Sicherheitszone

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Olaf Scholz, letzte Sätze der Regierungserklärung vor der Hamburgischen Bürgerschaft zu den Vorkommnissen im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel

 

«Ich ziehe das Chaos der Hölle dem Chaos der Ordnung vor.»

Wisława Szymborska

Das Gehirn ist allerdings immer aktiv. Der Mensch denkt auch dann noch, wenn er nicht mehr bewusst denkt. Immer denkt der Mensch auf irgendeine Weise. Auch wenn er das später nicht mehr glaubt, weil er nur das glaubt, woran er sich erinnern kann. Aber Erinnerungen sind nicht die Wahrheit. Was die Wahrheit ist, das weiß man nicht. Jeder Splitter Erinnerung ist Teil einer Wahrheit. Und es gibt sehr viele Wahrheiten, mehr, als es Menschen gibt.

Paul Jonas hockt zusammengesunken auf der Flutmauer und denkt etwas, von dem er später nichts mehr wissen wird.

Auf dem Bürgersteig knirscht der Sand. Vorsichtig setzt sie ihre Beine voran. Sie sieht die anderen Leben in den Fenstern. Sieht die Späher-Loknecht, wie sie die Lichterketten aus der Hecke zieht, was glubscht die so?, und Renate Lübcke, auch so ’ne Kadreiersche, fegt die Auffahrt zur Garage, in einem Kleid! Sie grüßt, ohne die Miene zu verziehen. Bewegen soll sie sich. Aber der Druck auf ihren Kopf nimmt zu. Sie muss die Pillen nehmen. Einmal bleibt sie stehen und fragt sich, wo ihr Haus ist. Sie muss sich konzentrieren. Sie darf sich nicht so ihren Erinnerungen hingeben. Aber das meiste in ihr ist jetzt Erinnerung. Früher war es nicht so. Jetzt wird es immer mehr. Es umfängt sie, und sie geht darin umher wie in einem alten Haus. Es ist ein Heimkehren. Sie weiß, was das bedeutet, aber es macht ihr keine Angst. Sie hustet und spuckt auf den Boden.

 

 

 

Im Schnee entstanden tief eingeschnittene Wege, bläulich, hohe Wände zu beiden Seiten. Dann entstanden Verbindungen zwischen diesen Wegen, und je mehr Wege es gab, desto höher wurden die Wände; es entstanden Gebirge aufgeworfenen, vereisten Schnees. Am Morgen waren die Wege wieder eingeschneit, man musste schippen, die Wände wurden noch höher.

Der Vater steht in der Diele, hat eine dicke Arbeiterjacke an, zwei Hosen übereinander, und Schneeklumpen hängen in seinem Bart. Zornig tritt er mit den Füßen gegen den grausamen Schnee, der morgens zur Tür hereinfällt, er ist kein Arbeiter und nicht für körperliche Arbeit gemacht. Die Mutter schaufelt heimlich, wenn der Vater weg ist, die Wege richtig frei. Die Mutter hat mehr Kraft in den Armen, aber der Vater sagt, dass es eine Männerarbeit ist. Die Männer schaufeln den Weg frei, und die Frauen kippen mit warmem Wischwasser graue Löcher in den Schnee.

Als es endlich aufhörte zu schneien, fand das Eissegeln

Sie zieht die Nase hoch und schnuppert. Sie sehnt sich nach Zucker und Zimt. Sie hatten schwere, steife Mäntel an, und ihre Stiefel waren zu eng mit den dicken, gestrickten Strümpfen. Ihre Füße waren taub gefroren und schmerzten dann im Warmen, als würden sie auseinandergerissen. Aber sie sagten nichts. Nie sagten sie was.

 

Als sie zurück zu ihrem Haus kommt – es ist ja gar nicht wahr, dass sie die Welt nicht mehr kennt –, tun ihr die Knie weh, und ein feuchtes Stieben ist in der Luft, ein Regen fein wie Staub, da sieht sie, noch bevor sie wieder richtig auf den Hof eingebogen ist, etwas Merkwürdiges. Sie bleibt am Torpfeiler stehen und späht. Thomas tritt mit einem Koffer aus der Haustür. Er geht drei Schritte auf den Hof, wendet sich um und blickt zurück zum Haus, und sie steht hinter dem Pfeiler und sieht ihn, es stiebt, und der Druck nimmt zu. Sie muss die Pillen nehmen. Nach einer Weile steigt er, mit dem Koffer in der Hand, die Treppe hoch, die in die kleine Wohnung führt, die sie über der Garage ausgebaut haben. Die Fenster erblühen gelb, und sie sieht seine Silhouette. Sie spuckt noch einmal auf den Boden, obwohl sie gar nicht mehr richtig Spucke im Mund hat.

«Plawucht!», zischt sie und geht würdevoll über den Hof wie eine Frau, die genau das Leben hat, das sie wollte.

Während der vorletzten Sommerferien hatten ihre Nichten Karla und Marie zwei Wochen dort gewohnt, dann ihre Mutter, als sie sich im letzten März in Eppendorf im Krankenhaus behandeln ließ. Im Oktober dann ein Freund von Thomas, der bei seiner Frau rausgeflogen war. Ronald Park war ein unangenehmer Mensch gewesen, und sie hatte nicht verstanden, wie Thomas ihn bei ihnen hatte wohnen lassen können. Er dankte es ihnen viel zu wenig, dass er in ihrem Haus schlafen konnte. Karla und Marie hatten der Wohnung mehr Schaden zugefügt, das ist schon wahr, in nur zwei Wochen hatten sie eine Kerbe in die Schlafzimmertür gehauen und einen Fleck auf die Armlehne des Sofas gemacht, den man, ganz blass, immer noch sehen konnte. Aber das waren unschuldige Sachen, sie waren jung, die Nichten, sie waren unbesonnen und lebten wie die Pflanzen. Sie breiteten sich aus, nahmen sich Raum und kannten keine Verfeinerung. Aber sie bedankten sich, sie buken Natascha Muffins und schenkten ihr eine Schürze. Die Schürze war schrecklich, aber sie meinten es lieb. Die Schürze hat sie dann tatsächlich angefangen zu tragen. «Koch dich glücklich!», steht darauf. Es macht ihr gar nichts mehr aus, eine Schürze beim Kochen zu tragen, im Fernsehen tun sie es auch, und es schützt ja wirklich vor Flecken.

Ronald Park allerdings hatte, in ihren Augen, die

«Was gibt’s denn da zu sehen?»

«Er hat wen mitgebracht.»

Sie hatte sich umgedreht und das Licht ausgeschaltet. Dann hatte sie nicht schlafen können. Sie hatte immer nur daran denken müssen, was dieser Mann dort in ihrer Wohnung, in ihrer Bettwäsche, wohl mit dieser Frau tat, während sie hier in ihrem eigenen Leben neben ihrem eigenen Mann lag, der schon lange schlief. Es war ihr vorgekommen, als würde dieser Ronald Park ihr ihr Leben wegnehmen, das von ihr vorbereitete, von ihr entworfene Leben.

Aber dann zog er wieder aus, und sie ging hinüber und putzte die Wohnung, die gar nicht dreckig war. Er war sorgfältig mit ihr umgegangen, anders als Karla und Marie, die sie aber liebte und denen sie alles verzieh. Sie lüftete durch, sie bezog die Betten neu, und am liebsten hätte sie die Bettdecke weggeworfen. Im Laufe der folgenden Monate erhielt die Wohnung etwas von ihrer

Sie hängt das hellblaue Hemd auf einen Bügel und trägt es hoch ins Schlafzimmer. Hängt es in seinen Schrank, zu seinen anderen Hemden. Alle von ihr gebügelt. Jedes einzelne dieser Hemden hat sie in der Hand gehabt. Sie hat es aus der Waschmaschine geholt, es unten im Wäschekeller aufgehängt, denn er mag sie aus dem Wäschetrockner nicht. Die Nähte ziehen sich im Trockner zusammen, und sie werden weich. Weich mag er seine Hemden nicht, sie sollen etwas steif sein, und gebügelt. Sie bügelt seit vielen Jahren seine Hemden. Sie bügelt sie nicht, weil er es verlangt, es ihr jemals gesagt hätte. So ein Mann ist er nicht, denkt sie. So ein Mann – ist er nicht. Sie setzt sich auf die Kante des Bettes, ihrer beider Bettes. Aber, denkt sie, was für ein Mann ist er? Was für ein Mann? Sie zwingt sich, nicht durchs Fenster auf die Garagenwohnung zu schauen. Sie sitzt auf der Kante des Ehebettes und schaut auf den Fußboden. Vor ihr der geöffnete Schrank mit seinen verschiedenen Hemden, hinter ihr das Fenster und der Hof, und dahinter, irgendwo in diesem Raum, da ist er. Wenn der ganze Hof und alles drum herum als eine Wohnung zählen würde, denkt sie, dann würden sie immer noch zusammenwohnen, in gemeinsamen Räumen. Dann wäre es gar nicht so weit weg, wo er jetzt ist. In Schlössern, denkt sie, muss es so gewesen sein. In Schlössern haben sie sehr weit auseinandergewohnt,

Natürlich hat sie es vermieden, an die Frau zu denken. Sie weiß nichts über sie. Es ist nur irgendeine Frau. Sie war vielleicht zu schockiert gewesen, um Fragen zu stellen. Was ist das für eine Frau? Liebst du sie? Willst du zu ihr ziehen? Habt ihr Pläne? Solche Fragen hätte sie vielleicht stellen sollen. Aber sie hat gar keine Fragen stellen wollen. Sie hat gedacht, dass sie diese Frau nicht interessiert. Sie ist ja noch gar nicht richtig existent. Sie ist ein Phantom. Sie hat gar keinen Namen.

Und dann sieht sie von hinterm Vorhang aus, dass er drüben telefoniert. Er läuft im Raum herum, die Hand am Ohr, und telefoniert. Und da ist die Frau plötzlich da, ist in ihrem Schloss, in ihren weiten Räumen, da läuft sie herum, ist da, ohne von ihr bemerkt worden zu sein. Sie ist ein Eindringling, eine Kammerzofe, die sich in ihrer Schönheit, mit ihrem jugendlich unschuldigen Körper, ihren dicken Zöpfen und ihrer weißen Haube in ihr Leben

Sie löst sich von dem Vorhang. Er telefoniert auch nicht mehr. Sie geht die Treppe hinunter, den leeren Wäschekorb unter dem Arm, bringt ihn in den Keller. Dann geht sie in die Küche, um das Abendessen zu kochen. In der Küche steht Helga und trägt ihre Schürze um den spitzen Bauch gebunden. Koch dich glücklich!

 

Sie zogen zwei Monate später schon in die erste Etage, während sie von dort aus das Erdgeschoss renovierten. Sie sprachen in dieser Zeit über ein Kind. Aber sie bekamen noch lange keins. Sie bekamen ein Haus, aber kein Kind. Bekamen eine Mutter, aber kein Kind.

 

Natascha starrt auf das Gemüse, Fleisch, die Zutaten, die Helga auf dem Tisch aufgehäuft hat. Helga tätschelt ihr die Schulter.

«Du weißt, Imke isst kein Fleisch.»

«Wir können es ja rausnehmen.»

Natascha schüttelt den Kopf.

«Du kannst kein Fleisch in das – was überhaupt? – tun. Wenn du Fleisch reintust, dann isst sie es nicht.»

«Aber ich kann es doch rausnehmen. Wenn du nicht weißt, was Wruken sind …», sie schüttelt den Kopf, «das weiß doch jeder, was das ist, das sind Steckrüben.»

«Helga, sie kann doch eine Fleischbrühe von einer Gemüsebrühe unterscheiden. Das ist doch Fleischsuppe, auch wenn du das Fleisch später rausnimmst.»

«Aber wie soll ich denn Wruken kochen, ohne Rindfleisch?»

Natascha zuckt mit den Schultern. Imke kommt in die Küche.

«Ohne Rindfleisch kann man keine Wruken kochen», sagt Helga streng zu Imke.

Imke starrt sie an.

«Ich bin sowieso gleich weg.»

«Du gehst weg?», fragt Natascha.

«Zu Freunden.»

«Kommst du wieder?»

«Weiß nicht», sagt Imke. «Mal sehn.»

«Sagst du Bescheid?»

«Hm.»

Als sie aus der Küche ist, sagt Helga: «Sie kann wohl plachandern, wie sie will?»

«Warum nicht?»

«Ich vertraue ihr.»

«Das kann man in diesem Alter nicht. Siebzehn.»

Sie sagt es abfällig, als wäre die Zahl eine Krankheit. Sie setzt das Rindfleisch mit den Knochen auf, die sie aus ihrem eigenen Kühlschrank mitgebracht hat, schneidet die Steckrüben, die Mohrrüben, die Kartoffeln.

«Habt ihr denn früher immer gewusst, wo eure Söhne waren?»

«Ja, das wussten wir. Sie haben immer gewusst, wann sie zu Hause zu sein hatten. Da gab es feste Regeln. Das geht nicht anders. Und dann ist sie auch noch ein Mädchen.»

Natascha weiß von Thomas, dass seine Eltern kaum etwas von den Jungs gewusst hatten. Sie hatten sie belogen über fast alles, was sie taten. Thomas hatte ihr Geschichten erzählt. Sie waren in der Nacht oft aus dem Fenster geklettert. Waren auch erwischt worden, von Walther, der dann Strafen verteilte. Aber all diese Dinge hatte Helga wohl vergessen, oder sie wollte sie vergessen.

«Was ist bei einem Mädchen anders?», fragt Natascha.

Helga trocknet sich die Hände an einem Küchentuch ab.

«Einem Mädchen kann viel zustoßen. Es ist eine Menge Packzeug unterwegs.»

Mit Packzeug, weiß Natascha, meint Helga kriminelle Ausländer. Kriminelle Ausländer findet sie ein großes Thema.

«Ich kann sie nicht einsperren. Und wie gesagt, ich vertraue ihr.»

«Vertrauen ist ja schön …», sagt Helga und blickt sie so an, vielsagend, spöttisch, mitleidig. Mit ihrem alten

«Meinst du, ich hätte meinem Mann nicht vertrauen sollen?», fragt Natascha.

Helga wiegt den Kopf.

«Als Frau muss man immer auf der Hut sein.»

«Was soll das heißen? Ich hätte mehr achtgeben sollen? Ich hätte misstrauischer sein sollen? Ich habe etwas verkehrt gemacht?»

Darüber hat sie ja tatsächlich nachgedacht. Die ganze Zeit schon. Darüber, was sie verkehrt gemacht hat. Zu Hause trägt sie immer diese ausgeleierte rote Hose. Manchmal wäscht sie sich vier Tage lang die Haare nicht. Seit zwei Jahren macht sie keinen Sport mehr. Oft hat sie sich nicht dazu durchringen können, ihm zuzuhören, sich mit ihm zu unterhalten. Sie hat nicht versucht, seinen Körper zu lieben, hat seinen Körper nicht mehr verehrt. Dabei muss er verehrungswürdig sein. Er ist verehrungswürdig. Sie seufzt in körperlicher Hingabe an ihren verlorenen Ehemann. Sie blickt auf die Schürzenschleife über dem schmalen Becken ihrer Schwiegermutter. Auf den kleinen, flachen Po unter der Schleife. Die Riemen ihrer Kunstlederpantoffeln über den Hacken.

Das Fleischwasser blubbert. Fleischbrühendampf hängt in der Luft. Die Küchenscheiben beschlagen. Natascha öffnet das Fenster.

«Du bist doch noch nie auf meiner Seite gewesen.»

Helga zuckt mit den Schultern.

Nach einer Weile sagt sie: «Klunkersuppe.» Als würde sie das Wort in ihrem Mund probieren. Natascha sieht sie fragend an.

«Das kennt ihr nicht. Das gab’s, als noch richtig Winter war.»

Während es draußen regnet und er auf dem gelben Sofa fernsieht, denkt er an Nathalie, bei der er nicht sein darf, weil sie ihre Familie zu Besuch hat. Im Fernsehen küssen sie sich, und es läuft auf Sex hinaus. Aber was er sieht, das ist nicht echt. Es ist auch gar nicht so gedacht. Es ist übertrieben, soll die Menschen vor dem Fernseher erreichen, das Wollen und das Müssen darin. Denn es ist ja so, dass der Fernseher klein ist und um ihn herum das Fenster, die Gardinen und die Wand, die leere Blumenvase und die Leisten zwischen Wand und Fußboden, die einen sauberen, hübschen Übergang schaffen. Sie wollen sich immer so heftig, sie müssen immer so sehr, dass das Zögernde, das Unentschlossene, das es echt machen würde, nie vorkommt. In Wirklichkeit ist es ja ein Hin und Her. Ein Überwältigtsein, das dann von einem Erschrecken, Zurückweichen abgelöst wird. Und nur durch dieses Zurückweichen entsteht ja ein neues Verlangen

 

Es hatte geregnet, und sie hatte auf dem Parkplatz vor der Schule gestanden, ans Auto gelehnt, und geraucht. Der Regen war über ihr Gesicht gelaufen, über ihr Haar, auch ihre Zigarette musste gleich ausgehen. Er hatte Imke mit dem Auto zur Schule gefahren, ihr Fahrrad war kaputt, zur dritten Stunde, weil die ersten Stunden ausgefallen waren.

«Sie werden ganz nass», hatte er zu Nathalie gesagt und sie angestarrt, hemmungslos, wie ihm später bewusst wurde.

«Wirklich?», hatte sie gesagt, und das war ihm wie eine Provokation vorgekommen. Als ob sie ihn herausfordern wollte.

Es gab ein Geplänkel, ein albernes Hin und Her, wie es solchen Bekanntschaften vorausgeht. Ein Spiel zwischen Mann und Frau, ein durchsichtiges Spiel.

Und dann hatte er ihre Telefonnummer bekommen und war nach Hause gefahren. Diese Telefonnummer war

Er rief sie an einem Nachmittag vom Laden aus an, er zitterte ein bisschen dabei, war aufgeregt wie ein Kind, er rief an, und sie ging nicht ran, nur die Mailbox, und bevor er es sich überlegen konnte, sagte er: «Ich wollte ja anrufen. Ich dachte, also, ich wollte einfach anrufen. Das ist alles. Ich bin Thomas Koschmieder, vom Parkplatz, als es geregnet hat. Jedenfalls hast du jetzt meine Nummer.»

Er hatte sie vorher noch gar nicht geduzt, aber er schaffte es nicht, sie jetzt zu siezen. Das passte nicht zu diesem Anruf, der ihm vollkommen misslungen vorkam. Er wünschte, es wäre ihm souveräner gelungen.

Am Abend, als er mit Natascha vor dem Fernseher saß, rief sie zurück. Kaltblütig ging er mit dem Telefon raus auf den Hof.

«Nathalie», sagte sie. «Ich hätte nicht gedacht, dass du anrufst.»

«Na ja», sagte er, «ich auch nicht.»

Dann schwiegen sie, weil sie sich gar nicht kannten und nicht wussten, was sie reden sollten. Sie schwiegen nicht lange, nur ein paar Sekunden, und hörten den Atem des anderen und wurden vielleicht davon schon erregt.

«Wir könnten doch», schlug sie vor, «vielleicht mal einen Kaffee trinken, irgendwo.»

Sie verabredeten sich also, und er erfuhr, dass diese Nathalie, diese nassgeregnete Frau mit diesem hellen, offenen Gesicht, eine Lehrerin war, Lehrerin an der Schule seiner Tochter. Und sie erfuhr, dass er ein verheirateter Mann war, der Vater einer Tochter, die sie unterrichtete.

Trotz dieser Umstände schliefen sie zwei Wochen später miteinander. In ihrer Wohnung. Sie ging so zielstrebig vor, dass es ihn erschreckte. Sie sorgte ganz allein für ihre Lust, und er half ihr dabei, obwohl es ihn erst verwirrte, sich ihren wortlosen Anweisungen zu fügen. Aber bald machte es ihm Spaß. Er musste sich nicht mehr bemühen, er konnte einfach mit ihr schlafen. Sie wollte oft, und wenn sie nicht wollte, dann brauchte er sich auch gar keine Mühe zu machen, dann wurde es nichts. Alles war klar zwischen ihnen. Dass ihr Körper so kräftig und bestimmt war, dass sie so selbstbewusst für ihre Lust sorgte, das erstaunte ihn, und er begann, sie zu bewundern und zu lieben.

Während es draußen regnet und er auf dem Bett fernsieht, denkt er an Simon. Im Fernsehen küssen sie sich, es läuft auf Sex hinaus. Aber Sex wird nicht gezeigt. Wenn er Sex sehen will, muss er den Computer anschalten. Aber da geht es alles so schnell, und es lohnt sich eigentlich gar nicht, den Computer anzuschalten. Es ist auch immer das Gleiche, und er hat eigentlich gar keine

Er steht auf und geht rüber zu Oma.

«Hast du an die Pillen gedacht?»

Sie kommt ihm im Bademantel entgegen, das Gesicht dick mit Creme eingeschmiert, es riecht nach Parfüm. Sie parfümiert sich immer ein. Die ganze Etage stinkt danach, er selbst riecht oft danach, seine Sachen, weil er ja auch in dieser Luft wohnt, sein Zimmer riecht danach, und er ist dankbar, dass niemand, den er kennt, in dieses Zimmer hineinschnuppern kann. Das Strickzeug liegt auf dem Couchtisch, ihre Kekse und ein halbvolles Glas Milch. Der Fernseher ist auch bei ihr an, da küssen sie sich, die Gleichen, beim Bumsen sind sie immer noch nicht angelangt. Und wenn das kommt, schaltet sie dann um?

«Wenn ich dich nicht hätte, mein Alexander», sagt Helga und nimmt die Pillen aus dem Schrank.

«Du denkst ja nicht dran.»

«Ich denke schon dran, aber dann vergesse ich’s wieder.»

Er küsst sie auf die Haare, über die sie, für die Nacht, immer eine Art künstliches Spinnennetz zieht. Er nimmt ihren großen, puppenhaften Kopf in seine Hände, die danach kleben, von der dicken Creme, und steckt seine Nase in das eingesponnene Haar.

«Pass doch auf, meine Frisur!», schimpft sie.

Es gibt nichts Schöneres, als die Nase in Helgas

«Ich hoffe, du schläfst heut Nacht besser.»

Sie winkt ab.

«Bald schlaf ich für immer.»

«Hör doch auf zu spinnen!»

Er hasst es, wenn sie sowas sagt. Sie sagt es mit Absicht, damit ihm das weh tut und er sie noch mehr liebt. Und sie schafft das, immer. Er seufzt und geht in sein Zimmer.

 

Als er fünf war, haben sie ihm gesagt, dass er adoptiert ist. Erst hat er sich darunter nichts vorstellen können. Er hatte ja Eltern. Dass seine Mutter ihn nicht geboren hatte, das hatte ihn so wenig interessiert, wie es andere kleine Kinder interessiert, dass ihre Mutter sie geboren hat. Erst als ihm eines Tages der erschreckende Gedanke zugeflogen war, dass es dann eine andere Frau geben musste, die ihn zur Welt gebracht hatte, erst da hatte er das Seltsame seiner Situation begriffen. Der Gedanke an eine andere Mutter war ihm so absurd vorgekommen, so unangenehm, dass er ihn loswerden wollte. Er hatte eine Zeitlang große Angst davor gehabt, dass die andere Mutter auftauchen und ihn mitnehmen könnte. Er hatte sich so in den Gedanken hineingesteigert, dass er heimlich seine Sachen sortiert und überlegt hatte, welche Dinge er mitnehmen wollte. Er hatte solche Angst vor diesem in ungewisser Zukunft liegenden Ereignis gehabt, dass er es sich irgendwie auch schon herbeiwünschte, um die endlose Qual des Wartens loszuwerden.

Die Eltern hatten damals einen Kinderpsychologen zu Rate gezogen, Dr. Wörschredt, als sie meinten, sie würden mit ihm nicht zurechtkommen. Sie sagten, er wäre oft

Die Eltern waren erleichtert gewesen, als sie erfahren hatten, dass es nur die Angst war, die ihn so verändert hatte. Dass er Angst davor gehabt hatte, die Familie verlassen zu müssen. Diese Angst, sagten sie, könnten sie ihm nehmen. Damit würden sie klarkommen.

Wir lieben dich. Du bist unser Sohn. Wir sind deine Eltern. Du musst uns nicht verlassen.

Und er ist immer noch hier. Er wohnt noch unter ihrem Dach. Er ist zweiundzwanzig und wohnt bei seinen Eltern. Es ist nett in seinem Zimmer. Er mag die Dachschrägen und die dunklen Holzbalken. Alles ist ordentlich aufgeräumt. Er putzt jedes Wochenende die Fenster, saugt unter dem Bett, wischt Staub und wechselt die Bettwäsche. Er hat alle seine Sachen, die DVDs, seine Star-Wars-Figuren und die Bücher über die polizeiliche Ausbildung sortiert und in dem weißen Regal aufgereiht. Seine Kleider liegen und hängen ordentlich im Schrank. Wenn er unruhig und schlecht gelaunt ist, dann geht er ins Bad und lässt Wasser in den blauen Eimer laufen. Er nimmt einen sauberen Lappen und fängt an, sein Zimmer zu putzen. Er hockt auf den Knien und wischt die Fußleisten, holt den Staub von den Bücherrücken und wischt bis in den letzten Winkel. Er putzt auch Helgas Wohnung, sie kriegt es nicht mehr so gut hin. In die Ecken geht sie nicht. Unter dem Sofa bleibt es dreckig. Sie krümelt auch, zunehmend krümelt sie herum, mit ihren Keksen und Broten, die sie sich mit vor den Fernseher nimmt. Sie

 

Er liegt auf seinem Bett und spielt mit dem Handy. Er schreibt: «Mir ist so heiß. Und Bier ist alle.» Er schreibt das an Simon. Aber er schickt es nicht ab. Er schreibt noch ein paar andere Nachrichten an Simon. Die erste hätte er vielleicht noch abschicken können, aber diese hier, die er jetzt schreibt, die kann er nicht abschicken. Er schreibt: «Ich möchte dich küssen.» Dann schreibt er: «Du bist schön.» Dann: «Ich steh auf deinen Rücken. Deinen Arsch. Deine Brust. Deine Haare.» Dann schreibt er: «Ich will dich ficken.» Dann lässt er die Hand mit dem Handy sinken. Mit ausgebreiteten Armen liegt er im Bett. Ich will dich ficken. Wenn er das abschicken würde.

Er denkt an das Mädchen, das er mit Simon und Ralph zusammen gesehen hat. Sie tranken Bier und laberten so rum, dummes Zeug, einfach nur so, und da saß dieses Mädchen und wartete vielleicht auf jemanden, schmal, kurze dunkle Haare, in weiten Hosen, sie hatte große Schneidezähne, wenn sie lächelte, und sie lächelte immer wieder und sah von ihrem Platz aus immer wieder zu ihm her.

Sie mögen ihn. Solange sie nicht wissen, dass er Polizist ist. Manchmal, wenn es so einfach gewesen war, wenn ein Mädchen sehr hübsch war, klug und freundlich, wenn sie zusammen über etwas gelacht hatten, wenn sie sich so rübergebogen hatte, zu ihm hin, dann hatte er sich überwunden. Er hatte es eine Zeitlang sogar richtig gewollt. Er hat die Mädchen genießen wollen. Er hat sich aber, zu jedem einzelnen Schritt, überwinden müssen. Er hat ihnen ihre Schönheit zugestehen müssen, denn hübsch waren sie ja alle gewesen, diese Mädchen, die sich ihn

Er döst auf dem Bett, da tönt sein Handy in seiner ausgestreckten Hand. Er weiß, von wem er die Nachricht bekommen hat, er hat es so eingestellt, dass Nachrichten von Simon anders klingen als Nachrichten von anderen.

«Sitzen im Vierundzwanzig. Kommst rum?»

Es gefällt ihm nicht, dass Ralph vermutlich der andere Teil vom «wir» ist, mit Ralph nimmt es immer dieselbe Richtung, da labern sie immer nur rum und fallen

«Siehst du die Weiber da drüben?», sagt Simon. «Die sind doch ganz fabelhaft.»

Fabelhaft, das sagt er seit einer Weile. Er hat das Wort irgendwo gehört. Und jetzt sagt er es andauernd.

«Die sind nicht schön oder so, aber ich finde sie ganz fabelhaft», sagt Simon und lächelt. Er will die Weiber gar nicht anmachen. Alexander ist erleichtert. Er ist ein bisschen betrunken, und wenn Simon betrunken ist, also noch nicht richtig besoffen ist, sondern noch kurz davor,

«Die sind viel zu gebildet, für uns», flüstert Simon. «Die wollen uns gar nicht.»

«Da kannst du recht haben», sagt Alexander.

Simon ist ein großer, starker Mann. Er trainiert im selben Studio wie Alexander, nur mit mehr Biss, mit mehr Wut. Es ist ihm wichtig, stark zu sein. Er hat ihn schon öfter beim Duschen gesehen, und da reden sie dummes Zeug und schäumen sich wie wild unter den Armen ein und betrachten sich verstohlen. Seine Oberarme sind wie riesige, zum Sprung gespannte Froschschenkel, mit diesen Äderchen und in dieser Angespanntheit, und seine Waden sind so rund wie die Waden von Alexanders Cousine René. Ein kleiner Streifen flaumigen Haares wächst von unten zum Bauchnabel empor. Alexander seufzt. Simon hat ein blau-weiß gestreiftes Poloshirt von Lacoste an. Poloshirts von Lacoste sind seine Ausgehkleidung. Sein Gesicht ist braun, auch im Winter. Seine Gesichtszüge sind hart, aber er hat eine unkontrollierte, sehr bewegte Mimik. Er kneift die Augen zusammen und kraust die Nase, er sieht oft gequält aus, wie ein Kind, das plötzlich die Nerven verliert, wegen einer Sache, die nur das Kind versteht und die es nicht in der Lage ist, der Welt begreiflich zu machen. Er hat keine Beherrschung in seinem eisernen, braunen Gesicht.

«Mit wem warst du hier?», fragt Alexander.

«Mit wem?» Simon sieht ihn an.

«Du hast wir gesagt, in der SMS

«Mit wir hab ich mich gemeint», sagt Simon.

«Und die Frauen.»

«Diese Frauen?»

«Diese Frauen.»

Alexander nickt. Er bestellt sich ein Bier. Eins kann er trinken.

«Du hast doch mit diesen Frauen gar nichts zu tun, man, Alter? Hast du gedacht, die reden mit dir? Warst du so optimistisch?»

«Ich habe gar nichts gedacht. Es hat sich besser angehört.»

«Wir hat sich besser angehört?»

«Mehr so nach Gesellschaft.»

Alexander nickt. Simon bestellt zwei Helbinger für beide.

«Trink!»

«Ich bin mit dem Auto.»

«Trink!»

«Du musst morgen arbeiten. Das hast du doch nicht vergessen?»

Simon winkt ab. Er kippt seinen Schnaps runter. Dann grübelt er über morgen nach, Alexander sieht es ihm an. Morgen kommen die Bremer ins Volksparkstadion. Simon ist immer für den HSV. Er ist Fan, und er kann den Hass der anderen Fans vielleicht verstehen. Aber er steht immer auf einer Seite. Alexander steht auf keiner Seite. Er ist ein Polizist, der seine Arbeit macht. Er beobachtet sich selbst mit Stolz, wie er ordentlich und neutral dabei ist. Er ist keiner, der ausrastet, er ist professionell. Kann sich zusammenreißen. Er hat sich etwas ausgedacht, was er sich denken kann. Er denkt: Das geht dich nichts an. Wenn es heikel wird, dann denkt er immer: Das geht dich nichts an. Und dann ist es, als würde er die Dinge damit von

Für Simon ist das alles anders. Alexander hat versucht, ihm etwas von Helgas Lebensweisheit in die Einsätze mitzugeben, aber Simon hat ihn nur angesehen und den Kopf geschüttelt. «Sag mal, spinnst du, Alter? Es geht mich nichts an? Das ist mein Einsatz!»

«Das Spiel.» Simon grinst und blinzelt müde mit den Augen.

«Na ja, das wird schon was geben.»

«Aber demnächst», sagt Simon und nimmt sich Alexanders Kümmel vor, «da kommt G20. Schon mal dran gedacht?»

«Ich denk nicht viel nach.»

«Es hat auch keinen Sinn. Du machst halt, was du machen musst. Ist ja auch nicht so, dass du groß denken sollst. Du sollst die Klappe halten und tun, was sie dir sagen. Das ist alles. Und das gefällt mir daran.»

«Machst du dir Sorgen wegen G20?»

«Ach was», sagt Simon.

«Und am Ende stehen uns die da gegenüber», sagt Alexander und hebt den Kopf Richtung der Frauen, der fabelhaften Weiber.

«Solche wie die», sagt Simon. Und nach einer Weile: «Und deine Schwester.»

«Wie kommst du auf sowas?»

«Na ja, ich hab sie gesehen. Mit so …»

«Mit so was?»

«Mit so Zecken halt.»

«Wieso Zecken?»