubt, wie alles hier in der Wohnung.

»Was machst du denn Heiligabend?«, fragte Anette und setzte sich. »Wenn du magst, kannst du gern vorbeikommen.«

Simon sah Armin an, der wenig begeistert die Oberlippe hochzog.

»Na ja, ich bin noch nicht verplant, weißt du, aber wahrscheinlich fahren wir … fahre ich irgendwohin. Raus aus der Stadt.«

»Ja, das ist nett«, entgegnete Anette, trank einen Schluck und blickte über den Tassenrand hinweg zu Armin.

»Zwei Meter Hochwasser«, sagte er, doch keiner reagierte darauf.

»Ich schick dir dann was«, sagte Simon. Er hatte daran gedacht, ihr Geld zukommen zu lassen, wenn alles vorbei und Gras über die Geschichte gewachsen war. Aber wahrscheinlich war es besser, ihr nur ein Weihnachtsgeschenk zu schicken. Vielleicht ein wertvolleres als sonst.

»Ach, das ist doch nicht nötig. Wir brauchen nichts.«

Simon sah sich um. Gottverdammt, sie brauchte alles. Neue Möbel, neue Gardinen, neue Tassen, eine neue Wohnung, ein neues Leben.

»Aber für dich hab ich was. Es ist nur noch nicht eingepackt.« Anette stand eilig auf.

»Mama, lass doch. Das ist …« Simon gelang es nicht, sie von ihrer Idee abzubringen.

»Nein, nein, ich bin gleich wieder da.«

Sie verließ das Wohnzimmer und raschelte im großen Kleiderschrank im Schlafzimmer herum.

»Sie hat das Ding unten bei ›Eddi’s Kiosk‹ gesehen«, informierte ihn Armin mit einem fast vorwurfsvollen Blick. »Ich fand’s überteuert, so was kauft man doch nicht im Kiosk.« Er schüttelte den Kopf und widmete sich wieder dem Bildschirm.

Anette kam zurück.

»So, eine Kleinigkeit für dich«, sagte sie und legte ein silbernes Sturmfeuerzeug vor Simon auf den Tisch.

Er nahm es in die Hand und klappte es auf.

»Das funktioniert wohl irgendwie elektrisch, und man kann es an den Computer anschließen mit UPS«, erklärte sie.

»USB«, korrigierte Simon. »Vielen Dank, Ma.«

Er nahm es an sich und zündete einmal. Ein blauer Blitz knisterte zwischen zwei Elektroden auf. »Kann ich gut gebrauchen.«

Vielleicht konnte er so etwas tatsächlich gut gebrauchen bei ihrem Vorhaben. Der Sturm war im Anmarsch, und hiermit war er gewappnet.

Seine Mutter setzte sich erfreut auf ihren Platz und leerte ihren Kaffee.

Armin grummelte unzufrieden auf der Couch, ob wegen des Programms oder wegen des Geschenks, konnte man nicht sagen.

Simon sah auf die Uhr. Brockhaus war bereits draußen. Heute Abend würden sie zum ersten Mal miteinander sprechen. Nicht persönlich, aber über ein Spiel auf der Playstation. Er hatte ihnen einiges aufgetragen. Das meiste davon war erledigt, aber es gab noch ein paar Dinge, die sie besorgen und um die sie sich kümmern mussten.

»Ich muss los«, sagte Simon leise zu Anette. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Immerhin war sie seine Mutter, und wer wusste, wann er sie wiedersah.

»Oh, wie schade«, meinte sie und legte ihr Gesicht in Sorgenfalten.

»Ja, ich hab noch einen Werkstatttermin«, log Simon, und sie erhoben sich.

Anette drückte ihren Sohn kurz, aber fest. Simon winkte Armin zu, der seinerseits kurz die Hand von der Lehne hob und hustete. Dann ging er. Er stieg im Hausflur die Treppe bis ins Erdgeschoss hinab. Seine Schritte hallten laut von den Wänden wider. Kaum war er draußen auf dem Fußweg und die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, flüsterte er: »Scheiße, Mann. Ich muss ihr was schicken.«

Erst mal musste er aber seinen Job machen, dann kam lange, lange gar nichts. Da konnte er dann ausgiebig darüber nachdenken, wie seine Mutter etwas von dem Geld bekommen konnte.

Was für ein Scheißleben, dachte er, knickte einen Ast an einer Hecke ab und warf ihn auf die Straße.

Hamburg-Ahrensburg, Fritz-Reuter-Straße, 16:41 Uhr

Martin schloss mit dem kleinen Piet auf dem Arm die Haustür auf und zog den Kinderwagen hinter sich her die Stufen hinauf, raus aus dem Regen, der sie überrascht hatte.

»So eine Scheiße«, fluchte er, als sein Sohn Joshua von oben die Treppe heruntergepoltert kam.

»Was’n los?«

»Na, es regnet!«, rief Martin und wischte Piet das Gesicht trocken. »Hab dieses Regendings vergessen … das Cape, den Umhang, die Hülle …«

»Ja, ja, hab schon verstanden«, entgegnete Joshua gelangweilt und wollte weiter in den Keller.

»Kannst du ihn kurz halten?«

»Ich muss zum Training!«

»Nur einen Moment, hier ist alles nass, ich wische nur schnell.«

Joshua streckte die Hände aus und lächelte seinen kleinen Bruder an. Erleichtert gab Martin Piet an Joshua ab, der sogleich Grimassen machte und Piet zum Lachen brachte.

»Gar nicht so einfach, die Elternzeit, was?«, fragte Joshua, während Martin den Flur wischte.

»Was soll das heißen?«

»Nichts, ich meine nur. Du siehst gestresst aus.«

»Na, Zuckerschlecken mit Füßehochlegen ist es jedenfalls nicht.«

»Hast du es deshalb bei mir und Dani nicht gemacht?«

Martin stützte sich auf den Stiel des Wischers.

»Ach, damals war das noch nicht so gang und gäbe, weißt du? Die Zeiten haben sich geändert.« Er wischte weiter.

»Ja, eben denkst du noch, du bist Manager, und schon wachst du als Hausfrau wieder auf, was?«

Martin blickte auf. Hatte Joshua einen Scherz machen wollen, oder meinte er das ernst? In letzter Zeit fiel er mit sehr zynischen Kommentaren ihm gegenüber auf. Martin hatte das auf die Pubertät geschoben und auf seine beginnende rebellische Ader, die wohl in jedem einmal aufkeimt.

»Wann kommt Mama nach Hause?«, fragte Martin.

»Das musst du doch wissen, ist doch deine Frau«, sagte Joshua und hob seinen Bruder in die Luft.

»Hast du irgendwas?«, hakte Martin nach. Er folgte seinem Sohn in die Küche.

»Nein, ich muss nur zum Training.«

»Schon gut, ich nehm ihn wieder«, sagte Martin.

Er legte Piet auf seine Decke im Wohnzimmer und begann, in der offenen Küche ein Fläschchen Milch für ihn warm zu machen. Daniela glitt lautlos auf ihren Plüschhausschuhen ins Wohnzimmer, den Blick auf ihr Handy gerichtet und trotzdem den Weg zum Sofa findend.

»Hallo, Dani«, grüßte Martin.

»Hi, Dad.«

»Weißt du, wann Mama heute nach Hause kommt?«

»No«, antwortete sie, ohne aufzublicken.

Die Haustür wurde aufgeschlossen.

»Da ist sie«, sagte Daniela beiläufig und ganz auf ihr Handy konzentriert.

»Danke, Schatz.« Martin grinste und lugte um die Ecke in den Flur. »Hi, wie war’s?«

»Sogar am letzten Schultag können einem die Ferien noch verdorben werden«, schimpfte Alexandra und warf ihre Jacke über den Garderobenhaken. Sie fiel herunter. Alexandra blieb mit hängenden Schultern stehen.

»Na, komm, ich helf dir.«

Martin hob die Jacke auf und hängte sie an den Haken. Dann nahm er seine Frau in den Arm.

»Was war los?«

»Dieser Vater besitzt doch tatsächlich die Frechheit und beschuldigt mich, seinen Sohn angestachelt zu haben. Ich hätte mich wohl falsch verhalten und seinen Jungen dazu gebracht, im Unterricht mit seinem Etui nach mir zu werfen.«

»Ich wusste, du bist schuld«, sagte Martin, und Alexandra lachte traurig in seine Schulter hinein. »Jetzt sind Ferien. Morgen fahren wir in den Urlaub. Du brauchst dir um nichts mehr Gedanken zu machen.«

»Gibt’s Probleme?«, fragte Joshua, der mit einem Wäscheberg auf dem Arm aus dem Keller kam.

»Joshi, ich denk, du bist längst beim Training«, sagte Martin leicht vorwurfsvoll.

»Josha, Papa, Josha. Ich musste erst meine ganzen Klamotten abhängen.«

»Ach, du Armer.«

»Was ist mit dir, Mama?«

»Alles gut«, wiegelte Alexandra ab. Sie löste sich aus Martins Umarmung. »Da war nur so ein Vater, der mich angegriffen hat …«

»Angegriffen?«, fragte Joshua alarmiert.

»Nur verbal.«

»Und lässt du dir das gefallen?«

»Ich muss mich in Vernunft und Ruhe üben, ich bin die Lehrerin.«

»Und du, Pa, was hättest du gemacht?«

»Ich? Na, das Gleiche. Man muss immer ruhig bleiben.«

»Bloß nicht wehren, was?«

»Ach, Joshi … äh … Josha, entschuldige, aber in deinem Alter sieht man das etwas … mehr schwarz und weiß.«

»Stell dir vor, dieser Typ beleidigt Mama. Würdest du sie nicht verteidigen? Wenn du ihm jetzt gleich auf der Straße begegnest, was würdest du machen?«

»Ihn grüßen.«

Joshua lachte verächtlich auf und ging mit seiner Wäsche die Treppe hinauf in den ersten Stock. »Du bist doch nur zu feige.«

»Was war das?«, fragte Alexandra erbost.

»Lass ihn.« Martin winkte ab. »Er ist grad in so einer Testosteron-Phase, verstehst du?«

»Aber deswegen muss er keinen beleidigen.«

»Komm, sag deinem anderen Sohn Guten Tag, der ist sonst ähnlich schlecht gelaunt wie der große.«

Martin zog seine Frau an der Hand ins Wohnzimmer, wo Alexandra sich sogleich vor Piet auf die Knie fallen ließ.

»Pieti, hallo«, begrüßte sie ihn.

»Hi, Mom«, sagte Daniela, auf ihr Handy starrend.

»Hi, Schatz. Passt du auf ihn auf?«

»Nee, sitz hier nur zufällig rum.«

»Ich hab ein Fläschchen für ihn gemacht«, schaltete Martin sich ein und nahm die Milch aus dem Hitzebad.

»Papa hat für dich gekocht?«, fragte sie den Kleinen und hob ihn immerzu küssend hoch.

Alexandra und Martin nahmen am Esstisch Platz, und Martin schob seiner Frau die Flasche hin. »Die haben so viel Sturm angesagt, dass wir die Fahrräder besser hierlassen«, sagte er. »Die krachen uns sonst vom Dach.«

»Oh, oh, das wird Josha nicht gefallen«, rief Daniela.

»Da muss er mit leben. Papa hat recht. Sicher ist sicher.«

»Natürlich. Immer schön vorsichtig sein, bloß nichts riskieren.«

Beide drehten sich zu ihrer Tochter um.

»Fängst du jetzt auch damit an?«, wollte Alexandra wissen. Piet öffnete den Mund, aber der Sauger schwebte unerreichbar vor seiner Nase.

»Womit?«

»Mit diesen sarkastischen Kommentaren.«

»Nein, ich hab nur …«

Piet verzog das Gesicht und fing an zu heulen. Alexandra steckte den Nuckel in seinen Mund. »Ich will nichts mehr hören, klar?«, sagte sie abschließend und konzentrierte sich wieder auf ihren jüngsten Sohn.

»Also«, setzte Martin an, »ansonsten ist eigentlich alles da. Es fehlt nur noch …« Er machte eine heimlichtuende Grimasse.

Alexandra verstand sofort.

»Hoffentlich klappt das, sonst werden wir richtig dicke Luft haben.«

»Von was redet ihr?«, wollte Daniela wissen.

»Nichts, gar nichts«, entgegnete Martin schnell.

Es klingelte an der Tür. Martin ging nach vorn in den Flur und erkannte die rot-gelbe Kleidung des Paketboten hinter der Milchglasscheibe.

»Guten Tag, ein Paket für Trender«, sagte der Bote und tippte dabei mit einem Stift auf dem Lesegerät herum.

Martin nahm das Päckchen entgegen und unterzeichnete auf dem verkratzten Display.

»Halt, stopp«, rief Alexandra und kam mit Piet auf dem Arm herbeigeeilt. Sie streckte dem Boten eine Tüte mit Keksen und etwas Trinkgeld entgegen.

»Oh, das ist aber nett«, freute der sich und schob seinen Mützenschirm höher. »Vielen Dank und frohe Weihnachten für Sie.«

»Ebenso. Frohe Weihnachten.«

Martin schloss die Tür und blickte auf den Absender.

»Ist es das?«

»Ja, Weihnachten ist gerettet.«

»Wusste gar nicht, dass das Christkind für den Mindestlohn beim Paketdienst arbeitet«, sagte Daniela im Vorbeigehen und verschwand im Gästebad. Das Schloss schnappte ein.

Martin und Alexandra sahen sich verdutzt an.

»Mit denen sollen wir in den Urlaub fahren?«, fragte Martin Piet und pikste ihm in den Bauch. »Du bist das einzig nette Kind hier im Haus.«

Der Kleine lachte, und sie gingen zurück ins Wohnzimmer.

Hamburg-Wilhelmsburg, Zentrale von Optisecur, 16:55 Uhr

Till schlug seinen Spind zu und drehte sich schnaubend um. Hinter ihm standen vier Kollegen, die augenblicklich aufhörten, sich anzuziehen und ihre Gespräche fortzuführen. »Wer war an meinem Spind?«, bellte er und blickte von Gesicht zu Gesicht, doch keines zeigte eine Reaktion. »Wer?«, schrie er und schlug mit der flachen Hand gegen die Tür, dass es krachte.

Niemand bewegte sich.

»Was soll der Lärm hier?«, rief eine Stimme von weiter hinten, und ein Mann in blauem Pullover mit schwarzem Schnäuzer kam wenig begeistert in die Umkleide.

»Jemand war an meinem Spind«, sagte Till und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wurde was geklaut?«

»Nein, aber jemand hat herumgewühlt.«

Zinkowski, Tills Chef, kam näher und warf einen Blick in den schmalen Schrank.

»Sieht alles normal aus.«

»Ja, aber es liegt nicht so wie letztes Mal. Ich leg die Sachen immer so hin, dass ich sofort sehe, wenn sie jemand angepackt hat.«

»War einer von euch an diesem Schrank?«, fragte Zinkowski an seine Mitarbeiter gewandt.

Alle schüttelten den Kopf.

»Okay, dann musst du dir ’n neues Schloss besorgen. Mehr kann ich jetzt nicht tun.« Er schaute ihn mit einer bedauernden Falte im rechten Mundwinkel an.

»Kann ich dich kurz sprechen?«, bat Till.

»In meinem Büro.« Zinkowski machte kehrt und ging eiligen Schrittes voran in den dunklen Flur und durch die offen stehende Tür zu seinem Büro. Nachdem er sich in seinen zerschlissenen Ledersessel geworfen und ein Buch auf seinem Schreibtisch geschlossen hatte, sah er Till mäßig erwartungsvoll an. »Na?«

»Ich glaube, ich weiß, wer’s war, und ich würde gern einen anderen Mitfahrer bekommen«, eröffnete Till das Gespräch.

»Du meinst, Bernd war’s?«

»Die anderen würden sich nicht trauen. Lass mich mit dem Kleinen fahren, dann kann Bernd mit Günther auf Tour gehen.«

Zinkowski atmete unzufrieden aus, tippte auf seiner Tastatur herum und stierte auf den Bildschirm.

»Na ja … wenigstens würde es keinen Schichtwechsel bedeuten.«

»Ich will Bernd ja auch nichts anhängen, aber wir sollten lieber nicht zusammen auf einem Bock sitzen. Das wird nicht gut gehen.«

Zinkowski blickte auf und musterte den finster dreinblickenden Till eingehender. Er war fast eins neunzig groß, breitschultrig, kräftige Hände, kahler Schädel und Vollbart. Dazu ein dunkler Blick aus kohlrabenschwarzen Augen. Sein Name passte so was von gar nicht zu ihm. Unter einem Till stellte Zinkowski sich einen blonden, netten Jungen mit Zahnspange vor, aber nicht diesen bärtigen Riesen, der wahrscheinlich kleine Kinder zum Frühstück verspeiste.

»Im Grunde«, begann er fast abwesend, »bist du mir unheimlich mit deiner Art. Aber ich muss auch zugeben, dass eine Ausstrahlung, wie du sie hast, in unserem Gewerbe gar nicht so unangebracht ist.« Er lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm. »Ihr tauscht die Partner. Du bekommst Simon. Der Kleine kann jemanden wie dich an seiner Seite vertragen. Was du zu viel hast, hat er zu wenig.«

Er schlug laut auf die Enter-Taste, und damit war es besiegelt.

»Soll ich die Polizei wegen des Spinds kommen lassen? Falls doch was fehlt?«

»Ach, war eh kaum was drin von Wert.« Till sah immer noch so missgelaunt aus wie zuvor. »Aber danke.«

Sein Chef nickte überrascht. Draußen bewegte sich etwas und zog seine Aufmerksamkeit auf sich.

»Da kommt er ja. Sag’s ihm gleich selbst«, meinte er mit einem Fingerzeig auf Simon, der soeben die Eingangstür aufzog.

Till grinste, stöhnte, als er sich in Bewegung setzte, was wie ein Grunzen klang, und verließ das Büro.

Hamburg-Wandsbek, Wandsbeker Chaussee, 16:59 Uhr

Brockhaus betrat seine neue Wohnung. Ein Zimmer, einunddreißig Quadratmeter, Küche, Bad, nicht möbliert. Strom hatte er bereits angemeldet, sodass er nicht im Dunkeln sitzen musste. Till hatte ihm ein paar der nötigsten Sachen besorgt und in einer Garage in der Nähe deponiert. Brockhaus sah sich um. Graues Licht fiel durch die verschmutzten Fenster. Der Teppich sah recht neu aus, wies aber schon einige größere Flecke auf. Die Wände waren mehr schlecht als recht gestrichen. Er lächelte. Lange würde er diese Bude nicht ertragen müssen. Sie war nur ein kurzer Stopp auf seiner Reise in ein besseres Leben.

Der Garagenhof lag versteckt in einem abgelegenen Wohngebiet, in dem sich das Straßenpflaster schon überall aufwellte. Unkraut wuchs zwischen den Steinplatten, Müll lag in den Ecken des Hofs, und die Garagentore waren von Rost und Grünspan befallen. Brockhaus öffnete die Nummer elf, in der sich nur ein einziger schmutziger Rucksack und ein altes Mountainbike befanden. Auf dem Rückweg hielt er an einem Supermarkt an und scannte die Straße, ob er vielleicht ein paar zivile Beamte sah, die ihn verfolgten. Doch zu seiner Überraschung schien er unbewacht zu sein. Er kaufte sich etwas Wasser, Fertigsuppen, Cornflakes und Milch und legte zu guter Letzt ein einzelnes Bier in den Wagen, zum Feiern, dass er wieder in Freiheit war. Mehr wollte er sich nicht erlauben, um nicht müde und träge zu werden.

Mit zwei vollen Tüten am Lenker fuhr er langsam zu seiner neuen Wohnung, wobei ihm ein dunkelblauer Passat auffiel, in dem zwei Männer saßen. Einer von ihnen trank aus einem Kaffeebecher, ließ ihn dabei aber nicht aus den Augen. Zivilbullen, dachte er und grinste innerlich. Fröhlich pfeifend lenkte er das Rad an ihnen vorbei und freute sich auf den heutigen Abend ohne Mauern und Stacheldraht um ihn herum.

Da er die Gegend hier noch nicht kannte, schaute er sich neugierig um und beobachtete alles in seiner näheren Umgebung. Sechs Jahre hatte er eingesessen, er konnte sich gar nicht sattsehen an all dem Leben um ihn herum, die Menschen auf der Straße und im Park, die Weihnachtsbeleuchtung in den Fenstern, Werbetafeln, Schaufenster, Imbissbuden, Restaurants. Das alles hatte der Knast ihm genommen und noch viel mehr. An einem eingezäunten Bolzplatz hielt er an. Die Zivilstreife war mit Sicherheit immer noch irgendwo hinter ihm, aber das interessierte ihn nicht. Er sah den Jungs zu, wie sie mit einem zerfledderten Ball im Halbdunkel Fußball spielten, lachten und sich anschrien und schubsten. Einer lehnte nur am Zaun und spielte etwas auf seinem Handy. Ihre Jacken hatten sie achtlos auf den Boden geschmissen. Ein dunkelhaariger Junge tunnelte gerade seinen Gegenspieler, und alle jaulten auf vor Begeisterung. So ähnlich hatte er sich früher auch bewegt. Die Armhaltung, die Art, wie er die Füße ein wenig nach innen aufsetzte, erinnerten ihn an sich selbst.

Brockhaus stieg ab, stellte das Fahrrad an den Zaun und ging näher heran. Er krallte seine Finger in die Maschen und konnte seinen Blick nicht von dem Jungen lösen. Konnte das sein? Der Junge machte einen Übersteiger und drehte abrupt um, sodass Brockhaus sein Gesicht sehen konnte. Ihm blieb fast das Herz stehen. Der Junge sah aus wie eine Kopie seiner selbst. Mit vierzehn, fünfzehn hatte er genauso ausgesehen. Seine Finger schmerzten, sie hatten sich immer fester in die Maschen gekrallt, und er löste sie jetzt so schnell, als wären sie glühend heiß.

Aber konnte das tatsächlich sein? Es war Jahre her. Er hatte ihn nur zweimal gesehen. Das letzte Mal, als der Junge acht oder neun gewesen war. Damals war Brockhaus nach einer Sauftour zu Fuß am Haus von Doreen vorbeigegangen. Sie hatte einen verdammten Versicherungsmakler geheiratet. Im Schutz der Dunkelheit war er in ihren Garten geschlichen und hatte sie beim Frühstück beobachtet. Der Kleine hatte im Schlafanzug am Tisch gesessen und Cornflakes gegessen. Brockhaus musste an die Packung denken, die er eben im Supermarkt gekauft hatte, und schluckte.

»Mein Gott«, flüsterte er und ließ den Kopf hängen. Hinter dem Zaun spielte sein Sohn Fußball. Und er, frisch aus dem Knast entlassen und von einem beschissenen Zufall hierher befördert, sah ihm dabei zu. Er wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Der Junge hatte keine Ahnung, wer er war oder dass es ihn überhaupt gab.

Der andere Junge, der am Handy spielte, blickte zu Brockhaus herüber. Sein Mund stand offen, und seine Augen bewegten sich langsam in Richtung des Jungen auf dem Feld. Ihm musste die Ähnlichkeit aufgefallen sein.

Brockhaus riss sein Fahrrad an sich und schwang sich auf den Sattel. Hart trat er in die Pedale, blickte sich aber über seine Schulter hinweg noch einmal um.

Als er endlich an seiner Wohnung angekommen war, wünschte er sich, er hätte mehr Alkohol besorgt.

Amrum, Nebeler Strand, 16:59 Uhr

Nils, Elke und Anna waren auf dem Rückweg, da die Dunkelheit bald einbrechen würde. Die Sonne war hinter einem dunkelblauen Band aus Wolken untergegangen und beleuchtete sie von unten, sodass sie zu glimmen schienen. Bald hatten sie die Höhe des Strandabgangs erreicht, waren aber immer noch weit draußen im Watt unterwegs. Elke bückte sich und sammelte einige Muschelschalen auf, eine Angewohnheit, die sie nicht ablegen konnte, auch wenn sie seit ihrer Geburt hier lebte. Überall im Haus lagen die Muscheln als Deko herum. Anna nahm die Hand ihres Vaters. Nils sah sie überrascht an und lächelte. Sie erwiderte das Lächeln und blickte dann wieder in die Ferne.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er sie leise, so leise, dass er vermutete, sie habe ihn wahrscheinlich gar nicht gehört.

»Ja«, sagte sie. »Manchmal träume ich noch davon. Aber es ist alles gut jetzt.«

Nils drückte ihre Hand fester.

Auf Annas Gesicht zeichnete sich Besorgnis ab.

Nils wollte gerade nachfragen, als Anna in Richtung des Wassers nickte.

»Was ist das?«

Er suchte den Wassersaum ab, konnte aber nichts entdecken.

»Ist das ein Heuler?«

Jetzt erkannte Nils einen dunklen, länglichen Körper im flachen Wasser. Augenblicklich wurde er wieder an den Tag erinnert, an dem er im See bei Wittdün eine tote Frau gefunden hatte, und er zuckte reflexhaft.

»Ist vielleicht ein wenig zu schlank für einen Heuler«, entgegnete er. Nun starrte auch Elke angestrengt auf das den Himmel spiegelnde Wasser und den dunklen Schatten darin. Nils spürte ihre Hand an seinem Arm, als er einen energischen Schritt nach vorn machte, so als wollte sie ihn zurückhalten. Auch sie dachte an das, was vor fünf Jahren passiert war.

»Nein, ich glaub, das ist ein Schweinswal«, murmelte er. Sie gingen noch einige Meter, bis ihre Stiefel die Wasserkante berührten. Das Tier – oder was es auch war – lag zwanzig Meter weiter draußen im flachen Wasser.

»Ja, ist ein Schweinswal«, erklärte Nils.

»Ist er schon tot?«, fragte Anna.

»Das werd ich rausfinden.«

Nils begann seine Schuhe und Strümpfe auszuziehen und krempelte seine Hosenbeine hoch, stopfte seine Strümpfe in die Schuhe und trat platschend ins Wasser. Er zog die Schultern hoch, als die Kälte seine Füße packte. Forsch marschierte er auf den Körper zu und erkannte bald die schlanke Rückenflosse und das Luftloch auf dem Kopf des Wals. Die Augen waren offen und noch intakt. Oft, wenn die kleinen Schweinswale hier verendeten, fraßen die Möwen zuerst die Augen. Als er bis auf drei Meter an das Tier herangekommen war, schlug der kleine Wal einmal mit seiner Schwanzflosse aus.

»Hallo, mein Kleiner«, grüßte Nils. »Wollen doch mal sehen, ob wir dich nicht wieder ins Wasser kriegen.«

Er ging vorsichtig näher an ihn heran. Die Augen des Wals blickten ihn an, und das Blasloch öffnete sich immer schneller und atmete feucht. Nils stellte sich breitbeinig über den Schweinswal und umfasste ihn mit beiden Händen. Die Haut war kalt und fest wie Gummi, und er konnte darunter die Rippen spüren. Panik ergriff das Tier. Es fing an zu zappeln und auszuschlagen, schnaubte immer heftiger.

»Ist ja gut, ich will dir nur helfen«, sagte Nils beruhigend.

Er stellte fest, als er versuchte, ihn hochzuheben, dass der Wal schwerer war, als er vermutet hatte. Das Wasser war hier immer noch zu flach. Er musste den Wal hochnehmen und ein paar Meter weiter hinaustragen.

»Na, komm. Ganz ruhig, wir kriegen das hin.«

Nils hatte Schwierigkeiten, schaffte es aber schließlich, die Hände unter den Körper des Wals zu bekommen und ihn hochzuheben. Er schleppte ihn tiefer ins Wasser und musste ihn wieder absetzen, bevor er ihm aus den Händen glitt. Der Schweinswal krümmte und wand sich und schlug mit der Fluke.

»Nur noch ein Stück, komm schon«, feuerte Nils ihn an, während er ihn keuchend immer weiterdrückte und -schob. Endlich kam mehr Wasser unter den Körper, was auch der Wal zu merken schien. Nils stabilisierte ihn, damit er nicht umfiel, und beförderte ihn weiter vorwärts. Auf einmal wurde der Wal leichter und leichter und zog davon. Er schwamm einen Meter und tauchte dann ab.

Nils richtete sich schwer atmend auf und sah ihm hinterher. Dann streckte er die Arme in die Höhe und jubelte laut. Hinter ihm riefen seine Tochter und seine Frau ihm etwas zu und hüpften am Strand auf und ab.

»Frohe Weihnachten, kleiner Mann«, sagte Nils und drehte sich zufrieden um.

Am Strand fiel Anna ihrem klitschnassen Vater um den Hals.

»Gut gemacht, Papa.«

Elke lächelte und strich Anna über den Rücken. Alle drei waren sicher, dass es ganz wundervolle Weihnachten werden würden.

Hamburg-Bramfeld, Bramfelder Chaussee, 17:23 Uhr

Till und Simon waren auf ihrem Weg zum Baumarkt, die erste Station auf ihrer heutigen Tour.

»Hast du alles besorgt?«, fragte Till mit einem prüfenden Seitenblick. Simon hatte einen weißen Beutel in den Laderaum geworfen, bevor sie losgefahren waren, ähnlich den Beuteln, die sie manchmal zum Geldtransport benutzten.

»Das Handy, die Waffe, eine Jacke mit Ausweiskopie und den Schlüssel fürs Bootshaus.«

»Da wird ja heute nichts los sein«, meinte Till.

Simon hatte sich monatelang den Kopf darüber zerbrochen, wie es ablaufen würde, den Geldtransporter zu überfallen, hatte sich etliche Szenarien ausgemalt, was passieren könnte, aber zu seiner Überraschung war Brockhaus’ Plan so simpel wie unauffällig und damit auch ungefährlich.

Es war heutzutage einfacher, in einer Sicherheitsfirma einen Job zu bekommen, als einen Handyvertrag zu unterzeichnen. Sie nahmen einfach jeden. Wenn man wollte, konnte man den eintägigen Test absolvieren, man konnte sich diese Bescheinigung aber auch einfach selbst ausstellen. Im Internet herunterladen, ausfüllen, fertig. Kaum jemand überprüfte so etwas richtig. Jeder Arbeitgeber in dieser Branche war froh, Mitarbeiter zu bekommen, erst recht, wenn sie körperlich halbwegs fit waren. Man bekam eine Dienstwaffe. Den Schein dafür bezahlte das Unternehmen. Es war, als schenkten sie einem jede Möglichkeit, in diesem Job durchzustarten oder ihn auszunutzen.

»Wie hast du’s geschafft, dass wir zusammen fahren dürfen?«, erkundigte sich Simon.

»Kleinigkeit. Hab ’n bisschen auf die Kacke gehauen und Bernd beschuldigt, meinen Spind aufgebrochen zu haben. Konnte den Wichser sowieso nie ausstehen.«

Simon grinste. »Hoffentlich ist er nicht nachtragend.«

»Und wenn schon, ab morgen sind wir verschwunden wie der Weihnachtsmann nach der Bescherung.«

»Ja«, bestätigte Simon mit einem winzigen Zögern in der Stimme.

Till bog in die kleine Straße zum Baumarkt ab und hielt auf der Rückseite vor einer Metalltür neben einem vergitterten Fenster. Simon klingelte, während Till die Laderaumtür öffnete und sich auf dem menschenleeren Hof umsah. Ein Lkw stand an der Rampe der Warenannahme, aber weder vom Fahrer noch von einem Mitarbeiter war etwas zu sehen. Ein kurzer Pfiff ertönte, und ein Schatten löste sich aus dem Zwischenraum zwischen zwei Müllcontainern. Brockhaus kam mit schwarzem Käppi und dunkelblauer Jacke auf ihn zu. Geistesgegenwärtig ergriff Till den Sack, den Simon vorbereitet hatte, und reichte ihn wortlos dem vorbeigehenden Brockhaus. Der verstaute ihn mit wenigen Handgriffen in seinem Rucksack und verließ das Gelände so geisterhaft, wie er aufgetaucht war.

»War er das?«, flüsterte Simon, der die Übergabe gar nicht mitbekommen hatte, leise.

»Ja, ja, mach weiter«, zischte Till.

Die Metalltür wurde geöffnet.

»’n Abend, die Herren. Immer reinspaziert«, begrüßte sie ein Mitarbeiter, der den Ausweis, den Simon ihm hinhielt, nur flüchtig anschaute.

Ab jetzt verlief der Arbeitstag wie gewohnt. Das würde sich morgen jedoch dramatisch ändern.

Hamburg-Wandsbek, Wandsbeker Chaussee, 23:43 Uhr

Brockhaus saß an die Wand gelehnt auf einer Klappmatratze, die er sich in einem Supermarkt gekauft hatte, vor dem Fernseher, der vor ihm auf dem Boden stand. Die Konsole war angeschlossen, das Spiel gestartet. Jetzt wartete er darauf, dass Simon und Till der Runde beitraten, indem sie seiner Einladung zum Spiel folgten. In der Wohnung unter ihm entfachte sich gerade ein Ehestreit. Die dumpfen Stimmen drangen durch den Boden zu ihm herauf und klangen dadurch, dass das Zimmer nicht möbliert war, so nah, als stritten sie direkt neben ihm. Anfänglich amüsierte Brockhaus der Streit, er versuchte aufzuschnappen, um was es ging, und lachte über die Schimpfwörter, die sie sich gegenseitig an den Kopf warfen. Doch bereits nach kurzer Zeit wurde er immer gereizter ob der Stimmen, und er wünschte sich, dass einer der beiden dem anderen an die Gurgel ginge oder dem Gegenüber mit der Pfanne eins verpasste, damit der Lärm endlich ein Ende hatte.

Erst um Viertel nach zwölf meldeten sich Simon und Till.

»Gut, dass ihr endlich da seid. Wie ist es gelaufen bis jetzt?«, schrieb er.

»Ich habe mich und Simon morgen auf derselben Tour untergebracht. Besser geht’s nicht. Alle anderen Besorgungen sind gemacht«, antwortete Till.

»Du hast von uns ja schon deine Sachen bekommen. Wenn du noch was brauchst, sag Bescheid«, meldete sich Simon.

»Ich habe alles, danke.«

»Und die Wohnung? Kommst du klar?«, wollte Till wissen.

»Besser als da, wo ich herkomme«, schrieb Brockhaus zurück, »Nur meine Nachbarn gefallen mir nicht.«

»Ab morgen ist alles besser.« Das kam wieder von Simon.

Ja, ab morgen würde sich alles ändern.

Brockhaus wusste, dass das eine seiner größten Entscheidungen überhaupt war, vielleicht die Entscheidung seines Lebens. Ab morgen konnte sein Leben einen anderen Verlauf nehmen, einen besseren, leichteren und von beschwerenden Altlasten völlig unabhängigen Verlauf. Er würde frei sein, frei für alle Zeit, und dann könnten sie ihn alle am Arsch lecken. Seine Vergangenheit, die Bullen, das ganze verdammte Rechtssystem und jeder Knast, in dem er eingesessen hatte.

»Benutzt die Handys nur im Notfall, klar? Alles andere ist und bleibt wie besprochen.«

»Ich hab gehört, dass ein Sturm aufkommen soll«, schrieb Simon.

Brockhaus lächelte und tippte weiter. »Etwas Besseres hätte uns gar nicht passieren können. Der Sturm ist das i-Tüpfelchen des Plans, er wird uns den Arsch retten.«

Der Cursor blinkte regelmäßig, aber keiner der beiden antwortete.

»Ihr werdet sehen, er ist unsere Lebensversicherung. Und jetzt ab ins Bett. Legt euch hin, und kein Alkohol heute Abend.«

Brockhaus blickte zu der einzelnen Flasche Bier, die auf dem Fenstersims zur Kühlung stand.

Sie beendeten das Spiel, und Brockhaus stellte irgendeinen Film im Fernsehen an. Er musste die Lautstärke hochregeln, weil die Stimmen unter ihm nicht nachließen. Die Frau kreischte jetzt nur noch, und es polterte und rumpelte. Es klang, als würde er sie durch die Wohnung jagen.

Er stand auf, um sich das Bier vom Fenstersims zu holen. Draußen war es kühl, aber immer noch windstill, und er fragte sich, ob das mit dem Sturm vielleicht nur Panikmache gewesen war. Unten ging die Haustür auf, und eine Frau lief schluchzend und sich das Gesicht haltend über den Hof. Dann verschwand sie im Schatten des Vorderhauses, und es war endlich still. Kein Laut war mehr zu hören. In den meisten Fenstern seiner Nachbarn standen Weihnachtslichter, Pyramiden, Sterne und Tiere. Er blickte sich ein letztes Mal um und schloss anschließend das Fenster.

Gerade als er die Flasche öffnete und zum Trinken ansetzte, stellte sein Untermieter die Musik an. Eine nicht enden wollende Salve an Trommelstößen und Gitarrenriffs, die klangen, als würden sie mit einer Gartenkralle erzeugt werden. Die dumpfe, gutturale Stimme des Sängers erhob sich zu einem unverständlichen Brüllen, und sein Untermieter meinte, dabei »mitsingen« zu müssen.

Brockhaus stellte energisch sein Bier ab und ging zur Wohnungstür, wo er allerdings zweifelnd stehen blieb. Es war nur diese eine Nacht, die er durchstehen musste, er konnte es sich nicht leisten, jetzt auffällig zu werden, indem er seinem Nachbarn die Meinung sagte. Er dachte kurz an die Waffe, die unter der Decke versteckt auf der Matratze lag, schüttelte dann aber den Kopf. Nein, es ging nicht, er musste es ertragen oder warten, bis ein anderer Nachbar es ihm ausredete oder gleich die Bullen rief. Andererseits …

Die Wohnungstür vibrierte von den Bässen. Brockhaus war im Dunkeln nach unten gegangen, um nicht gesehen zu werden. Unter der Tür gegenüber sah er kein Licht, also vermutete er, dass die Bewohner nicht zu Hause waren.

Brockhaus drückte die Klingel fünfmal. Das Licht unter der Tür wurde von zwei Schatten durchbrochen. Der Kerl musste es also gehört haben und würde gleich die Tür öffnen.

Als das geschah und eine Welle von Grölen und Donnern den Flur flutete, als der Kerl mit einem selbstgefälligen Grinsen im Türrahmen erschien, trat Brockhaus so fest zu, wie er konnte. Er traf den glatzköpfigen Fettwanst auf Magen- und Brusthöhe und sah ihn lautlos nach hinten fliegen. In seinem schmutzigen Unterhemd und den schwarzen Sportshorts krachte er rücklings gegen die Tür zu dem einzigen Zimmer der Wohnung. Blitzschnell huschte Brockhaus hinein und schloss die Tür hinter sich. Der Kerl lag nun mit weit aufgerissenen Augen vor ihm auf der Schwelle zu seinem dunklen Zimmer. Überall hingen Bilder und Tücher mit Totenkopf- und Zombiemotiven. Er versuchte, sich aufzurappeln, griff dabei hektisch links neben die Tür und zog einen alten Baseballschläger hervor. Brockhaus schritt geradewegs auf ihn zu, der Typ hievte sich auf die Beine und machte ein paar Schritte rückwärts, um besser ausholen zu können. Kaum war Brockhaus ihm in den stinkenden, lärmenden Raum gefolgt, ging der andere mit dem Knüppel auf ihn los. Er holte weit aus und ließ das Ding auf Brockhaus niedersausen. Der amüsierte sich noch über die völlige Geräuschlosigkeit, denn die Musik übertönte einfach alles.

Der Schläger traf ihn an der rechten Hüfte, und ein heller Schmerz durchzuckte den Knochen. Brockhaus, der sich nach links geduckt hatte, holte mit geballter Faust aus und schlug sie dem Mann mit Wucht gegen die Schläfe, woraufhin der sofort zusammensackte und ohnmächtig liegen blieb. Er richtete sich auf und stellte sich über den Kerl. Ein schneller Blick zum Fenster sagte ihm, dass die Jalousien runtergelassen waren und keiner das Schauspiel mit ansehen konnte.