Leben. Nehmen.

In den Arsch gefickt zu werden. Beim Duschen. Was sonst? Das sagst du nicht. Du denkst es nur, weil ich es denke. Ich würde es sagen, aber du, du nicht. Es ist nicht so, dass du dich nicht traust, so was zu sagen. Immerhin hast du dem Kerger schon mal hinterhergeschrien, dass er ein absoluter Wichser! ist, und der Matos, dass sie ihre Mutter ficken soll. Nein, du könntest es der Steines problemlos sagen. Die Steines ist ja auch Erzieherin. Sie regt sich nie auf. Oder kaum. Schon über eine Stunde redet sie auf dich ein.

»Schau mich an, wenn ich mit dir rede!«, sagt sie.

Das machst du dann auch. Kurz. Kurz schaust du sie an. Ansonsten guckst du nur auf ihre Brüste, die sich geradezu auf dem Kantinentisch vor dir breitmachen. Dass sie megageile Titten hat, sagst du immer und immer wirst du rot dabei. Und dann kriegst du einen Ständer. Die Steines bemerkt nichts oder vielleicht ist es ihr auch einfach egal. Sie will dir sowieso bloß Dreiborn verklickern.

»Es ist dort gar nicht so schlimm«, sagt sie.

Jedenfalls nicht so schlimm, wie alle behaupten. Dort wärst du besser aufgehoben als zu Hause. Deutlich besser. Du hättest einen geregelten Alltag mit

Natürlich würdest du das niemals zugeben. Nicht vor der Steines. Und auch nicht vor den anderen. Aber das ändert nichts an deiner Panik. Du hast schon so einiges von deinen Freunden gehört. Viele von denen waren schon mal in Dreiborn, aber niemand wurde in den Arsch … Nicht beim Duschen und auch nicht in der Kantine. Jedenfalls behaupten sie das. Aber nur, weil sie die richtigen Freunde hatten, sagen sie immer. Allerdings gab’s aufs Maul. Das ist normal. Die Neuen bekommen immer aufs Maul. Ist halt so … stört dich aber auch nicht besonders. Auch nicht die Zelle, in die du eingesperrt wirst, wenn du mal wieder ausflippst. Eine Matratze auf dem Boden. Wasser und Brot. Wie in den Serien … wie damals in Köln … Aber in den Arsch …

»Nein, ich hab keinen Schiss!«, antwortest du der Steines und guckst wieder auf den dreckigen Kantinentisch. Auf die Krümel. Du stellst dir vor, sie wären Menschen. Lebendige Menschen. Wenn du ein bisschen stärker ausatmest, bewegen sie sich. Je

 

Jetzt ist die Steines wieder weg.

»Wir sehen uns danach«, hat sie gesagt. Bestimmt ist sie rauchen. Es ist zwar überall Rauchverbot, aber die Steines findet immer ’nen Platz. Wie die anderen Lehrer auch. Die Steines ist 28. Das weißt du, weil du sie selbst gefragt hast. Sie riecht immer nach Rauch und Kaugummi. Ihre blonden Haare nach Apfel. Das kannst du riechen, wenn sie neben dir sitzt, um dir bei den Hausaufgaben zu helfen. Meistens ist sie ganz nett zu dir, auch wenn du keine Peilung hast und ihr ständig in den Ausschnitt glotzt …

Außer dir ist fast niemand mehr in der Kantine. Alle anderen sitzen längst im Bus. Für die wurde ja auch kein Rausschmeißkommando einberufen. Überall Tische mit leeren Plastikverpackungen und Kakaoflecken. Und die Frauen machen den Dreck weg. Lauter Portugiesinnen.

Dir ist das nicht mal aufgefallen, deine Mutter musste es dir stecken. Sie hat auch mal hier gearbeitet. Aber nicht lang. Es gab Streit. Sandra bekommt immer Ärger auf der Arbeit. Gut, dass sie nicht mehr hier putzt, was? Du musst dich also nicht mehr verstellen und sie auch nicht. Immer so tun, als würdest du sie nicht kennen. So wollte sie es. Du auch.

Trotzdem hoffst du, dass sie kommt. Für die

Mach es wie immer. Du weißt doch, was sie wollen. Vor dem Rausschmeißkommando ist kein Platz für Ehrlichkeit. Hier gilt nur: Schwanz einziehen, ducken und eine Lüge nach der anderen raushauen. Auf die Tränendrüse drücken kommt auch gut. Besonders dann, wenn das Thema Dreiborn auf dem Tisch landet. Sie können eh nicht viel tun. Du bist erst 15. Sie müssen dich wieder aufnehmen.

Dein Handy vibriert. Es ist deine Mutter, sie kommt zu spät. Aber sie kommt, sagt sie. Das ist sicher. Sie schickt dir eine Nachricht mit :-P. Ein :-P zum Mitnehmen in deine Anhörung! Deine Mutter ist eine dumme Kuh! Sie kann ja nichts dafür, wirklich nicht. Du aber auch nicht. Du bist nur ein Unfall, das hat sie dir selbst gesagt. Mehr als einmal. Auch wenn andere Leute dabei waren. Dann hat sie

Im Internet suchst du nach ein paar versauten Filmchen. Da hat dir Rui ein paar gute Links geschickt. Die kann man einfach so anschauen, ganz umsonst und mit viel perverser Werbung. Aber immer schön im privaten Modus, damit die Lehrer sie nicht in deinem Verlauf finden, wenn sie dir das Handy abnehmen …

Du steckst dir die Kopfhörer ins Ohr, gehst aufs Klo und wichst.

Du sitzt am liebsten hinten im Auto, dann musst du nicht ständig deine Mutter sehen. Und sie kommt nicht dauernd auf die Idee, dass sie mit dir reden muss. Dir ist es egal. Sowieso besser, wenn sie die Klappe hält. Ich glaub, ihr habt euch nichts mehr zu sagen, jedenfalls nichts Wichtiges. So können wir hinten im Auto ungestört Johnny Chicago spielen.

»John Guddebuer?«, fragst du.

»Chicago! Mein Name ist Johnny Chicago, du Arsch!«, antworte ich angepisst. Als würdest du nicht wissen, wen ich meine. Als hättest du Troublemaker nicht mindestens zehnmal gesehen. Ist nicht umsonst unser Lieblingsfilm. Zwei Loser, die nichts auf die Kette kriegen. Wie wir beide auch. Nee, genau wie du! Aber zum Glück hast du ja mich. Der Film läuft dauernd in deinem Kopf. Die Johnny-Chicago-Stelle können wir sogar mitsprechen. Und genau das machen wir.

Immer und immer wieder. Das gefällt dir total gut. Hätten wir Zuhörer, würden die uns für total bekloppt halten. Aber niemand kann uns hören. Sandra auch nicht, die hört Robbie Williams. Ganz laut, wie immer. Und dabei rast sie wie eine gesengte Sau. Auch wie immer. Und sie heult. Du kannst sehen,

Mach dir keine Gedanken, sie heult nicht wegen dir. Das tut sie selten, sehr selten. Nur ein bisschen manchmal, wenn sie sentimental wird. Aber meistens, wenn sie dicht ist. Jetzt weint sie wegen Steve, wegen diesem erbärmlichen Wichser … Neun, zehn Wochen – das ist so der Durchschnitt, dann haben ihre Macker genug von Sandra …

Was? Was stört dich? Dass ich deine Mutter beim Vornamen nenne? Das machst du doch auch! Nie sagst du Mutter. Oder Mama. Du sagst immer nur Sandra. Und blöde Kuh … Oder willst du nicht hören, was all die Typen mit ihr gemacht haben? Du? Ernsthaft, du? Und was ist mit den ganzen Pornos, die du dir reinziehst? Lächerlich, aber gut … Zurück zu Sandra. Spätestens nach zehn Wochen fängt sie an, ihren Mackern auf den Sack zu gehen … zickig, hysterisch, eifersüchtig … Zehn Wochen sind gar nicht mal so schlecht, wenn man bedenkt, wie Sandra drauf ist … Steve war noch einigermaßen in Ordnung, hat nicht viel geredet. Auch wenn er oft versucht hat, dir vorzuschreiben, was du zu tun hast …

Er ist sogar mal mit uns Kart gefahren … Jedenfalls war er besser als der, der uns zum Klauen mitgenommen hat. Wie hieß der noch mal? Nico, oder? Weißt du noch? Wir mussten an der Straßenecke

 

Frau Molitor hat ganz rechts gesessen. Und in der Mitte Herr Schanck, dein Klassenlehrer. Eigentlich magst du den Schanck. Um sie herum all die anderen. Frau Corinne, Herr Bartholmé, den ihr schwule Sau nennt, und die Steines … sorry, Nathalie, ganz links. Der Rest in der zweiten Reihe. Du kennst sie nicht mal alle beim Namen. Du hast sie dieses Jahr auch noch nicht so oft gesehen …

Sandra hat eine Viertelstunde auf sich warten lassen. Dann hast du sie endlich kommen hören. Die hohen Absätze haben einen Megakrach gemacht. Du hast dich mal wieder geschämt. Auch wie sie angetanzt ist: Minirock, die ganze Farbe im Gesicht … und die lächerlich überdrehte Stimme …

Du hast die Tischplatte vor dir angestarrt …

»Du sollst mich anschauen! Nicht den Tisch!«, hat der Schanck gesagt.

»Wissen Sie, warum Sie hier sind?«, hat der Schanck gefragt und deine Mutter hat genickt.

»Das ist doch schlimm, oder etwa nicht?«, hat die verfickte Molitor gemeint.

Sandra hat weiter schön brav genickt.

Ob du was dazu zu sagen hättest, wollten sie alle wissen. Du hast getan, was du immer tust, wenn du nicht klarkommst. Nichts hast du gesagt, die Tischplatte fest im Blick.

Du sollst den Leuten ins Gesicht schauen, wenn sie mit dir reden, hat die Molitor gesagt. Das hast du dann gemacht, zumindest ein paar Sekunden lang. Wenn du nichts zu sagen hast, sollst du wenigstens noch mal erzählen, was an diesem einem Dienstagmittag passiert ist.

»Aus deiner Perspektive«, hat Frau Corinne gesagt.

»So, wie du es erlebt hast«, hat Nathalie ergänzt. Als würdest du nicht wissen, was Perspektive bedeutet.

Dann hast du es halt noch mal erzählt. So, wie ich es dir schon so oft erzählt hab. Nicht so, wie es war … sondern so, wie es hätte sein müssen …

Daniel. Er ist der größte Arsch der gesamten Hauptschule. Er kann es einfach nicht lassen, seit

Du hast ihn dann am Kragen gepackt, weil er nicht aufgehört hat, Scheiße zu labern. Hast ihn so lang am Schal gezogen, bis er seine Fresse gehalten hat. Der Sack hat einfach nicht aufgegeben. Du hast nicht mal mitbekommen, dass er fast nach hinten weggekippt ist. Du hättest ihn niemals fallen lassen, hast du gesagt … Er ist ganz blau im Gesicht geworden. Hat sich vor Panik fast in die Hose gekackt. Glaubst du, er hat was draus gelernt? Fehlanzeige – am nächsten Tag hat er einfach weitergemacht. So dumm … ist doch nicht normal, oder?

Dann hat es dir gereicht und du hattest eine Idee. Die Megaidee … Na ja, eigentlich wars meine, so wie alle deine Ideen. Aber das würde dir niemand glauben. Also hast du eben gesagt, es wär deine gewesen …

Du hast Rui überredet, sich mit Daniel auf dem

Du hast nichts gesagt, hast bloß den Schläger aus seinem Versteck geholt. Daniel hat natürlich nichts gerafft. Dumm, wie er ist, hat er nur weitergelacht. Und dann hast du einfach draufgehauen. Nein, nicht einfach so. Du hast aufgepasst, dass du ihn nicht am Kopf erwischst. Nur die Arme, die Beine und den Rücken. Das Handy hast du ihm abgenommen. Du hattest keinen Bock, es danach auch noch bezahlen zu müssen. Und allzu fest hast du auch nicht draufgehauen. Es hat nie was geknackt oder so. Zwanzig Mal. Genau zwanzig Mal. Du hast mitgezählt, laut mitgezählt. Du hast Daniel gesagt, er soll auch mitzählen. Nach dem zwanzigsten Mal hast du den Schläger weggeworfen und noch mal mit dem Fuß nachgetreten. In den Bauch. Nicht zu fest. Du wolltest die Eier erwischen, ging aber daneben.

Das hast du auch nicht gesagt, das mit den Eiern. Das hören die Lehrer nicht so gern. Du hast aber gesagt, dass es dir leidtun würde. Das stimmt zwar

Dann hat deine Alte wieder mit Flennen angefangen, als hätte sie auf ihren Einsatz gewartet. Du hast auf den Tisch geschaut und sie heulen lassen, hast dich nicht mal gewehrt, als sie deinen Arm festgehalten hat. Eigentlich hasst du es, wenn sie das macht, aber es wär nicht gut gekommen, wenn du sie weggestoßen hättest.

Sie haben euch rausgeschickt. Sandra hat weitergeheult. Du hast nichts gesagt, hast dich nur weiter fremdgeschämt. Sandra ist es mit dir bestimmt genauso gegangen. Nach einer halben Stunde hat man euch wieder reingerufen.

Du hast gleich kapiert, dass du nicht nach Dreiborn musst. Alle haben streng geschaut. Je strenger sie schauen, desto milder die Strafe.

Erst mal hat die Molitor eine Moralpredigt über Respekt gehalten und darüber, dass Gewalt Gegengewalt erzeugt und so einen Scheiß … Sie hat gesagt, dass du eine letzte Chance bekommst. Die allerletzte. Und dass du dich für die Auszeit anmelden sollst. Das ist eine Sonderklasse, wo du erst mal für sechs Wochen hinmusst. Mit extra geschulten Lehrern. Die können dir helfen … deinen Weg zu finden. Oder so ähnlich. Damit musst du aber einverstanden sein. Sandra auch. Die war sehr einverstanden. Hat geweint, gelacht, geschnieft …

 

Sandra parkt im Hof. Scheiß Matsch! Da kannst du machen, was du willst, da klebt immer was an deinen weißen Vans und an der Hose. In Petingen hast du in einem Apartment gewohnt, aber hier werdet ihr in einem richtigen Haus wohnen, hat Sandra gesagt. Dabei ist es nur eine umgebaute Scheune, sonst nichts! Vielleicht wars früher sogar ein Stall. Ständig klebt was an deinen Sohlen. Ein Bauernhof in einem Kuhdorf halt. Alles voller Matsch. Ein paar Bauern, viele Alte und Assis wie Sandra und du.

Eure Bude ist allerdings größer als in Petingen. Viel größer und es stinkt auch viel mehr nach kaltem Frittierfett.

Sandra hat sich beruhigt. Im Flur streichelt sie dir kurz über den Kopf und lacht blöd dazu. Du erträgst ihr Lachen nicht. Sie lacht immer gleich. Was bedeutet das? Tut mir leid? Dumm gelaufen? Ist nicht so schlimm? Du bist bescheuert? Die anderen können uns mal kreuzweise? … oder was? Du würdest ja nachfragen, aber du kennst die Antwort schon. Ein blödes Lachen …

Sie ist wieder mal auf Facebook und schickt Herzchen an halb Luxemburg. Sie antwortet auf jeden